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 bwp@ Ausgabe Nr. 11 | November 2006
Qualifikationsentwicklung und -forschung für die berufliche Bildung

Besiegelt der Europäische Qualifikationsrahmen den Niedergang des deutschen Berufsbildungssystems ?

 

 

 


Um die Wettbewerbsfähigkeit des Europäischen Handels- und Wirtschaftraumes aufrecht zu erhalten bzw. zu forcieren, wurden auf einer Sondertagung des Europäischen Rates unter dem portugiesischen Vorsitz im März 2000 strategische Ziele für Beschäftigung, Wirtschaftsreform und sozialen Zusammenhalt formuliert. Diese so genannte Lissabon-Strategie stellt die einleitende Politikstrategie zur Förderung des europäischen Wirtschaftsraumes dar, in der festgelegt wurde, dass sich die Europäische Union bis zum Jahre 2010 „zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftraum der Welt“ entwickeln sollte. Die Betonung des Wissens als Grundlage jeder wirtschaftlichen Weiterentwicklung macht deutlich, welchen hohen Stellenwert Bildung, Berufsbildung und das lebenslange Lernen für diesen Prozess haben.

Ein wesentliches Ziel der Europäischen Berufsbildungspolitik ist es von jeher, den Bürgern der Europäischen Union (EU) „Freizügigkeit“, d.h. die freie Wahl sowohl des Wohn- als auch des Arbeitsortes zu ermöglichen. Im Rahmen der Förderung des europäischen Wirtschaftsraumes stellt allerdings die Realisierung der beruflichen Mobilität eine besondere Herausforderung dar, da die divergenten Berufsbildungssysteme der europäischen Mitgliedstaaten bzw. deren uneinheitliche Zugangs- und Zertifizierungsansätze die wechselseitige Anerkennung von beruflichen Kompetenzen erschweren. FROMMBERGER (2005b) stellt bezüglich der Mobilitätspraxis in Europa fest, „dass das Recht auf Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit [...] der Europäischen Union durchaus in Konfrontation zu den beruflichen und sozialrechtlichen nationalen Unterschieden steht“ und dass darin ein „nicht unwesentliches Konfliktpotential der Europäischen Politik zur Förderung der Mobilität“ besteht, da diese „per se den Bereich der Berufsbildung und damit die nationalen Hoheitsrechte tangiert“ (ebd., 13). Wie weit die Folgen dieser Politik bezogen auf das deutsche Berufsbildungssystem reichen, das ist die zentrale Fragestellung dieses Beitrages.

Im Folgenden werden die Maßnahmen, die im Zuge der Errichtung eines europäischen Berufsbildungsraumes getroffen wurden, kurz präsentiert und es wird nach den Konsequenzen gefragt, die die gegenwärtige EU-Bildungspolitik und insbesondere die Einführung eines Europäischen Qualifikationsrahmens (EQR) auf das deutsche Duale System der Berufsausbildung bzw. auf das unserem Berufsbildungssystem zugrunde liegende Ordnungsprinzip der Berufsförmigkeit hat.

1.Maßnahmen zur Errichtung eines europäischen Berufsbildungsraumes

Als ein Eckpfeiler der Maßnahmen zur Errichtung eines europäischen Berufsbildungsraumes kann – neben der bereits erwähnten Lissabon-Strategie – die Zusammenkunft der europäischen Minister für Berufsbildung (aus 30 Staaten) und der Europäischen Kommission in Kopenhagen (November 2002) bzw. die in diesem Zusammenhang verfasste Erklärung, die durch die Verbände der europäischen Sozialpartner unterstützt wurde, gelten (vgl. zusammenfassend zum Prozess der Europäisierung in Europa DUNKEL / JONES 2006). Es wurde beschlossen, dass die nationale Politik der Mitgliedstaaten durch innereuropäische Koordination von Grundsätzen und Verfahren unterstützt werden soll, jedoch darüber hinaus keine gesetzlichen Regelungen in diesem Rahmen getroffen werden, da der Bereich der Berufsbildung dem Subsidiaritätsprinzip unterliegt.

Das Mittel zur Durchsetzung der politischen Ziele bzw. der Implementierung europaeinheitlicher Instrumente ist die Methode der „Offenen Koordinierung“ (OMK). Dabei handelt es sich um eine Steuerungsform in supranationalen Angelegenheiten, in der das Subsidiaritätsprinzip gilt und die EU formal nicht zur Rechtsetzung befugt ist. Es geht dabei um die Aufstellung von gemeinsamen Zielen und deren Umsetzung. Als Instrumente fungieren in diesem Prozess Benchmarking, Berichtspflicht, Monitoring und Evaluierung.

Die Kopenhagen-Erklärun g der Minister für berufliche Bildung stellte vier inhaltliche Prioritätsbereiche als wesentliche Kernelemente des europäischen Bildungs- und Wirtschaftraums auf:

•  Mobilität: Förderung der Mobilität, interkultureller Kompetenzen sowie der Zusammenarbeit und der Öffnung der Lehrpläne und Ausbildungsordnungen in Europa

•  Transparenz: Förderung der Transparenz von Qualifikationen und Kompetenzen durch Zusammenführung der Instrumente Europäischer Lebenslauf, Diploma Supplement und EUROPASS sowie durch Ausbau und Weiterentwicklung der Bildungs- und Berufsberatung

•  Anerkennung: Schaffung eines europäischen Rahmens für die Anerkennung von erworbenen Kompetenzen und Qualifikationen auf der Basis gemeinsamer Prinzipien (durch Leistungspunkte-Transfersystem bzw. Credit-Transfer-System)

•  Qualitätssicherung in der beruflichen Bildung: Förderung der Zusammenarbeit in der Qualitätssicherung insbesondere mit Blick auf den Austausch von Modellen und Methoden sowie auf gemeinsamen Qualitätskriterien und -grundsätzen für die berufliche Bildung

Neben diesen vier Kernbereichen lassen sich noch Zielsetzungen bzw. Maßnahmen benennen, die sich aus der Kopenhagen-Erklärung ergeben haben; so z.B. die weitere Unterstützung des Lebenslangen Lernens , die Validierung des nicht-formalen und informellen Lernens und die Förderung von Schlüsselkompetenzen (d.h. in diesem Zusammenhang die Förderung der sprachlichen Fähigkeiten und der Lernfähigkeit). Diese Ziele sollen durch die Unterstützung von transnationalen Aktivitäten zur Verbesserung der Arbeitskräfte- als auch der Bildungsmobilität erreicht werden: verschiedene Transparenzansätze (z.B. Entsprechungsverfahren, Portfolio-Ansatz etc.) intendieren eine Beförderung der Arbeitsmarktmobilität, die Bildungsmobilität hingegen soll auf der Grundlage aktiver Programme zur Unterstützung von Bildungsphasen im europäischen Ausland (z.B. EUROPASS und Kreditpunktesysteme) gesteigert werden. Diese Maßnahmen, die kurz als „ Brügge-Kopenhagen-Prozess “ gekennzeichnet werden, sollen eng mit dem Bologna-Prozess – dem Programm zur Förderung eines europäischen Hochschulraumes – koordiniert werden. Damit soll eine Annäherung der Berufsbildung an den Bereich der Hochschulbildung erreicht werden. Mit dem ECVET (European Credit System for Vocational Education and Training) wird für die Berufsbildung parallel ein Instrument zur Vergabe von Leistungspunkten entwickelt, welches mit dem ECTS (European Credit Transfer System) für den Hochschulbereich weitgehend kompatibel sein soll (BOHLINGER 2005). Hervorzuheben ist, dass die Europäische Union im Bologna-Prozess zunächst erwogen hatte, das ECTS System auf die Berufsbildung zu übertragen. 2002 wurde in der Kopenhagener Erklärung dann angeregt, zu untersuchen, wie Transparenz, Vergleichbarkeit, Transferabilität und Anerkennung beruflicher Kompetenzen explizit durch die Einführung eines Kreditpunktesystems für die berufliche Bildung gefördert werden können. Auf dem Gipfel von Barcelona im März 2002 wurde dann die Entwicklung eines dem ECTS vergleichbaren Systems für die Berufsbildung – ECVET – beschlossen.

Weil die Anwendung dieses Punktesystems einen Rahmen zur Bewertung brauchte, ist 2004 auf der Zusammenkunft der Berufsbildungsminister, der EU-Kommission und der europäischen Sozialpartner in Maastricht die Entwicklung eines Europäischen Qualifikationsrahmes (EQR) angeregt worden, der die Einordnung von Lernergebnissen als berufliche Kompetenzen ermöglichen soll.

2. Der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) – Ein Instrument zum Vergleich beruflicher Kompetenzen

Die erste Forderung nach einem einheitlichen europäischen Qualifikationsrahmen wurde im Gemeinsamen Zwischenbericht des Europäischen Rates und der Europäischen Kommission über die Umsetzung des Arbeitsprogramms „Allgemeine und berufliche Bildung 2010“ im Februar 2004 getroffen (KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT 2005c). Erneuert wurde diese durch die zuständigen (Bildungs-)Minister und Sozialpartner auf deren Sitzung in Maastricht im Dezember 2004 sowie auf der Tagung des Europäischen Rates im März 2005, wobei festgelegt wurde, dass der EQR bis 2006 realisiert bzw. anerkannt werden sollte. Als Voraussetzung für die Implementierung des EQR in den europäischen Bildungs- und Berufsbildungsraum gilt die Freiwilligkeit der Beteiligung durch die Mitgliedsstaaten, d.h. die Beibehaltung des Subsidiaritätsprinzips in Bildungsfragen. Es soll daher auch keinen wechselseitigen intraeuropäischen Rechtsanspruch auf Gültigkeit des EQR geben.

Grundlegendes Prinzip des EQR ist die Orientierung an Lernergebnissen (learning outcomes), die die Gesamtheit aller von einer Person erworbenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten abbilden sollen. Den Kern des Modells bilden acht Referenzniveaus (reference levels), wobei die vier obersten Stufen dem Qualifikationsrahmen für Hochschulen entsprechen. Mit Hilfe von Deskriptoren wie Kenntnisse, Fertigkeiten und Kompetenzen werden die Lernergebnisse für jedes einzelne Referenzniveau beschrieben. Im Europäischen Qualifikationsrahmen wird Kompetenz dabei im Sinne der Übernahme von Verantwortung und Selbständigkeit definiert.

Auf jeder der acht Stufen des Qualifikationsrahmens ist für jede Kategorie beschrieben, auf welchem Grad der Komplexität, Spezialisierung und Verantwortung eine Zuordnung angemessen erscheint. Die dort skizzierten Lernergebnisse werden vom niedrigsten bis zum höchsten Kompetenzniveau immer anspruchsvoller und komplexer. Im Gesamtbild bietet der EQR damit als ein „Metarahmen“ ein Leseraster zur Einordnung von Kompetenzen.

Das erklärte Ziel des EQR ist nicht der Vergleich von formalen Bildungs abschlüssen , sondern die Bewertung von Kompetenzen . Der EQR soll ausdrücklich nicht als Instrument zur formalen Anerkennung von beruflichen Qualifikationen fungieren. Diese wird durch eine gesonderte Anerkennungsrichtlinie geregelt (FAHLE/ HANF 2005). Er soll lediglich die Funktion eines Übersetzungssystems für den intraeuropäischen Vergleich und die Positionierung von verschiedenen Lernergebnissen ermöglichen. Damit diene, so die Vorstellung der Kommission, der EQR als gemeinsame Referenz für Qualitätssicherung und -entwicklung im Bereich der allgemeinen und beruflichen Bildung und unterstütze das lebenslange Lernen durch Schaffung eines einheitlichen Rahmens für alle nationalen Qualifikationen.

Die Einschätzung der persönlichen Chancen in der europäischen Perspektive soll damit auch für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer greifbarer werden. Der EQR soll „dem einzelnen Bürger ermöglichen, innerhalb komplexer Systeme zu navigieren und seine eigenen Lernergebnisse in diesem weiten Kontext einzuschätzen“ (KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT 2005c, 3). Dies soll bewirken, dass eine erhöhte Flexibilisierung der Arbeitskräfte sowohl innerhalb und zwischen den nationalen Bildungsebenen als auch auf dem europäischen Arbeitsmarkt erreicht wird.

Mit dem Vorschlag der Europäischen Kommission zur Einführung des EQR ist in Deutschland eine rege Diskussion darüber entstanden, inwieweit sich die Einführung eines solchen Instrumentes auf unser deutsches Berufsbildungssystem auswirken wird. Diese Diskussion wurde lange Zeit auf bildungspolitischer Ebene seitens des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) und zwischen den Vertretern der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften geführt. Die berufs- und wirtschaftspädagogische Forschung nimmt sich dieses Themas recht zurückhaltend an. Im Folgenden wird der EQR mit besonderem Blick auf die Folgen seiner Einführung für das deutsche Berufsbildungssystem einer kritischen Analyse unterzogen.

3.  Zum Problem der Anwendung und Implementierung des EQR auf nationaler Ebene

Auf der programmatischen Ebene sind die Ziele und Instrumente der Europäischen Berufsbildungspolitik wie sie oben beschrieben wurden, durchaus nachvollziehbar. Allerdings gestaltet sich die Einführung bzw. Umsetzung des EQR angesichts länderspezifischer Besonderheiten schwierig.

Die problematischen Aspekte, die in den politischen und wissenschaftlichen Diskursen thematisiert werden, lassen sich im Wesentlichen auf unterschiedlichen Ebenen systematisieren: Zum einen gibt es Probleme und Ungeklärtheiten, die das Instrument selbst betreffen und seine Handhabbarkeit und Funktionalität infrage stellen. Darüber hinaus sind noch viele Punkte offen, die die zeitnahe konkrete Umsetzung und Realisierung des EQR auf europäischer Ebene angehen. Nicht absehbar sind zudem die langfristigen Folgen , die im Zuge einer nachhaltigen Implementierung für die nationalen Berufsbildungssysteme der europäischen Länder entstehen.

Ausdruck eines systemimmanenten Problems des EQR ist die berechtigte Kritik, dass das Instrument theoretisch nicht hinreichend fundiert und empirisch abgesichert sei. Dies gilt zum einen bezogen auf die Anzahl der Ebenen und zum anderen für die Deskriptoren und das Kompetenzverständnis. Das Bundesinstitut hat in einer Stellungnahme darauf hingewiesen, dass die Deskriptoren einer Überarbeitung bedürfen. Dabei sei darauf zu achten, dass „eine erfahrungsbasierte Befähigung […] in der Diktion nicht niedriger angesiedelt werden [sollte] als eher kognitiv erworbene.“ (BIBB 2005) Inzwischen ist diese Überarbeitung erfolgt; und es sind explizit praktische Fertigkeiten, die auf Umgang und Geschicklichkeit in der Verwendung von Methoden und Material zielen, und damit auch Erfahrungswerte einschließen, aufgenommen worden. Allerdings ist d ie Herleitung dieser Deskriptoren nach wie vor weder durch Theorien abgesichert noch durch empirische Studien belegt. Der EQR ist losgelöst von der Bildungs- und der Qualifikationsforschung in zahlreichen Arbeitsgruppensitzungen mit nationalen Experten erarbeitet worden . Diese theorie- und empiriefreie Konstruktion lässt es fragwürdig erscheinen, ob dieses System die Kompetenzen und Qualifikationen, die die historisch und kulturell gewachsenen nationalen Systeme hervorbringen, angemessen abbilden kann. Hier deutet sich an, dass die europäische Berufsbildungspolitik offensichtlich einem „Ideal der Planbarkeit“ (SEVERING 2006) unterliegt, das sich aufgrund der hohen politischen Interessengeleitetheit nationaler Bildungssysteme allerdings kaum erfüllen lässt.

Die Begrifflichkeiten, mit denen der EQR agiert, sind in der internationalen Kommunikation nicht zuletzt aus den o.a. Gründen nach wie vor uneindeutig. Dies gilt vor allem für den Kompetenzbegriff in Abgrenzung zum Qualifikationsbegriff: „competence“ bezieht sich im englischen eher auf den Verantwortungs- bzw. und Zuständigkeitsbereich, „competencies“ hingegen auf das tatsächliche „Können“; der englische Begriff der „qualification“ im EQR entspricht eher Bündeln von Kompetenzstandards und damit in etwa dem, was wir in Deutschland als ein Berufsbild bezeichnen würden.

Diese systemimmanenten Probleme in der Konstruktion des EQR führen zu Anwendungs- und Umsetzungsproblemen auf nationaler Ebene. Nationale Systeme werden dabei in ihrer Struktur umso weniger tangiert, je mehr sie bereits der Systematik des EQR entsprechen. In nationalen Bildungssystemen, die einer eher marktorientierten Steuerungslogik folgen, die bereits modularisierte Strukturen aufweisen und/oder über nationale Qualifikationsrahmen verfügen, kann der EQR relativ problemlos zum Einsatz kommen. In Deutschland gibt es allerdings eine Reihe von Traditionsbeständen und Strukturelementen, die die Kompatibilität des Instrumentes erschweren. Entsprechend äußert RAUNER (2005) die Befürchtung, dass die europäische Berufsbildungspolitik zur Folge haben könnte, dass die Berufsausbildung in Deutschland nach britischem Vorbild umgebaut wird.

Zu diesem Ergebnis kommt auch eine Studie, die im Auftrag der IG Metall und Ver.di erstellt wurde. Zentraler Kritikpunkt ist, dass mit der Einführung und Umsetzung des EQR das Duale System der Berufsbildung und auch das Prinzip der Beruflichkeit zerstört werde (DREXEL 2005). Die Europäische Bildungspolitik, so DREXEL, verfolge das Ziel, ein „neues System“ der Berufsbildung zu schaffen, dessen Grundlage ECVET und der EQF sei. Es wird unterstellt, dass die Branche der Bildungsanbieter und Zertifizierungsunternehmen verdeckt gefördert werden soll und dass eine Angleichung der Bildungssysteme angestrebt wird. Inwieweit dieser Argumentation, die eine Abschaffung des Dualen Systems der Berufsausbildung in Deutschland und eine Erosion des Berufsprinzips prognostiziert, zu folgen ist, wird in Abschnitt 4 kritisch hinterfragt.

Weitgehend unbestritten ist bezogen auf die Umsetzungsprobleme in Deutschland, dass eine Anwendung des EQR deshalb besonders problematisch ist, weil wir traditionell einen eher input- und institutionenorientierten Ansatz verfolgen. Der Erwerb individueller Qualifikationen ist hier auf eine einzigartige Weise mit dem Bildungssystem und seinen beruflichen communities verankert. Die spezifische Verzahnung von Theorie- und Praxisanteilen führte schon bezogen auf das so genannte „Fünf-Stufen-Schema“ der International Labour Organization (ILO), das bisher als Orientierung zur Vergleichbarkeit von Qualifikationen galt, zu einer Diskussion darüber, auf welcher Stufe die deutschen dualen Berufsabschlüsse einzuordnen seien. Im Rahmen eines Leistungsvergleichs zwischen einem englisch-walisischen berufsqualifizierenden Abschluss der Stufe drei und dem deutschen Berufsabschluss Industriekaufmann/Industriekauffrau haben FULST und EBNER (2004) empirisch nachgewiesen, dass der untersuchte deutsche Berufsabschluss mindestens auf dem Niveau des englisch-walisischen Abschlusses und damit ebenfalls auf Level drei des EQR einzuordnen wäre.

Weitgehend ungeklärt bezogen auf die nationale Handhabung des EQR scheint zudem noch die Grundsatzfrage, ob die Bildungsgänge dort einzustufen sind, wie FULST und EBNER das praktiziert haben, oder ob es nicht vielmehr darum geht, die Kompetenzen sichtbar und transparent zu machen. EHRKE (2006) weist darauf hin, dass es nicht darum geht, einzelne Bildungsteilnehmer in einem Sektoralen Qualifikationsrahmen einzustufen, sondern ausschließlich die Bildungsgänge. Hier deutet sich ein Widerspruch zu dem Anliegen der EU an, dass in dem EQR auch informell erworbene Kompetenzen jenseits formaler Bildungsgänge sichtbar gemacht werden sollen.

Nicht hinreichend geklärt ist in Deutschland diesbezüglich auch die Frage der Zertifizierung. Es ist weder klar, wer unter den neuen Bedingungen die Verantwortung und die Kontrolle für die Zertifizierung haben soll, noch stehen Instrumente und Methoden für die Erhebung und Anerkennung beruflicher Kompetenzen und insbesondere informell erworbener Kompetenzen zur Verfügung (GILLEN 2006).

Auch mit der intendierten Einführung des Kreditpunktesystems für die Berufsbildung (ECVET) bleibt bezogen auf die Leistungsbewertung weitgehend ungeklärt

•  wie eine Erfassung der Qualifikationen und Kompetenzen in informellen Lern- und Arbeitsprozessen erfolgen soll

•  welche Bemessungsgrundlagen für die Zuweisung der Leistungspunkte im Einzelnen gilt

•  wer was bewertet und wie z.B. Prüfungen im Verhältnis zu Bewertungen informell erworbener Kompetenzen gewichtet werden und

•  was „Einheiten“ (UNITS) in deutschen Berufsbildern sein sollen bzw. ob eine Gesamtzahl von Kreditpunkten für eine vollständige Qualifikation erreicht werden muss oder eine Summierung der Punkte für die einzelnen Einheiten eines Ausbildungsganges möglich sind.

Wenn informelles Lernen erfasst werden soll, dann müssten zunächst Instrumente und Methoden zur Messung und Bewertung informellen und nicht formalen Lernens entwickelt werden. Diesbezüglich sind andere Länder bereits weiter. So hat z.B. Frankreich bereits ein staatliches System zur Anerkennung beruflicher Erfahrung „Validation des Acquis“ (VAE) entwickelt (BREYER 2007).

Im Zusammenhang mit den Kosten, die durch die Zertifizierung entstehen, wird in dem o.a. Gutachten die Frage nach der Bildungs- oder Zertifizierungsgerechtigkeit gestellt. Wenn die Kosten der Zertifizierung von den Bildungsteilnehmern selbst zu tragen sind, dann sei damit zu rechnen, dass sich die Segmentation der Weiterbildungsteilhabe noch verschärfe und die Anwendung des EQR seinerseits sogar noch zu einer weiteren Selektion im Bereich der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung führe (DREXEL 2005). Im engen Zusammenhang mit den Kosten für die Anerkennung der Qualifikationen steht auch die Frage nach dem Zeitraum, in dem die Zertifikate Geltung haben sollen. In Anbetracht der relativ kurzen „Halbwertzeit“ des Wissens kommt diesem Punkt – besonders bei technischen Berufen – eine besondere Relevanz zu. Genau genommen müssten also Zertifikate in regelmäßigen Abständen durch Kompetenznachweise überprüft werden. Diese Fragen stellen sich allerdings auch unabhängig von der Anwendung eines EQR, und es müsste grundsätzlich geklärt werden, wie ein Berufsbildungssystem darauf flexibel und angemessen reagieren kann.

4.  Konsequenzen für das deutsche Berufsbildungssystem

Die jüngeren offiziellen Veröffentlichungen der Europäischen Union distanzieren sich ausdrücklich von dem Ziel der Harmonierung der Berufsbildungssysteme. Dennoch wird der EU-Politik unterstellt, dass sie massive Harmonisierungsbestrebungen aufweise, und es werden – wie oben schon beschrieben – geradezu Bedrohungsszenarien für das deutsche System der beruflichen Erstausbildung und das Prinzip der Beruflichkeit gezeichnet. Es wird befürchtet, dass unser Berufsbildungssystem im Zuge der Anwendung des EQR entsprechend des englischen Berufsbildungssystems modularisiert werden soll. Ob und inwieweit die Argumentation, die dieser „Imperialismusthese“ zugrunde liegt, zutreffend ist, wird im Folgenden kritisch nachvollzogen.

Das o.a. Gutachten zu den Folgen des EQR geht von der Grundannahme aus, dass das deutsche Duale System von den Europäischen Bestrebungen im Rahmen ECVET/EQF bedroht ist. Mit dieser Setzung wird allerdings die Tatsache vernachlässigt, dass sich das Duale System längst im Zuge nationaler politischer Rahmenbedingungen und Entwicklungen in seiner Struktur verändert hat: Die überwiegende Zahl der Jugendlichen – vor allem in Ostdeutschland – wird schon seit einigen Jahren nicht mehr in dem klassischen „Dualen System“ ausgebildet, sondern stattdessen einem so genannten „Übergangssystem“ zugeordnet (KONSORTIUM BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2006). Die mangelnde Ausbildungsbereitschaft der Betriebe führt auch in der beruflichen Erstausbildung immer häufiger zu Qualifizierungsmaßnahmen jenseits der klassischen Dualen Ausbildung mit der spezifischen Lernortkombination aus Schule und Betrieb: ausgebildet wird zunehmend auch in überbetrieblichen Ausbildungsstätten, Verbünden und Netzwerken, wobei die Qualifizierung aber sehr wohl zu einem Berufs abschluss führt. Außer Acht gelassen wird in der Argumentation also, dass es schon immer unterschiedliche Formen von Berufen, auch von Ausbildungsberufen gibt, die dem Dualen Modell nicht entsprechen (z.B. 2-jährige Berufe, vollschulische Assistentenberufe). Die Erosion des deutschen Dualen Berufsbildungssystems ist also weniger den Prozessen der europäischen Berufsbildungspolitik anzulasten, als eher systemimmanenten Strukturproblemen, wie z.B. der mangelnden Ausbildungsbereitschaft der Betriebe (HEIDEMANN 2007).

Auch die befürchtete Modularisierung ist in der Realität der Berufausbildung weniger dramatisch zu bewerten, als in der Diskussion um die Einführung des EQR suggeriert wird. Während in den 1990er Jahren das Konzept der Beruflichkeit und das Konzept der Modularisierung noch völlig konträr diskutiert wurden, geht die Bildungsforschung heute davon aus, dass sich Beruflichkeit und Modularisierung durchaus miteinander vereinbaren lassen. Als Vorbild dafür gelten die Berufsbildungsreformen, die in Österreich und in der Schweiz vollzogen wurden (WEIß 2006). Inwieweit die dem EQR zugrunde liegende Qutcome-Orientierung eine Modularisierung erzwingt, wäre zu prüfen. Theoretisch wäre jedoch nach Analysen des Bundesinstituts für Berufsbildung eine Umsetzung unter Beibehaltung der Berufsbilder und der Ausbildungsordnungen möglich (WOORTMANN 2006). Die Auflösung des deutschen Berufsprinzips durch eine reine Akkumulation von Lerneinheiten lässt sich schon aufgrund der rechtlichen Rahmenbestimmungen durch das Berufsbildungsgesetz nicht vollziehen, da dieses die Vermittlung von notwendigen beruflichen Fertigkeiten, Kenntnissen und Fähigkeiten „in einem geordneten Ausbildungsgang“ (§1, Abs. 3 BBiG) vorschreibt. Hier wäre also zunächst eine Gesetzesänderung notwendig.

Problematisch zu bewerten ist in diesem Zusammenhang die Unterstellung, die EU wolle aktiv die nationalen Bildungssysteme „unterwandern“. Die Einführung eines Europäischen Qualifikationsrahmens verfolgt laut Programmatik ausdrücklich nicht das Ziel, die nationalen Qualifizierungssysteme und Qualifikationsrahmen zu ersetzen. Der EQF soll lediglich eine intraeuropäische Vergleichbarkeit der verschiedenen nationalen Systeme gewährleisten. Er gilt als der kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen Lösungen innerhalb der Mitgliedstaaten und kann und will daher „keine detaillierten Beschreibungen bestimmter Qualifikationen, Ausbildungswege oder Zugangsbedingungen umfassen“, wobei er „keine Verfahren zur Definition neuer Qualifikationen“ (KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFT 2005c, 2) initiieren und/oder steuern kann. Die Ausformulierung der institutionellen, curricularen und didaktischen Einzelheiten bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten. Gerade weil im EQR Dauer, Ort und Form der Ausbildung nicht betrachtet werden sollen, kann kein unmittelbarer Vergleich von Ausbildungssystemen beteiligter Mitgliedstaaten und keine Errichtung eines 'Leitbildes' als Referenzsystem für die nationalen Berufsbildungssysteme erfolgen (FAHLE/ HANF 2005). Als ein Metarahmen ersetzt der EQR insofern nicht „andere für die Sicherung von Aus- und Weiterbildung wichtige Strategien, Standards und Strukturen“ (EHRKE 2006, 21). Selbst die nationalen Qualifikationsrahmen könnten nicht didaktische oder lerntheoretische Grundkonzeptionen ersetzen (FROMMBERGER 2004).

Bei aller – zum Teil berechtigten – Kritik an den neuen europäischen Steuerungsinstrumenten ist es grundsätzlich als problematisch zu bewerten, dass sich das Gutachten in seiner Argumentation auf eine traditionelle Form des Berufs bezieht, die faktisch in Deutschland schon längst an Bedeutung verloren hat und hinter moderne Formen von Beruflichkeit, die im Zuge der Modernisierung der Arbeitswelt entstanden sind, zurückgetreten ist. Zugrunde gelegt wird dort eine Definition von Beruf als dreijähriger Ausbildungsberuf, der im Dualen System an den Lernorten Schule und Betrieb ausgebildet wird und in den industriellen Facharbeiterberuf mündet.

Schon seit den 1990er Jahren wird das Berufsprinzip im berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskurs zunehmend mit der Konnotation thematisiert, dass es nicht mehr geeignet sei, moderne Arbeit angemessen zu organisieren (vgl. z.B. GEIßLER 1992; LIPSMEIER 1998, BAETHGE 2004). Diese vermeintliche „Erosion des Berufskonzeptes“ wird im Wesentlichen inhaltlich begründet, und zwar damit, dass zum einen die fachlichen Anteile in der Berufsbildung hinter allgemeine Kompetenzen zurücktreten und zum anderen, dass eine spezifische Zuordnung zwischen der Beruflichkeit in der Systematik der Fachwissenschaften immer problematischer werde. In dem Gutachten zum EQF wird mit der Befürchtung, der EQR untergrabe das Berufsprinzip, demgegenüber nun eher die formale Seite in der Organisation der Beruflichkeit angesprochen.

Es ist nicht zu bestreiten, dass sich die fachlichen Inhalte des Berufs angesichts technischer und gesellschaftlicher Herausforderungen permanent verändern. Im Rahmen von Neuordnungsverfahren wird aber gerade diese fachlich-inhaltliche Seite der Berufe regelmäßig an die Erfordernisse der Arbeitswelt angepasst. Und auch die Form von Berufen verändert sich: so hat z.B. bei den neuen IT- und Medienberufen das Prinzip der Prozessorientierung als ein wesentliches Strukturelement Eingang gefunden. In dem neuen IT-Weiterbildungssystem ist darüber hinaus erstmals in Deutschland auch der Bereich der beruflich-betrieblichen Weiterbildung auf der Basis des Berufsbildungsgesetzes in einem komplexen System auf der Basis von Beruflichkeit geordnet worden (MEYER 2006a). Entgegen den Erosionstendenzen, die dem Beruf nachgesagt werden, hat er im deutschen System der Berufsbildung damit sogar eine Aufwertung erfahren, die von berufs- und wirtschaftspädagogischer Seite aufgrund ihrer Fokussierung auf berufliche Erstausbildung viel zu wenig zur Kenntnis genommen wird.

Auch in der Kritik bezüglich der Folgen des EQR wird häufig nicht berücksichtigt, dass das Prinzip der Beruflichkeit sich nicht nur auf die Erstausbildung bezieht, sondern auch auf die Weiterbildung. Dieser Bereich – und insbesondere das Verhältnis des allgemeinbildenden Hochschulsystems zum System der Beruflichen Bildung – ist in Deutschland erst in Ansätzen (z.B. im IT-Sektor) institutionalisiert. Hier steht es erst noch an, nationale Regelungen zu schaffen. Darin liegt für Deutschland einerseits eine bildungspolische Herausforderung aber andererseits auch ein hohes bildungspolitisches Gestaltungspotenzial. Das gilt insbesondere mit Blick auf die internationale Anschlussfähigkeit. Zu prüfen wäre, inwieweit der EQR dabei konstruktiv als ein Orientierungsrahmen genutzt werden könnte.

Der Ausbau der beruflichen Weiterbildung erhält im Zuge der Einführung des EQR einen besonderen Stellenwert, wenn es um die Erstellung eines nationalen Qualifikationsrahmens für Deutschland geht: die Implementierung der nationalen Qualifikationsrahmen (NQF) bzw. deren Abstimmung mit dem EQR stellt bildungspolitisch eine Herausforderung für alle Mitgliedstaaten dar. In Deutschland müssen die Voraussetzung dafür überhaupt erst geschaffen werden. Die NQF sollen die verschiedenen Niveaustufen der beruflichen Aus- und Weiterbildung in den nationalen Systemen abbilden und eine Verknüpfung mit den erweiterten Bildungsstrukturen (Hochschulbereich, Erwachsenenbildung) bieten (FROMMBERGER 2005b). Als eines der wesentlichen Kriterien gilt hierbei wiederum die Outcome-Orientierung, d.h. dass ausschließlich die durch entsprechende (Aus-)Bildung erworbenen Kompetenzen beachtet werden, die dafür benötigte Zeit bzw. erreichten Abschlüsse hingegen keine Rolle spielen. Die Umsetzung in einem NQF würde bedeuten, dass wir unser bisher eher inputorientiertes System verändern und für alle Berufsbilder und Ausbildungsordnungen „learnig outcomes“ auf unterschiedlichen Niveaustufen beschreiben müssten. Ein Leitfaden zur Beschreibung solcher Kompetenzstandards wird derzeit unter wissenschaftlicher Begleitung exemplarisch für den Beruf Industriemechaniker in der Automobilindustrie erarbeitet (ANDERKA u.a. 2006).

In diesem Rahmen müssen auch Regularien geschaffen werden, die die Anerkennung von Kompetenzen aus anderen institutionellen und (inter-)nationalen Zusammenhängen ermöglichen, z.B. die Anrechnung schulischer zu betrieblicher Ausbildung sowie die Anerkennung von im Ausland erworbenen Kompetenzen (für die Ausbildung ist das mit der Reform des BBiG 2005 bereits geregelt worden). Nicht zuletzt müssen die Ergebnisse nicht-formalen und informellen Lernens einbezogen werden, was wiederum Anforderungen an das Zertifizierungssystem stellt. Letztlich geht es bei der Entwicklung nationaler Qualifikationsrahmen um die Schaffung von Standards, wobei die damit verbundenen Probleme am Beispiel der Diskussion um Bildungsstandards offensichtlich werden (MEYER 2006b).

Als ein Beispiel für einen nationalen und sektoralen Qualifikationsrahmen kann für Deutschland das schon angesprochen IT-Weiterbildungssystem gelten.

4.1  Das IT-Weiterbildungssystem als Beispiel für einen sektoralen Qualifikationsrahmen

Die Bundesregierung hat im Mai 2002 die „Verordnung über die berufliche Fortbildung im Bereich der Informations- und Telekommunikationstechnik (IT-Fort­bil­dungs­verordnung)“ erlassen, die in ein komplexes System zur Weiterbildung in der IT-Branche eingebettet ist. Auf drei verschiedenen Qualifikationsebenen (IT-Spezialisten, Operative Professionals, Strategische Professionals) sind insgesamt 35 Abschlüsse entwickelt worden, um der bis dahin herrschenden Unübersichtlichkeit der Weiterbildungslandschaft im IT-Bereich entgegenzuwirken (BORCH / WEIßMANN 2000).

Für sechs Berufe der beiden oberen Qualifikationsebenen bestehen Rechtsverordnungen des Bundes, auf deren Grundlage ein Nachweis der beruflichen Qualifikation durch die Prüfung an einer Industrie- und Handelskammer erbracht werden muss (dies geschieht wie bei Fortbildungsberufen üblich nach § 46 BBiG). Dabei handelt es sich um zwei Berufsprofile mit Qualifikation für Leitungsfunktionen auf der Ebene von „Strategischen Professionals“ und vier Berufe mit Qualifikation für mittlere Fach- und Führungskräfte auf der Ebene von „Operativen Professionals“. Die erste Ebene des Weiterbildungssystems mit den 29 Spezialistenprofilen fällt nicht unter das Berufsbildungsgesetz. Hier erfolgt statt einer Prüfung vor der Industrie und Handelskammer eine Personenzertifizierung entsprechend europäischer Normen. Zielgruppen des IT-Weiter­bil­dungssystems sind neben den Absolventen der vier IT-Aus­bil­dungs­berufe vor allem Quereinsteiger ohne formale Qualifizierung. Grundsätzlich ist festzuhalten, dass es sich bei dem IT-Weiterbildungssystem um die bisher weitestreichende Institutionalisierung von Weiterbildungsstrukturen in einer Branche handelt.

Im Einzelnen können für das IT-Weiter­bildungs­system die folgenden Standards als innovative und moderne Kennzeichen und damit auch als Potenzial für die Transformation in andere Bereiche der Berufsbildung gelten:

•  Mit der Definition und Zertifizierung von Abschlüssen innerhalb einer Branche wurde eine Einheitlichkeit und Transparenz erzielt, die ein hohes Maß an Flexibilität und Mobilität ermöglicht. Mit dieser Vereinheitlichung ist zugleich das in der deutschen Berufsbildung grundlegende Prinzip der Universalität gewahrt, das die Dominanz betrieblicher Partikularinteressen in der beruflichen Weiterbildung einschränken soll.

•  Die Anordnung der Berufe auf unterschiedlichen Qualifikationsebenen (Niveaus) ermöglicht die Realisierung individueller Entwicklungs- und Karrierewege und beruflichen Aufstiegs; insbesondere die Option des Seiten- und des Wiedereinstiegs steht für eine Aufhebung der sozialen Begrenzungen, die z.B. den Ausbildungsberufen bisher immanent waren. Damit wird auch die Durchlässigkeit des Bildungssystems in Deutschland erhöht.

•  Durch die Zertifizierung kann die Anerkennung beruflicher Abschlüsse und die Zulassung zum Hochschulstudium erleichtert und damit die Durchlässigkeit des Berufsbildungssystems erhöht werden – dies ist auf der Bundesebene ein bildungspolitisches Novum. Die Instrumente bzw. die Standards für die Anrechnung werden derzeit im Rahmen von Forschungs- und Entwicklungsprojekten erarbeitet (vgl. http://ankom.his.de ).

•  Durch die Leistungspunkt­bewertung nach dem Europäischen-Credit-Transfer System (ECTS) erfolgt eine Anlehnung an international anerkannte Bildungs- und Qualifikationsstandards. Damit ist die IT-Weiterbildung auch Vorreiter für den Bologna-Prozess in der Berufsbildung und kann als Vorbild für andere Branchen gelten. Es gibt im IT-Sektor ein Zertifizierungsverfahren, das Qualifikationsnachweise im Baukastensystem über mehrere Stufen ermöglicht. Der Council of European Professional Informatics Societies (CEPIS) hat im Jahr 2002 das EU-Projekt EPICS angestoßen. In diesem Projekt sollte die Marktfähigkeit harmonisierter Zertifizierungsverfahren zum Nachweis der beruflichen Qualifikationen in der Informatik untersucht werden (DIETTRICH/ KOHL 2006).

Unklar sind allerdings die Folgen, die eine zunehmende Marktausrichtung des deutschen Berufsbildungssystems, die auch im IT-Weiterbildungssystem angelegt ist, mit sich bringt: die Kompetenzen, die in Bildungsgängen erworben werden, sollen marktgängig sein und die Bildungsträger, die die Kompetenzen vermitteln, unterliegen dem Wettbewerb am hart umkämpften (Weiter-)Bildungs­markt. Für den Bereich der Weiterbildung ist bereits festzustellen, dass im Zuge der bildungspolitischen Reformen im Zuge der Hartz-Gesetzgebung neue „Zertifizierungsmärkte“ entstehen. Diese Entwicklung lässt sich am Beispiel der öffentlich geförderten Weiterbildung und auch im IT-Sektor bereits empirisch nachvollziehen (MEYER 2006a). Diese ökonomische Ausrichtung führt dazu, dass sich die Institutionen der Berufsbildung an den Zielen und den Prozessen des Marktes anpassen und sowohl die interne Organisationsentwicklung wie auch die nach außen zielenden Strategien daran orientieren. Allerdings begeben sich die Bildungsinstitutionen mit ihrer pädagogischen Ausrichtung in eine paradoxe Situation, wenn sie in dieser Form am Markt (re-)agieren wollen. Sie geraten ihrerseits in ein Spannungsfeld von ökonomischen und pädagogischen Interessen und unterliegen damit einem Widerspruch im Hinblick auf die Notwendigkeit zu Flexibilität einerseits (induziert durch den Markt) und zu langfristiger Planung und Kontinuität (induziert durch die pädagogische Ausrichtung und ihrem Bildungsauftrag) andererseits.

Es kann als Zwischenfazit festgehalten werden, dass sich derzeit für Deutschland auf der formalen Ebene weniger Tendenzen zur Auflösung des Prinzips der Beruflichkeit ausmachen lassen, sondern – eher im Gegenteil – mit dem Ausbau des Weiterbildungssektors sogar eher eine Aufwertung zu verzeichnen ist. Insofern spricht einiges dafür, dass das Prinzip der Beruflichkeit in Deutschland erst dann tatsächlich ernsthaft bedroht ist, wenn es zu einer Aushebelung der politischen Strukturen kommt, die dieses Prinzip stützen.

4.2  Bedroht der EQR die berufsbildungspolitischen Strukturen in Deutschland?

Es bleibt hier abschließend die Frage zu klären, inwiefern der EQR die berufsbildungspolitischen Strukturen in Deutschland bedroht. Ein wesentliches Merkmal des Berufskonzeptes in Deutschland ist nach wie vor, dass sich die Form des Berufs nicht nur über den Inhalt legitimiert, sondern auch über den Prozess des Zustandekommens: dieser ist im Wesentlichen durch föderalistische (Beteiligung von Bund und Ländern) und durch korporatistische Steuerungselemente (Beteiligung unterschiedlicher Interessengruppen) geprägt. Die berufs- und wirtschaftspädagogische Debatte um die Zukunft des Berufskonzepts marginalisiert weitgehend die Tatsache, dass Berufe „gemacht“ werden, dass sie soziale Konstrukte sind, die aufgrund funktionaler Notwendigkeiten aus neuen Tätigkeitsmustern entstehen. Dabei unterliegen sie zunächst spezifischen Qualifikationserwartungen von betrieblicher Seite, die dann entlang der jeweiligen sozialen Interessenlagen auf Arbeitnehmer- oder auch auf Arbeitgeberseite in Berufsprofilen organisiert auf Dauer gestellt werden. Die folgenden Elemente können demnach zeitunabhängig als Ausdruck einer berufsförmigen Gestaltung von Arbeit gelten: die Definition von Qualifikationsstandards, die Reklamation spezifischer Zuständigkeiten, die Organisation des Qualifikationserwerbs in formalen Strukturen, die Zertifizierung von Qualifikationen, das Entstehen von Berufsverbänden und die kollektive Absicherung von Gratifikationen, z.B. über Tarifverträge.

Wenn die Befürchtungen, die Kritiker zum EQR äußern, zutreffen, könnte für das deutsche System zum Beispiel eine Folge seiner Einführung sein, dass die tragenden Strukturelemente von Sozialpartnerschaft und Korporatismus außer Kraft gesetzt werden. Betroffen wären davon gleichermaßen die Kammern und die Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen. Insbesondere die Gewerkschaften vertreten deshalb eine distanzierte Haltung gegenüber den Bestrebungen zur Implementierung von Qualifikationsrahmen (vgl. zur Position der Gewerkschaften zusammenfassend KUDA / STRAUß 2006). Dies lässt sich folgendermaßen begründen: Mit der Erosion bzw. einem eventuellen Verlust der 'klassischen' Berufsbilder würde zum einen die Gestaltung von Tarifverträgen noch problematischer als dies schon heute der Fall ist. Es spricht einiges dafür, dass sich trotz der auch schon bisher geltenden Orientierung der Entlohnung an Tätigkeiten (und nicht an Berufen!) sich Flächentarife bei relativ feststehenden Berufsbildern einfacher realisieren lassen als für ein hoch differenziertes System von Kompetenzausprägungen. Zum anderen würden grundlegende Veränderungen bezogen auf die Gestaltung des Dualen Systems auch einen Verlust ihrer Einflussmöglichkeiten, möglicherweise auch über die Berufsbildung hinaus, bedeuten. HANF und REULING (2001) geben in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass eine stark ausgeprägte Modularisierung zu einer Individualisierung führen kann, „wodurch die Rolle des Staates bzw. der Sozialpartner oder anderer gesellschaftlicher Gruppen bei der Entwicklung des gesellschaftlichen Qualifikationspotenzials tendenziell geschwächt wird“ (ebd., 51). Diese Konsequenz hätten dann allerdings alle Sozialparteien zu tragen, die an der Gestaltung der Berufsbildung in Deutschland beteiligt sind.

Durch das o.a. Subsidiaritätsprinzip ist ein europarechtlicher Rahmen für die Beeinflussung nationaler Berufsausbildungskonzepte vorgegeben, der gerade verhindern soll, dass nationale Bildungssysteme von europäischer Seite aufgehoben bzw. ausgehebelt werden können. Selbst in den Bereichen, in denen eine Angleichung ausdrücklich intendiert ist, wie z.B. in der Beschäftigungspolitik, scheint eine Harmonisierung nicht zu gelingen: Es liegen inzwischen bezogen auf die europäische Beschäftigungsstrategie Studien vor, die belegen, dass die im Lissabon-Prozess verfolgte Strategie der Offenen Koordinierung, die auf die Ermittlung von „best-practices“ durch Monitoring zielt, nicht zu dem erwünschten Effekt der Nivellierung der sozialen Ungleichheiten in den nationalen Systemen führte (SCHÄFER 2006). Die Begründung dafür lässt sich auch auf den Bereich der Berufsbildung übertragen und ist ein Argument gegen die befürchtete „Gleichschaltung“ der Berufsbildungssysteme: „Das Politikverständnis der Offenen Methode der Koordinierung ist blind für Interessenkonflikte, weil die Suche nach effektiven Problemlösungen einen Konsens der Akteure unterstellt.“ (ebd. 545) Der Wirkungsnachweis der europäischen Beschäftigungspolitik steht demnach also noch aus; und die Befunde geben nicht unbedingt Anlass zu der Befürchtung, dass gerade in dem hoch interessengeleiteten Bereich der Beruflichen Bildung die Einführung des EQR „durchschlagende“ Wirkung haben könnte.

Eine Konvergenz in den Bildungssystemen in Europa ist auch nach Einschätzung von GROLLMANN und Rut H (2006) nicht zu erwarten. Lediglich bezogen auf einzelne Dimensionen stellen sie auf der Basis einer Befragung nationaler Berufsbildungsexperten aus europäischen Ländern tatsächlich Annäherungen zwischen den Berufsbildungssystemen fest: überraschenderweise gilt dies ausgerechnet für eine zunehmende Bedeutung des sozialpartnerschaftlichen Steuerungsmodells als Grundlage für Entscheidungen in der Berufsbildungspolitik in fast allen EU Ländern. Auch dieses Ergebnis spricht nicht gerade für die Bedrohung des deutschen Modells der Berufsbildung, sondern eher für seine Vorbildfunktion.

Für Deutschland ist festzustellen, dass sich unser Berufsbildungssystem gerade aufgrund seiner historischen und kulturellen Traditionsbestände als eher veränderungsresistent erweist. Ein massives strukturelles Beharrungsvermögen kommt auch in der jüngsten Reform des Berufsbildungsgesetzes (BBiG) zum Ausdruck, die Kritiker als zu wenig weitgehend und damit für gescheitert erklären (GREINERT 2006). Das Festhalten an den Prinzipien des Korporatismus, der sozialpartnerschaftlichen Ausrichtung und den Föderalismusstrukturen spricht nicht gerade dafür, dass ein Umbau unseres Berufsbildungssystems politisch ohne weiteres zu vollziehen wäre.

5.  Fazit und Ausblick

Deutschland steht mit seiner Befürchtung, der EQR könnte zu einer Harmonisierung der Bildungssysteme in Europa führen, nicht allein da. Auch Frankreich hat im Zuge des Konsultationsprozesses die Bedingung gestellt, dass sein nationales System – dort besteht bereits ein eigener Qualifikationsrahmen im Sinne eines nationalen Zertifizierungsregisters – nicht mit dem EU System harmonisiert werden sollte (BOUDER 2006).

Der EQR zeichnet sich dadurch aus, dass er für Deutschland einige absehbare und auch viele unabsehbare Folgen mit sich bringt. Dass unser Duales System der beruflichen Erstausbildung zur Disposition gestellt ist, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings sind die Systemprobleme, die auf das Duale System einwirken – wie z.B. mangelnde Ausbildungsplätze auf der einen Seite und mangelnde Ausbildungsreife der Jugendlichen auf der anderen Seite – nur bedingt durch die Entwicklungen auf der europäischen Ebene beeinflusst. Berechtigt sind auch die Bedenken, dass im Zuge von Monitoringprozessen, d.h. die gegenseitige Ermittlung von Stärken und Schwächen der jeweiligen Systeme, ein Entwicklungs- und Koordinationszwang in den Mitgliedstaaten hervorgerufen wird, der letztlich zu einem Druck auf die nationalen Systeme führt, dem sich auch Deutschland nicht entziehen kann (FROMMBERGER 2005a). Welche konkreten bildungspolitischen Veränderungen das nach sich zieht, das ist momentan nur auf der Basis von Befürchtungen zu thematisieren und lässt viel Raum für Spekulation zu.

Eine Erosion des spezifischen Berufskonzeptes ist derzeit in Deutschland empirisch nicht nachzuweisen. Sie deutet sich allerdings dann an, wenn sich die Sozialpartner davon verabschieden, Beruflichkeit weiterhin entlang der förderalistischen und korporatistischen Prinzipien zu organisieren. Dies ist jedoch momentan nicht zu erwarten. Im Gegenteil dazu existieren von Arbeitgeberseite detaillierte Überlegungen zu einer nationalen Umsetzung der europäischen Vorgaben, die explizit am Prinzip der Beruflichkeit festhalten (KWB 2005).

EQF und auch das zughörige ECVET können Gestaltungschancen für Reformen in der beruflichen Bildung auf nationaler Ebene bieten (SCHOPF 2005). Wenn man sie als Chance begreift und in einen bildungspolitischen Diskurs eintritt, an dem sich auch die Berufs- und Wirtschaftspädagogik beteiligen sollte, könnten durch die europäische Berufsbildungspolitik nationale Blockaden, die durch „berufsständische Verregelungen zu mangelhafter Transparenz und Durchlässigkeit führen“ (SEVERING 2006, 25) aufgebrochen werden. Gerade für unser trennscharf segmentiertes Bildungssystem – in den allgemeinbildenden und in den berufsbildenden Bereich – birgt der EQR auch das Potenzial, Impulse für die Durchlässigkeit dieser Bereiche zu bieten. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sich die Akteure in der Berufsbildungspolitik aktiv an der Ausgestaltung eines nationalen Qualifikationsrahmens beteiligen. Wenn dieser auf dem Prinzip der Beruflichkeit beruht und die Vorzüge des Dualen Systems der Erstausbildung aufnimmt (z.B. die einzigartige Verbindung von Theorie- und Praxis- bzw. Erfahrungswissen) – wie das z.B. mit der Implementierung des IT-Weiterbildungssystems bereits gelungen ist – dann sind den „Gefahren“, die von der Einführung des EQR ausgehen, durchaus Grenzen gesetzt.

Die Bedenken, die im Rahmen der berechtigten Kritik formuliert werden, sind sicherlich nicht von der Hand zu weisen, aber sie könnten im Rahmen einer kritisch-konstruktiven Begleitung und Umsetzung durch die politischen Akteure unter Beteiligung der Berufsbildungsforschung minimiert werden. Eine bloße Verweigerung gegenüber den neuen politischen Steuerungsinstrumenten, die sich auf Bedrohungsszenarien stützt, verspielt auch die Chance, die nationale Berufsbildungspolitik so mitzugestalten, dass eine Stärkung und Weiterentwicklung unseres Bildungssystems auf dem Prinzip der Beruflichkeit erfolgt.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, wenn die nationalen Systeme tatsächlich bestehen bleiben, dann könnte mit dem EQR

•  eine Anerkennung von Kompetenzen, die im Bereich der beruflichen Bildung erworben wurden, für allgemeine (Hochschul-) bildung erfolgen

•  damit die Durchlässigkeit des Bildungssystems in Deutschland erhöht werden

•  eine Anerkennung informellen Lernens in der Arbeit und damit des Erfahrungswissens der Beschäftigten erfolgen

•  eine erhöhte internationale Mobilität von Arbeitnehmern durch die Übertragbarkeit und Anrechenbarkeit ihrer Qualifikationen ermöglicht werden

•  die Beschäftigungschancen für gering qualifizierte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer erhöht werden.

Die Gestaltung eines europäischen Bildungsraumes birgt insofern noch vielfältige Herausforderungen für die nationale Berufsbildungspolitik in Deutschland und für die international vergleichende Berufsbildungsforschung, an deren empirisch fundierten Erkenntnissen sich die politischen Akteure dann auch orientieren sollten.

 

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