wbv   Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.

 

 

 
KARIN BÜCHTER & FRANZ GRAMLINGER (Universität Hamburg)
Lernen in Netzen - Einige neuralgische Punkte und offene Fragen in der berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion


1 Einführung

Mit "Lernen in Netzen" ist Unterschiedliches gemeint. Innerhalb der Berufsbildungsdiskussion finden wir diese Formulierung auf mindestens drei Ebenen:


1. der interinstitutionellen,

2. der intrainstitutionellen oder organisationalen und

3. der informations- und kommunikationstechnischen.


Ad 1.: Auf interinstitutioneller Ebene bezeichnet Lernen in Netzen einen Austausch von Informationen insbesondere zum Zweck der Entscheidungs- und Handlungskoordination zwischen unterschiedlichen Institutionen bzw. Akteuren, beispielsweise der beruflichen Bildung. Die Idee der interinstitutionellen Vernetzung spielt vor allem in der Theorie und Praxis regionaler Berufsbildung seit den 80er Jahren eine besondere Rolle. Ein wesentlicher Anstoß hierfür war die damals verstärkt geführte Diskussion um "Regionalisierung der Strukturpolitik", in der Qualifizierung als "immaterieller Standortfaktor" oder "endogenes Entwicklungspotenzial" innerhalb der Region charakterisiert wurde. Eine Förderung der Regionalentwicklung durch Berufsbildung, so der Tenor, setze eine an regionalen Leitbildern orientierte Kooperation oder Vernetzung unterschiedlicher regionaler berufsbildungsrelevanter Akteure oder Institutionen voraus. Spätestens mit dem BMBF-Programm, "Lernende Regionen - Förderung von Netzwerken" (BMBF 2000), und der bis zu diesem Zeitpunkt bereits weit verbreiteten Idee von der lernenden Gesellschaft wurde "Lernen in Netzen" zu einer Leitfigur regionaler Berufsbildungspolitik.

Ad 2: Darüber hinaus ist Lernen in Netzen ein Inbegriff für Organisationsentwicklung. Inspiriert durch die betriebswirtschaftliche Organisationstheorie ist auch in Teilen der betrieblichen (Weiter-)Bildungsdiskussion seit den 80er Jahren an die Stelle des Bildes von der Organisation als bürokratischem Ordnungsgefüge das eines "evolutionären Systems" getreten. Der Fokus richtet sich hierbei weniger auf die Gestaltung von Organisationen, als vielmehr auf Prozesse ihrer Eigendynamik und Selbstorganisation, die es zu initiieren und zu ermöglichen gilt. Umweltanpassung, Leistungsoptimierung, Wissenserweiterung und -transformation sind zentrale Schlagworte in entsprechenden Konzeptionen zum organisationalen Lernen (vgl. HANFT 1997). Das die Organisation tragende Ensemble von Individuen soll zum ständigen selbstorganisierten Lernen und zum Austausch von Wissen angeregt werden. In diesem Zusammenhang erhalten auch das informelle Lernen im Betrieb und am Arbeitsplatz ihre Relevanz für die Unternehmensentwicklung - und zwar mit Hinweis auf die Möglichkeit der Wissenstransparenz, -transformation und -nutzung via Kommunikation. Das prominenteste Medium zur Unterstützung des Lernens in organisationalen Netzen ist demzufolge der Computer.

Ad 3.: Lernen in technischen bzw. virtuellen Netzen gehört derzeit zu den rationalsten Formen der Wissensaneignung. Als wesentliche Vorteile dabei gelten, dass von beliebigen Orten aus und zu jeder Zeit auf abgestelltes Wissen zugegriffen werden kann, Lernmaterialien abgerufen werden können, eigenes Wissen angeboten, trotz räumlicher Distanz Fragen gestellt und beantwortet werden usw. Im Glossar des Handbuchs E-Learning (HOHENSTEIN/WILBERS 2002) wird unter dem Stichwort "E-Learning" darauf verwiesen, dass im Gegensatz zum ursprünglichen Sammelbegriff für alle Formen elektronisch unterstützten Lernens heute beinahe ausschließlich Internet- bzw. Intranet-basiertes Lernen gemeint ist, wenn von E-Learning die Rede ist. Das Potenzial bzw. die Möglichkeiten, nicht nur Rechner miteinander zu vernetzen oder den Lernenden über Netze Informationen besser, schneller, umfassender und billiger zugänglich zu machen, sondern auch Lernende und Lehrende sowie Lernende mit Lernenden zu "vernetzen" - dieses Potenzial wurde zwar bereits - in erster Linie von marktwirtschaftlich und profit-orientierten Institutionen - erkannt, allerdings noch sehr wenig effektiv genutzt (vgl. dazu den Beitrag von EULER in dieser Ausgabe). Bildungsinstitutionen auf allen Ebenen - von der Volksschule bis zur Universität, von teuren Privatinstituten bis zur Volkshochschule - sind gerade dabei, "auf diesen Zug aufzuspringen", wobei nach wie vor Kosten- und Effizienzgründe plus "die Zeichen der Zeit" weit vor pädagogisch-didaktischen Überlegungen und Begründungen rangieren. Theoretische Ansätze zu Themen wie Knowledge Building Communities (die Gruppe um SCARDAMALIA & BEREITER in Toronto), Learning Communities oder CSCL (computer-supported collaborative learning) weisen allerdings darauf hin, dass sich die Wissenschaft - zumindest im englischen Sprachraum - dieser Potenziale sehr wohl bewusst ist.

In der deutschsprachigen Berufsbildungsdiskussion spiegelt sich die zunehmende Bedeutung von Internetlernen in der Praxis in einer allmählich wachsenden Anzahl von - vor allem auch anwendungsbezogenen - Publikationen wider, in denen es in erster Linie um folgende Themen geht:


·Potenziale des Internets für berufliche Lehr-Lernprozesse

·Veränderung von Lernkulturen

·Relation von Selbstorganisation und Kooperation beim
 Internetlernen

·Sozialformen beim Internetlernen

·Möglichkeiten und Voraussetzungen zur Gestaltung von
 Lernumgebungen

·Lernportale und Lernplattformen

·unterschiedliche Formen des Lernens

·synchrone, asynchrone und Misch-(Hybrid-)formen der zeitlichen
 Gestaltung

·tutorielle Betreuung

·Qualitätskriterien

·Kompetenzen zur Begleitung, Beratung und Steuerung des
 Lernens in Netzen


Im Folgenden werden wir uns auf die dritte Variante des Lernens in Netzen, also das Lernen im Internet konzentrieren, möchten aber nicht unerwähnt lassen - auch um unsere obige Differenzierung der drei Ebenen des Lernens in Netzen zu begründen - dass uns der Gedanke beschäftigt, das interinstitutionelle, organisationale und informations- und kommunikationstechnische Lernen in deren Kohärenz zu begreifen und zu erforschen. Theoretische und empirische Auseinandersetzungen hierzu, etwa fallbezogene, stehen noch aus. Während sich die unmittelbaren Zusammenhänge dieser drei Ebenen theoretisch noch relativ leicht konstruieren lassen, dürfte eine empirische Rekonstruktion realer horizontaler (auf den einzelnen Ebenen) und vertikaler Prozesse (zwischen den einzelnen Ebenen) ein höchst kompliziertes methodisches Vorgehen erfordern. Dies wollen wir an anderer Stelle weiter thematisieren und kommen nun zu unseren eigentlichen Fragen.



2 Zu den neuralgischen Punkten und offenen Fragen

Zwar hat sich Deutschland - erst in den letzten Monaten - innerhalb Europas zu einer der führenden Nationen hinsichtlich privater und kommerzieller Nutzung des Internets entwickelt und auch verschiedenste Initiativen wie Schulen-ans-Netz oder Initiative d21 scheinen Erfolg hinsichtlich der (lokalen) Internetanbindung von Bildungseinrichtungen zu zeitigen. Verfolgt man allerdings die theoretische Diskussion und die praktische Realisierung netzbasierten Lernens und Lehrens in der Bildungslandschaft Deutschlands und vergleicht das mit Berichten aus Kanada, Australien, den USA oder den skandinavischen Ländern, so scheint hierzulande alles etwas vorsichtiger, bedächtiger, nach gründlicher Abwägung und Diskussion - oder einfach schleppender vor sich zu gehen (vgl. GRAMLINGER 2002).

Diskussionen zum Thema E-Learning - zumal erziehungswissenschaftliche bzw. berufs- und wirtschaftspädagogische, ebenso wie erwachsenenpädagogische - kreisen in der Regel um bestimmte, immer wieder auftretende Grundsatzfragen, die - wenn nicht expliziert - sich unterschwellig durch eine ganze Debatte ziehen können.

Fünf dieser Fragestellungen wollen wir im Folgenden versuchen zu pointieren, und zwar die Fragen nach


1. dem Technikverständnis, genauer: dem Technikbild
2. der Vereinbarkeit ökonomischer und pädagogischer Maxime
3. dem "Bildungswert" des Internets
4. den konkreten Lehr-Lerninhalten
5. der Verortung der Auseinandersetzung mit E-Learning innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik.


2.1 Technikbilder in der Diskussion um E-Learning
In seiner Abhandlung über "Technikbilder" hat HUBER (1988) zwischen zwei Grundhaltungen differenziert: einer "eutopen" und einer "dystopen". Basierten eutope Technikbilder auf neuzeitlichen Leitbildern des Rationalismus und Humanismus und unterstellten dank der technischen Entwicklung einen sukzessiven Fortschritt in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen, präsentierten dystope Technikbilder quasi das komplementäre Gegenstück: mit ihnen würden Fortschrittsskepsis und Schreckensvisionen über die technologische Entwicklung verbreitet. Beide Bilder finden sich in der Diskussion um Computerisierung - wie dies HUBER anhand der unterschiedlichen Einsatzbereiche verdeutlicht (61ff.) - ebenso wie innerhalb der Debatte um das Internet und das Internetlernen wieder. So steht der euphorischen Einstellung zu den Informations- und Kommunikations-Technologien (IKT) bzw. dem Internet, nach der diesem eine Schlüsselrolle in der Wissensgesellschaft zugeschrieben wird, da es von traditionellen Lerneinschränkungen befreie und jedem die Chance eröffne, an der Vermehrung und Verbreitung von Wissen im Sinne des individuellen Weiterkommens und des gesellschaftlichen Fortschritts teilzuhaben, die pessimistische Vorstellung vom Computer/Internet als Instrument zur Förderung geistiger Verarmung, sozialer Isolation, von Kontrolldefiziten über Wissensinhalte angesichts der Fülle an Informationen etc. gegenüber. Nicht der Mensch kommuniziere mittels der Technik, sondern die Technik, selber zum Subjekt geworden, übernehme zunehmend menschliche Verantwortung: "Es sind primär technische Systeme, Geräte, nicht Personen, welche Informationen [...] austauschen, deren Bedeutung in wachsendem Maße nur in einer Auflösung apparativer Funktionen liegt, also dem technischen System immanent bleibt [...] Das Veränderungspotential wird nicht mehr primär im Menschen, sondern in der von ihm hervorgebrachten Technik gesehen, die ‚sich' entwickelt, gesellschaftliche Veränderungen bewirkt und schließlich sogar die Ziele für die Entwicklung der Menschen vergibt" (SESINK 1998, 82).
Zwischen diesen beiden polaren und auf dem entsprechenden Kontinuum anzusiedelnden unterschiedlichen Mischformen in der Einstellung zu Computer und Internet kann nicht mit der Frage nach richtig oder falsch entschieden werden, auch hier gibt es keine absolute Bestimmung. Vielmehr bieten solche konträren Positionen die Ausgangsbasis für kritisch-konstruktive Reflexionen. Oder mit MAROTZKI (2000, 254): "Zwischen einer uniformierten Ablehnung des Internets in einer bewahrpädagogischen Tradition, die sich oftmals einer kulturkritischen Perspektive bedient, und einer unkritischen Euphorie im Sinne einer Technologie-Affirmation kann das Projekt einer erziehungswissenschaftlich orientierten Internetkritik systematisch angesiedelt werden." Beispielsweise geben solche unterschiedlichen Positionen Aufschluss über die jeweils daran geknüpften sozialen Interessen und die den Technikbildern korrespondierenden Gesellschafts- und Menschenbildern und ihren sinnvermittelnden bzw. orientierenden Funktionen, die jeweils wiederum entwicklungshemmend oder -fördernd wirken können.

Symptomatisch ist - und dies gilt für beide Extrempositionen - deren technisch-deterministische Implikation, d.h. die Entwicklung der IKT und die sukzessive Veralltäglichung des Internets werden als immanente Folgen eines eigendynamisch verlaufenden Entwicklungsprozesses gedeutet - mit jeweils unterschiedlichem Ausgang. Vergessen wird dabei zuweilen, dass der Computer, das Internet im Grunde völlig trivial sind, sie selber haben weder Wissen noch sind sie eine Welt für sich. "Sie bestehen nur aus Daten, die wir uns erst zu Informationen gestalten" (KORING 2000, 144). Die hohe Relevanz dieses Mediums ist eine durch und durch sozial konstituierte - eine banale und alte Feststellung, die aber dazu auffordert, technische Instrumente in ihrer Historizität und sozialen Gestaltbarkeit zu begreifen.

Die Frage, die sich aber dann hieraus ergibt ist, was bedeutet Gestaltung von Technik in diesem Zusammenhang genau? Wie ist die Gestaltbarkeit von Computer und Internet vorstellbar? Bezieht sich diese lediglich auf die unterschiedlichen Formen der Nutzung, die vom einfachen Datenabruf bis hin zur Interaktion und Zusammenarbeit via Internet reichen können? Anders gefragt: Welche Möglichkeiten der IuK-Technikgestaltung haben Berufs- und Wirtschaftspädagogen, Lehrer, Studierende, Schüler beispielsweise? Wo liegen Anknüpfungspunkte, welches sind Grenzen und Bedingungen?

2.2 Vereinbarkeit ökonomischer und pädagogischer Maxime
Darüber, dass der Einsatz multimedialer und telekommunikativer Medien in Lehr-Lernprozessen, zumal betrieblichen, ökonomischer Rationalisierungslogik folgt, besteht in der Literatur kaum Dissens. Mediengestütztes Lernen könne hervorragend selbstorganisiert verlaufen, direkte und indirekte Kosten für Weiterbildungsseminare und der damit verbundene Arbeitsausfall könnten eingespart werden, weniger produktive Phasen während der Arbeit könnten zu Lernzwecken genutzt werden: da "Leerzeiten" zu "Lehrzeiten" (vgl. EULER in dieser Ausgabe) werden, die Verteilung von Wissen könne viel rascher erfolgen als mit traditionellen Mitteln, Lernen könnte viel bedarfsgerechter statt finden. Vor allem drängen elektronische Medien, so resümiert EULER (in dieser Ausgabe), "auf den Bildungsmarkt, wenn sie einen ökonomischen Erfolg versprechen", und: "Ein ökonomischer Erfolg ist dann zu erwarten, wenn die neuen Produkte [...] einen Mehrwert gegenüber den vorhandenen bieten". Gleichzeitig - und hiermit wird eine vermeintliche Konvergenz ökonomischer und pädagogischer Rationalität beim Einsatz Neuer Medien unterstrichen - werden den neuen Medien didaktische Potenziale nachgesagt, die es zu nutzen gelte.

Dass aber zur Herstellung von einer Konvergenz ökonomischer und pädagogischer Rationalität didaktische Kreativität alleine nicht ausreicht, sondern über die Prozesse auf der unmittelbaren Ebene der Gestaltung und Durchführung von Lehr-/Lernprozessen eine Reihe weiterer Fragen wie die nach Einstellung, Erfahrung und Motivation der Lernenden (KLAUSER/ KIM/BORN in dieser Ausgabe), nach den Fähigkeiten der E-Lehrenden (EULER in dieser Ausgabe), der tutoriellen Betreuung (TENBERG in dieser Ausgabe), der beratenden Dienstleistungen (LUDWIG in diesem Band) und des supports durch andere kooperierende regionale Berufsbildungseinrichtungen (WILBERS in dieser Ausgabe) zu klären sind, ist hier deutlich geworden.

Die Wahrung pädagogischer Standards, die also nicht allein mit einer Didaktisierung des unmittelbaren Lehr-Lernprozesses erledigt ist, sondern zu denen nicht zuletzt die gleiche Verteilung von Wissen bzw. den Zugangs- und Nutzungsmöglichkeiten, die Dokumentation der berufsbiographischen Verwertbarkeit des Gelernten gehören sollten, die also eine Reihe materieller, institutioneller, personeller und zeitlicher Ressourcen und Kapazitäten voraussetzt, erfordert aber einen Aufwand, der dem ökonomischen Interesse an einer raschen und möglichst kostengünstigen Mitarbeiteranpassung zuwiderlaufen kann. Hier stellt sich die Frage nach der Sicherung pädagogischer Standards. Theoretisch könnten Qualitätskriterien eine Möglichkeit sein, pädagogische Ansprüche an E-Learning-Prozesse festzuschreiben. Darüber, inwieweit und in welcher Relation ökonomische und pädagogische Maxime beim E-Learning tatsächlich realisiert werden, könnten Evaluationen des E-Learnings Aufschluss geben (vgl. SEVERING et al. 2001, 142f). In der Praxis erweist sich die Evaluierbarkeit von online-Lehr-Lernprozessen jedoch als äußerst schwierig (KRAFT 1999, 176). Auseinandersetzungen mit "Möglichkeiten und Grenzen der Evaluation multimedialer und telekommunikativer Lehr-Lernarragements" (EULER 1999) stehen nach wie vor am Anfang.

2.3 "Bildungswert" des Internets

Im Kontext der Frage nach den pädagogischen Maximen stellt sich auch die Frage nach dem "Bildungswert des Internets" (MAROTZKI/MEISTER/SANDER 2000), die ihrerseits unmittelbar zu der Frage führt, was ein "Bildungswert" ist und damit, was Bildung ist. Nach traditioneller und (noch gültiger) bildungstheoretischer Auffassung entspricht der gebildete Mensch "dem moralisch Richtigen und Gerechten nicht bloß im Gehorsam gegenüber den Konventionen, sondern nach selbständiger Prüfung der Ansprüche und Entscheidungssituationen. Auf die objektiven Bedingungen der Welt bezieht er sich nicht mit einer subjektiven Meinung, er verfügt über reflektierte, gut mit Bezug auf den Wahrheitsanspruch begründete Urteile. Er ist nicht abhängig von Moden, sondern vermag sicher seine Geschmacksurteile zu treffen" (GRUSCHKA 1998, 99). Nicht nur aufgrund der Elastizität dieser Definition, sondern auch aufgrund der Schwierigkeit bei der Einschätzung von Wirkungen und der Konturierung des gesamten Mediums Internet und seiner pädagogischen Substanz lässt sich schwer messen, ob eine so verstandene Bildung bzw. ein entsprechender "Bildungswert" dem Internet innewohnt oder nicht. Bei der Frage nach dem Bildungswert des Internet finden sich an den jeweiligen Enden eines Kontinuums von unterschiedlichen Einschätzungen polare Deutungen, von denen die eine jeglichen Bildungswert des Internets verneint, da es nur um eine unverzügliche Anpassung an technisch determinierte Anforderungen gehe, die keine Zeit für intensive Auseinandersetzungen und Reflexionen der Welt, der Gesellschaft und des Selbst mehr übrig lasse, gefragt sei der schnelle Anwender, der Reagierende, und schließlich verkomme die Frage nach dem Bildungswert ohnehin zunehmend; die andere betont - mit Hinweis auf die vielfältigen technischen Gestaltungsspielräume - die prinzipiellen Möglichkeiten zur Bildung - und zwar eher Sinne eines anything goes: "Der anarchistische Ansatz des Internets, nämlich ohne staatliche Reglementierung auszukommen, bildet ein Milieu, in dem man ein freies Verhältnis zur medial vermittelten Welt über den Weg des entdeckenden Lernens entwickeln kann. Die Computertechnologie ermöglicht im Feature Internet eine chaotische Lernumgebung von höchster Aktualität, sie ermöglicht aber auch das bewusste Arrangement von Lernumgebungen" (MEDER 2000, 38; Herv. i.O.).

Letztendlich ist es müßig, die Frage, ob das Internet einen Bildungswert hat oder nicht, beantworten zu wollen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass der Computer, das Internet sui generis keinen Bildungswert haben, und dass ein suggerierter in seinen Gehalten und Ausmaßen sozial konstruiert ist.
Bei der Analyse des Bildungswertes von Internet sind abgesehen von der pädagogischen Qualität von Lernumgebungen, -formen und -supports eine Reihe unterschiedlicher Aspekte zu berücksichtigen, von denen hier zunächst nur zwei genannt werden sollen: Hierzu gehört der Aspekt der Virtualität: MAROTZKI (2000) spricht von einer "Virtualitätsverlagerung" und meint mit diesem Begriff, "dass Menschen offline ein Leben in sozialen Räumen organisieren und viabel gestalten und dass sie parallel dazu beginnen, ein Leben online in digitalen Welten zu gestalten" (245; Herv. i.O.). Der Befürchtung, dem häufigen Aufenthalt in digitalen Welten stehe eine Vernachlässigung der realen Lebenswelt gegenüber, entgegnet Marotzki mit dem Hinweis darauf, dass die Virtualitätslagerung durchaus zu einer "Polyperspektivität" und vieldimensionaler Reflexivität beitragen könnte. Aber: "Die pädagogische Nutzung des Internets - sei es in lern- oder bildungstheoretischer Hinsicht - setzt eine Abschätzung der Reichweite dieses neuen öffentlichen Raums voraus. Eine Sondierung hinsichtlich der Einschätzung, ob es sich um einen herrschaftsfreien Raum handelt oder wie er kolonialisiert wird, ist vonnöten" (254).

Der Bildungswert des Internets misst sich - wie bei traditionellen Medien auch - daran, inwieweit komplexe Sachverhalte von den Lernenden tatsächlich entschlüsselt, zur Lösung von Problemen herausgefordert und metakognitive Reflexionen gefördert werden - anstatt flüchtiges Wissen einfach nur abrufen und sammeln zu lassen. Ferner korreliert der Bildungswert des Internets mit den in den Informationen enthaltenen Implikationen, wie Gesellschafts- und Menschenbilder, ebenso wie mit der Art und Weise, wie Informationen didaktisch aufbereitet und präsentiert werden.

Zentral für die Frage nach dem Bildungswert ist zudem nicht nur, zu wissen, wie, womit und wodurch gelernt wird, sondern vor allem auch was gelernt wird.


2.4 Die Inhaltsfrage

Während die Frage nach den geeigneten Lernumgebungen und -formen in der erziehungswissenschaftlichen bzw. berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion um E-Learning eine relativ bedeutende Rolle spielt, bleibt die Frage nach den konkreten Inhalten weitgehend unterbelichtet. Eine Abstrahierung von der Inhaltsfrage, genauer: von der Auswahl, Begründung und Anordnung von Lerninhalten in Lehr-Lernprozessen zeigt sich im übrigen auch in der sich spätestens seit den 70er Jahren stärker auf die Methodenfrage konzentrierenden berufs- und wirtschaftspädagogischen Curriculumforschung und -diskussion. Ursache oder Folge hiervon ist ein sich Voneinanderwegbewegen von Qualifikations- und Curriculumforschung - oder wie HUISINGA (2002) formuliert, eine "Diskontinuität und Segmentation des Zusammenhangs von Qualifikations- und Curriculumforschung".

Inhalte spielten bei der Gestaltung von Lehr-Lernprozessen eine entscheidende Rolle, auch oder gerade im Zusammenhang mit der Frage nach Möglichkeiten der Entwicklung von extrafunktionalen Kompetenzen. Aus der Bildungstheorie ist bekannt, dass "(berufliche) Bildung [...] nicht nur formale Bildung, und zwar auch dort nicht [ist], wo es sich um die Herausbildung von Sozial- und Selbstkompetenz, also um ‚Subjektbildung' handelt. Selbstständigkeit, kritische Distanz, Autonomie und Handlungskompetenz erschöpfen sich nicht in den Lernformen, sondern setzen die inhaltliche Auseinandersetzung mit den bereits bekannten Gegenständen voraus, die Begrenzungen, Vereinseitigungen, neue Risiken und neue Hierarchisierungen hervorrufen" (RÜTZEL 1998, 47). Folglich können sich Auseinandersetzungen mit der Frage nach den Kompetenzen für und durch E-Learning nicht nur auf Methodenkompetenzen, etwa auf das Handling der Technik und den Umgang mit der Vielfalt an Informationen im Internet - deren bzw. dessen Relevanz für einen souveränen Umgang mit dem Computer keinesfalls relativiert werden soll - konzentrieren. Auch wenn es heißt, extrafunktionale Kompetenzen, zumal Problemlösungswissen, seien mittlerweile mindestens genauso bedeutsam wie Faktenwissen, bleibt letzteres eine zentrale Basis für kompetentes und souveränes Handeln.

Allein aus den oben genannten Gründen ergibt sich u.E. die Notwendigkeit, die Frage nach dem Umgang mit der konkreten, fachbezogenen Inhaltlichkeit bei Auseinandersetzungen mit E-Learning innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu präzisieren.


2.5 Berufs- und wirtschaftspädagogische Verortung

Als letzte möchten wir die Frage nach dem Stellenwert der Debatte um E-Learning innerhalb der berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion aufwerfen. Zwar lässt sich in den letzten Jahren eine zunehmende Hinwendung zu dieser Thematik feststellen, gleichzeitig haben diese Auseinandersetzungen innerhalb der Disziplin eher noch punktuellen bzw. Segmentcharakter. Um eine Verbreitung der Beschäftigung mit E-Learning innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik voranzutreiben, wäre zunächst eine Systematisierung relevanter Forschungsfragen im Bereich des E-Learnings hilfreich, um Zuordnungen wie etwa zur Institutionen-, Professionalisierungs-, Curriculum-, Lehr-Lern-Forschung usw. vornehmen zu können. Auch würde sich in diesem Zusammenhang die Frage der multidisziplinären Ausrichtung von Diskussionen und Forschungsvorhaben stellen. In ihrer "Berichterstattung über Berufsbildungsforschung" differenzieren VAN BUER/KELL (2000) zwischen wissenschaftsbezogenen und bereichsbezogenen Verflechtungen in der Berufsbildungsforschung. Fragen des Internets, seiner gesellschaftlichen Bedeutungen und Voraussetzungen, können und werden einmal in den die Berufsbildungsforschung bzw. Berufs- und Wirtschaftspädagogik betreffenden unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen behandelt (wie in der Arbeitswissenschaft, der Wirtschaftswissenschaft, der Rechtswissenschaft, der Politikwissenschaft, der Soziologie, der Psychologie, der Anthropologie), und gleichzeitig in den unterschiedlichen benachbarten Forschungsbereichen (wie in der Biographie-, Berufs-, Arbeitsmarkt-, Hochschul-, Frauen-, Jugend-, Erwachsenenbildungs- und Bildungsforschung) thematisiert. In den unterschiedlichen Disziplinen und Forschungsbereichen werden Fragen gestellt, Perspektiven entwickelt und Untersuchungen durchgeführt, die auch für die Weiterentwicklung der berufs- und wirtschaftspädagogischen Auseinandersetzung mit Lernen in Netzen ertragreich bzw. inspirierend sein können.


3 Schluss

Das Thema "Lernen in Netzen" - das haben unsere Erfahrungen gezeigt - wirft in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik umso mehr Fragen auf, je intensiver die Diskussionen darum geführt werden. Einige haben wir nur angerissen. Darüber, welche Theorien konstruiert, welche Konzeptionen entwickelt, welche Untersuchungen mit welchen Fragestellungen und methodischen Zugängen in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik bzw. in den für sie relevanten Nachbarbereichen durchgeführt werden, gibt es derzeit keinen Überblick - etwa in Form einer Datenbank. Eine solche Systematisierung könnte aber beispielsweise nicht nur dem Austausch dienen, sondern auch eine Grundlage dafür sein, das Forschungsfeld aus der Sicht der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu konturieren und zu vermessen, um so Fragen zu präzisieren, Forschungsbedarfe zu definieren und Reformvorschläge zu formulieren.

Wir haben mit Hinweis auf die anderen Beiträge in dieser Ausgabe darauf aufmerksam gemacht, dass sich die Diskussion um E-Learning nicht allein auf Lehr-Lernprozesse reduzieren sollte, sondern neben den subjektiven Voraussetzungen, den vorhandenen Ressourcen und Kapazitäten auch die kontextuellen Bezüge in Schule und Betrieb zu berücksichtigen sind. Darüber hinaus spielt dann auch das, was WILBERS (in dieser Ausgabe) als "zweite Stoßrichtung" bezeichnet hat, eine Rolle, nämlich das "Lernen in sozialen und institutionellen Netzen". Mit einer ähnlichen Überlegung hatten wir eingangs von einer Kohärenz von interinstitutionellem, organisationalem und informations- und kommunikationstechnischem Lernen gesprochen.





Literatur


BUER, J. v./KELL, A. (2000): Wesentliche Ergebnisse des Projektes "Bericht-erstattung über Berufsbildungsforschung" - Thematische, institutionelle und methodologische Analysen und Kritik. In: KAISER, F.-J. (Hrsg.): Berufliche Bildung in Deutschland für das 21. Jahrhundert. Beiträge zur Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. BeitrAB 238. Nürnberg, 47-74.

BMBF - Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft (Hrsg.) (2000): Lernende Regionen - Förderung von Netzwerken. Bonn.

EULER, D. (1999): Möglichkeiten und Grenzen der Evaluation multimedialer und telekommunikativer Lehr-Lernarrangements. In: ARNOLD, R./GIESEKE, W. (Hrsg.): Die Weiterbildungsgesellschaft. Bd 1: Bildungstheoretische Grundlagen und Analysen. Neuwied, 205-220.

GRAMLINGER, F. (2002): Nutzung des Internets in der Lehre: Konzeptionelle Vorarbeiten und erste Erprobungen, um neben der Informationskomponente verstärkt Kommunikation und Kooperation im Sinne des "collaborative learning" einzusetzen. In: REINISCH H./BADER R./STRAKA G.A. (Hrsg.): Moder-nisierung der Berufsbildung in Europa. Neue Befunde der berufs- und wirtschaftspädagogischen Forschung. Opladen, 73-86.

GRUSCHKA, A. (1998): Funktionalisierung von Mündigkeit. In: RÜTZEL, J./SESINK, W. (Hrsg.): a.a.O., 99-116.

HANFT, A. (1997): Personalentwicklung zwischen Weiterbildung und "organisationalem Lernen". München/Mering.

HOHENSTEIN, A./WILBERS, K. (Hrsg.) (2002): Handbuch E-Learning. Köln

HUBER, J. (1988): Technikbilder, Weltanschauliche Weichenstellungen der Technolgie- und Umweltpolitik. Lengerich.

HUISINGA, R. (2002): Zur Diskontinuität und Segmentation des Zusammenhangs von Qualifikations- und Curriculumforschung aus dem Blickwinkel der Bildungsforschung. Manuskript. Diskussionspapier. Universität Gesamthochschule Siegen.

KORING, B. (2000): Probleme internetbasierter Bildung. Untersuchungen über den Zusammenhang zwischen Bewusstsein, Lernen, Information, Bildung und Internet. In: MAROTZKI, W. u.a. (Hrsg.): a.a.O., 137-158.

KRAFT, S. (1999): "Lernen mit dem Computer?" Ergebnisse einer Mitarbeiterbefragung zur Nutzung betrieblicher Selbstlernzentren und zur Beurteilung computerunterstützten Lernens. In: SLOANE, P./BADER, R./ STRAKA, G.A. (Hrsg.): Lehren und Lernen in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Opladen, 175-184.

MAROTZKI, W. (2000): Zukunftsdimensionen von Bildung im öffentlichen Raum. In: MAROTZKI, W. u.a.(Hrsg.): a.a.O., 233-258.

MAROTZKI, W./MEISTER, D.M./SANDER, U. (Hrsg.) (2000): Zum Bildungswert des Internet. Opladen.

MEDER, N. (2000): Wissen und Bildung im Internet - in der Tiefe des semantischen Raumes. In: MAROTZKI, W./MEISTER, D.M./SANDER, U. (Hrsg.): a. a. O., S. 33 - 58

RÜTZEL, J. (1998): Integration und Ausgrenzung durch neue Formen der Arbeit. In: ders./SESINK, W. (Hrsg.): a.a.O., 27-50.

RÜTZEL, J./SESINK, W. (1998) (Hrsg.): Bildung nach dem Zeitalter der großen Industrie. Jahrbuch für Pädagogik. Frankfurt a.M. u.a.

SESINK, W. (1998): Bildung für die "Informationsgesellschaft". In: RÜTZEL, J./ders. (Hrsg.): a.a.O., 81-97.

SEVERING, E./KELLER, C./REGLIN, T./SPIES, J. (2001): Betriebliche Bildung via Internet. Konzeption, Umsetzung und Bewertung. Eine Einführung für Praktiker. Bern.