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 bwp@ Ausgabe Nr. 13 | Dezember 2007
Selbstorganisiertes Lernen in der beruflichen Bildung Herausgeber der bwp@ Ausgabe 13 sind Karin Büchter und Tade Tramm

Der Rolle beraubt: Lehrende als Vermittler von Selbstlernkompetenz

online seit 25.2.2008
 

 


Selbstlernkompetenz wird in der pädagogischen Fachdiskussion immer wieder als zentrale Schlüsselkompetenz bewertet.

Selbstlernkompetenz ist die Voraussetzung für Selbstlernen und damit letztlich auch für die Realisierung der Leitidee des lebenslangen Lernens. Sie ist sozusagen das Fundament, auf dem das Haus des lebenslangen Lernens aufgebaut werden soll. Konsequenterweise ist die Schaffung dieser Grundlage, die Vermittlung von Selbstlernkompetenz durch die Lehrenden, eine entscheidende Forderung in der Diskussion. Sie wird eingestuft als „eine der wichtigsten Aufgaben der Bildungseinrichtungen“ (DIETRICH 2001, 125) und als eine „Aufgabe der pädagogischen Professionals der Zukunft“ (ARNOLD/ GÓMEZ TUTOR/ KAMMERER 2003, 141).

Eng verbunden mit der Fachdiskussion um Selbstlernen ist die Forderung nach einem Rollenwandel bei den Lehrenden. Sie sollen Lernberater/innen, Lernbegleiter/innen etc. sein, statt Vermittler von Wissen.

Wie stehen Lehrende zur Forderung „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ und zum propagierten Rollenwandel? Mit diesen Fragen beschäftigt sich dieser Beitrag. Bislang wurde in diesem Zusammenhang wenig über die Perspektive der Lehrenden diskutiert und geforscht. Ergebnisse einer neuen empirischen Untersuchung belegen, dass Lehrende derartigen Forderungen nicht per se mit Begeisterung begegnen. Stattdessen gibt es Hinweise auf Widerstände und Ängste, der eigenen Rolle „beraubt“ zu werden.

1.  Der geforderte Rollenwandel

„Das Selbstverständnis von Lehrenden wird sich (…) wandeln von dem Experten für das ‚Was', also der Vermittlung von Inhalten, hin zu einem Selbstverständnis, das von Begleitung, Beratung und Moderation von Lernen geprägt ist“ (ARNOLD/ GÓMEZ TUTOR/ KAMMERER 2003, 142) – so oder ähnlich wird der von den Lehrenden immer wieder geforderte Rollenwandel beschrieben. Lehrende sollen nicht mehr lehren, sondern in Bezug auf den Lernprozess Berater, Begleiter, Moderatoren, Coachs, „Facilitators“, Arrangeure etc. sein. Sie sollen sich verstehen als Lernexperten/-innen in der Steuerung von Lernprozessen und der Förderung individueller Selbstlernkompetenz (vgl. dazu u. a. KLEIN 1998, 117).

An Termini für die neue Lehrendenrolle fehlt es nicht. In der pädagogischen Fachöffentlichkeit besteht allerdings keine Einigkeit über die Bezeichnung der neuen Lehrendenrolle und deren Charakteristika.

Beratung ist im Rahmen des selbstgesteuerten Lernens eine wichtige Aufgabe – darüber besteht Konsens. Das bedeutet aber nicht, dass ein gemeinsames Beratungsverständnis existieren würde. Beratung erfolgt nach wie vor auf unterschiedlichen Grundlagen und mit unterschiedlichen Interventionskonzepten.

Das bedeutet auch nicht, dass gleichzeitig ein Konsens existieren würde, Lehrende sollten einfach zu Lernberater/inne/n werden. Die Situation ist komplexer. Meist wird die neue Rolle, die Lehrende anstreben sollen, mit zwei und mehreren Begriffen beschrieben. So sprechen ARNOLD/ SCHÜSSLER zum Beispiel von einem Wandel der „Rolle des Lehrenden zu der eines Arrangeurs, eines Moderators und eines Beraters im Lehr-Lern-Prozeß“ (ARNOLD/ SCHÜSSLER 1998, 130).

Häufig wird zur Beschreibung der neuen Lehrendenrolle auf die Kombination „Lernbegleiter/in und Lernberater/in“ zurückgegriffen (vgl. MEISEL 2002, 137). Dabei sind diese Begriffe nicht trennscharf. Beratung ist Teil von Lernbegleitung (vgl. FASSNACHT 2001, 145). Was charakteristisch für Lernbegleitung ist, bleibt meist vage.

Teilweise stößt man in den Rollenbeschreibungen auch auf Widersprüche. So weist REUTTER auf die Kombination „Moderator/in und Coach“ hin: „Der sich als Neutrum verhaltende Moderator von Lernprozessen, der aber gleichwohl Coach sein soll, also beratende Funktion übernimmt, die immer auch Interventionscharakter hat“ (REUTTER 1998, 32).

Bislang gibt es keinen adäquaten Begriff, der die neue Rolle der pädagogisch Aktiven in selbstgesteuerten Lernprozessen klar bestimmt und eine breite Akzeptanz genießt.

Lehrende sollen – so lautet vielfach die Forderung – die Funktion des Verwaltens und der Vermittlung von Wissen abgeben. Stattdessen sollen sie Lernenden helfen, die Anforderungen lebenslangen Lernens zu bewältigen. Wissen könne durch den Einsatz neuer Lerntechnologien erworben werden (vgl. KLEIN 1998, 117). Dabei schwingt eine vermeintliche Überlegenheit des Lernens mit neuen Medien gegenüber „konventionellen“ Formen in der Diskussion immer wieder mit. Für viele Lehrende bedeuten die neuen Medien eine weitere Herausforderung. Die Anforderung an Lehrende, E-Learning-Elemente in Lernarrangements zu integrieren, ist nicht selten.

Zentral ist auch die Forderung nach einem Paradigmenwechsel vom Lehren zum Lernen, nach einem Wandel vom lehrzentrierten Denken hin zu einer Orientierung am Lernen. „Nicht mehr das zu Vermittelnde bildet das Zentrum, sondern das lernende Subjekt, das sich im Rahmen seiner eigenen Lernstrategie und mit Blick auf seine eigenen Interessen und Möglichkeiten Kompetenzen, Wissen und Einstellungen aneignet“ (HOFFMANN/ NUISSL 2003, 100).

Dass die Lehrenden die Forderung nach einer Vermittlung von Selbstlernkompetenz und einem solchen Rollenwandel mittragen, scheint als Prämisse implizit. Ob und inwiefern bei der Umsetzung dieser Forderungen durch die Lehrenden Probleme entstehen können, wird selten gefragt. Diese Fragen sind aber äußerst relevant. Offensichtlich wird einerseits der Vermittlung von Selbstlernkompetenz durch die Lehrenden ein hoher Stellenwert eingeräumt. Andererseits wird ihnen einiges abverlangt. Der mit großer Leichtigkeit verkündete Rollenwandel berührt ihr pädagogisches Selbstverständnis, ihre Vorstellung von Professionalität.

Dass Umsetzungsprobleme entstehen können, zeigten eigene Beobachtungen in der Praxis bei der Mitarbeit an einer Evaluationsstudie. Evaluiert wurden pädagogische Aspekte eines Projekts der europäischen Gemeinschaftsinitiative EQUAL. Im Rahmen von EQUAL sollen neue Wege, Konzepte und Methoden gegen Ungleichheiten und Diskriminierung von Arbeitenden und Arbeitssuchenden auf dem Arbeitsmarkt entwickelt werden. In diesem Fall ging es um die Förderung des lebenslangen Lernens und einer integrationsfördernden Arbeitsgestaltung (Projektlaufzeit: Januar 2002 bis Juni 2005). Die Vermittlung von Selbstlernkompetenz war explizit eines der Projektziele. Die Projektziele fanden ihren Niederschlag in einem Blended-Learning-Konzept, also einer Mischung aus Präsenzunterricht und E-Learning-Elementen. Der durchgängige Einsatz von E-Learning-Elementen für bildungsferne Zielgruppen wurde dabei als innovatives Moment besonders herausgestellt.

Das E-Learning fand während der Kurszeiten im Unterrichtsraum statt – durch die Lehrenden „begleitet“. Konkret ging es in den evaluierten Kursen darum, gering qualifizierten Arbeitssuchenden mit diesem begleiteten Selbstlern-Setting die Möglichkeit zu geben, sich neue Kompetenzen in den Bereichen Informationstechnologie beziehungsweise Kommunikation zu erwerben (vgl. dazu auch GROTLÜSCHEN/ BRAUCHLE 2004 und 2006).

Selbstlernen wurde im Projekt mit E-Learning umgesetzt – eine Verbindung, die sich auch in der Fachliteratur oft findet. Obwohl viele Wege, selbst zu lernen, denkbar sind, wird Selbstlernen häufig mit Lernen mit neuen Medien gleichgesetzt. Virtuelle Lernformen fördern die Selbstbestimmung in besonderer Weise – so lautet die Devise (vgl. dazu auch GROTLÜSCHEN 2003, 11).

Obwohl der Fokus der Evaluation klar auf der Perspektive der Lernenden lag und die Vermittlung von Selbstlernkompetenz nicht allein im Zentrum stand, waren die Diskrepanzen zwischen dem Projektziel „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ und dem Vorgehen der Lehrenden nicht zu übersehen. Tatsächlich wurde nämlich Selbstlernkompetenz in den Kursen von den Lehrenden selten thematisiert. Bemühungen in Richtung einer Vermittlung von Selbstlernkompetenz waren zu wenig zu erkennen. Die Lehrenden zeigten vielfach ein intensives Bemühen, das Lernen der Teilnehmenden stark extern zu steuern. „Werden die Aktivitäten der Lernenden stark von außen gesteuert und stark vorstrukturiert, so haben die Lernenden wenig Gelegenheit, die Fähigkeit zu entwickeln, selbständig zu lernen“ (SIMONS 1992, 259) – das steht außer Frage.

Wie aber kommt es zu einer solchen Diskrepanz zum Projektziel „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“? Diese Frage wirkte auch nach Abschluss der Evaluation und des Projekts noch nach.

WIESNER/ KRUSE berichten aus empirischen Untersuchungen zum Kompetenzbedarf für selbstgesteuertes Lernen. In Feldbeobachtungen und Gesprächen mit Lehrenden und Lernenden hat sich auch hier gezeigt, dass vorhandene Möglichkeiten selbstgesteuerten Lernens von Lehrenden nicht ausgeschöpft, von Lernenden aber auch nicht eingefordert werden. Die Hintergründe bleiben offen. Darüber hinaus erbrachten Gespräche, Interviews und Hospitationen Hinweise, „dass Weiterbildner/innen zumeist nur über begrenzte Vorstellungen bez. Selbstlernkompetenzen und der Unterstützung von Teilnehmenden bei deren Erwerb verfügen“. Dass dies für die Vermittlung von Selbstlernkompetenz nicht förderlich ist, steht außer Frage. WIESNER/ KRUSE sehen entsprechend einen „Handlungsbedarf für die Professionalisierung von Weiterbildnern und Weiterbildnerinnen“ (WIESNER/ KRUSE 2005, 149f). Die Notwendigkeit einer Erweiterung der Selbstlernkompetenz konstatieren sie nicht nur für die Teilnehmenden von Weiterbildung, sondern auch für die Lehrenden selbst (vgl. ebd., 156).

Lehrende sollten auf die neue Rolle vorbereitet werden – das wird in der Fachliteratur immer wieder betont (vgl. zum Beispiel: FAULSTICH/ FORNECK/ KNOLL 2005, 14; GNAHS 2002, 116; MEISEL 2002, 137f). In vielen Fällen bleiben die konkreten Konsequenzen für das Professionshandeln unklar. So gibt es in Bezug auf das hier zentrale Thema „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ bislang keine geschlossene theoretische Fundierung.

KAISER u. a. qualifizierten die Lehrenden im Rahmen ihres Projekts für die Vermittlung von Selbstlernkompetenz. Selbstlernkompetenz wird bei KAISER – wie im Folgenden aufgezeigt wird – in engem Zusammenhang mit Metakognition konzeptualisiert. Trotz der Vorbereitung der Lehrenden zeigte sich auch hier eine Diskrepanz zwischen der intendierten Umsetzung und dem Verlauf in der Praxis. Aus der Analyse der Erfahrungen der Lehrenden werden eine Reihe von möglichen Ursachen berichtet, wie zum Beispiel die zeitliche Konkurrenz zwischen Seminarinhalt und dem Einbau metakognitiver Elemente. Im Zweifelsfall entscheiden sich die Lehrenden eher zugunsten des Inhalts. Zum einen wird damit den inhaltlichen Vorgaben der Einrichtung genüge getan, zum anderen verspricht das routinierte Vorgehen mehr Sicherheit (vgl. KAISER 2003a).

Vermutungen und Hinweise darauf, dass Lehrende die erhobenen Forderungen nicht durchgängig mit reiner Begeisterung aufnehmen und umsetzen, gibt es in der Fachliteratur hin und wieder. So stellt KLEIN fest, dass „das damit so leicht dahergeschriebene Hineinentwickeln in diese veränderten Rollen weder für Lernende noch für Lehrende konfliktfrei verläuft, ist bekannt“ (KLEIN 1998, 123). FAULSTICH kommt in Bezug auf die Reaktion der Lehrenden auf der Basis vieler Gespräche zu dem Schluss: „dass erhebliche Skepsis besteht. Zum einen wollen Dozenten meist in ihren bisherigen Lehrstilen weiterarbeiten, und zum anderen stellen sie gleichzeitig fest, dass diese Diskussion um ‚selbstorganisiertes' oder ‚offenes' Lernen dazu dienen könnte, Finanzen und Ressourcen zu streichen“ (FAULSTICH 2003, 91).

Wie hier stammen solche Hinweise häufig aus Gesprächen oder Praxisberichten. Systematische Forschungsergebnisse darüber, wie die Lehrenden zu den erhobenen Forderungen stehen, liegen kaum vor.

Trotz dieser Hinweise konnte die durchgeführte Sekundärrecherche die in der Praxis beobachteten Widersprüche nicht befriedigend auflösen. Sie wurden zum Ausgangspunkt einer empirischen Untersuchung. Die Untersuchung „Vermittlung von Selbstlernkompetenz? – Eine qualitative Analyse der Lehrenden-Perspektive“ erbrachte dann zum Teil sehr überraschende Ergebnisse – Ergebnisse, die über das untersuchte Lernarrangement in der Erwachsenenbildung hinauszeigen und auch für die berufliche Bildung von Relevanz sind.

Die Untersuchungsergebnisse sollen im Folgenden in groben Zügen berichtet werden.

2.  Der Begriff Selbstlernkompetenz

Schon die Klärung des Begriffs „Selbstlernkompetenz“ erwies sich als kompliziertes Unterfangen. Selbstlernkompetenz beschreibt Voraussetzungen für Selbstlernen.

Auf der Basis unterschiedlicher theoretischer Hintergründe entwickeln KAISER und ARNOLD u. a. relevante Vorstellungen von Selbstlernkompetenz.

Theoretischer Hintergrund des Ansatzes von KAISER ist die Kognitionspsychologie. Einen entsprechend hohen Stellenwert haben Prozesse des Erkennens und Gewahrwerdens. Bei KAISER geht es im Wesentlichen um die Nutzung der metakognitiven Ebene. Bewusste Planung, Steuerung und Kontrolle der das Lernen begleitenden Denkprozesse ist das Ziel. Was implizit ist, wird mit metakognitiven Trainingstechniken zugänglich gemacht. Solche Techniken sollen Selbstlernkompetenz fundieren.

Ausgehend vom Terminus bedeutet Metakognition Nachdenken über Denkprozesse, Denken über Denken. Metakognitiv gesteuerte Anstrengungen richten sich demnach nicht direkt, unmittelbar auf die Bearbeitung des anstehenden Problems oder der Lernaufgabe, sondern auf die Strategien, die für diesen Zweck aktiviert werden (KAISER 2003b, 18).

Während KAISER Selbstlernkompetenz in enger Anbindung an Metakognition konzeptualisiert, stellen ARNOLD/ GÓMEZ TUTOR/ KAMMERER eine Liste der Kompetenzen auf, die für selbstgesteuertes Lernen grundlegend seien (vgl. ARNOLD/ GÓMEZ TUTOR/ KAMMERER 2003, 132ff.). Theoretisch ist der Ansatz von ARNOLD u. a. im Konstruktivismus verortet.

Die drei aus der allgemeinen Handlungskompetenz entwickelten Kompetenzen Fachkompetenz, Sozialkompetenz und Personale Kompetenz, und die daraus abgeleiteten Kompetenzen, die im engeren Sinne Selbstlernkompetenzen darstellen sollen, nämlich Methodische Kompetenz, Kommunikative Kompetenz und Emotionale Kompetenz, ergeben zusammen das Modell der Selbstlernkompetenz. Nach einer Überprüfung und Verfeinerung sieht dieses folgendermaßen aus:

Im Rahmen der Überprüfung kamen ARNOLD u. a. zum Schluss, von den oben vorgestellten Kompetenzen seien die folgenden für selbstgesteuerte Lernprozesse von großer Bedeutung: Fachkompetenz, Methodenkompetenz, Personale Kompetenz und Emotionale Kompetenz. Bei diesen Kompetenzen hätte sich gezeigt, dass Personen mit einem hohen Grad an Selbststeuerung im Vergleich zu Personen mit wenig Selbststeuerung ganz spezifische Kompetenzen zeigten. Dagegen konnten sowohl bei Sozialer Kompetenz als auch bei der Kommunikativen Kompetenz keine signifikanten Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt werden. Letztere Kompetenzen – so wird gefolgert – hätten für alle Lernenden eine vergleichbare, aber nicht besonders ausgeprägte Relevanz (vgl. UNIVERSITÄT KAISERSLAUTERN 2003, 2).

Die Vorstellungen von ARNOLD u. a. berücksichtigen stärker die Person und erwiesen sich als umfassender als der auf Metakognition verengte Begriff von KAISER.

Ganz offensichtlich handelt es sich bei Selbstlernkompetenz um einen komplexen Gegenstand, der darüber hinaus, wie die Ansätze von KAISER und ARNOLD u. a. gezeigt haben, sehr unterschiedlich ausgelegt werden kann.

Vor dem Hintergrund in der wissenschaftlichen Diskussion erörterter Ansätze und einer theoretischen Verortung in der subjektwissenschaftlichen Lerntheorie von HOLZKAMP (vgl. HOLZKAMP 1995) wurde Selbstlernkompetenz für die Untersuchung wie folgt bestimmt:

Selbstlernkompetenz umfasst die Bereitschaft und Fähigkeit zur Planung, Steuerung, Kontrolle und Evaluation des eigenen Lernprozesses. Wichtige Aspekte von Selbstlernkompetenz sind zusammenfassend: Metakognition beziehungsweise Reflexion und der Aspekt „Lerninhalt“.

Ein einheitliches Verständnis vom Begriff der Selbstlernkompetenz existiert in der pädagogischen Fachöffentlichkeit bislang nicht. Angesichts der aufgezeigten Bandbreite des Begriffsverständnisses ist es erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit in der Fachdiskussion mit dem Begriff „Selbstlernkompetenz“ umgegangen wird. Häufig wird auf eine Begriffsbestimmung ganz verzichtet. Offensichtlich entsteht durch die vermeintliche Eindeutigkeit des Begriffs eine Illusion begrifflicher Klarheit.

Sofern nicht körperliche Besonderheiten vorliegen, hat jeder Mensch aufgrund seiner biographischen Erfahrungen in irgendeiner Form Selbstlernkompetenz – darüber besteht Einigkeit. Fraglich ist dagegen, ob das Ausmaß im jeweiligen Fall ausreichend ist. Die Vermittlung von Selbstlernkompetenz kann deshalb immer nur bedeuten, dass der Versuch unternommen wird, die bei Lernenden vorhandene Selbstlernkompetenz auszubauen.

„Vermittlung“ steht im Rahmen der Untersuchung nicht für Belehren. Lernen wird hier nicht als passive Aufnahme von Stoff verstanden, sondern als aktiver Aneignungsprozess. Lehren hat die Aufgabe, Lernen von Inhalten zu vermitteln. Die pädagogisch Tätigen sind also „Vermittler“ für das Lernen bezogen auf Inhalte. Sie unterstützen den Aneignungsprozess. Ihre zentrale Aufgabe ist es, „die Distanz zwischen Thematik und Adressaten zu überbrücken, zwischen Lerngegenstand und Lernendem zu vermitteln“ (FAULSTICH 2003, 95f; FAULSTICH/ ZEUNER 1999, 20).

3.  Untersuchung „Vermittlung von Selbstlernkompetenz? – Eine qualitative Analyse der Lehrenden-Perspektive“

Wenn die Vermittlung von Selbstlernkompetenz so wichtig ist, wie häufig in der Diskussion dargestellt, dann ist es hoch relevant, zu wissen, wie die Lehrenden, die aktiv an der Umsetzung arbeiten sollen, über die an sie gestellten Forderungen denken. Dann reichen nicht Aussagen über die Lehrenden, sondern sie müssen aus ihrer Perspektive zu Wort kommen. In diesem Sinne war es Ziel, im Rahmen einer qualitativen Untersuchung Antworten auf die folgenden Fragen zu finden:

 

Im Juli und August 2005 wurden problemzentrierte Interviews mit allen sechs am Projekt beteiligten Lehrenden durchgeführt (durchschnittliche Interviewdauer: 91,7 Minuten). Das Material wurde wörtlich transkribiert und im Rahmen einer qualitativen Inhaltsanalyse orientiert an MAYRING ausgewertet. Die Kategorien wurden induktiv aus dem Material entwickelt. Das Interviewmaterial wurde vollständig kodiert.

Im Folgenden werden auch Zitate aus dem unveröffentlichten Anlageband zur Untersuchung einfließen. Er enthält sämtliche Interview-Transkripte. Die Zitate sind gekennzeichnet mit der Quellenangabe „Transkript“, der Seitenzahl und der jeweiligen Startzeile.

3.1  Rollenwandel

Wie ist die Sichtweise der untersuchten Lehrenden zum geforderten Rollenwandel?

lautete die erste Forschungsfrage. Ziel war es hier, die Sichtweisen der Lehrenden allgemein, also möglichst unabhängig vom Projekt, zu erheben.

Es zeigte sich schnell, dass sich das Thema Rollenwandel nicht abstrakt behandeln lässt. Die Lehrenden sind persönlich betroffen. Eine Auseinandersetzung mit dem geforderten Rollenwandel bedeutet für die meisten Interviewten ein Nachdenken über das eigene pädagogische Selbstverständnis.

Die im Rahmen der Untersuchung geäußerten Rollenvorstellungen der Lehrenden zeigen – mit einer Ausnahme – wenig Übereinstimmung mit dem in der Fachdiskussion geforderten Rollenbild. Das heißt nicht, dass die Lehrenden stattdessen Frontalunterricht favorisieren. Teilweise bestand ein erhebliches Bedürfnis, sich gegenüber „reinem“ Frontalunterricht abzugrenzen. Vielmehr wird betont, dass ohnehin andere Unterrichtsformen zum Einsatz kommen. Auch sind die Rollenvorstellungen dieser fünf Lehrenden durchaus unterschiedlich, eines jedoch verbindet sie: Im Gegensatz zu den erhobenen Forderungen hat für sie die Vermittlung von Wissen einen hohen Stellenwert. Das folgende Zitat ist charakteristisch:

Also ich glaube, das ist jetzt so ne persönliche berufliche Entscheidung, wo ich mich, glaube ich, mehr so darin bewege, dass ich Inhalte vermittle, wo ich sage, das kriegen sie nur raus, indem ich einfach von meinem Wissen abgebe und das so organisiere, dass ich es den Teilnehmern leicht mache, dieses Wissen aufzunehmen durch verschiedenartige Präsentationen, in Form von Übungen, von Gesprächen, von Vorträgen, von Demonstrationen, um ihnen Inhalt zu vermitteln (Transkript, 46, Z. 37).

Insgesamt kommt ein eher „herkömmliches“ Rollenverständnis zum Ausdruck: Pädagogische Professionalität findet ihren Niederschlag in der optimalen Planung und Gestaltung von Lehr-/ Lernprozessen und im Einsatz der eigenen Person als wichtigem Medium dieses Prozesses (vgl. DIETRICH 2001, 123). Im Gegensatz dazu stellen sich im Sinne des neuen Rollenbilds nach ARNOLD/ SCHÜSSLER Lehrende gerade dadurch „als Professionals“ dar, „dass sie kaum noch ‚lehren'“ (ARNOLD/ SCHÜSSLER 1998, 126).

Die Annahme einer grundsätzlichen Akzeptanz des geforderten Rollenwandels auf Seiten der Lehrenden, die in der Fachdiskussion meist als Prämisse implizit erscheint, konnte hier eindeutig widerlegt werden: Zwei Lehrende akzeptieren den geforderten Rollenwandel. Bei einem ist die Akzeptanz fraglich. Drei Lehrende akzeptieren den geforderten Rollenwandel nicht.

Überraschend war das folgende Ergebnis: Kaum ein anderes Thema wurde mit solcher Emotionalität seitens der Lehrenden vorgetragen, wie der vermutete Zusammenhang zwischen betriebswirtschaftlichen Interessen und der Forderung nach einem Rollenwandel. Bis auf eine Ausnahme sehen alle Lehrenden einen solchen Zusammenhang. Dass es sich dabei nicht um eine abstrakte Befürchtung handelt, belegten sie mit konkreten persönlichen Erfahrungen.

In den genannten Beispielen gehen Pläne von Bildungsträgern, im umfangreichen Rahmen Selbstlern-Programme einzusetzen, einher mit erheblichen Folgen für die Lehrenden. So wird assoziiert, Lehrende könnten beim begleiteten E-Learning im Vergleich zum herkömmlichen Unterricht wesentlich größere Gruppen betreuen – zum Beispiel mehrere Kurse zeitgleich. Da die pädagogische Begleitung von Selbstlernen vermeintlich geringere Anforderungen stelle, könne das Qualifikationsniveau und das Gehalt für solche Stellen herabgesetzt werden. Pädagogische Professionalität, wie sie durch die Lehrenden zum Beispiel durch die Erstellung von Unterrichtskonzepten gelebt wurde, scheint in einem solchen Fall nicht mehr gefragt zu sein. Für viele Lehrende entsteht ein Gefühl der realen Bedrohung: „und dann wurde uns ganz anders“. Ihre Reaktion ist Widerständigkeit: „Da wird nichts von. Das machst du mit uns nicht!“ (Transkript, 2, Z. 8).

Durch diese betriebswirtschaftlichen Aspekte scheint jedenfalls die Bereitschaft, sich auf die pädagogischen Gehalte des geforderten Rollenwandels einzulassen, bei den meisten beeinträchtigt. Es herrscht Skepsis.

3.2  Der Begriff Selbstlernkompetenz

Wie schon erwähnt, kommen WIESNER/ KRUSE auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse zu der Annahme, dass Weiterbildner/innen „zumeist nur über begrenzte Vorstellungen bez. Selbstlernkompetenzen (…) verfügen“ (WIESNER/ KRUSE 2005, 150). Diese Annahme bestätigt sich auch in dieser Untersuchung: Die interviewten Lehrenden zeigen Unsicherheiten, wenn sie über ihr Begriffsverständnis von Selbstlernkompetenz sprechen. Keiner der Interviewten nimmt auf die wissenschaftliche Fachdiskussion über Selbstlernkompetenz Bezug. Sie schildern ihre Vorstellung von Selbstlernkompetenz durch die Nennung und Beschreibung einer Anzahl von Aspekten, die sie mit Selbstlernkompetenz assoziieren. Dabei gibt es durchaus Übereinstimmungen mit der Theoriediskussion. So sind, zumindest zum Teil, die Basisprozesse (Planung, Steuerung, Kontrolle, Evaluation der eigenen Lernprozesse) wieder zu erkennen. Die Aspekte Reflexion beziehungsweise Metakognition, die sich bei der eigenen Begriffsbestimmung als sehr wichtig herausgestellt hatten, fanden allerdings keine besondere Beachtung.

Vergleicht man die Vorstellungen der Lehrenden, so gibt es Gemeinsamkeiten, aber nie haben zwei oder mehrere Lehrende ein gleiches Begriffsverständnis.

3.3  Vermittlung von Selbstlernkompetenz

Wie ist die Sichtweise der untersuchten Lehrenden zur Anforderung „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“?

lautete die zweite Forschungsfrage. Ziel war es auch hier, die Sichtweisen der Lehrenden allgemein, also möglichst unabhängig vom Projekt, zu erheben.

Die Anforderung „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ wird von den untersuchten Lehrenden durchweg positiv bewertet – auch von Lehrenden, die den geforderten Rollenwandel nicht akzeptieren. Keiner der interviewten Lehrenden stellt das Ziel „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ grundsätzlich in Frage.

Die Vermittlung von Selbstlernkompetenz sei ohnehin Ziel von Lehren und Lernen beziehungsweise jeder Ausbildung – betonen Lehrende.

Die Interviewten machen klar, dass für die Vermittlung von Selbstlernkompetenz Voraussetzungen erfüllt sein müssen. Sie nennen eine Vielzahl von Aspekten, die sich in drei Gruppen ordnen lassen: Rahmenbedingungen, Voraussetzungen bei den Lernenden, Voraussetzungen für den Lernprozess. Nur wenige Themen werden von jeweils mehreren Interviewten angesprochen: materielle Rahmenbedingungen (adäquate Räumlichkeiten und eine ausreichende technische Ausstattung etc.), die Freiwilligkeit der Teilnahme und eine „gewisse“ Identifizierung mit den Lerninhalten. Wenn die Lehrenden über die Vermittlung von Selbstlernkompetenz sprechen, so stellen sie sich diese, wie viele Textpassagen zeigen, eingebettet in die Vermittlung von anderen Lerninhalten vor.

Wie die Vermittlung von Selbstlernkompetenz letzten Endes umgesetzt werden kann, darüber sprechen die interviewten Lehrenden wenig. Wenn sie das tun, haben die Vorstellungen eher den Charakter von Ideen als von Strategien (vgl. – wie schon erwähnt – WIESNER/ KRUSE 2005, 150).

3.4  Potentielle Handlungsgründe

Angesichts der allgemein positiven Bewertung des Ziels „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ stellt sich die dritte Forschungsfrage noch dringlicher.

Warum handeln die Lehrenden im Projekt wie beschrieben, obwohl die Vermittlung von Selbstlernkompetenz explizit Projektziel war?

Die Untersuchung erbrachte eine ganze Reihe potentieller Handlungsgründe. Es ist davon auszugehen, dass das jeweilige Handeln der Lehrenden weniger monokausal, als vielmehr durch ein Geflecht von Gründen zu erklären ist.

Potentielle Handlungsgründe fanden sich in der Ablehnung des geforderten Rollenwandels und in der Unsicherheit, wie Selbstlernkompetenz zu vermitteln sei.

Ein weiterer potentieller Handlungsgrund zeigte sich im Informationsstand über das Projektziel. Nicht alle Lehrenden waren von Anfang an über das Ziel „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ informiert. Auch bei der Vorbereitung auf die Aufgabe durch den Bildungsträger im Projekt blieben Wünsche offen. Alle Interviewten sind zwar seit mehreren Jahren als Lehrende aktiv, die Anforderung „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ und zeitgleich der Einsatz von E-Learning war für alle neu.

Immerhin wurden zwei Lehrende zu Experten für neue Lerntechnologien fortgebildet (umfangreiches Fernstudium). Dass eine solche Vorbereitung kein Garant für eine erfolgreiche Vermittlung von Selbstlernkompetenz ist, zeigte sich nicht nur – wie schon erwähnt – bei KAISER (vgl. KAISER 2003a), sondern auch in dieser Untersuchung. Gerade einer der fortgebildeten Lehrenden zeigte erhebliche Widerstände. Seine subjektiven Handlungsgründe ließen sich in einer detaillierten Fallbetrachtung aufschlüsseln.

Potentielle Handlungsgründe fanden sich auch in den Erfahrungen der Lehrenden bei der Begleitung von Selbstlernen im Projekt. Alle Lehrenden haben mit der propagierten neuen Rolle persönliche Erfahrungen gesammelt. Von diesen Erfahrungen berichten sie – teilweise unter hoher emotionaler Beteiligung – wenig begeistert. Stattdessen sind an vielen Stellen Ängste spürbar, dass ihnen etwas genommen wird, dass sie ihrer Rolle „beraubt“ werden, zum Beispiel:

Also, ich kann's nicht beweisen, aber das ist zumindest eine Vermutung, die ich auch habe, dass diese gewohnte Rollenvielfalt von der Rolle des Lehrers, des Allwissenden, des allseits Beliebten, des allseits Obenstehenden und Fokussierten von allen, von dem, der die Aufgabe vorgibt, der das Tempo vorgibt, der die Lösung weiß, der im Grunde… – da haben wir wieder diese Chefarztfunktion – dass das Loslassen von dieser Rolle des Lehrers im klassischen Stile schon für manche, vielleicht auch ältere, erfahrenere Kollegen ne Schwierigkeit ist. Könnte ich mir schon vorstellen, dass die deshalb eher dazu neigen, das alltäglich gewohnte Bild ablaufen zu lassen (Transkript, 140, Z. 9).

Im Folgenden können nur einige Facetten der umfangreichen Erfahrungen bei der Begleitung von Selbstlernen berichtet werden.

Der Einsatz von E-Learning im Unterricht hatte aus der Sicht der Lehrenden erhebliche Auswirkungen. So bedauern mehrere Interviewte, dass sie nicht den gewohnten Einblick in die Lernprozesse der Teilnehmenden haben. Jeder arbeitet für sich an seinem Computer. Während beim bisherigen Vorgehen der jeweilige Stand der Lernenden schnell eingeschätzt werden konnte, ist dies beim E-Learning teilweise nach Tagen noch nicht möglich. Dieser „Kontrollverlust“ wird als unangenehm empfunden.

Unangenehm finden eine Reihe der Lehrenden auch, dass die Gruppe nicht mehr „synchron“ arbeitet – eine logische Konsequenz von E-Learning. Anstatt die pädagogische Interaktion – wie gewohnt – zu bestimmen, fühlen sich viele Lehrende in eine reaktive, anstrengende Rolle verwiesen. Der Degradierung zum „automatischen Fragen-Beantworter“ würden wohl auch andere Lehrende zustimmen:

Also oft sind Sie nur am rum rennen, am kucken, am fragen. Und das ist…, ich empfinde das als ganz stressig, weil ich kann mich ja auf den grade konzentrieren, hab ihm was erklärt. Dann kommt der nächste, erkläre ich dem was. Und das ist…, als Lehrer ist es unheimlich ermüdend.

(…) Sie sind eigentlich immer nur so ein „automatischer Fragen-Beantworter“, aber Sie moderieren keine Gruppenprozesse (Transkript, 74f, Z. 36).

Darüber hinaus berichten Lehrende aber auch von Phasen, in denen sie sich überflüssig vorkamen, zum Beispiel:

Dass ich mich manchmal als Lehrkraft fast ein bisschen unnütz gefühlt habe. Alle hatten im Grunde zu tun. Alle machten ihre E-Learning-Module, und ich saß da und dachte: O.K., was mache ich hier eigentlich? So, ich kann hier und da mal kucken, wo die sind, ich kann hier und da vielleicht mal ne Hilfestellung geben, wenn sie sich verklickt haben, aber im Grunde kommt so ein Gefühl auf wie: Mensch, ich hab' doch soviel noch zu erzählen, soviel mitzuteilen, aber ich muss mich jetzt einfach mal bremsen (Transkript, 136, Z. 40).

Die geschilderten Aspekte lösen offensichtlich Unbehagen bei den Lehrenden aus und dürften gewichtige Gründe für die im Projekt häufig praktizierte Rückkehr zu vertrauten Unterrichtsformen sein. In Phasen herkömmlichen Unterrichts können bisherige Routinen greifen und das Gefühl der Sicherheit wieder gewonnen werden.

Damit liegen nun eine Vielzahl von Anhaltspunkten vor, warum die Lehrenden in diesem konkreten Projekt wie beschrieben gehandelt haben, obwohl die Vermittlung von Selbstlernkompetenz explizit Projektziel war.

3.5  Wissenschaft und Praxis

Zunächst fällt auf, dass keiner der interviewten Lehrenden die wissenschaftliche Fachdiskussion zu den Themen Rollenwandel, Selbstlernen und Selbstlernkompetenz kennt. Die wissenschaftlichen Positionen sind in der hier untersuchten Praxis nicht angekommen. Offensichtlich bestehen erhebliche Vorbehalte gegen die pädagogische Wissenschaft. Sie wird als weit weg von der Praxis dargestellt. Ihre Erkenntnisse kämen dort nur bei wenigen an, und wenn sie ankommen, seien sie nicht einfach umsetzbar. Ein wichtiger Aspekt scheint die Wissenschaftssprache zu sein. Sie wird mehrere Male als Problem thematisiert – obwohl alle Interviewten Universitätsabsolventen sind. Das folgende Zitat lässt die empfundene Kluft deutlich werden:

Nein, aber der Austausch zwischen Wissenschaft und den Leuten, die dann die Arbeit tatsächlich tun, ist nach meiner Einschätzung sehr schwierig möglich. Und da fehlen mir auch die Lösungen im Moment für... Das kommt für mich immer sehr hochtrabend an. Da will die Wissenschaft sich keine Blöße geben. Die sagen: Da kommen die komischen Praktiker. Denen wollen wir mal was erzählen, was 1994 auf der Fachtagung in Madrid da besprochen wurde. Davon haben die bestimmt noch nichts gehört. Und siehe da: Sie haben in der Tat nichts davon gehört, weil sie seit 94 nämlich Unterricht machen. Das führt zu einer Polarisierung der beiden Gruppen. Und dann sagen die einen: Na ja, mit ihren Elfenbeinen, da können sie ruhig weiter im Turm sitzen (Transkript, 135f, Z. 14).

4.  Fazit

Die Untersuchung „Vermittlung von Selbstlernkompetenz? – Eine qualitative Analyse der Lehrenden-Perspektive“ hat gezeigt, dass zumindest nicht grundsätzlich von einer Akzeptanz des geforderten Rollenwandels auf Seiten der Lehrenden ausgegangen werden kann. Auch ist klar geworden, dass eine positive Bewertung des Ziels „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ durch die Lehrenden noch keine Umsetzung dieses Ziels garantiert.

Wenn Selbstlernkompetenz zum Fundament für das viel beschworene Haus des lebenslangen Lernens erklärt wird, dann ist dieses Fundament noch nicht solide gebaut. Wenn weder in der wissenschaftlichen Fachdiskussion, noch in der Praxis ein auch nur annähernd einheitliches Begriffsverständnis existiert, wie soll dann eine Auseinandersetzung über die Vermittlung von Selbstlernkompetenz stattfinden?

Hier ist die pädagogische Wissenschaft im hohen Maße gefordert. Angesichts der Konjunktur von Selbstlernen ist es dringend erforderlich, die Voraussetzungen dafür begrifflich zu klären. Dies kann nur dann Erfolg versprechen, wenn die einzelnen Stränge der Fachdiskussion stärker aufeinander Bezug nehmen, als das gegenwärtig der Fall ist.

Für eine Umsetzung des Ziels „Vermittlung von Selbstlernkompetenz“ fehlt es darüber hinaus an einer geschlossenen theoretischen Fundierung. Auch hier ist die Wissenschaft gefordert.

Diejenigen, die aktiv Selbstlernkompetenz vermitteln sollen, die Lehrenden, wurden bislang wenig beachtet. Sowohl in der wissenschaftlichen Diskussion, als auch im Alltag in den Institutionen werden sie mit hier behandelten Forderungen konfrontiert – teilweise im Ton von Verordnungen. Dass sich ein Rollenwandel nicht verordnen lässt, müsste eigentlich in einer Disziplin wie der Erziehungswissenschaft vorausgesetzt werden. Ein verordneter Rollenwandel oder ein verordneter Einsatz von Lernprogrammen versprechen wenig Erfolg, dies dürften die Ergebnisse der Untersuchung deutlich gemacht haben.

Sind diese Anforderungen für einen Lehrenden neu, so können sie – im besten Fall – einen Lernprozess initiieren. Dann verdienen Lehrende Bedingungen wie andere Lernende: Unterstützung durch die Institution in Form von Weiterbildung, Zeit für Selbstlernen und Reflexion.

Dazu kann es aber nur kommen, wenn die Mühe des Lernens Positives verspricht, die Erweiterung der eigenen Möglichkeiten oder – in der Wortwahl von HOLZKAMP – eine Verfügungserweiterung. Wenn stattdessen bei einem Rollenwandel erhebliche Nachteile drohen, dann kann es subjektiv sinnvoll sein, widerständig zu reagieren.

Entscheidend ist die Erkenntnis, dass auch Lehrende als Subjekte ernst genommen werden müssen. Als Subjekte handeln sie, als solche haben sie je eigene Interessen und sind per se nie voll verfügbar. Der Versuch einer Vermittlung zwischen den Interessen der Lehrenden und den erhobenen Forderungen wäre ein wichtiger Schritt.

Eines hat sich im Rahmen dieser Arbeit gezeigt: Wenn das Haus des lebenslangen Lernens ein solides Fundament „Selbstlernkompetenz“ haben soll, dann gibt es noch viel zu tun. Viel zu tun gibt es auch in Bezug auf diejenigen, die aktiv Selbstlernkompetenz vermitteln sollen: die Lehrenden. Mit ihnen zusammen sind die Herausforderungen einer Vermittlung von Selbstlernkompetenz anzugehen.

 

Literatur

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online seit 25.2.2008