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http://www.bwpat.de/ATspezial | Hrsg. bwp@-Spezial 3 - Österreich Spezial: Franz Gramlinger & Peter Schlögl & Michaela Stock

bwp@ Spezial 3 - Österreich Spezial
Berufs- und Wirtschaftspädagogik in Österreich. Oder:
Wer „macht“ die berufliche Bildung in AT?


Berufsausbildung und Studierfähigkeit. Zur Positionierung der Handelsakademien in einer geänderten Bildungsarchitektur

 

 

 

 

 

1.  Problemhintergrund

Die berufliche Bildung ist in Österreich zweigeteilt. Neben dem dualen System nehmen die berufsbildenden Vollzeitschulen einen zentralen Stellenwert sowohl in der kaufmännischen als auch in der gewerblichen und technischen Berufsausbildung ein. Wirtschaftspädagog/innen unterrichten vorwiegend in den kaufmännischen Vollzeitschulen. Für die Erlangung der Lehrberechtigung an Berufsschulen sowie in den gewerblichen und technischen Fächern an berufsbildenden Vollzeitschulen sind andere Bildungswege vorgesehen (vgl. AFF/ FORTMÜLLER 2006).

In den berufsbildenden Vollzeitschulen können zwei Kategorien von Abschlüssen erworben werden: ein mittlerer Abschluss, der nur eine berufliche Ausbildung umfasst, und ein höherer Abschluss (Reifeprüfung), der zusätzlich auch die Studienberechtigung an Universitäten und Fachhochschulen beinhaltet (vgl. AFF/ FORTMÜLLER 2006). Die letztgenannte Kategorie hat in den vergangenen Jahrzehnten laufend an Bedeutung gewonnen. Mittlerweile werden jede vierte Reifeprüfung in Österreich an einer technischen, gewerblichen oder kunstgewerblichen Schule und jede sechste Matura an einer Handelsakademie abgelegt. Danach folgen die wirtschaftsberuflichen Schulen mit knapp über 10 % (vgl. STATISTISCHES JAHRBUCH 2008). Somit stellt also das berufsbildende Schulwesen mit deutlich über 50 % der Absolvent/innen den bevorzugten Weg zur Matura dar, wobei unter den kaufmännischen Schulen die Handelsakademien die höchsten Schülerzahlen aufweisen.

In Einzelfällen ist sicherlich das Interesse an den schultypspezifischen Lehrinhalten ausschlaggebend für den Besuch einer berufsbildenden anstatt einer allgemein bildenden höheren Schule. Dies kann aber eher nur für die kunstgewerblichen und technischen Schulen und vielleicht noch für einige wirtschaftsberufliche Schulen (z.B. Tourismuswirtschaft) angenommen werden. Hingegen erscheint es unwahrscheinlich, dass ein/e Vierzehnjährige/r sich vorwiegend wegen seiner/ihrer intrinsischen Motivation für das Rechnungswesen zugunsten einer Handelsakademie entscheidet. Vielmehr dürfte der Wahl dieses Schultyps vorwiegend die extrinsische Motivation zugrunde liegen, sowohl zu maturieren als auch zugleich eine Berufsausbildung mit guten Beschäftigungsmöglichkeiten zu erhalten.

2. Problemstellung

Die bildungspolitische Positionierung von Handelsakademien als Schultyp, dessen Absolvent/innen sowohl über die Studienberechtigung für alle Studienrichtungen als auch über eine fundierte kaufmännische Berufsausbildung verfügen, hat allerdings ihren Preis: die Schulzeit ist um ein Jahr länger als bei allgemein bildenden höheren Schulen, und die für die allgemein bildenden Fächer vorgesehenen Stundenzahlen sind zugunsten der berufsbildenden Fächer reduziert (vgl. LEHRPLAN HAK 2004; LEHRPLAN AHS 2003). Die oben genannten Schüler/innenzahlen lassen aber vermuten, dass den Schüler/innen und ihren Eltern die polyvalente Ausrichtung der Handelsakademien diesen Preis wert ist.

Mit der Umsetzung der Bologna-Architektur an den österreichischen Universitäten und Fachhochschulen und der dadurch bedingten Einführung von sechssemestrigen Bachelor-Studien gerät die polyvalente Ausrichtung der Handelsakademien allerdings in zweierlei Hinsicht unter Druck. Zum einen könnten die beruflichen Möglichkeiten der Handelsakademie-Absolvent/innnen vor allem in anspruchsvolleren Tätigkeitsbereichen geschmälert werden. Zum anderen fällt mit der Verkürzung der Studiendauer für einen akademischen Erstabschluss das fünfte Schuljahr für alle Studierwilligen stärker ins Gewicht.

Beide Aspekte könnten (die Eltern von) Schüler/innen, die in der Unterstufe keinerlei Lernschwierigkeiten haben, zu dem Schluss veranlassen, das es günstiger ist, von vornherein einen Bachelor-Abschluss anzustreben und hierfür den kürzeren Weg über eine allgemein bildende höhere Schule zu wählen. Dagegen spricht zwar, dass Handelsakademien vor allem von Hauptschulabsolvent/innen besucht werden und es angesichts der Pisa-Ergebnisse (vgl. Haider & Reiter 2004a, 2004b) fraglich ist, ob diese nicht nur de jure, sondern auch de facto die gleichen Chancen hätten, in eine höhere allgemein bildende Schule zu wechseln und erfolgreich zu maturieren. Sollten aber das Konzept der gemeinsamen Schule der 10-14-Jährigen umgesetzt oder die Zugänglichkeit zur gymnasialen Unterstufe erhöhnt werden, würde die mangelnde Durchlässigkeit als Grund für die Wahl eines Schultyps wegfallen und die oben genannten Effekte kämen in voller Schärfe zum Tragen.

Angesichts der angesprochenen Problematik stellt sich die Frage, wie der Schultyp Handelsakademie in Zukunft zu positionieren ist. Besteht überhaupt die Möglichkeit, unmittelbar arbeitsmarktfähige berufliche Qualifikationen zu vermitteln und dennoch für alle Studierwilligen attraktiv zu sein? Oder ist eine Entscheidung zugunsten einer der beiden folgenden Zielgruppen zu treffen:

Schüler/innen, die vorrangig einen Berufseinstieg nach der Schule anstreben, denen aber die Möglichkeit der Aufnahme eines weiterführenden Studiums offen bleiben soll;

Schüler/innen, die vorrangig die Aufnahme eines Studiums nach Abschluss der Schule anstreben, die aber auch eine wirtschaftliche (Aus)Bildung erhalten sollen?

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich zunächst näher mit der gegenwärtigen Positionierung der Handelsakademie und anschließend mit den Implikationen der Umsetzung der strategischen Optionen (a) und (b). Danach wird die Frage diskutiert, unter welchen Bedingungen es doch gelingen könnte, die Handelsakademie in einer Weise polyvalent auszurichten, dass sie sowohl für Studierwillige als auch für Berufsorientierte attraktiv erscheint.

3.  Gegenwärtige Positionierung der Handelsakademie

Zur beruflichen Relevanz des Handelsakademie-Abschlusses liegt eine umfangreiche Studie von HEFFETER et al. (2004) vor. Das erfreuliche Ergebnis lautet: „Innerhalb der Unternehmen sind die AbgängerInnen der Handelsakademien in allen kaufmännisch-administrativen Abteilungen gut vertreten“ (HEFFETER et al. 2004, 42). Hinsichtlich der Akzeptanz seitens der Unternehmen ist also die berufliche Ausbildung an Handelsakademien sehr gut positioniert. Die Personalverantwortlichen legen nach eigener Auskunft aber auch „auf eine umfassende Allgemeinbildung, speziell auf gute Rechtschreibkenntnisse“ (HEFFETER et al. 2004, 42) Wert. Eine geringere Bedeutung als gemeinhin angenommen hat die Fremdsprachenausbildung. Nur „Englisch wird häufiger benötigt“ (HEFFETER et al. 2004, 42).

Über 40 % der Absolvent/innen entscheiden sich für ein weiterführendes Studium. Unter den gewählten Studienrichtungen liegt der Anteil wirtschaftswissenschaftlicher Studien bei 50 %, gefolgt von sozial- und humanwissenschaftlichen Studien (15 %). Zugunsten einer naturwissenschaftlichen Studienrichtung entscheiden sich nur 8 %, für ein Sprach-, Technik- oder Medizinstudium jeweils deutlich unter 5 % (vgl. HEFFETER al. 2004).

Ob die bevorzugte Wahl wirtschaftswissenschaftlicher Studien nur auf intrinsischen Motiven basiert, ist fraglich. Im Verglich zu sozial- und humanwissenschaftlichen Studien ist sicherlich die extrinsische Motivation der besseren Chancen auf dem Arbeitsmarkt von Bedeutung. Letztere sind aber auch für Absolvent/innen naturwissenschaftlicher und technischer Studienrichtungen gegeben. Möglicherweise spielt hier auch die Einschätzung der eigenen Kompetenzen für die Bewältigung des in Betracht gezogenen Studiums eine Rolle.

HEFFETER et al. (2004) haben im Rahmen ihrer Studie auch Universitäts- und Fachhochschullehrer/innen zur Studierfähigkeit der Schulabgänger/innen befragt. „Einigkeit bestand … über die Bedeutung von soliden Deutsch-, besonders Rechtschreibkenntnissen, die Beherrschung von Fremdsprachen (vor allem Englisch) und Mathematik (sogar im Bereich wirtschaftsorientierter Sprachstudien!) sowie eine gute EDV-Ausbildung“ (HEFFETER et al. 2004, 86).

Zwei Drittel der von HEFFETER et al. (2004) befragten studierenden HAK-Absolvent/innen gaben an, dass ihnen der Besuch einer Handelsakademie zu Studienbeginn in fachlicher Hinsicht Vorteile gebracht hätten und nannten als Grund hierfür vor allem Vorkenntnisse in BWL, Rechungswesen und EDV (vgl. HEFFETER et al. 2004, 89f). Allerdings verwiesen „Absolvent/innen, die über ‚Schwierigkeiten beim Studieneinstieg' berichten, … in fachlicher Hinsicht vor allem Probleme mit unzureichenden Mathematikkenntnissen“ (HEFFETER et al. 2004, 91).

Diese Aussagen stehen in Übereinstimmung mit den an der Wirtschaftsuniversität Wien erhoben Befunden. HAK-Absolvent/innen wenden für das im ersten Semester zu absolvierende Fach „Accounting and Management Control“ statistisch signifikant weniger Lernzeit auf und schneiden bei der Abschlussprüfung dennoch statistisch signifikant besser ab als die Absolvent/innen der anderen Schultypen (vgl. KONCZER 2007). Das mathematische Vorwissen zu Studienbeginn ist hingegen bei HAK-Absolvent/innen statistisch signifikant geringer als bei AHS-Absolvent/innen (vgl. EDER 2005).

Für den positiven Abschluss eines betriebswirtschaftlichen Studiums sind – wie die Absolvent/innenstatistiken zeigen – offenkundig die mathematischen Vorkenntnisse ausreichend. Allerdings ist in vielen wirtschaftswissenschaftlichen Teilgebieten eine zunehmende Mathematisierung zu beobachten und es gilt zu vermeiden, dass HAK-Absolvent/innen nicht zu große Startnachteile im Falle der Wahl einer entsprechenden Spezialisierung haben. Außerdem schränken unzureichende Mathematikkenntnisse die Studierbarkeit der formal- und naturwissenschaftlichen Studienrichtungen ein.

Vor diesem Hintergrund betrachtet, ist der Verzicht auf einen Pflichtgegenstand Mathematik im Lehrplan des I. Jahrganges (vgl. LEHRPLAN HAK 2004) als sehr unglückliche Entscheidung zu bezeichnen. Zwar ist Mathematik in den Jahrgängen II bis V vorgesehen, sodass HAK- ebenso wie AHS-Schüler/innnen über einen Zeitraum von 4 Jahren Mathematikunterricht erhalten. Jedoch sind HAK-Schüler/innen mehrheitlich Hauptschulabsolvent/innen, und diese verfügen über signifikant geringere Mathematikkenntnisse als Absolvent/innen der gymnasialen Unterstufe (vgl. HAIDER/ REITER 2004a, 2004b; VALENTA 2005; LIEBENTRITT 2007). Eine einjährige Mathematik-Pause erscheint kaum geeignet, Bildungsrückstände aufzuholen, sondern dürfte die Defizite sogar noch verstärken.

Der Schultyp der Handelsakademie ist also hinsichtlich der Akzeptanz der beruflichen Bildung seitens der Unternehmen hervorragend, bezüglich der Studierfähigkeit aber zu eng positioniert. Dem letztgenannten Problem wäre vor allem durch die verpflichtende Einführung des Mathematik-Unterrichts im ersten Jahrgang und dessen Ausweitung in den weiteren vier Jahrgängen auf AHS-Niveau zu begegnen. Ferner könnte nicht nur in Mathematik, sondern auch in den für die Studierfähigkeit zentralen Fächern Deutsch und Englisch das vorrangige Ziel darin bestehen, die herkunftsschulbedingten Bildungsrückstände im ersten Schuljahr zu reduzieren und danach mit den allgemein bildenden höheren Schulen Schritt zu halten.

Stellen die genannten Vorschläge tatsächlich eine Lösung des Positionierungsproblems dar? Zumindest drei Einwände sind denkbar.

Der vordergründigste Einwand besteht darin, dass es an den nötigen Stunden mangelt, um in Handelsakademien den Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik denselben Stellenwert einzuräumen, den sie in den allgemein bildenden höheren Schulen einnehmen. Dem ist entgegen zu halten, dass nur in Mathematik der Gesamtstundenrahmen deutlich geringer ist, und die fehlenden vier oder fünf Stunden entweder durch Umschichtungen oder durch eine Ausweitung der Gesamtstundenzahl gewonnen werden könnten. Letzteres wäre insofern vertretbar, als aufgrund der Fächervielfalt sowie mit den handlungsorientierten Unterrichtsgegenständen (z.B. Übungsfirmenarbeit) eine entsprechende Abwechslung gewährleistet und keine Überforderung der Konzentrationsfähigkeit der Schüler/innen zu befürchten ist.

Ein schwerwiegenderer Einwand lautet, dass mit dem Versuch, im ersten Schuljahr die Bildungsrückstände in Deutsch, Englisch und Mathematik aufzuholen und in den folgenden vier Jahrgängen mit der AHS Schritt zu halten, ein Teil der Schüler/innen überfordert werden könnte. Trifft dies zu, wäre zu klären, worin die Unaufholbarkeit der Bildungsrückstände begründet liegt. Ist sie auf Mängel in den Herkunftsschulen zurückzuführen, müsste wohl in erster Linie hier angesetzt werden. Verfügen die Schüler/innen über geringere allgemeine kognitive Fähigkeiten, wäre zu entscheiden, ob die Handelsakademien diese Zielgruppe auf jeden Fall erreichen oder die Studierfähigkeit der Absolvent/innen in den Vordergrund stellen soll.

Schließlich könnte noch eingewandt werden, dass der durch die Einführung der Bachelorstudien bedingte Verdrängungswettbewerb und erhöhte Zustrom zu Universitäts- oder Fachhochschulstudien auf jeden Fall eine klare Positionierung zugunsten einer der beiden folgenden Optionen erfordert:

Konzentration auf die Berufsausbildung unter Inkaufnahme von Nachteilen für Studierwillige;

Beseitigung von Wettbewerbsnachteilen für Studierwillige auf Kosten der Berufsbildung.

Im Folgenden werden zunächst diese beiden strategischen Optionen diskutiert und anschließend ein Vorschlag unterbreitet, der darauf abzielt, die Handelsakademie in einer Weise zu positionieren, dass sie auch unter den geänderten Rahmenbedingungen sowohl für Studierwillige als auch für Berufsorientierte attraktiv bleibt.

4.  Leitkonzept: Berufseinstieg nach Schulabschluss als Regelfall

Wie oben dargelegt, sind die Handelsakademien hinsichtlich der Akzeptanz der beruflichen Ausbildung der Absolvent/innen sehr gut positioniert. Auch wenn es zu einem Verdrängungswettbewerb durch Universitäts- oder Fachhochschulabsolvent/innen mit Bachelor-Abschluss kommen sollte, bleibt die Handelsakademie für Schüler/innen, die unmittelbar nach der Schule in einen kaufmännischen Beruf einsteigen wollen, noch immer die beste Alternative. Zwar würden einige anspruchsvollere Beschäftigungsmöglichkeiten wegfallen, jedoch wären die beruflichen Optionen besser als bei Abschluss eines anderen Schultyps. Hinzu kommt, dass der Zugang zur Universität oder Fachhochschule nicht verwehrt, sondern im Vergleich zur AHS nur um 1 Jahr verzögert und bezüglich einiger Studienrichtungen erschwert ist. Insbesondere wäre die Aufnahme eines betriebswirtschaftlichen Bachelorstudiums problemlos möglich.

Die Ausrichtung der Handelsakademien am Leitkonzept „Berufseinstieg nach Schulabschluss“ würde keine grundlegenden curricularen Änderungen erfordern. Lediglich das Konzept der zum Teil an die speziellen Betriebswirtschafslehren angelehnten „Ausbildungsschwerpunkte oder Fachrichtungen (vgl. LEHRPLAN HAK 2004) wäre zu überdenken. Denn auch eine vergleichbare Spezialausbildung könnte keine volle Konkurrenzfähigkeit mit einem Bachelor-Abschluss begründen.

Wichtiger als Spezialisierungen sind die Vermittlung eines allgemeinen betriebswirtschaftlichen Überblickswissens sowie die Entwicklung unmittelbarer beruflicher Handlungskompetenzen zu zentralen kaufmännischen Aufgabenbereichen. Dies sollte in den Gegenständen Betriebswirtschaft, Rechungswesen und Controlling, Wirtschaftsinformatik, Informations- und Officemanagement Betriebswirtschaftliche Übungen (Übungsfirmen) erfolgen.

Ein Blick in die Schulbücher zu den genannten Fächern zeigt aber nicht nur eine ausgeprägte thematische Vielfalt, sondern lässt auch vermuten, dass sehr unterschiedliche Wissensformen erworben werden. Daher wäre auf Basis der kognitionstheoretischen Unterscheidungen zwischen deklarativem und prozeduralem Wissen (vgl. z.B. RYLE 1969; ANDERSON 1983; FORTMÜLLER 1997, 2007), explizitem und implizitem Wissen (vgl. POLANYI 1985; NEUWEG 2000) sowie situiertem und dekontextualisiertem Wissen (vgl. BROWN/ COLLINS/ DUGUID 1989; RENKL 2000; KLAUER 1999) näher zu untersuchen, welche Lernergebnisse tatsächlich erreicht werden.

Ein Vorteil des Leitkonzeptes „Berufseinstieg nach Schulabschluss“ besteht darin, dass eine entsprechende Ausrichtung vor allem Schüler/innen aus bildungsferneren Sozialschichten sowie Schüler/innen mit geringeren Lernerfolgen in der Unterstufe erhöhte Bildungschancen eröffnen könnte. Die finanzielle Belastung ist geringer als bei Aufnahme eines Studiums, und die Mühen des Lernens dauern kürzer. Daher könnten Schüler/innen (oder deren Eltern), die eine finanzielle und/oder lerntechnische Überforderung durch ein Universitätsstudium befürchten, einer (gehobenen) schulischen Berufsausbildung den Vorzug geben.

Der Nachteil des Konzeptes liegt darin, dass es Schüler/innen, die (oder deren Eltern) jedenfalls ein Studium (der Kinder) anstreben und die keine Zweifel haben, dass ein solches zu schaffen ist, geringe Anreize bietet, das zusätzliche Jahr in Kauf zu nehmen. Bleibt aber diese Schülergruppe fern, ist zu befürchten, dass Handelsakademien in dieselbe Positionierungsfalle geraten, in der sich die Hauptschulen bereits befinden: wer kann, weicht ins Gymnasium aus. Das wiederum würde das gegenwärtig sehr gute Image des Schultyps Handelsakademie massiv schmälern und dadurch wohl auch die Arbeitsmarktchancen der Absolvent/innen beeinträchtigen.

5.  Leitkonzept: Studium nach Schulabschluss als Regelfall

Wie weiter oben ausgeführt, wäre die uneingeschränkte Studierfähigkeit bereits durch eine Erhöhung des Stundenkontingentes für Mathematik um vier bis fünf Wochenstunden erreichbar. Allerdings bleibt das Problem des um ein Jahr längeren Weges bis zum Studium gegeben. Um diesen Wettbewerbsnachteil gegenüber allgemein bildenden höheren Schulen vollständig zu beseitigen, müsste auch die Schulzeit von Handelsakademien auf 4 Jahre reduziert werden.

Die Umsetzung könnte zum Beispiel in der Form erfolgen, dass die im V. Jahrgang vorgesehenen Stunden bei allen Fächern mit Ausnahme von Mathematik, Deutsch, Englisch und Volkswirtschaft wegfallen und ferner auf die „Ausbildungsschwerpunkte oder Fachrichtungen“ verzichtet wird. Volkswirtschaft müsste, da dieses Fach gegenwärtig nur im V. Jahrgang unterrichtet wird, auf den vierten Jahrgang vorverlegt werden. Der Stundenrahmen für die Fächer Deutsch, Englisch und Mathematik wäre in den verbleibenden vier Jährgängen entsprechend zu erhöhen.

Die genannten Stundenverschiebungen müssten notgedrungen auf Kosten der berufsbildenden Gegenstände erfolgen und würden neben den Ausbildungsschwerpunkten bzw. Fachrichtungen auch die Fächer Betriebswirtschaft, Rechungswesen und Controlling, Wirtschaftsinformatik, Informations- und Officemanagement und/oder Betriebswirtschaftliche Übungen betreffen. In der defensivsten Variante wäre bei den letztgenannten Gegenständen somit eine Stundenreduktion um insgesamt ca. 20 % gegeben.

Der Vorteil des skizzierten Konzeptes besteht darin, dass keine groben Wettbewerbsnachteile für studierwillige Absolvent/innen bestehen. Zudem ist für den Fall, dass doch kein Studium aufgenommen oder ein solches abgebrochen wird, eine im Verglich zur AHS bessere Vorbereitung auf den Einstieg in einen kaufmännischen Beruf gegeben.

Das Konzept hat allerdings den Nachteil, dass die Stundenreduktion in den berufsbildenden Kernfächern die Möglichkeiten der Entwicklung beruflicher Handlungskompetenzen schmälert. Auf die Vermittlung eines breiten betriebswirtschaftlichen Überblickswissens als Voraussetzung zur Wahrung der Anschluss- und Weiterbildungsfähigkeit (vgl. Fortmüller) wird wohl auf keinen Fall verzichtet werden können. Somit würde es an Zeit fehlen, um im bisherigen Umfang berufsspezifische Fertigkeiten zu erwerben. Das Ziel der Berufsausbildung müsste in Teilbereichen daher durch jenes der Berufsvorbildung ersetzt werden.

6.  Leitkonzept: Berufsausbildung und Zusatznutzen für Studierwillige

Das Ziel der polyvalenten Ausrichtung kann nur dann in einer auch für Studierwillige zufrieden stellenden Weise realisiert werden, wenn es gelingt, dass diese in der beruflichen Bildung ebenso einen Zusatznutzen sehen wie die Berufseinstiegswilligen in der Studienberechtigung. Worin könnte aber für Studierwillige der Mehrwert der wirtschaftsberuflichen Bildung bestehen? Die Antwort hierauf hängt auch von der gewählten Studienrichtung ab, und es ist zumindest zwischen drei Gruppen von Universitäts- bzw. Fachhochschulstudien zu unterscheiden: wirtschaftswissenschaftliche Studien, nicht-wirtschaftswissenschaftliche, aber wirtschaftsnahen Studien (z.B. Technik) und wirtschaftsferne Studien (z.B. Germanistik).

Der Abschluss einer Handelsakademie bringt den Studierenden einer wirtschaftswissenschaftswissenschaftlichen Studienrichtung sicherlich Startvorteile. Dies allerdings nicht in einem Ausmaß, welches das zusätzliche Schuljahr kompensieren würde. Denkbar wäre es, im vierten und fünften Jahrgang das betriebswirtschaftliche Grundlagenwissen unter Bezugnahme die Inhalte der universitären Einführungsveranstaltungen zu ergänzen und dadurch den Studienfortschritt zu beschleunigen. Derartige Maßnahmen werden zum Beispiel gegenwärtig zwischen der Wirtschaftsuniversität Wien und der Sektion Berufsbildung des Ministerium diskutiert, konnten aber wegen urheberrechtlicher Fragen zur Nutzung der E-Learning-Plattform der Wirtschaftsuniversität bisher noch nicht umgesetzt werden.

Ein weiterer denkbarer Zusatznutzen für Studierende einer wirtschaftswissenschaftlichen Studienrichtung besteht im Erwerb wirtschaftsberuflicher Kompetenzen, die auch Hochschulabgänger/innen benötigen, die aber als nicht akademisch gelten und daher im Rahmen des Studiums zuwenig Berücksichtigung finden. Hierzu zählen neben explizitem Wissen, wie etwa EDV-Kenntnissen, auch implizites Wissen, wie zum Beispiel in der Übungsfirmenarbeit erworbene Fertigkeiten zur Handhabung des Belegwesens.

Die kaufmännische Ausbildung könnte bei der Wahl eines nicht-wirtschaftswissenschaftlichen, aber wirtschaftsnahen Studiums insofern einen beträchtlichen Nutzen darstellen, als eine berufsrelevante Zusatzqualifikation vorliegt. Beispielsweise müssen Absolvent/innen eines Technik-Studiums im Rahmen ihrer beruflichen Karriere oft auch betriebswirtschaftliche Aufgaben bewältigen. Die praktische Bedeutung dieses Aspektes ist gegenwärtig allerdings insofern gering, als HAK-Absolvent/innen nur selten ein Technik-Studium aufnehmen.

Einen weiteren Zusatznutzen für Absolvent/innen von nicht-wirtschaftswissenschaftlichen, insbesondere auch wirtschaftsfernen Studienrichtungen stellen berufliche Querschnittsqualifikationen aus dem kaufmännischen Bereich dar. Neben Basisfertigkeiten wie etwa der Beherrschung der Prozent- und Zinsenrechnung ist diesbezüglich vor allem die Entrepreneurship-Erziehung (vgl. AFF 2007, 2008) zu nennen.

Schließlich ist noch darauf hinzuweisen, dass der Zusatznutzen der betriebs- und volkswirtschaftlichen Bildung auch in deren allgemein bildenden Dimension liegen kann. Zum einen werden kaufmännische Kenntnisse und Fertigkeiten auch im privaten Bereich benötigt (z.B. bei Finanzierungsfragen oder Pensionsvorsorgeentscheidungen). Zum anderen setzen auch die Beurteilung wirtschaftspolitischer und sozialpolitischer Fragen (z.B. Pensionsreform) und die Entscheidungen als Wahlbürger wirtschaftsbezogenes Grundlagenwissen voraus.

Dem allgemein bildenden Aspekt wirtschaftsbezogenen Wissens wird gegenwärtig zu wenig Rechnung getragen. Dessen stärkere Betonung in Handelsakademien könnte einen beträchtlichen Mehrwert für alle Studierwilligen – sogar für jene, die ein späteres Wirtschaftstudium ins Auge fassen – darstellen.

Vermutlich ist keiner der genannten Gründe ausreichend, um im Rahmen der Bewertung der Schultypen in den Augen Studierwilliger die Opportunitätskosten eines zusätzlichen Studienjahres vollständig kompensieren zu können. Zusammen mit der Sicherheit, im Falle des Scheiterns des Studiervorhabens über eine solide Berufsausbildung zu verfügen, könnte die Handelsakademie aber doch weiterhin eine attraktive Alternative darstellen.

7.  Resümee

Es ist fraglich, ob die Handelsakademie unter den geänderten Rahmenbedingungen in einer Weise polyvalent ausgerichtet werden kann, dass sie sowohl für Studierwillige als auch für Berufsorientierte weiterhin in gleichem Ausmaß wie bisher attraktiv erscheint. Am erfolgversprechendsten ist die Kombination folgender Maßnahmen:

•  Sicherung der uneingeschränkten Studierfähigkeit durch Anhebung des Mathematik-, Deutsch- und Englischunterrichts auf AHS-Niveau;

•  Ausbau der außerberuflich relevanten Allgemeinbildung vor allem in den Gegenständen Betriebswirtschaft und Volkswirtschaft;

•  stärkere Betonung der auch für nicht-kaufmännische Berufe relevanten wirtschaftsberuflichen Querschnittsqualifikationen.

Die Unterrichtsstunden für die genannten Maßnahmen könnten gegebenenfalls auf Kosten der Ausbildungsschwerpunkte bzw. Fachrichtungen sowie durch Aufstockung des Gesamtstundenkontingentes auf das Niveau der wirtschaftsberuflichen Schulen gewonnen werden.

Ungünstig wäre eine ausschließliche Konzentration auf die Berufseinstiegswilligen nach dem Schulabschluss, da das Fernbleiben Studierwilliger zu einem Imageverlust und zu einer Abwertung des Abschlusses führen würde. Sollten hingegen vorrangig nur Studierwillige angesprochen werden, müsste die Schulzeit wohl auf vier Jahre gesenkt werden. Dies hätte aber eine 20%ige Reduzierung der Unterrichtstunden für die berufsbildenden Fächer und dementsprechend einen teilweisen Ersatz der Berufsausbildung durch eine Berufsvorbildung zur Folge. Ein solcher Weg wäre daher nur einzuschlagen, wenn in Österreich ein Bachelor-Abschluss der Regelabschluss oberhalb des Pflichtschulwesens werden solle. Damit ist allerdings kaum zu rechnen. Somit sollte die volle Aufmerksamkeit dem Ziel der Erhöhung der Attraktivität der polyvalenten Ausrichtung von Handelsakademien gewidmet werden.

 

Literatur

AFF, J. (2007): Im Fokus: Entrepreneurship Erziehung. In: wissenplus 1-06/07.

AFF, J. (2008): Entrepreneurship Education - didaktische "Zeitgeistformel" oder Impuls für die ökonomische Bildung?. In: KAMINSKI, H. (Hrsg.): Ökonomische Bildung: legitimiert, etabliert, zukunftsfähig. Bad Heilbrunn.

AFF, J./ FORTMÜLLER, R. (2006): Zur Relevanz des Universitätsgesetzes 2002 für die berufliche Erstausbildung in Österreich. In: ROTHE, G. (Hrsg.): Lehrerbildung für gewerblich-technische Berufe im europäischen Vergleich. Karlsruhe , 113-118.

ANDERSON, J. (1983): The Architecture of Cognition. Cambridge .

BROWN, J./ COLLINS, A./ DUGUID, P. (1989):Situated Cognition and the Culture of Learning. Educational Researcher, Vol. 18, No. 1, 32-42.

EDER, J. (2005): Mathematikkenntnisse von Studienanfängern wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Hochschulstudien – eine empirische Untersuchung an Wiener Universitäten. In: Schweizerische Zeitschrift für kaufmännisches Bildungswesen. 99. Jg., H. 1.

FORTMÜLLER, R. (1997): Wissen und Problemlösen. Wien.

FORTMÜLLER, R. (2007): Lernen. Neurobiologische Forschungsbefunde und psychologische Theorien zur Grundbedingung der Möglichkeit wirksamen Schulunterrichts. In: wissenplus 4-06/07, I-VI.

HAIDER, G./ REITER, C. (2004a): PISA 2003 – Internationaler Vergleich von Schülerleistungen. Nationaler Bericht. Graz.

HAIDER, G./ REITER, C. (2004b): PISA 2003 – Internationaler Vergleich von Schülerleistungen. Ergebnisse im Überblick. Executive Summary. Graz.

HEFFETER, B./ BUHRMANN, C./ AIGNER, E./ HUBER, C./ SCHÖBERL, A. (2004): Evaluation der Ausbildung an österreichischen Handelsakademien auf Basis der Lehrpläne 1994. Unveröffentlichter Ergebnisbericht zur Evaluierung der österreichischen Handelsakademien im Auftrag des bm:bwk.

KLAUER, J. (1999): Situated Learning. Paradigmenwechsel oder alter Wein in neuen Schläuchen? Zeitschrift für Pädagogische Psychologie, 13. Jg., H. 3., 117-121.

KONCZER, K. (2007): Vorwissen und Interesse - der Schlüssel zum Lernerfolg? Diplomarbeit an der Wirtschaftsuniversität Wien.

LEHRPLAN AHS (2003): Lehrpläne der allgemein bildenden höheren Schulen. BGBl. II – Ausgegeben am 13. Juni 2003 – Nr. 283.

LEHRPLAN HAK (2004): Lehrplan der Handelsakademie. BGBl. II – Ausgegeben am 19. Juli 2004 – Nr. 291.

LIEBENTRITT, K. (2007): Vergleich der Eingangsvoraussetzungen von HAK- und HAS-SchülerInnen in den Bereichen Deutsch, Englisch und Mathematik. Diplomarbeit an der Wirtschaftsuniversität Wien.

NEUWEG, G. (2000): Können und Wissen. Eine alltagssprachphilosophische Verhältnisbestimmung. In: NEUWEG G. (Hrsg.): Wissen – Können – Reflexion. Innsbruck, 65-82.

POLANYI, M. (1985): Implizites Wissen. Frankfurt.

RENKL, A. (2000): Weder Paradigmenwechsel noch alter Wein. Zeitschrift für Pädagogische Psychologie. 14. Jg., H. 1., 5-7.

RYLE, G. (1969): Der Begriff des Geistes. Stuttgart.

STATISTISCHES JAHRBUCH (2008): Statistisches Jahrbuch Österreichs 2008. Homepage von Statistik Austria: www.statistik-austria.at

VALENTA, S. (2005): Nahtstellenproblematik. Zum Übergang von der Sekundarstufe I auf die Sekundarstufe II im österreichischen Bildungssystem. Diplomarbeit an der Wirtschaftsuniversität Wien.

 

Artikel online seit 1.2.2008


Inhaltlich verantwortliche Herausgeber: Franz Gramlinger, Peter Schlögl & Michaela Stock

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Zuletzt verändert: 31.01.2008 10:29 PM
 


  



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