Im Mittelpunkt der universitären Berufs- und Wirtschaftspädagogik und der außeruniversitären Berufsbildungsforschung stehen die Diskussion, Forschung und Konzeptentwicklung zur Berufsbildung, die zur Ausübung eines Berufs und zur gesellschaftlichen Teilhabe in sozialer und ökologischer Verantwortung befähigen soll. Angelpunkte für die Gestaltung einer so verstandenen Berufsbildung sind nicht nur die Ziele, sondern auch die konkreten Inhalte, die mit Blick auf Beschäftigungssituationen und Arbeitsanforderungen identifiziert, curricular arrangiert und für konkrete Lehr-Lernprozesse didaktisch interpretiert werden sollen. Mit der Frage danach, wie, mit welchen Erkenntnisinteressen, Leitbildern und Methoden Inhalte für die Berufsbildung konkretisiert werden können, beschäftigt sich neuerdings ein Kreis von Berufs- und Wirtschaftspädagogen. Anstöße für den Schwerpunkt Qualifikationsforschung lieferten insbesondere die Debatten um die Krise des Dualen Systems der Berufsausbildung und das Ende des Berufs, um Lernen im Prozess der Arbeit und um eine arbeitsorientierte Didaktik mit den Prinzipien der Arbeits- und Geschäftsprozessorientierung, die die Inhaltsfrage in der Berufsbildung neu aufwarfen und deren Vertreter auf eine Verzahnung von Qualifikations- und Curriculumforschung innerhalb der Berufs- und Wirtschaftpädagogik hinaus sind. Insbesondere die offenen Lernfelder und die Forderung, sich bei ihrer Konkretisierung auf die berufliche Praxis als Bezugspunkt zu konzentrieren, warfen die Frage danach auf, auf der Basis welcher Informationen die Auswahl von Inhalten für die Entwicklung beruflicher Curricula erfolgen kann. Die Integration von Qualifikations- und Curriculumforschung wird seither sowohl theoretisch als auch empirisch vorangetrieben.
Primäres Ziel der außeruniversitären Qualifikationsforschung, wie sie beispielsweise vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) und vom Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) durchgeführt wird, ist es, im Hinblick auf Qualifikationsbestand und -entwicklung Anhaltspunkte zu bekommen und Konzepte zu erarbeiten, um die Abstimmung zwischen dem Bildungs- und dem Beschäftigungssystem zu verbessern. Insbesondere mit der Umakzentuierung von Inhalten im Zuge der Neuordnungen von Ausbildungsberufen und -verordnungen und der Neustrukturierung berufsschulischer Curricula soll die chronische Diskrepanz zwischen Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem weitgehend minimiert werden. Eine wesentliche Voraussetzung für eine am Beschäftigungssystem orientierte Berufsbildung ist es, die Entwicklung von Qualifikationen zu analysieren und zu antizipieren.
Ein weiterer Anstoß für die Qualifikationsforschung kommt derzeit aus dem europäischen/internationalen Diskussionszusammenhang um die berufliche Bildung. Im Sinne von Förderung vertikaler und horizontaler Mobilität zwischen den europäischen Bildungssystemen werden seit einigen Jahren Maßnahmen zur Verbesserung von Transparenz, Anrechenbarkeit und Anerkennung von Qualifikationen und Abschlüssen umgesetzt (EUROPASS, EQR, ECVET). Für die Qualifikationsforschung dürfte vor diesem Hintergrund insbesondere die Frage nach der Konstitution und Interpretation des im EQR (Europäischer Qualifikationsrahmen) als Lernergebnis vorausgesetzten Bündels von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten sein.
Mit dieser Ausgabe Nr. 11 von bwp@ wollen wir in unterschiedlichen Teilen verschiedene Aspekte der Qualifikationsentwicklung und -forschung vorstellen. Zum Zeitpunkt des Online-Erscheinens (November 2006) finden Sie die folgenden Aufsätze auf www.bwpat.de :
Teil 1: Aufgaben und Ansätze berufs- und wirtschaftspädagogischer Qualifikationsforschung
Die Beiträge im ersten Teil geben einen Einblick in Aufgaben, Fragestellungen und Erkenntnisinteressen berufs- und wirtschaftspädagogischer Qualifikationsforschung. In unserem Beitrag geht es um den Versuch, verschiedene Facetten dieses neuen Schwerpunktes zu differenzieren und im Hinblick auf Diskussions-, Forschungsstand und -bedarf zu beleuchten. Derzeit zeichnen sich zwei Schwerpunkte innerhalb der berufs- und wirtschaftspädagogischen Qualifikationsforschung ab: der Ansatz berufswissenschaftlicher Qualifikationsforschung des ITB-Bremen und der der bildungswissenschaftlichen Qualifikationsforschung der Universität Siegen. Matthias BECKER und GEORG SPÖTTL rekonstruieren die berufswissenschaftliche Forschung und deren empirische Relevanz für die Curriculumentwicklung. ULRIKE BUCHMANN und RICHARD HUISINGA stellen die bildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung als Basis für eine nachhaltig-innovative Curriculumentwicklung dar.
Teil 2: Nationale und internationale Konzepte zur Strukturierung von Qualifikationen – Anforderungen an die Qualifikationsforschung
In ihrem Beitrag über Folgen der Einführung des EQF diskutiert SANDRA BOHLINGER nach einer Darstellung von Leitideen und Strukturen des Qualifikationsrahmens die Interessenkonflikte aus deutscher und europäischer Perspektive bei der Entwicklung einer gemeinsamen Terminologie, die wiederum die Grundlage für die Entwicklung gemeinsamer Ziele bildet.
CHRISTOPH ANDERKA gibt einen Überblick über die verschiedenen Ziel-, Handlungs- und Forschungsebenen, die bei der Implementation von Qualifikationsrahmen auf nationaler und internationaler Ebene zu berücksichtigen sind.
Im Mittelpunkt des Beitrages von ARTHUR SCHNEEBERGER steht die Frage, wo aktuelle Probleme der Nutzung des Konzepts International Standard Classification of Education (ISCED) aus österreichischer Perspektive liegen.
Teil 3: Aspekte und Perspektiven berufs- und wirtschaftspädagogischer Qualifikationsentwicklung und -forschung
Unter dieser Rubrik sind Beiträge versammelt, die bestimmte Gesichtspunkte behandeln und exemplarisch bzw. speziell auf Optionen in der Qualifizierungsgestaltung und -forschung eingehen.
LUTZ GALILÄER geht von der Tatsache segmentierter Arbeit aus und stellt eine Form von Qualifikationsforschung vor, die – im konkreten Fall mit Blick auf die Schnittstelle von einfacher Arbeit und Facharbeit – an Ursache-Wirkungszusammenhängen interessiert und auf differenzierte Informationen unterhalb von Kategorien wie Beruf oder Berufsbild ausgerichtet ist.
Anhand empirischer Beispiele belegt BERND HAASLER die Bedeutung handwerklichen Könnens auch im Kontext der Einführung von Hochtechnologien. Diese Erkenntnis habe weit reichende Bedeutung für die Ausbildung von Fachkräften in zahlreichen Berufsfeldern.
VERENA WALDHAUSEN stellt in ihrem Aufsatz das Projekt „AusbildungPlus – Höherqualifizierung und Attraktivitätssteigerung der Berufsausbildung durch Zusatzqualifikationen und dualer Studiengänge“ unter dem Aspekt seines Beitrags zur Identifizierung aktueller Qualifikationstrends vor.
Eine abschließende Bestandsaufnahme des Zusammenhangs von Qualifizierung und neuer Beruflichkeit sowie einen Ausblick auf die Ausbildung liefert SEBASTIAN LERCH.
Der Ausblick:
Bereits jetzt finden Sie als Leserinnen und Leser fünf weitere Artikel mit den Abstracts angekündigt, die noch im Dezember 2006 online gehen werden: Dass davon gleich vier Beiträge zum Themenschwerpunkt EQR – NQR (Georg HANF und Volker REIN, BIBB; Burkart SELLIN, Cedefop; H.-Hugo KREMER, Universität Paderborn sowie Rita MEYER, TU Berlin) im ersten Update dieser Ausgabe sein werden, ist für uns Beleg für das Interesse an und die aktuelle Relevanz des Themas.
Zum Teil 3 wird ein weiterer Beitrag von Regina BEUTHEL (TU Darmstadt) kommen.
Bis zum Mai 2007 werden wir das Thema Qualifikationsentwicklung und -forschung in der beruflichen Bildung weiter ausbauen und zur Diskussion dazu direkt auf bwp@ einladen. Beiträge können noch eingereicht werden, Ausgabe 11 wird regelmäßig ergänzt und erweitert werden.
Sie als Leserinnen und Leser laden wir ein, uns Ihre Reaktionen zu schicken – entweder an:
qualifikation (at) bwpat.de oder direkt an die beiden Herausgeber.
Am Beginn dieser kommenden Phase einer hoffentlich inhaltlich interessanten Diskussion und als Abschluss der monatelangen Vorbereitungen bleibt uns noch, uns bei den Autorinnen und Autoren und allen, die an dieser Ausgabe mitgewirkt haben, recht herzlich zu bedanken.
Karin Büchter und Franz Gramlinger
(inhaltlich verantwortliche Herausgeber von bwp@ Nr. 11)