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 bwp@ Ausgabe Nr. 10 | Juli 2006
Lernfirmen

Die Übungsfirma in der kaufmännischen Berufsbildung

(Publikation der Rede, gehalten am 21. Oktober 1977 anlässlich der Eröffnung der Internationalen Übungsfirmenmesse 1977 im Berufsförderungswerk Hamburg)


 

 


1. Vorurteile gegenüber der Übungsfirma

Die hier in diesen Tagen stattfindende Übungsfirmen-Messe scheint mir ein guter Anlass zu sein, einmal etwas ausführlicher der Frage nachzugehen, welche berufsdidaktische und eventuell welcher bildungspolitische Wert denn nun der Übungsfirma beizumessen ist. Dabei kann der Versuch einer derartigen Bewertung – in der pädagogischen Fachsprache "Evaluation" genannt – nicht mehr sein, als eine thesenartige Gegenüberstellung von mehr oder weniger bekannten Argumenten sowie deren Analyse auf der Grundlage von vorwiegend berufspädagogischen und lerntheoretischen Befunden. Eine ins Grundsätzliche gehende Besinnung über die Übungsfirma oder Scheinfirma scheint mir aus zwei Gründen besonders erforderlich zu sein, nämlich

(1) weil die Übungsfirma und die mit dieser Bezeichnung zusammenhängenden Aktivitäten sowohl in der Öffentlichkeit wie auch in pädagogischen Fachkreisen meist „weit unter Wert gehandelt“ werden und – damit zusammenhängend –

(2) weil die gesellschafts- und bildungspolitischen Kontroversen um das duale System der Berufsausbildung möglicherweise verhindern, dass der Übungsfirma als ernst zu nehmender Einrichtung kaufmännischer Berufsausbildung Geltung verschafft werden kann

Während in der gewerblich-technischen und in der handwerklichen Berufsausbildung die Lehrwerkstatt als betriebliche und überbetriebliche Übungsstätte volle Anerkennung findet (vgl. HOPF 1971, 2), blieb die Übungsfirma in der berufs- und wirtschaftspädagogischen wie auch in der bildungspolitischen Diskussion ein Randphänomen. Der Grund mag unter anderem darin zu suchen sein, dass die Übungsfirma

•  angesichts der unterschiedlichsten Trägerschaften wie Gewerkschaften, Betriebe, Schulen, Rehabilitationsstätten usw. sowie

•  auch angesichts der Tatsache, dass Übungsfirmen meist in der Freizeit zu Übungs- und Weiterbildungszwecken betrieben werden, so dass eben diesen Übungsfirmen ein geringer Grad an Institutionalisierung eigen ist.

Während die Lehrwerkstätte doch immerhin als Stätte lokalisierbar ist und sich in dieser Konkretheit auch Geltung verschafft, verflüchtigt sich die Scheinfirma – Übungsfirma im Bewusstsein der Öffentlichkeit zur bloßen Methode, ja zu einer Feierabendbeschäftigung, bei der nur zum Schein gearbeitet wird, also letzten Endes gespielt wird. Damit wird der Übungsfirma – aus dieser Perspektive – der professionelle Charakter zugesprochen, eine Sichtweise, der selbst um Objektivität bemühte wissenschaftliche Definitionen Vorschuss leisten.

Im Lexikon „Berufserziehung in Stichworten“ heißt es: "Scheinfirmen oder Übungsfirmen sind Einrichtungen der kaufmännischen Ausbildung. In ihnen finden sich Lehrlinge und jüngere Angestellte in der Regel freiwillig und nach dem Dienst zusammen, um mit verteilten Rollen die verwaltungstechnischen und kaufmännischen Vorgänge anhand fingierter Aufträge im Rahmen einer fingierten Firma durchzuspielen. Ältere Angestellte helfen als Ratgeber mit. Oft sind mehrere Scheinfirmen zusammengeschlossen, so dass der Verkehr gleicher oder verschiedener Branchen mitgespielt werden kann“ (EICHBERG/ SCHULZ 1968, 91).

Obgleich die Träger von Schein- oder Übungsfirmen und ihren Ringen – vor allem der DAG – in ihrer Öffentlichkeitsarbeit immer wieder den Realitätsbezug der Übungsfirmenarbeit betonen (HOPF 1971, 8 ff.), akzentuiert die Definition, die ja einen Teil der pädagogischen Öffentlichkeit repräsentiert, deren Spiel- und Freizeitcharakter. Damit wird – wie gesagt – einer Sichtweise Vorschub geleistet, die die Übungsfirmenarbeit als Spielerei abtut, der gegenüber beispielsweise die Arbeit am echten Arbeitsplatz im Betriebe an Lernwirkung haushoch überlegen sei.


2.  Die Übungsfirma in der Lernort-Diskussion

Vorurteilen dieser Art kann man am besten entgegentreten mit dem Hinweis auf die gegenwärtige Diskussion um die so genannten Lernorte in der Berufsausbildung. Sie betrifft die Frage nach der Lernwirksamkeit von betrieblichen, schulischen und überbetrieblichen Lernorten. Allein schon die Bezeichnung „Lernort“ signalisiert die gegenüber dem Anfang der 1960-er Jahre geänderte Diskussionslage: Während damals Heinrich ABELs Terminus vom „dualen System“ gewissermaßen die systemtheoretische Festschreibung der Ausbildungsanteile von Betrieb und Schule suggerierte, argumentiert man neuerdings im Anschluss an die Kritik an der Berufsausbildung der früheren 1970-er Jahre differenzierter und aufgeschlossener für Fragen des Lehrlings als Lernendem. Mit dem Terminus Lernort verbindet sich der Anspruch des Lernenden, dort, wo er während der Ausbildung seine Zeit zubringt, diese seine Zeit auch lernwirksam nutzen zu können.

In diesem Zusammenhang wird von der Pluralität der Lernorte gesprochen, was unter anderem zum Ausdruck bringen soll, dass die Verbesserung von Lernprozessen in der Regel nur mit Hilfe mehrerer Lernorte möglich ist (vgl. MÜNCH 1976, 256),

•  dass es vom Lernziel abhängig ist, welcher Lernort der geeignetere ist,

•  dass es folglich eine Gleichwertigkeit der Lernorte gäbe, da nicht Tradition, sondern Funktion ihren Wert bestimme.

Diesen lernorttheoretischen Erwägungen stehen nun politisch bestimmte Ansichten gegenüber, in denen sch auch die Pluralität – also Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung – der Lernorte folgendermaßen ausnimmt:

(1)  Die Kommission des Deutschen Bildungsrates kommt den lernorttheoretischen Erwägungen am nächsten, wenn sie von der „Pluralität der Lernorte“ ausgehend, auf eine Neuordnung der Sekundarstufe 2 zielend, als Lernorte die Schule, den Betrieb, das Studio und die Lehrwerkstatt akzentuiert, wobei Lehrwerkstatt ein Begriff ist, der „schulische, betriebliche und überbetriebliche Ausbildungsstätten, aber auch Laboratorien, Simulationseinrichtungen, Ausbildungs- und Übungsbüros und vergleichbare Einrichtungen umfasst“ (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1974, 69 f.).

(2) Der Entwurf des Berufsbildungsgesetzes (der Drucksache 7/3714) definiert die Lernorte der beruflichen Bildung (§4) wie folgt: „Berufliche Bildung wird an verschiedenen Lernorten durchgeführt. Lernorte im Sinne dieses Gesetzes sind die Ausbildungsstätte Betrieb einschließlich besonderer betrieblicher Ausbildungsstätten und die überbetriebliche Ausbildungsstätte ...“

Betont wird, dass die überbetriebliche Ausbildungsstätte der Ergänzung der betrieblichen Ausbildung und nur in Ausnahmefällen dem Ersatz der betrieblichen Ausbildung dienen soll.

(3)  Demgegenüber betonen die Spitzenverbände der Deutschen Wirtschaft ausschließlich den Ergänzungscharakter der überbetrieblichen Ausbildungsstätten (vgl. MÜNCH 1976, 246).

Ergänzung in diesem Sinne bedeutet, dass Ausbildungsaufgaben, die vom Betrieb nicht oder nicht so gut wahrgenommen werden können, weil die Erfordernisse des Betriebsablaufes mit den Erfordernissen einer Lernplanung nicht mehr in Einklang gebracht werden können, nun von der überbetrieblichen Lehrwerkstatt ergänzend durchgeführt werden sollen.

In ähnlicher Weise ließe sich der Charakter einer nunmehr ernst genommenen Übungsfirma interpretieren; nämlich Ergänzung einmal als

•  Vervollständigung des betrieblichen Lernangebots.
Dazu zum Beispiel der Rechenschaftsbericht des Deutschen Handels- und Industrieangestelltenverbandes 1960: „vorwärts strebende Lehrlinge und Jungkaufleute erhalten ... durch fortgesetzte praxisgetreue Übung eine Gesamtschau ihrer beruflichen Aufgaben vermittelt ... Sie kommen dadurch an Aufgaben heran, die sie in der Lehrfirma oder an ihrem Arbeitsplatz noch nicht ausführen dürfen.“ (HOPF 1971, 138)

Zum anderen Ergänzung als

•  „Vervollkommnung durch Übung
Übungsfirmen sind, der Name sagt es schon, zu Übungszwecken aufgebaut,“ heißt es in einer Informationsschrift des DGB von 1963 (vgl. HOPF 1971, 16).

Die Ergänzungsthese mit ihren zwei Bestandteilen

•  Vervollkommnung durch Übung

•  Vervollständigung des betrieblichen Lernangebotes dürfte das am weitesten verbreitete bisherige Selbstverständnis der Übungsfirma wiedergeben.

Gegenüber einer solchen Auffassung soll hier der Frage nachgegangen werden, ob mit der Ergänzungsthese die berufsdidaktischen und darüber hinaus die bildungspolitischen Möglichkeiten der Übungsfirma als Lernort eigener Prägung gerechterweise beschrieben werden können. Enthält nicht die Übungsfirma die didaktische Chance, als Lernort eine neue Qualität im Verhältnis von Theorie und Praxis verwirklichen zu helfen? Eine neue Qualität im Verhältnis von Theorie und Praxis, die umso nötiger ist, als berufsstrukturelle Änderungen der letzten 15 Jahre es nötig machen, die herkömmlichen kaufmännischen Qualifikationen zu überdenken und geänderte Anforderungen mit geänderten Lernprozessen zu beantworten.

Ich gehe dieser Frage nach, indem ich zunächst – in aller Kürze, versteht sich – die von der Berufsforschung ermittelten Veränderungen der kaufmännischen Qualifikationsstruktur zusammenfasse, um dann darzulegen, in welcher Weise die Übungsfirma geeignet ist, einem gewandelten Qualifikationsbedarf zu entsprechen.


3.  Neuere Tendenzen der kaufmännischen Qualifikationsstruktur

Wenn es auch keine einheitliche Berufsforschung zumal für kaufmännische Berufe gibt, so kann doch auf Befunde der Arbeitsmarkt- und der Berufsbildungsforschung sowie auf berufssoziologische Forschung zurückgegriffen werden. Zurückgegriffen werden kann sodann vor allem auf jene Untersuchungen, die sich mit den Auswirkungen der Automation bzw. der EDV auf kaufmännisch-verwaltende Tätigkeiten beschäftigen.

Es ist klar, dass damit nur – allerdings wesentliche – Teilaspekte des gesamten Berufsbereichs erfasst werden. Die vorliegenden Befunde lassen den Schluss zu, dass im kaufmännisch-verwaltenden Sektor Strukturveränderungen im Gange sind, die in ihren Auswirkungen ähnlich den länger zurückliegenden Erscheinungen im gewerblich-technischen Sektor sind:

•  Ersetzung von Arbeitskräften durch Maschinen

•  Reglementierung der Arbeitsabläufe durch die Datenverarbeitungstechnik

•  Standardisierung und Routinisierung des größten Teils der Tätigkeiten bei

•  gleichzeitigem Bedarf eines kleinen Teils an Tätigkeiten mit hohem Anspruchsniveau (vgl. JAEGGI/ WIEDEMANN 1963, 159 ff.).

Die Konsequenzen dieser Entwicklung betreffen natürlich nicht nur die Qualifikationsstruktur der Angestellten, sondern auch die Qualität der Arbeitsplätze hinsichtlich des Lernangebotes. Auch hier dürfte von einer Reduzierung der Lernangebote am Arbeitsplatz auszugehen sein. Dieser Aspekt der Veränderungen bleibt hier jedoch zunächst außer Betracht.

Die Konsequenzen dieser Entwicklungen für die Qualifikationen bringt FUHRMANN (1971, 105) in seinem Buch „Automation und Angestellte“ angemessen zum Ausdruck, wenn er sagt

„die zunehmende Rationalisierung im Angestelltenbereich bis hin zur Automation führt dazu, dass der bisher gängige Typ des Angestellten – Sachbearbeiters mit seiner entsprechenden Ausbildung und seiner betrieblichen Erfahrung auf einem begrenzten Sach- und Fachgebiet zunehmend entwertet wird. Die neue Arbeitssituation in der Verwaltung – aber wahrscheinlich nicht nur in dieser – scheint dagegen einen anderen Typ des Angestellten zu fordern. An die Stelle einer bereits spezialisierten Berufsausbildung muss eine umfassende Allgemeinbildung treten, an die Stelle von Sacherfahrung, die in langen Dienstjahren erworben wurde, eine neue Mobilität, die vor allem auf geistiger Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit beruht.“

Eine neue Mobilität ist also gefragt, die bewirkt wird einmal durch die Fähigkeit, sich wechselnden Anforderungen flexibel anzupassen, bei Wegrationalisierung der alten Spezialität lernend eine neue zu entwickeln, und zum anderen dadurch, dass der Angestellte die Kompetenz erwirbt, selbst an der Gestaltung der Arbeitsorganisation kooperativ mitzuwirken.

Denn nicht nur die technische Entwicklung mit ihren Auswirkungen, sondern auch die soziale Entwicklung muss bei der Bestimmung der Qualifikation ins Auge gefasst werden. Zunehmend setzt bei fortschrittlichen Unternehmen sich die Auffassung durch, dass man nicht schlecht damit fährt, wenn man die Organisation auf die Bedürfnisse der Menschen abstimmt und nicht umgekehrt, wenn also z.B. hierarchische Formen der Zusammenarbeit durch kooperative ersetzt werden. Eine Umfrage des BFW Hamburg bei 100 Hamburger Betrieben zur Qualifikation von kaufmännischen Angestellten hat ergeben, dass Teamfähigkeit, die Fähigkeit zur innerbetrieblichen Kommunikation durch Kooperation an erster Stelle der erwünschten Qualifikationen liegt, gefolgt von der Fähigkeit, sich Durchblick durch die Organisation des eigenen Betriebes zu verschaffen. 11)

Diese Befunde stimmen mit den allgemeinen berufspädagogischen Konsequenzen aus der Berufsforschung überein, die auf eine „neue Mobilität“ als Qualifikation hinauslaufen, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist:

Flexibilität , die die Schreibtischperspektive übersteigt, und zu gewinnen ist durch

Transparenz als Fähigkeit zu Durchblick und Überblick, die Voraussetzung ist für

theoriegleitetes Handeln anstelle bloßen Funktionierens und Reagierens am vertrauten Arbeitsplatz.

Eingebunden in die sozialen Fähigkeiten

zur Teamarbeit als Fähigkeit zur Zusammenarbeit und zur Solidarität und zu

Kommunikationsfähigkeit einschließlich der Fähigkeit, sich in Distanz zu der eigenen Berufsrolle versetzen zu können (vgl. REETZ 1976).

Das Problem besteht nun darin, Theorie und Praxis ausbildungsorganisatorisch so zu kombinieren, dass die Erreichung der genannten Qualifikationen erwartet werden kann. Und, was leistet die Übungsfirma in diesem Zusammenhang bei der Vermittlung dieser wesentlichen Bestandteile einer zeitgemäßen kaufmännischen Berufsausbildung.


4.  Möglichkeiten und Grenzen der Übungsfirma als Stätte der Qualifizierung durch Lernen am Modell

Manche von Ihnen, meine Damen und Herren, mögen bisher auf eine umfassende Definition von Übungsfirma gewartet haben. Ich bleibe, was die Definition anbetrifft, weiterhin enthaltsam (sie haben so etwas, Definitives an sich), möchte aber doch zur allgemeinen Verständigung über unseren Gegenstand, die Übungsfirma, einige Charakteristika herausarbeiten.

Unbestritten scheint das Prinzip zu sein, mit der Übungsfirma eine möglichst realitätsgetreue Nachahmung der betrieblichen Wirklichkeit zu erreichen, d.h. dass die Arbeitsplätze organisatorisch gesehen die Stellen, technisch und optisch gesehen, den echten Arbeitsplätzen/Stellen entsprechen, wie auch die gesamte Aufbau- und Ablauforganisation, das Formularwesen usw. nach Vorbildern der echten Praxis gestaltet werden, wobei in der Regel der Produktionssektor ausgespart bleibt.

Alles dies geschieht zu dem Zweck, dass die Arbeitsvollzüge denen der Realität gleichen. Damit dieser Realitätsbezug gewährleistet ist, orientiert man sich an Patenfirmen, leistet sich einen modernen Maschinenpark mit mittlerer Datentechnik, lässt erfahrene Praktiker als Ausbilder oder Helfer tätig werden, gewährleistet realistisch aussehende Außenbeziehungen der Übungsfirma und gestaltet last but not least internationale Übungsfirmenmessen. Der Ehrgeiz, alles möglichst gleich der echten betrieblichen Praxis herzurichten, ist groß und entspringt wohl dem Bestreben, mit dieser Gleichartigkeit der Bedingungen auch eine Gleichartigkeit der zu erwerbenden Qualifikationen sicherzustellen.

Zweifellos sind partielle Gleichartigkeit und Ähnlichkeit notwendige aber nicht hinreichende Bedingungen eines Qualifikationserwerbs durch die Übungsfirma. Notwendige Bedingung vor allem auch aus modell- und lerntheoretischer Sicht. Die Übungsfirma ist demnach ein dynamisches, zur Isomorphie neigendes Modell der Wirklichkeit, dass die besten Voraussetzungen enthält, dass das an ihm Gelernte auch auf andere Situationen übertragen (transferiert) werden kann (vgl. WITT 1975, 275 f.).

Nach den neueren Transfertheorien kommt es dabei nicht so sehr darauf an, dass alle Elemente des Modells mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Dies entspräche der alten, behavioristischen Transfertheorie, die sich als unzulänglich erwiesen hat, weil sie nur ein relativ starres Verhältnis von Modell und Wirklichkeit (Anwendungssituation) erlaubt. Wesentlich flexibler ist die Transferwirkung beim Einsatz von strukturell ähnlichen Modellen, wie die neueren kognitiven Transfertheorien belegen (vgl. REETZ 1970). Der höchste Grad an Flexibilität wird diesen Auffassungen zufolge erreicht, wenn über die strukturelle Ähnlichkeit hinaus eine allgemeine Regel, eine Strategie gelernt wird, die es dem Lernenden dann erlaubt, in sehr vielen ähnlichen Situationen angemessen zu handeln.

Die didaktische Norm resultiert also hier aus der lern- und modelltheoretischen Begründung des Zusammenhangs von Lernsituation und Verwendungssituation.

Es geht doch wohl nicht darum, die wirtschaftliche Praxis bis ins i-Tüpfelchen nachzuahmen, um sagen zu können „unsere Qualifikationsvermittlung ist die gleiche wie die Eure“, oder anders gewendet, es geht nicht darum gewissermaßen milieutheoretisch die totale Nachahmung zur didaktischen Norm zu machen. Dies wäre ein Missverständnis dem beispielsweise eine kürzlich verfertigte Mannheimer Diplomarbeit aufgesessen ist (siehe dazu SCHMIEG 1977). Die Arbeit kommt zu dem Ergebnis, dass die getestete Übungsfirma trotz hoher technologischer Ausstattung bei bestmöglicher Simulation nicht die erforderlichen Qualifikationen vermitteln könne, weil die Arbeitsplätze der Übungsfirma vor allem hinsichtlich der Komplexität , der fehlenden Hierarchie sowie der fehlenden Stress-Situation wegen mit dem echten Betrieb nicht konkurrieren könne.

Hier werden also Arbeitsplatzmerkmale von Übungs- und Patenfirma gegeneinander aufgerechnet, und dann wird per Saldo ein Defizit an Komplexität, Hierarchie und Stress festgestellt und – als Qualifikationsdefizit ausgewiesen. In dieser pädagogischen Milchmädchenrechnung wird also schlicht der Unterschied von Arbeitsplatz und Lernmöglichkeit am Arbeitsplatz unterschlagen. So wird beispielsweise festgestellt, die Komplexität des realen Patenbetriebes sei dadurch reduziert, dass die Übungsfirma ein überschaubares Großraumbüro besitze, während die Patenfirma in räumlich getrennten Abteilungen arbeite (SCHMIEG 1977, 46, 56 und 133 ff.). Da somit der Übungsfirmling darauf verzichten könne, sich „mit anderen räumlich getrennten Abteilungen, bzw. deren Sachbearbeitern, abzusprechen, festzustellen welche Abteilung bzw. Sachbearbeiter für eine bestimmte Angelegenheit zuständig ist“ (ebd.) entfalle für ihn eine offenbar für sehr wesentlich gehaltene Möglichkeit des Qualifikationserwerbs.

Selbst erklärte Behavioristen geben zu, dass die Fähigkeit zum Durchschwimmen eines Labyrinths (ein typisches Experiment der behavioristischen Lernpsychologie) nicht auf dem erfahrenen Reiz-Reaktionsschemata in Versuch und Irrtum beruht, sondern auf der Anwendung einer offenbar dabei erworbenen kognitiven Landkarte (vgl. FOPPA 1968, 140 f. und 359 f.). Eine solche kognitive Landkarte des Betriebes aber ist schneller und allgemeingültiger, weil für viele Eventualitäten planbar, in der Übungsfirma zu erwerben. Die zu erwerbende Qualifikation lautet ja doch nicht „im speziellen Betrieb X die verborgene Tür des Sachbearbeiters Y zu finden“, sondern es geht um einen generellen Erwerb von Übersicht und Durchsicht (Transparenz), als stets und in mancherlei Betrieben einsatzbereitem kognitiven Instrument, das betriebliche Kommunikation möglich macht und den von der Praxis geforderten Wechsel vom Abteilungsdenken zum gesamtbetrieblichen Denken fördert.

In ähnlicher Weise lässt sich die Kritik zurückweisen, ein besonders notwendiger Qualifikationserwerb wäre dadurch behindert, dass die Übungsfirma gegenüber der realen Patenfirma die Arbeit einer ganzen Verkaufsabteilung nur einem Arbeitsplatz zuordnet. Der Angestellte sei dadurch nicht den komplexen Anforderungen hocharbeitsteiliger Betriebe ausgesetzt und könne dementsprechend nicht die gebotene Qualifikation erwerben (vgl. SCHMIEG 1977, 50).

Das ist doch aber gerade der pädagogische Witz der Sache, dass hier die Arbeitsteilung des Betriebes zurückgenommen wird , so dass die Ganzheit der Tätigkeiten im Modell erfahren werden kann, als Voraussetzung für flexible arbeitsteilige Anwendung. Was dann noch hinzukommen muss, ist die Routine am arbeitsteiligen Arbeitsplatz.

Worauf es zunächst ankommt, ist die Vermittlung von Flexibilität die gerade über die arbeitsteilige Schreibtischperspektive hinausführt, weil sie nur auf der Grundlage von Transparenz des gesamten Betriebes erreichbar ist. Besonders wichtig erscheint dabei der Aspekt, dass Theorie und Praxis in eine Verbindung treten, die flexibles, weil theoriegeleitetes Handeln ermöglicht. Theoriegeleitetes Handeln heißt, dass das Handeln nicht allein aus den Erfahrungen des eigenen Funktionierens am Arbeitsplatz resultiert, sondern dass es gesteuert wird von Regeln betriebswirtschaftlicher und sozialer Vernunft.

Ein treffendes Beispiel für geglückte Synthese von Theorie und Praxis scheint mir die in vielen Übungsfirmen übliche tägliche Statusbesprechung zu bieten. Hier werden in einer Arbeitsgruppe, die aus Vertretern der Abteilungen besteht, die Daten über Vermögen und Verbindlichkeiten gesammelt. Es kommt so zur Beurteilung der Situation des Betriebes unter dem Gesichtspunkt von Liquidität und wirtschaftlichem Gleichgewicht. Es kommt damit zur Spiegelung der eigenen kleinen Arbeitsplatztätigkeit in den Zwischenergebnissen des Gesamtbetriebes. Der Mitarbeiter erfährt damit die betriebswirtschaftliche Bedeutsamkeit seines Tuns und reflektiert dieses Tun sogleich in der Anwendung betriebswirtschaftlicher Regeln zur Wirtschaftlichkeits- und Liquiditätssteuerung und Kontrolle. Diese Anwendung betriebswirtschaftlicher und sozialer Regeln ist didaktisch umso ergiebiger, je mehr es gelingt, die mit der Ausbildung einhergehenden Lernprozesse an anderen Lernorten so mit dem Praxisfeld der Übungsfirma zu verknüpfen, dass sowohl reale Praxiserfahrungen wie Unterrichtsziele sich in der Übungsfirma zu transferfähigen Verhaltensweisen ausformen. Dass zu einer solchen optimalen Abstimmung von Theorie und Praxis eine Lernprozeßorganisation mit handlungsorientierter Curriculum-Entwicklung erforderlich ist, sei nur am Rande erwähnt.

Was nun – und damit komme ich zum Schluss – den Vorwurf betrifft, die Übungsfirma könne trotz technologisch bester Ausformung und Nachahmung zwar recht gut und bewiesenermaßen besser als das bloße Mitmachen am echten Arbeitsplatz die kognitiven Fähigkeiten ausbilden, nicht aber die offenbar so dringend erforderlichen affektiven, wie z. B. Hierarchie akzeptieren, Stress ertragen, sich besonders anstrengen, Anpfiffe einstecken, so lässt sich nicht leugnen, dass hier die Möglichkeiten wie auch die Absichten der Übungsfirma von dem sich unterscheidet, was allgemein als Ernstsituation des Betriebes bezeichnet wird. Nach allem, was bisher über die besonderen Möglichkeiten gesagt wurde, durch die Übungsfirma zu Flexibilität, transparenz- und theoriegeleitetem Handeln zu gelangen, dürfte außer Zweifel stehen, dass Ausbildungsgänge, die als Praxiserfahrung lediglich die Übungsfirma und einige Betriebsbesichtigungen bieten, durchaus zu dem Ergebnis führen, dass die Absolventen im Betriebe über ein einsatzfähiges Know-how verfügen, so dass sie in diesem Sinne funktionsfähig sind.

Was derartiger Ausbildung fehlt, ist das, was früher als funktionale Erziehung, heute als betriebliche Sozialisation bezeichnet wird. Also jenes Hineinwachsen in das betriebliche System von Belohnungen und Sanktionen mit meist hierarchischer Führungsstruktur, was unter anderem dazu führt, dass dem kaufmännischen Angestellten oftmals eine eigenartige hierarchische Weltsicht zu eigen ist (vgl. BRAUN/ FUHRMANN 1970).

Nun ließe sich auch das zum Teil simulieren, und manche Übungsfirmen tun das auch. Im Rollenspiel wird damit sicherlich ein Teil der sozialen Wirklichkeit erfahrbar gemacht, mancher erlebt sich dabei in der Rolle des Vorgesetzten und er wird damit, wenn man der Rollenspieldidaktik Glauben schenken darf, befähigt zu besserer innerbetrieblicher Kommunikation (vgl. SHAFTEL/ WEINMANN 1974, 89 ff.).

Das Ergebnis von Hierarchie in Form von Anpfiffen und dergleichen ist jedoch ein fragwürdiges Lernziel. Wir bilden für die Zukunft aus und diese dürfte zunehmend von modernen Organisations- und Managementkonzepten geprägt sein, die das Bürokratie-Modell zugunsten kooperativer Arbeitsformen ablösen. Das Stichwort Organisationsentwicklung ist bereits gesicherter Bestandteil moderner Organisationswissenschaft und -praxis, und man darf hoffen, dass eines Tages auch die Entwerfer von Berufsbildern und Ausbildungsgängen dies zur Kenntnis nehmen.

Die Umfrage des BFW Hamburg hat, wie erwähnt, ergeben, dass Teamfähigkeit bei den Betrieben hoch im Kurs der gefragten Anforderungen steht. Auch hier ließen sich viele Beispiele beibringen, die die Ausbildungsbedeutung der Übungsfirma auch in diesem Punkte der sozialen Fähigkeiten belegen. Die Übungsfirmenmesse scheint mir hier der sichtbarste und überzeugendste Beweis für die Realisierung von Teamgeist und Teamarbeit.

So darf in der eingangs gestellten Frage nach dem Wert der Übungsfirma als Lernort unter anderen Lernorten wohl mit einiger Berechtigung festgestellt werden, dass die Möglichkeiten der Übungsfirma in der Spannweite eines Schule- und Praxis ergänzenden Lernortes bis hin zu einer einem reale Arbeitsplatzerfahrungen ersetzenden Lernort reichen, wobei die gemachten Einschränkungen der mangelnden Routine und Betriebsanpassung ebenso gelten wie andererseits die Chancen erhöhter Flexibilität.

Abschließend noch ein Wort zu der Frage der Überprüfung all der Qualifikationen wie Flexibilität, Transparenz, theoriegeleitetes Handeln, Teamarbeit usw. Man kann wohl kaum sagen, dass das jetzige System der Kaufmannsgehilfenprüfungen in der Lage ist, derartige Qualifikationen einigermaßen valide zu überprüfen (Typisch hierfur sind die Dominanz der Fragen zum Handelsrecht und zum Zahlungsverkehr, die – ganz abgesehen von der mangelnden Relevanz – neben leeren Begriffen die Lernkapazität des Auszubildenden absorbieren, z.B. "Tagwechsel, Datowechsel, Sichtwechsel, Nachsichtwechsel, Windprotest" und die vielen Beispiele in: HÜTTNER/ KLINK (1974): Die programmierte Prüfung des Großhandelskaufmanns. Wiesbaden.). Hier böte meines Erachtens die Übungsfirma Möglichkeiten für den sichtbaren Nachweis von Qualifikationen am Arbeitsplatz, wo dann Theorie auf Praxis bezogen wäre. Dann könnten viele der jetzt immer noch gängigen Prüfungsinhalte entfallen, angesichts derer man sich manchmal fragt: Wie kann Theorie so geschwätzig sein, dass sie Praxis zur Sprachlosigkeit verurteilt? Doch das wäre dann ein neues Thema.

 

Literatur

BRAUN, S./ FUHRMANN, J. (1970): Angestelltenmentalität. Neuwied, Berlin.

DEUTSCHER BILDUNGSRAT (1974): Empfehlungen der Bildungskommission. Zur Neuordnung der Sekundarstufe II.

EICHBERG, E./ SCHULZ, E. (1968): Berufserziehung in Stichwörtern. Wehrheim.

FOPPA, K.: Lernen, Gedächtnis, Verhalten. 4. Aufl. Köln, Berlin 1968,

FUHRMANN J. (1971): Automation und Angestellte. Frankfurt a. M.

HOPF, B. (1971): Die Scheinfirma als Bildungseinrichtung des Kaufmanns. Dissertation, Mainz.

JAEGGI, U./ WIEDEMANN, H. (1963): Der Angestellte im automatisierten Büro. Stuttgart.

MÜNCH, J. (1976): Pluralität der Lernorte – Vorüberlegungen zu einer Theorie. In: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, H 4, 243-351.

REETZ, L. (1970): Die didaktische und bildungspolitische Relevanz von Befunden der Transferforschung. In: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, H. 12, 891-911, insb. S. 898 f.

REETZ, L. (1976): Beruf und Wissenschaft als organisierende Prinzipien des Wirtschaftslehre-Curriculums. In: Die Deutsche Berufs- und Fachschule, H. 11, 803-818.

SCHMIEG, J. (1977): Betriebsrealität und Simulation. – Möglichkeiten und Grenzen der beruflichen Qualifizierung innerhalb einer verschulten kaufmännischen Ausbildung, dargestellt am Beispiel der Übungsfirma im Rehabilitationszentrum Heidelberg. Dipl.-Arb., vorgelegt bei Prof. Dr. J. Zabeck, Mannheim 1977

SHAFTEL, F.R./ SHAFTEL, G./ WEINMANN, W. (1974): Rollenspiel als soziales Entscheidungstraining. München, Basel.

WITT, R. (1975): Sachkompetenz und Wissensstruktur. Dissertation, Hamburg.