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 bwp@ Ausgabe Nr. 12 | Juni 2007
Qualifizierung von Berufs- und Wirtschaftspädagogen zwischen Professionalisierung und Polyvalenz

Schulpraxisreflexion – Ein Instrument zum Umgang mit dem Theorie-Praxis-Problem in der Lehrer(aus)bildung


 

 


1.  Einleitung

Wie erwerben angehende Lehrerinnen und Lehrer im Spannungsfeld von Theorie und Praxis ihre notwendigen beruflichen Kompetenzen? Diese Frage stellt nach wie vor ein fundamentales Problem in der Lehrer(aus)bildung dar. Es mangelt insbesondere an detailliertem Wissen über Zustand und Wirkung von Lehrerbildung (vgl. TERHART 2002, 13). Folgt man den Überlegungen einer Standardorientierten Lehrerbildung (vgl. OSER 2002, KMK 2004), werden Standards bzw. Kompetenzen durch Vernetzung von theoretischem Handlungswissen, Orientierung an Expertenhandeln, Übung sowie durch Reflexion erworben. Entsprechende Nachweise zu den Wirkungen dieser Faktoren – insbesondere im Hinblick auf Funktion und Bedeutung von theoretischem Wissen – liegen jedoch bislang nicht vor. Nach neueren Erkenntnissen ergeben sich eher Zweifel, ob das in der Standard-Debatte verwendete Professionalisierungskonzept überhaupt tragfähig ist (vgl. MAYR 2006). Die empirischen Befunde lassen insgesamt nicht einmal eine klare Aussage zu, wie wirksam die Lehrerbildung in Abgrenzung zur Bedeutung von Persönlichkeitseigenschaften sowie langjähriger Berufspraxis ist (vgl. BLÖMEKE 2004, 75).

Noch immer ist in der Lehrer(aus)bildung die Vorstellung weit verbreitet, dass es sich bei der Praxisbewältigung lediglich um eine Anwendung vorab erworbenen Theoriewissens handelt. Mit dieser dem Technologiekonzept folgenden Annahme wird jedoch ausgeblendet, dass große Teile des Expertenwissens von Lehrerinnen und Lehrern eher implizit sind und sich somit mangels Explizierbarkeit und Instruierbarkeit einer Lehrbarkeit entziehen (vgl. NEUWEG 2002, 17). Darüber hinaus ist bekannt, dass Lehrerinnen und Lehrer zumeist in nur geringem Maße auf Theoriewissen zurückgreifen und stattdessen eher ihren eigenen subjektiven Erfahrungen vertrauen (vgl. NEUWEG 2005, 15). Insbesondere in Drucksituationen wird ihr Handeln weitgehend unbewusst über subjektive Theorien geringer Reichweite gesteuert, wodurch ihnen in der Regel nur wenige Handlungsoptionen zur Verfügung stehen (vgl. WAHL 2005, 25). Aus entsprechenden Untersuchungen ist auch bekannt, dass sich Lehrende nach Beendigung der Ausbildung zumeist den vorherrschenden Praktiken an der Schule anpassen und sich neueren wissenschaftlichen Einsichten in das Lernen und Lehren eher verschließen (vgl. KORTHAGEN 2002, 10).

Vor diesem Hintergrund stellt sich für die Lehrerausbildungspraxis die Frage nach alternativen Konzepten, die das Erfahrungslernen mit dem Prinzip der reflexiven Distanz verbinden. Dabei geht es insbesondere darum, einerseits das biographisch erworbene und in subjektiven Theorien fest verankerte Wissen systematisch bearbeitbar zu machen und andererseits dem Umstand Rechnung zu tragen, dass das Lehrerhandeln weitgehend intuitiv-improvisierend und in dieser Form teilweise nicht einmal beschreibbar ist. Eine mögliche Konsequenz wäre, die Theorie-Praxis-Frage eher auf die Diskrepanz zwischen Wissen und Können zu verlagern. Denn trotz Abgleich zwischen den eigenen subjektiven Theorien mit wissenschaftlichen Erkenntnissen kann eine Person durchaus im Widerspruch zwischen Sagen und Tun verharren und sich somit jeglicher Veränderung entziehen (vgl. NEUWEG 2002, 20).

Dieser Beitrag wirft zunächst ein kurzes Schlaglicht auf die von angehenden Lehrerinnen und Lehrern im Vorbereitungsdienst wahrgenommene „Zwei-Welten-Situation“. Um dem Problem, das dieser Wahrnehmung zu Grunde liegt, entgegen zu wirken, wird der Bezugsrahmen für einen reflexionsorientierten Lehrerbildungsansatz skizziert. In diesem Kontext wird dann das Leverkusener Ausbildungsinstrument „Schulpraxisreflexion“ in seinen Grundelementen dargestellt und hinsichtlich der Prozessstruktur tiefer gehend erläutert.

2.  Zwei Ausbildungswelten im Vorbereitungsdienst

Aufgrund vielfältiger Rückmeldungen seitens der auszubildenden Lehrerinnen und Lehrer hat sich im Rahmen verschiedener Seminarevaluationen der Eindruck verdichtet, dass von den Betroffenen Seminar und Schule als zwei verschiedene „Lernwelten“ erlebt werden.

Vor dem Hintergrund einer am Idealunterricht orientierten Seminarausbildung wird die Ausbildung von manchen Betroffenen nicht zufällig als abgehoben theoretisch und auch wenig hilfreich bei der Bewältigung der eigenen Schulpraxis erlebt; einer Praxis, die sich im Allgemeinen als vielschichtig und hoch komplex erweist. Wenn eine solchermaßen erlebte Schulpraxis nur von einer kognitiv theoretisierenden Haltung heraus mit Blick auf ideale Muster und Formen analysiert wird, entsteht für die angehenden Lehrer leicht der Eindruck, sich mit den Lernorten Seminar und Schule in verschiedenen Lebens- bzw. Berufswirklichkeiten zu bewegen. Dabei scheint dem Lernort Schule insofern die größere Bedeutung zuzukommen, als dort - mehr oder weniger reflektiert - die prägenden Alltagsmuster und Glaubenssätze entstehen bzw. verfestigt werden. Beide Lernorte vermitteln den Berufsanfängern einen doppelten Anpassungsdruck: Zum einen geht es um das „Überleben“ in der Alltagspraxis, zum anderen geht es um den Druck, die Zweite Staatsprüfung zu bestehen.

Eine so erlebte Diskrepanz zwischen theoretischem Anspruch und erlebter Praxis wird insbesondere auch dadurch verstärkt, dass die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter glauben, im Rahmen von Lehrproben perfekt inszenierte Vorführstunden abliefern zu müssen, was möglicherweise die seit langem beklagte „Feiertagsdidaktik“ (vgl. MEYER 1980, 181) befördert hat. Es gibt zurzeit keine klaren Anhaltspunkte dafür, dass solche Stunden ausreichende Transfereffekte zur Bewältigung des alltäglichen Unterrichts auslösen. Der typische Alltagsunterricht ist infolge der geringeren planerischen Durchdringung in der Regel viel stärker mit unbewussten und unreflektierten subjektiven Theorien verbunden, als es bei Lehrproben der Fall ist.

Nicht zuletzt auch aufgrund der fehlenden Trennung zwischen Beratung, Anleitung und Bewertung ergeben sich viele Zweifel an der Wirkung traditioneller Lehrerbildungskonzepte im Hinblick auf eine Professionalisierung des Lehrerhandelns. Die Unverträglichkeit dieser bisher von einer Ausbildungsperson zugleich auszuübenden Funktionen führt dazu, dass sich Offenheit und Vertrauen, als notwendige Voraussetzungen für eine erfolgreiche Beratung, nicht oder nur schwer entwickeln können (vgl. SCHLEE 2004, 20). Von Freiwilligkeit als wesentliche Voraussetzung für professionelle Beratung kann in solchen Kontexten nicht die Rede sein. „Obwohl in diesem Zusammenhang die Verwendung des Beratungsbegriffs als Schönfärberei längst durchschaut worden ist, wird an ihm festgehalten.“ (SCHLEE 2004, 20). Die dadurch entstehenden Ambivalenzen machen den inneren Rückzug vieler Lehramtsanwärterinnen und -anwärter aus den Ausbildungsbeziehungen und die Vermeidung von Offenheit und Klarheit in den Reflexionen über den Alltagsunterricht verständlich (vgl. WEISSBACH 2006, 23). Damit kann trotz innovativer reflexiver Lehrerausbildungskonzepte (vgl. DORLÖCHTER/ KRÜGER/ STILLER/ WIEBUSCH 2006 ) echte Entwicklung bei den angehenden Lehrerinnen und Lehrern infolge der strukturellen Schieflage nur bedingt gelingen.

3. Implikationen für einen reflexiven Lehrerbildungsansatz

Zur konzeptionellen Neuorientierung in der Lehrerbildung ist zu bedenken, dass das berufliche Können von Lehrerinnen und Lehrern vorwiegend durch subjektive Theorien bestimmt wird, die sich infolge ihrer biografischen Entstehung und Bewährung in der Praxis als weitgehend resistent gegenüber Veränderungsbemühungen in Aus- und Fortbildung erweisen (vgl. WAHL 2005, 12). Ein solches subjektives Wissen besteht zu einem großen Teil auch aus implizitem Wissen (vgl. NEUWEG 2005 ), es ist häufig widersprüchlich und kann zu handlungsleitenden Unterrichtsbildern bzw. Gestalten (vgl. KORTHAGEN 2002, 45) verdichtet sein. Vermutlich wird das unterrichtspraktische Denken, Fühlen und Handeln über solche verinnerlichten als Ganzheiten wirkende Gestalten beeinflusst (vgl. KORTHAGEN 2002, 47). Zur Weiterentwicklung eines auf diese Weise entstandenen Berufswissens geht es vor allem darum, Überzeugungen, Einstellungen und Bilder von Unterricht situationsbezogen zu reflektieren, um eventuell problematische Aspekte dieser Basis leichter erkennen und abändern zu können. Im Mittelpunkt einer solchermaßen verstandenen Lehrerbildung steht also die Reflexion als mentaler Prozess zur Strukturierung bzw. Restrukturierung berufsbezogener Erfahrungen (vgl. KORTHAGEN 2002, 48).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Lehrerausbildung, von KORTHAGEN als realistische Lehrerausbildung bezeichnet (vgl. KORTHAGEN 2002, 22), als eine Verknüpfung zwischen Theorie, Schulpraxis und Persönlichkeit der jeweiligen auszubildenden Lehrerinnen und Lehrer dar:

Das Lernen der Lehramtsanwärterinnen und -anwärter nimmt seinen Ausgangspunkt in der erfahrenen Praxis. Solche Erfahrungen können sich auf frühere Erfahrungen (Biographie), kürzliche Erfahrungen sowie auf Erfahrung im hier und jetzt beziehen (vgl. MELIEF/ TIGCHELAAR/ KORTHAGEN 2003, 30). Sie werden durch systematische Reflexion verarbeitet, indem die Lernenden die Fragen, die sie sich stellen, mit Antworten, die sie nach Möglichkeit selbst herausfinden, verbinden. Das Wissen wird in einem solchen Prozess selbst konstruiert, dadurch dass Verbindungen mit wissenschaftlich fundierten Ergebnissen, eigenen Erfahrungen sowie mit Erfahrungen der Lehrerausbilder gesucht werden. Auf diese Weise entsteht ein dynamisches und flexibles Wissen, das stark in der Person der Lehrerin bzw. des Lehrers verankert ist (vgl. MELIEF/ TIGCHELAAR/ KORTHAGEN 2003, 31). K ORTHAGEN hat fünf Prinzipien einer solchen realistischen Lehrerbildung formuliert:

1. „Ausgangspunkt sind die Praxisfragen ( concerns ), die der angehende Lehrer in einem realen Schulkontext erfährt.

2. Realistisches Ausbilden ist auf die Förderung systematischer Reflexion gerichtet.

3.  Lernen ist ein sozialer und interaktiver Prozess.

4. Es werden drei Ebenen beim Lernen unterschieden (Gestalt-, Schema- und Theorieebene), und es wird auf allen drei Ebenen gearbeitet.

5. Beim realistischen Ausbilden werden die Lernenden als Menschen mit einer eigenen Identität betrachtet, wobei Selbstverstehen stimuliert wird, und wobei die angehenden Lehrer stimuliert werden, ihre eigene Entwicklung zu steuern.“ ( KORTHAGEN 2002, 268)

Als zentrale Instrumente gelten dabei das Logbuch sowie verschiedene Verfahren zur aktiven und selbstverantwortlichen Gestaltung reflexiven Lernens (vgl. MELIEF/ TIGCHELAAR/ KORTHAGEN 2005, 35ff.). Im Mittelpunkt einer reflexiven Lehrerbildung steht demnach die Förderung entsprechender Reflexionskompetenz bei den Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern, von KORTHAGEN als Entwicklungskompetenz für die eigene Weiterentwicklung nach der Ausbildung bezeichnet (vgl. KORTHAGEN 2002, 52).

Im Zusammenhang mit der Nutzung von theoretischem Wissen ist die von KORTHAGEN getroffene Unterscheidung zweier grundsätzlich verschiedener Wissens- bzw. Theoriearten bedeutsam. In Anlehnung an die der griechischen Philosophie entlehnten Wissensbegriffe unterscheidet er einerseits das abstrakte, lehrsatzartige Wissen als verallgemeinerte wissenschaftliche Erkenntnis (episteme) und andererseits das situationsspezifische perzeptorische Wissen als praktische Weisheit (phronesis), das auf der Wahrnehmung der jeweiliger Situationen beruht (vgl . KORTHAGEN 2002, 29ff.). Die angehenden Lehrerinnen und Lehrer benötigen insbesondere letzteres, denn aufgrund fehlender Erfahrung ist für sie konzeptionelles Wissen in vielen praktischen Situationen "zu abstrakt, zu sehr aller Arten des Besonderen beraubt, die in der konkreten Erfahrung vorherrschend sind: Emotionen, Bilder, Bedürfnisse, Werte, Antriebe, persönliche Komplexe, Stimmung, Charakterzüge und Ähnliches“ ( KORTHAGEN 2002, 35).

4. Grundelemente des Instruments Schulpraxisreflexion

Im Sinne der oben skizzierten realistischen Lehrerausbildung ist im Leverkusener Berufskollegseminar das Instrument Schulpraxisreflexion entwickelt worden. Im Kern geht es darum, dass der Unterricht von ausgebildeten Kolleginnen und Kollegen gemeinsam mit Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern unter Anleitung einer Seminarausbilderin bzw. eines Seminarausbilders strukturiert reflektiert wird. Ein solcher Rahmen bietet vor allem für die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter die Möglichkeit, sich ohne Beurteilungsdruck auf die Reflexion von Unterricht einzulassen. Bisherige Evaluationsergebnisse zeigen, dass durch Veranstaltungen der Schulpraxisreflexion sowohl die schulische Fortbildung (vgl. SCHNEIDER 2005, 301) als auch die durch das Seminar betriebene Ausbildung (vgl. MÜLLDER 2005, 135) profitiert.

Nachfolgend soll das Instrument der Schulpraxisreflexion anhand der leitenden Prinzipien, der organisatorischen Rahmenbedingungen und der Strukturierung des Ablaufs näher erläutert werden.

4.1 Leitende Prinzipien der Schulpraxisreflexion

Im Unterschied zu den verbreiteten Modellen der Gruppenhospitation, bei denen die Lehramtsanwärter sich gegenseitig zur Hospitation einladen, bezieht sich die Schulpraxisreflexion auf den bei einer ausgebildeten Lehrkraft eingesehenen Unterricht. Dadurch kann die Reflexion weitgehend im bewertungsfreien Raum stattfinden, denn zum einen befinden sich die Protagonisten in keinem hierarchischen Verhältnis zu den Seminarausbildern und zum anderen sind die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter von dem (Bewertungs)Druck befreit, eigenen Unterricht vorführen zu müssen.

Die nachfolgende Tabelle 1 (vgl. MÜLLER 2005, 136) verdeutlicht die grundlegenden Prinzipien, die für das Gelingen einer Schulpraxisreflexion bedeutsam sind.

Darüber hinaus wird von der jeweiligen Schulleitung erwartet, dass sie gegenüber den an der Schulpraxisreflexion Beteiligten Vertrauen signalisiert, (insbesondere durch eigene Zurückhaltung) bewertungsfreie Räume zubilligt sowie für einen passenden organisatorischen Rahmen sorgt (z. B. Sicherstellung eines Besprechungsraumes und Schaffung eines Zeitfensters für die Protagonisten).

Der in den o. g. Prinzipien benutzte Forschungsbegriff lehnt sich an das Aktionsforschungskonzept von ALTRICHTER/ POSCH an (vgl. ALTRICHER/ POSCH 1998; ALTRICHTER 2003) an. In diesem Sinne bezieht sich „forschendes Lernen“ auf den in professionellen Lerngemeinschaften eingebetteten Aktions-Reflexions-Kreislauf zur Weiterentwicklung der individuellen Professionalität. Mit einem solchen Verständnis forschenden Lernens wird die Perspektive von Praxis auf Theorie eingenommen, um für die in der Praxis entstehenden Diskrepanzerfahrungen entsprechende Antworten finden zu können. Dem gegenüber steht ein Verständnis forschenden Lernens, das den umgekehrten Blick einnimmt, und zwar von der Wissenschaft auf die Praxis. In diesem Sinne wird die Praxis zum Bezugspunkt des forschend lernenden Blicks von außen. Der Lernprozess ist hier nicht auf die unmittelbare Praxisbewältigung gerichtet, er bezieht sich vielmehr auf die Generierung wissenschaftlichen Wissens (vgl. BACKES-HAASE 2004). Die verschiedenen Blickrichtungen forschenden Lernens verweisen m. E. exemplarisch auf die Differenz zwischen wissenschaftlicher und berufspraktischer Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Diese beiden als unverzichtbar einzuschätzenden Ausbildungsteile machen dementsprechend auch die Unterscheidung von erster und zweiter Ausbildungsphase mit institutioneller Trennung (Universität und Studienseminare) erforderlich, damit die Phasen in Ausnutzung ihrer jeweiligen Stärken ihre Aufgaben im berufsbiographischen Prozess der Entwicklung von Professionalität optimal erfüllen können (vgl. BAUMERT 2007) .

4.2 Organisatorische Rahmenbedingungen

Jeder Lehramtsanwärter/jede Lehramtsanwärterin erfährt in der Ausbildung am Leverkusener Seminar acht Schulpraxisreflexionen im fachübergreifenden Bereich und acht fachbezogene Schulpraxisreflexionen . Das bedeutet, dass pro Ausbildungshalbjahr zwei fachübergreifende Reflexionen auf Hauptseminarebene und jeweils eine Reflexion für jedes Fachseminar organisiert werden.

Die Schulpraxisreflexionen finden alle am Seminartag statt, so dass die Lehramtsanwärter/ -anwärterinnen keine Überschneidungen mit schulischen Verpflichtungen zu befürchten haben. In einem halbjährlichen Terminplan werden die Termine frühzeitig festgelegt, so dass Planungssicherheit besteht. Mit den Protagonisten werden die Termine für einen längeren Zeitraum (meist 1-5 Monate) im Voraus vereinbart. Eine längerfristige Terminierung ist häufig wegen Stundenplanwechseln, die an manchen Berufskollegs alle sechs bis sieben Wochen stattfinden, nicht möglich.

Protagonisten für die Schulpraxisreflexion können insbesondere aus den Gruppen der Ausbildungskoordinatoren, der Ausbildungslehrer/-lehrerinnen sowie der ehemaligen Lehramtsanwärterinnen und -anwärter gewonnen werden. Mit den Protagonisten wird mindestens ein Telefonat im Vorfeld geführt, um folgenden Kontrakt sicher zu stellen bzw. zu bestätigen:

•  Alle Beteiligten kommen mit einer forschenden Grundhaltung über Unterricht miteinander ins Gespräch.

•  Gegenstand der Schulpraxisreflexion ist Alltagsunterricht.

•  Alle Beteiligten lassen sich auf einen Prozess des wechselseitigen Lernens und Lehrens ein.

•  Die Reflexion findet in einem für den Protagonisten bewertungsfreien Raum statt. Das bedeutet, dass die Beteiligten Stillschweigen nach außen vereinbaren. Dadurch ist sichergestellt, dass Schulleitung als beurteilende Instanz keine Kenntnis von Prozess und Ergebnis der Schulpraxisreflexion erhält.

4.3 Ablauf einer Schulpraxisreflexion

Insgesamt lässt sich der (typische) Verlauf einer Schulpraxisreflexion wie folgt darstellen:

In Absprache des betroffenen Kollegen mit der jeweiligen Schulleitung wird es der Gruppe ermöglicht, eine Unterrichtsstunde (45 Minuten) Unterricht einzusehen. In der Regel steht die Protagonistin bzw. der Protagonist anschließend noch 60 Minuten, also eine Unterrichtsstunde und eine Pause von 15 Minuten, für eine gemeinsame Reflexion bereit. Eine Beschränkung auf diesen Zeitrahmen soll verhindern, dass der laufende Unterrichtsbetrieb der Schule unzumutbar gestört wird. Der für die Hospitation zugrunde gelegte 45-Minuten-Takt ist nicht unbedingt zwingend. Je nach Situation wird die Hospitationszeit vor Ort auch verkürzt, in seltenen Fällen verlängert. In diesem Kontext ist zu beachten, dass der in Berufskollegs übliche Zeittakt 90 Minuten beträgt, sodass sich der eingesehene Unterricht in der Regel auf ein Zeitfenster im Rahmen größerer Lerneinheiten bezieht.

5. Reflexionsprozess

Für den Reflexionsprozess im ersten Teil einer Schulpraxisreflexion wird eine Phasierung als Rahmenstruktur verwendet, die sich an das von der Gruppe Schlee entwickelte Unterrichtsbesprechungsmodell (vgl. GOLL 1999) anlehnt, wobei die Phase 6 einem eigenständigen Binnen-Zyklus unter Verwendung des ALACT-Modells (vgl. KORTHAGEN 2002, 49) folgt.

Im Folgenden soll diese Rahmenstruktur näher erläutert, das ALACT-Modell in diesem Zusammenhang als Kern des Reflexionsprozesses dargestellt und die vermuteten Wirkungsdimensionen des Reflexionsprozesses aufgezeigt werden. Der Abschnitt endet mit einigen Hinweisen zur Gestaltung des zweiten Teils der Schulpraxisreflexion.

5.1 Rahmenstruktur der Schulpraxisreflexion

Die in Tabelle 3 dargestellte Phasenstruktur gilt als fester Rahmen des ersten Teils jeder Schulpraxisreflexion und soll auf diese Weise den Beteiligten Transparenz und Sicherheit bezüglich des Geschehens bieten. Je nach Situation wird diese Struktur zu Beginn einer Sitzung noch einmal allen Teilnehmern erläutert und im Laufe der Reflexion visuell unterstützend genutzt.


Aufgrund des komplexen Settings sollte besonders auf Klärung der verschiedenen Rollen sowie der jeweiligen Zielsetzungen geachtet werden. Die Komplexität des Settings ergibt sich insbesondere dadurch, dass die Seminarausbilder im Regelfall als Experten wahrgenommen werden, was einer symmetrischen Beziehungsgestaltung tendenziell entgegen wirkt. Entsprechend dem Konzept der Kollegialen Beratung und Supervision (vgl. SCHLEE 1999, 2004) sollte daher im Verlauf der Ausbildung die Moderation des Reflexionsprozesses von den Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern selbst übernommen werden.

Zu den einzelnen Phasen des Reflexionsprozesses ergeben sich folgende Anmerkungen:

•  Gerade zu Beginn einer Sitzung ist im Rahmen der Transparenzphase das Prinzip des wechselseitigen Lernens und Lehrens zu betonen, um so die Basis für ein vertrauensvolles Klima schaffen zu können.

•  Analog zum Setting einer Kollegialen Beratung (vgl. MUTZEK 2005; SCHLEE 2004; TIETZE 2003) befinden sich die Protagonisten in der Rolle potentieller Fallgeber, da sie ja ihre Praxis zur Reflexion angeboten haben. Daher gilt die grundsätzliche Regel, dass ihre Anliegen vorrangig bearbeitet werden. Ein wesentlicher Teil dieser Anliegen besteht darin, ein konstruktives Feedback zum Unterricht zu erhalten, um sich auf diese Weise der eigenen Ressourcen vergewissern zu können (vgl. SCHNEIDER 2005, 301). Darüber hinaus beziehen sich ihre bekundeten Anliegen auf Weiterentwicklung ihrer Handlungsmöglichkeiten in bestimmten Unterrichtssituationen. Die Ausschärfung dieser Anliegen erfolgt manchmal erst beim Abgleich mit den Fragestellungen und Anliegen der Lehramtswärter und -anwärterinnen in der Phase 5 . Falls die Protagonisten keine weiter gehenden Anliegen zur Sprache bringen, können die Fragestellungen der Lehramtsanwärterinnen und -anwärter in den Vordergrund rücken.

Der Begriff Anliegen verweist auf die beabsichtigte Kopplung von Themen und den damit verbundenen persönlichen Bezügen. Aus einem Thema wird in diesem Sinne erst dann ein Anliegen, wenn jemand persönlich davon tangiert ist und es mit einer Fragestellung verbindet (vgl. SCHULZ V. THUN 2006, 27). Beispiel: Wie kann ich sicherstellen, dass der von mir erteilte Arbeitsauftrag von meinen Schülern verstanden worden ist?

•  Grundsätzlich besteht in Phase 4 die Gefahr, dass sich die Gruppe von einem bereits in Phase 2 eingebrachten Anliegen der Protagonistin bzw. des Protagonisten wieder entfernt. Daher ist zu klären, inwieweit die Kartenabfrage in solchen Fällen nicht verschoben wird, um sofort mit der Bearbeitung des bereits vorliegenden Anliegens beginnen zu können. In der Praxis hat sich bisher in solchen Fällen jedoch gezeigt, dass die Protagonisten gerne ihre Anliegen zur weiteren Ausschärfung zunächst an den Fragestellungen der Lehramtsanwärterinnen und -anwärter spiegeln wollen.

•  Das Zwischenblitzlicht am Ende des ersten Teils der Reflexionssitzung soll sowohl der Protagonistin bzw. dem Protagonisten wie auch den Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern die Chance geben, den bisherigen Lerngewinn zu rekapitulieren. Gleichzeitig ergeben sich daraus auch erste Anhaltspunkte zur weiteren Schwerpunktbildung im zweiten Teil der Reflexionssitzung.

•  Den Protagonisten sollte mit der Verabschiedung am Ende des ersten Teils der Reflexionssitzung deutlich signalisiert werden, dass sie gerne an den Ergebnissen des zweiten Teils partizipieren können, auch ohne an der weiteren Sitzung teilgenommen zu haben. Diese Öffnung erscheint insofern wichtig, um ungewollten Instrumentalisierungseffekten – möglicherweise verbunden mit dem Gefühl der Abqualifizierung „hinter dem Rücken“ – entgegenzuwirken.

Im Zusammenhang mit dem hier zugrunde liegenden Beratungsverständnis ist zu beachten, dass sich Beratung auf unterschiedliche Veränderungsmodelle – nämlich kumulative, evolutionäre oder revolutionäre Veränderung – beziehen kann (vgl. SCHLEE 2004, 45ff.): Im einfachsten Fall (kumulatives Modell) ist die Beratung auf die Veränderung des Kenntnisstandes gerichtet, Beispiel: Welche Instrumente zur Bewertung sonstiger Leistungen der Schüler gibt es? Beim evolutionären Modell zielt die Beratung auf den Wandel von Sichtweisen und Einstellungen. Beispiel: Aus Schülerperspektive eröffnet ein fragend-entwickelnder Unterricht mit wenigen Teilnehmern neue Sichtweisen auf den Grad aktiver Auseinandersetzung. Die Veränderungen nach dem revolutionären Modell sind schließlich als Wandel in den Grundüberzeugungen aufzufassen. Beispiel: Ein Architekt, der als Berufswechsler seinen lang gehegten Berufswunsch als Lehrer realisieren will, erkennt nach den ersten Unterrichtsstunden, dass seine bisherige Grundauffassung von Lernen zum Scheitern verurteilt ist.

In der Regel stehen bei einer Schulpraxisreflexion sowohl kumulative sowie evolutionäre Veränderungsprozesse im Vordergrund, während revolutionäre Prozesse als Ausnahme zu bezeichnen sind. Die im folgenden Abschnitt beschriebene Nutzung des ALACT-Modells zielt vor allem auf die Entwicklung neuer Sichtweisen (im Sinne des evolutionären Modells) und in der Folge auf die Entwicklung begründeter Handlungsalternativen (im Sinne des kumulativen Modells).

5.2 Nutzung des ALACT-Modells

Die Nutzung des in Abbildung 3 gezeigten ALACT-Modells dient als unterstützende Strukturierung eines systemischen Beratungsprozesses.

Um gemachte Erfahrungen hinsichtlich möglicher problematischer Verhaltensmuster reflektieren zu können, ist es entscheidend, zu einem Bewusstsein für notwendige Veränderungen zu kommen. Der Weg dahin führt zunächst über den Blick zurück, indem die reflektierende Person sich die in Frage kommende Handlung möglichst konkret ins Bewusstsein holt (Phase I). Der Konkretisierungsprozess (Phase II) wird durch Leitfragen, die das Wollen, Denken, Fühlen und Tun betreffen, unterstützt (vgl. KORTHAGEN 2002, 220).

Beispielhaft seien die folgenden Fragen aufgeführt:

•  Was war Ihnen in dieser Situation besonders wichtig?

•  Was ging Ihnen in dieser Situation durch den Kopf?

•  Wie ist es Ihnen dabei ergangen?

•  Was genau haben Sie in dieser Situation getan?

Diese Anleitung zur Konkretisierung bewirkt in der Regel bei der reflektierenden Person bereits ein geschärftes Bewusstsein für wesentliche Momente der fokussierten Situation (Phase III) und bringt mögliche Diskrepanzen zu Tage, beispielsweise das Auseinanderfallen von Absicht und Tun oder das nicht zusammenpassende Denken und Fühlen. Zu weiteren und teilweise überraschenden Erkenntnissen können die Reflektierenden gelangen, wenn ein Perspektivwechsel vorgenommen wird und die oben gestellten Fragen aus der Sicht betroffener Schüler beantwortet werden sollen:

•  Was war den Schülerinnen und Schülern wohl in dieser Situation besonders wichtig?

•  Was ging den Schülerinnen und Schülern wohl durch den Kopf?

•  Wie ist es den Schülerinnen und Schülern wohl in dieser Situation ergangen?

•  Was haben die Schülerinnen und Schüler in dieser Situation eigentlich getan?

Solche den Perspektivwechsel befördernden Fragen sind gleichermaßen an die Protagonistin/den Protagonisten wie auch an die Runde der hospitierenden Lehramtsanwärterinnen und -anwärter gerichtet, die mittels eigener Identifikationsprozesse und damit verbundener alternativer Sichtweisen sowohl die Protagonistin bzw. den Protagonisten wie auch sich gegenseitig in der Gewinnung neuer Erkenntnisse unterstützen können.

Wenn den Reflektierenden auf diese Weise wesentliche Teile der Situation bewusst werden, schließt sich im Reflexionszyklus das Finden von Alternativen an (Phase IV), deren Erprobung (Phase V) zu einem späteren Zeitpunkt den Anstoß für erneutes Reflektieren gibt. Die Protagonistin bzw. der Protagonist profitiert an dieser Steile von allen teilnehmenden Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern, die den Suchprozess nach alternativen Sicht- und Verhaltensweisen mit kreativen Ideen tatkräftig unterstützen und sich auf diese Weise als mit forschende und fördernde Partner in einem kollegialen Beratungsprozess erfahren. Ein solches Rollenverständnis ist in systemischer Hinsicht eher ungewöhnlich, weil Lehramtsanwärterinnen und -anwärter gewöhnlich der Status von „Noch-Nichtkönnenden“ zugeschrieben wird.

Die Ausbilderinnen und Ausbilder sorgen dafür, dass der Reflexionsprozess – meist in der Phase IV „Finden von Handlungsalternativen“ – entsprechend der eingebrachten Anliegen mit Theoriewissen als theorie mit kleinem „t“ und Theorie mit großem „T“ (vgl. KORTHAGEN 2002, 29ff.) angereichert wird. Durch die Kopplung mit Erfahrung erhält theoretisches Wissen auf diese Weise situativen Bezug und kann entsprechend leichter verarbeitet und als Professionswissen integriert werden.

In diesem auf Wissenserwerb bezogenen Anreicherungsprozess (s. kumulatives Veränderungsmodell), werden die Ausbilderinnen und Ausbildern typischerweise in ihrer Expertenrolle angesprochen, was ja ihrer „normalen“ Rolle in der Ausbildungspraxis entspricht. Tendenziell ist damit jedoch die Gefahr einer „Überversorgung“ der Lehramtsanwärterinnen/ -anwärter verbunden, was die Entwicklung eines professionellen Selbst eher behindert als fördert. Hier ist im Sinne einer progressiven Entwicklung von Beratungssymmetrie sowie im Hinblick auf die Selbstständigkeit der Lernenden darauf zu achten, dass sich die Ausbilderinnen und Ausbilder nach einer gemeinsamen „Einübungsphase“ in das Verfahren einer Schulpraxisreflexion (ca. 6-8 Veranstaltungen) schrittweise von der Moderation zurückziehen und ihr Expertenwissen nur (noch) auf Anforderung zur Verfügung stellen.

5.3 Wirkungsdimensionen des Reflexionsprozesses

Analog zu der systemischen Wirkung von Reflecting Teams (vgl. Reich 2004, 250ff.), werden durch das Setting einer Schulpraxisreflexion wechselseitige Impulse aus erlebender wie auch aus zuhörender bzw. beobachtender Position befördert. In diesem Zusammenhang ist zwischen zwei verschiedenen Gesprächstypen zu unterscheiden: einerseits dem äußeren (hörbaren) Gespräch, andererseits den inneren Gesprächen, die als Ausdruck interner Auseinandersetzung aufzufassen sind (vgl. Andersen 1990, 43). Wenn beispielsweise die Protagonistin bzw. der Protagonist im Dialog mit der Moderatorin bzw. dem Moderator über wesentliche Momente einer bestimmten Unterrichtssituation reflektiert, finden parallel dazu entsprechende innere Dialoge bei den Lehramtsanwärterinnen und -anwärtern statt, in denen das Gehörte individuell verarbeitet wird. Umgekehrt findet bei der Protagonistin bzw. dem Protagonisten ein innerer Dialog statt, während die Lehramtsanwärter in der Rolle von Schülern einen Perspektivwechsel vornehmen. Auf diese Weise können alle Teilnehmer geschützte Räume für die inneren Dialoge des Überdenkens und Abwägens in Anspruch nehmen, ohne dafür Rede und Antwort in einem äußeren Dialog stehen zu müssen. Dies kann vermutlich dazu beitragen, dass die Schwelle für das Zulassen von Veränderungen herabgesenkt wird.

Entscheidend für den Reflexionsprozess ist das Bewusstwerden wesentlicher Momente einer Situation. Dazu dienen insbesondere die o. g. systemischen Fragen, um wenig bewusst abgelaufene Unterrichtsphasen als zirkulären Prozess zwischen Lehrperson und Schülern nacherleben zu können. Auf diese Weise offenbaren sich dann möglicherweise unterschiedliche Arten von Diskrepanzen, die zu einem neuen Durchdenken der Handlungsoptionen Anlass geben (vgl. MÜLLER 2005, 258).

Das ALACT-Modell steht im Zusammenhang mit einem Dreistufenmodell, nach dem der Lernprozess über mehrere Stufen verläuft, und zwar von einer Gestaltformation ausgehend über die Stufe der Schematisierung zur Theoriebildung (vgl. KORTHAGEN 2002, 202ff.). Auf der ersten Stufe richtet sich der Reflexionsprozess darauf, undifferenziertes, unerklärtes ganzheitliches Erleben (Gestalten) hinsichtlich seiner Zusammenhänge zu erkennen. Dieses Bewusstwerden bietet die Grundlage für eine Schematisierung solcher Gestalten, d. h. jemand ist in der Lage, über die ganzheitliche Wahrnehmung hinaus Merkmale, Beziehungen und Beispiele einer solchen Situation zu benennen. Beispielsweise stellt jemand in der Reflexion fest, dass sie/er in ganz bestimmten Situationen dazu neigt, Schülerantworten sofort bewertend zu kommentieren, ohne sich das aber selbst erklären zu können. In einer solchen Situation bietet sich das Hinzufügen von Theorie an (z. B. die Verbindung zu lerntheoretischen Erkenntnissen), um die eigenen subjektiven Theorien tiefer zu durchdenken sowie neu strukturieren zu können.

5.4 Gestaltung der Schulpraxisreflexion im zweiten Teil

Der zweite Teil einer Schulpraxisreflexion findet üblicherweise ohne die Protagonisten statt, um den regulären Schulbetrieb nicht übermäßig zu stören. Unabhängig davon sind die Protagonisten herzlich eingeladen, an den weiteren Reflexionsergebnissen teilhaben zu können. Dies geschieht häufig dadurch, dass sie zum Abschluss der Sitzung noch einmal in die Runde kommen und sich vom Fortgang der Reflexion berichten lassen. Alternativ wäre auch ein kleines Protokoll denkbar, in dem das für Wichtig erachtete von einer Teilnehmerin bzw. einem Teilnehmer zusammengefasst wird. Manchmal werden von den Teilnehmern auch kurze Kommentare auf die Karten aus der Phase 4 geschrieben, die anschließend dem Protagonisten zukommen. Die nachfolgende Tabelle 4 verdeutlicht die Rahmenstruktur des zweiten Teils einer Schulpraxisreflexion.

Durch das Fernbleiben der Protagonistin bzw. des Protagonisten entsteht im zweiten Reflexionsteil ein neues Setting. Dies macht vor der Fortführung des Reflexionsprozesses eine erneute Rollen- und Zielklärung erforderlich. Hier kommt es insbesondere darauf an, dass die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter ihren eigenen Reflexionsanliegen nachspüren anstatt durch bewertende Unterrichtsanalysen den Eindruck zu vermitteln, sie würden die Protagonisten „hinter dem Rücken“ instrumentalisieren. Einleitende Impulse für die Rückbesinnung (Phase 2) könnten z. B. lauten:

•  „Welche Verbindungen zu Ihrem eigenen Unterricht nehmen Sie nach der bisherigen Reflexion wahr?“

•  „Inwieweit haben Sie auf Ihre Fragen bereits brauchbare Antworten für Ihr Handeln gefunden?“

•  „An welchen Stellen haben Sie für sich selbst noch Klärungsbedarf?“

•  „Was hat sich durch die bisherige Reflexion bei Ihnen verändert?“

Für die Bearbeitung der in Phase 3 gebildeten Schwerpunkte bieten sich – je nach Anliegen – unterschiedliche Möglichkeiten an. Dies kann von der erneuten Nutzung des ALACT-Modells über theoretisches Hinterfragen bereits herausgefundener Alternativen bis hin zur simulativen Erprobung bestimmter Kommunikationsmuster reichen.

Am Ende der gesamten Sitzung haben alle Teilnehmer noch einmal die Möglichkeit, ihren bisherigen Lerngewinn zum Ausdruck zu bringen. Häufig verbindet sich dies bereits mit konkreten Überlegungen für die beabsichtigte Veränderung der eigenen Unterrichtspraxis. Da die Vorsatzbildung eine wichtige Rolle für das In-Gang-Bringen neuer Handlungen spielt, (vgl. WAHL 2005, 195; MUTZEK 2005, 122ff.) steht den Teilnehmern zur Unterstützung möglicher Veränderungsabsichten ein Reflexionsbogen zur Verfügung, der im Rahmen einer Portfolio-Arbeit weiter genutzt werden kann. Für einen solchen Reflexionsbogen, den die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter jeder für sich selbst durcharbeiten, können die folgenden Evaluationsfragen hilfreich sein:

 

5.5 Anforderungen an die Moderation

Das Gelingen von Veranstaltungen zur Schulpraxisreflexion stellt sehr hohe Anforderungen an die Ausbilderinnen und Ausbilder. Sie stehen mit ihrem Verhalten für eine Kultur gegenseitiger Wertschätzung sowie gegenseitigen Vertrauens und schaffen somit den Rahmen dafür, dass sich alle Beteiligten für konstruktives Feedback öffnen können. Dies setzt voraus, dass die Ausbilderinnen und Ausbilder eine an den Grundsätzen der Humanistischen Psychologie orientierte Haltung mitbringen, die sich an den Prinzipien von Akzeptanz, Empathie und Kongruenz orientiert (vgl. BACHMAIR 1989). Durch ihr Modellverhalten schaffen sie auch die Grundlage dafür, dass die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter in das Beratungsverfahren der Schulpraxisreflexion hineinwachsen und mit einer entsprechenden Haltung nach gewisser Zeit auch selbst die Moderation übernehmen können. Auch wenn die Moderation auf die Lehramtsanwärterinnen und -anwärter übergeht, bleibt die Expertenrolle bei den Ausbilderinnen und Ausbildern, die sie stets mit Bedacht und Respekt gegenüber den Bedürfnissen der Lernenden ausüben sollen. Darüber hinaus sollte es zum Selbstverständnis professioneller Ausbilderinnen und Ausbilder gehören, sich auch selbst als permanent Lernende zu verstehen. Die folgende Tabelle 6 verdeutlicht die unterschiedlichen Moderationsanforderungen durch Zuordnung zu den Phasen des ALACT-Modells:

Insgesamt zeigt sich, dass von den Ausbilderinnen und Ausbildern über die erforderliche Beraterhaltung hinaus in hohem Maße auch didaktische Kompetenz zu verlangen ist, um den Lernprozess der Lehramtsanwärterinnen und -anwärter angemessen mit theoretischem Input unterstützen zu können. Mit didaktischer Kompetenz ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass – mit Blick auf das Lehramt an Berufskollegs – die Moderatoren aus eigener Praxiserfahrung heraus über die entsprechende Feldkompetenz als Experten für berufsbezogenes Lernen insgesamt sowie auch für bestimmte Fachbereiche/Bildungsgänge verfügen, um Theorie gestützt auf die sich aus der Schulpraxisreflexion ergebenden Planungs- und Durchführungsfragen der Lehramtsanwärterinnen und -anwärter reagieren zu können. Eine solche Tätigkeit kann daher typischerweise nur im Rahmen der zweiten Lehrerbildungsphase geleistet werden.

6. Fazit

Der besondere Wert des Ausbildungsinstrumentes Schulpraxisreflexion liegt zunächst darin, dass als Ausgangspunkt des gemeinsamen Lernens die Beobachtung der Praxis selbst dient. Die von LEUDERS (zit. nach HELMKE 2003, 230) aufgeführten Gründe für gemeinsame Beobachtung und Reflexion von Unterricht sind auf Schulpraxisreflexionen entsprechend übertragbar:

•  „Lehren Lernen in direkter Konfrontation mit realem Unterricht ist effektiver als die gemeinsame Reflexion über hypothetischen oder tatsächlichen, aber nicht erlebten Unterrichts.

•  Es gibt viele unterrichtsrelevante, aber nur schwer kommunizierbare Details: Handlungsroutinen, Körpersprache, Kommunikationsverhalten etc..

•  Der Perspektivwechsel erlaubt über den distanzierten Blick auf andere einen Blick auf sich selbst.

•  Als Beobachter ist man vom Handlungszwang entlastet, kann mehr Einzelheiten des Unterrichtsgeschehens wahrnehmen und hat größerer Freiräume für Reflexion.

•  Man kann aus jedem Unterricht vielfältige Anregungen für die eigene Praxis mitnehmen. Die Vielfalt der Persönlichkeiten und Unterrichtsstile ist eine ergiebige Quelle für Impulse, die man ansonsten nach abgeschlossener Ausbildung nicht wieder erhält.

•  Die Unterrichtsbeobachtung und deren Vor- und Nachbereitung erfordern eine Auseinandersetzung mit didaktischen und methodischen Grundsatzfragen und sind Bestandteil einer Schulentwicklung, die auf der Ebene des einzelnen Lehrers und der einzelnen Lehrerin ansetzt…“ (LEUDERS 2001, 227).

Darüber hinaus bieten Schulpraxisreflexionen aufgrund ihres speziellen Settings die Möglichkeit, ohne direkten Bewertungsdruck verinnerlichte subjektive Theorien über Unterricht so ins Bewusstsein zu holen, dass Neustrukturierungen als Teil einer professionellen Entwicklung möglich werden.

In Abkehr von der traditionellen Vorstellung, nach der sich das pädagogische Können vor allem durch Transfer erworbener Theoriekenntnisse auf die Praxis entwickeln soll, verfolgt der hier vertretene Ansatz eine Theorie integrierende Reflexion erlebter Berufspraxis. Darüber hinaus geht es insbesondere auch darum, bereits in der Lehrerausbildung die Entwicklung einer professionell-reflexiven Grundhaltung zu fördern. Es geht nicht nur um die Notwendigkeit einer professionellen Begleitung des Erfahrungslernens. „Es heißt vor allem auch, dass sich der an der Erfahrung Lernende selbst begleiten können muss.“ (Neuweg 2006, 37) Eine solche Ausrichtung sehe ich als unverzichtbaren Bestandteil einer Lernkultur von Lehrern und Lehrerinnen zur künftigen Entwicklung von Unterricht und Schule.

 

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