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DIETER EULER (Universität St. Gallen)
From connectivity to community -
Elektronische Medien als Katalysator einer Kultur des selbstorganisierten Lernens im Team

1 Medien in der Kultur - Medien als Kultur?
Heute wird etwa behauptet, der Umgang mit den schon seit Jahrzehnten unverändert als ‚neu' bezeichneten informations- und kommunikations-technischen Medien begründe eine zentrale Kulturtechnik. Kulturgeschichtlich kann auf die Bedeutung von Printmedien für die Prozesse der Emanzipation und Bildung in der Gesellschaft verwiesen werden. Nicht zu vergessen das ‚alte' Medium Fernsehen; es hat u.a. die (Medien-)Demokratie, das Leben in der Familie, die Bedingungen in der Schule verändert. Das Fernsehen strukturiert die zeitlichen Budgets der Menschen bis zur Koordination von Nahrungsaufnahme und Medienkonsum; es veranlasst Politiker, sich von Imageberatern ein neues Outfit zuzulegen. Kurz: Medien sind gleichzeitig Bestandteil und Wirkungselement einer Kultur.

Eine aktuelle Debatte mit durchaus kulturkritischen Untertönen betrifft die Wirkung von multimedialen und telekommunikativen Medien auf das Lehren und Lernen. In regelmäßigen Abständen werden Slogans vorgetragen, die je nach Radikalität der Position die Schule entweder durch diese elektronischen Medien ersetzen oder die Medien verstärkt in die Schulen integrieren wollen. Die Debatte verbindet u.a. Industrielobbyisten und Medienmoralisten, Finanz- und Bildungspolitiker, Mutwillige und Mutlose, Informatiker und Pädagogen. Sie ist mit vielen semantisch leeren Zukunftsvokabeln gespickt ("Bildung aus der Steckdose"), sie lebt von immer neuen Versprechungen und Visionen. "No more classrooms", fordert etwa ROGER SCHANK als ein prominenter Vertreter der "Digital-Education"-Bewegung und propagiert, ein Drittel des Tages lernend am Computer zu verbringen (vgl. SCHULMEISTER 2001, 3). "Delivering the power of knowledge to the kitchen table", so oder ähnlich lauten die Werbebotschaften auf den Websites der virtuellen Bildungsanbieter. Die Triebfeder der Entwicklung ist dabei zumeist eine ökonomische: Leerzeiten sollen zu Lehrzeiten werden, an Stelle des zeitaufwendigen und kostspieligen Lernens in Seminaren sollen die Menschen in Betrieben "just-in-time" dann lernen, wenn sie das Wissen brauchen. Doch sind diese ökonomischen Motive der Kostenreduzierung und Verlagerung der Weiterbildungsverantwortung vom Unternehmen auf die Mitarbeiter vereinbar mit den Qualitätsansprüchen an ein wirksames und motivierendes Lernen?

Das Spannungsfeld gewinnt an Kontur, wenn man die ökonomisch motivierten Überlegungen mit den kulturkritisch ansetzenden Fragen eines HARTMUT VON HENTIG kontrastiert: "Haben wir geprüft, was uns die elektronische Revolution beschert? ... Chat room statt Zeitung und Gespräch; Internet statt Bibliothek; ... Wollen wir eine Homepage-Öffentlichkeit, in der jeder sich an jeden wendet und sich in die Folgenlosigkeit einübt, in das Nicht-verantworten-Müssen dessen, was man in die Welt gesetzt hat? Wollen wir die ständige Beschleunigung, die fortgesetzte Entsinnlichung, die Preisgabe der Unmittelbarkeit ...? Wollen wir digitale Vernetzung mit immer mehr Unbekannten, statt Verbindung und Auseinandersetzung mit denen, die uns angehen und die wir angehen? ... Wollen wir die ... Verdrängung der erfahrbaren Wirklichkeit durch die ‚virtuelle', des Kostbaren und Widerständigen durch das Verfügbare und Geläufige, unseres Hundes durch ein Mega-Tamagotchi?" (VON HENTIG 1999, 43 f., 156).

Die Debatte verharrt in einem hektischen Stillstand, solange sie im Grundsätzlichen verhaftet bleibt und keine klaren Bezugspunkte im Hinblick auf konkrete Bildungsinstitutionen erhält. Vor diesem Hintergrund soll das Thema auf die Bedingungen einer universitären Bildung ausgerichtet und dabei die Frage fokussiert werden: Wie können die elektronische Medien verwendet werden, um in der Universität eine Kultur des selbstorganisierten, kooperativen Lernens zu fördern?


2 Elektronische Medien im Spannungsfeld von pädagogischen Ansprüchen und ökonomischen Erwartungen
Universitäten leben - wie derzeit alle Bildungsinstitutionen - in einem Spannungsfeld von pädagogischen und ökonomischen Ansprüchen. Im Hinblick auf die Einführung elektronischer Medien für das Lernen und Studieren bilden pädagogische Reformansprüche in der öffentlichen Debatte zwar gelegentlich den Ausgangspunkt der Argumentation, im Fortgang der Diskussion dominieren dann aber weitgehend ökonomische Erwartungen. So wird den Universitäten in pädagogischer Hinsicht vorgeworfen, sie seien zwar fachlich exzellent, befänden sich didaktisch jedoch häufig noch in der Steinzeit. Nicht selten erlebe man Lehrveranstaltungen, in denen die Theorien von den Skripten der Dozierenden in die Aufzeichnungen der Studierenden wandern, ohne die Köpfe beider Seiten zu berühren. In karikierender Absicht wird von einer Vier-Schritte-Pädagogik gesprochen, die die Situation an vielen Universitäten bestimme: "Durchgenommen - auswendig gelernt - abgefragt - vergessen"!

In der Folge wird dann jedoch selten über umfassende didaktische Veränderungen, sondern über ökonomische Potentiale und neue Geschäftsfelder (Edu-Commerce) diskutiert. Dabei fehlt selten der Hinweis, dass mit Hilfe der Telekommunikation Studieninhalte ("content") schnell über den Globus transportiert werden könnten, es entstehe ein globaler Bildungsmarkt. Die ökonomischen Erörterungen kreisen dabei um vier Akteure:

1. Insbesondere Großunternehmen entwickeln Lern- und Beratungsangebote und stellen sie (weltweit) den Mitarbeitern oder auch Kunden zur Verfügung. Nicht wenige erhoffen sich durch eine Intensivierung von E-Learning wesentliche Reduzierungen ihrer Aus- und Weiterbildungskosten, geringere Reaktionszeiten auf Marktveränderungen (Schulung einer großen Mitarbeiterzahl in kurzer Zeit) und qualitativ hochwertigere Arbeitsleistungen durch den schnellen und leicht verfügbaren Erfahrungsaustausch mit Experten sowie den Zugriff auf verfügbares Wissen im Unternehmen. Mit eigenen "Corporate Universities" sollen Qualifikationen vermittelt werden, die spezifischer auf die Bedürfnisse und Bedingungen im Unternehmen abgestimmt sind, wobei in vielen Fällen eng mit Universitäten und Business Schools kooperiert wird (vgl. DOMSCH/ANDRESEN 2001).

2. Einige Universitäten insbesondere aus dem angelsächsischen Raum stellen Studieninhalte zu spezifischen Themen oder auch im Hinblick auf einen kompletten Studienabschluss (z.B. Master) bereit (einen Überblick bietet SCHULMEISTER 2001, insbes. 51 ff).

3. Bildungsbroker treten als Kooperationspartner von Universitäten und Unternehmen auf, um die Inhalte technisch (und gelegentlich auch didaktisch) aufzubereiten und / oder zu vertreiben (Richtungsweisend ist in diesem Zusammenhang UNext (www.unext.com), die 1998 mit der Zielsetzung gegründet wurde, Managementweiterbildungsprogramme über das Internet zu vermarkten. Für die Erstellung der Inhalte kooperiert UNEXT u.a. mit renommierten Universitäten (z.B. Columbia, Stanford, Carnegie-Mellon, LSE)). Die Palette der Angebote reicht von Standardkursen für Privatnutzer bis zu maßgeschneiderten Programmen. Auch traditionelle Verlage drängen auf diesen Markt; sie werden zum Vertriebspartner von Unternehmen und Universitäten oder verlegen und vertreiben elektronische Medien (z.B. Lernsoftware, E-Books). Teilweise werden Bildungsportale als "Markplatz für akademische Bildungsinhalte" (so beispielsweise das Bildungsportal Thüringen) aufgebaut.

4. Im Umfeld dieser Entwicklungen agieren Infrastrukturleister, deren Angebote auf der technischen Seite die Bereitstellung und Anpassung von Lernplattformen ebenso umfassen wie die Unterstützung bei der Entwicklung von Lernsoftware. Auf der personalen Seite existieren mittlerweile spezifische Weiterbildungsgänge zur Vorbereitung auf die Organisation und Durchführung von E-Learning-Kursen (z.B. TeleCoach), dazu kommen Beratungsangebote zur Unterstützung des Einführungsprozesses von E-Learning-Konzepten in Unternehmen oder anderen Organisationen.

Skeptiker sehen in den elektronischen Medien wohl einen relevanten Inhalt, jedoch keine sinnvolle Methode des Lernens und Studierens. So wird darauf hingewiesen, dass sich so manche Versprechen der Medienoptimisten im Nachhinein als Versprecher erwiesen hätten: Ob die programmierte Unterweisung der 60- und 70er-Jahre, das computerunterstützte Lernen der 80er-Jahre oder viele der web-based-trainings aus den 90er-Jahren aufgenommen werden - immer beschwor man didaktische Potentiale, realisiert wurden jedoch zumeist die ökonomisch günstigen, didaktisch aber anspruchslosen Lösungen. Und so sei es keineswegs unwahrscheinlich, dass auch die derzeit propagierten Konzepte schon bald auf dem bildungstechnologischen Friedhof landeten. Die elektronischen Medien seien erst dann eine pädagogische Bereicherung in den Bildungsinstitutionen, wenn sie einen nachweisbaren Beitrag zur Erreichung der dort verfolgten Bildungsziele leisten können. Nicht die Mittel bildeten den Ausgangspunkt von Veränderungen, sondern die Ziele. Vor diesem Hintergrund erinnerten die E-Learning-Propagandisten an eine Feuerwehr, die ausrückt, ohne zu wissen, wo der Brand ist.

3 Zwischenfazit: Bezugspunkte für die Gestaltung von elektronischen Medien in der Universitätslehre

Entfernt man aus den Diskussionen die Marketingvokabel der kommerziellen Anbieter und berücksichtigt die bildungstechnologischen und mediendidaktischen Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte, dann erscheint folgendes Zwischenfazit auf festen Fußnoten zu stehen:

1. Elektronische Medien drängen auf den Bildungsmarkt, wenn sie einen ökonomischen Erfolg versprechen.

2. Ein ökonomischer Erfolg ist dann zu erwarten, wenn die neuen Produkte (Bildungskonzepte) einen Mehrwert gegenüber den vorhandenen bieten. Der Mehrwert kann sich über die didaktische Qualität und / oder ökonomische Leistungsmerkmale (z.B. kürzere Schulungsdauer, höhere Kundenbindung) begründen.

3. Elektronische Medien bieten neue Potentiale für das Lehren und Lernen, deren Nutzung wird jedoch nicht allein durch die Technik bestimmt, sondern sie erfordert eine kreative, zielbezogene didaktische Gestaltung.

4. Die Nutzung elektronischer Medien für das Lehren und Lernen erfordert auch Gestaltungsaktivitäten im Hinblick auf die Strukturen (z.B. Lehrpläne, Prüfungen) und Kulturen (z.B. Lehr-/Lerngewohnheiten) in der Bildungsinstitution.

5. Es besteht häufig ein Spannungsverhältnis zwischen der Erwartung auf einen kurzfristigen ökonomischen Erfolg und dem Aufwand für die anspruchsvolle und qualitativ hochwertige didaktische Gestaltung und Implementation neuer Bildungskonzepte in einer Bildungsinstitution.
Wenn die elektronischen Medien im Hinblick auf eine Anwendung in Bildungsinstitutionen nicht als Selbstzweck, sondern als Werkzeug verstanden werden, dann sind aus Sicht des Bildungsmanagements Antworten auf die folgenden Fragenkreise zu erarbeiten:


1. Visionen: Welches Leitbild soll angestrebt, welche Ziele sollen verstärkt verfolgt werden?

2. Einschätzungen: Was bieten die elektronischen Medien an neuen Optionen? Welche grundsätzlichen didaktischen und / oder ökonomischen Potentiale existieren? Welche Erfahrungen und Erkenntnisse bestehen im Hinblick auf die Nutzung der Potentiale? Inwieweit können die elektronischen Medien einen Beitrag zur Annäherung an die Visionen und Ziele leisten?

3. Implementation: Welche Faktoren sind im Hinblick auf die Gestaltung von Medien, Lernumgebungen und Kulturen bedeutsam? Welche Faktoren beeinflussen den Wandel hin zu einer Kultur des selbstorganisierten Lernens im Team?


Damit ist ein umfassender Bezugsrahmen für die Analyse und Gestaltung mediengestützter Bildungskonzepte formuliert. Die erschöpfende Erörterung aller Fragen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Die nachfolgenden Ausführungen sind daher exemplarisch zu verstehen und bleiben notwendigerweise skizzenhaft.


4 Visionen: Das Studium in einer Kultur des selbstorganisierten Lernens im Team

Elektronische Medien werden zumeist im Hinblick auf ihre spezifischen Potentiale im Zusammenhang des Erwerbs von Wissen bzw. Sachkompetenzen diskutiert. In diesem Zusammenhang werden insbesondere die folgenden didaktischen Potentiale hervorgehoben:

· Möglichkeiten der anschaulichen Präsentation von Lerninhalten durch Integration von Film, Standbild, Animation, Ton und Text in einem einzigen Medium. Durch die Integration von Video- und Audiosequenzen können beispielsweise emotionale und affektive Aussagen besser transportiert werden, etwa bei der Darbietung von Fallstudienmaterial. Die Anschaulichkeit kann auch dadurch wachsen, dass die medialen Darstellungen durch den Lernenden unterbrochen oder wiederholt aufgerufen werden können.

· Neue Formen der aktiven Auseinandersetzung mit den Lerninhalten (z.B. Navigations-Hypertext, Simulationsprogramme) ermöglichen eine hohe kognitive Verarbeitungsintensität beim Lernen.

· Die raum-/zeitunabhängige Bereitstellung von Lerninhalten (Learning-on-Demand) erlaubt eine Individualisierung des Lernprozesses (z.B. Ziel-/Inhaltsauswahl, Lerngeschwindigkeit, zeitliche und räumliche Lernorganisation).

· Die zeitnahe Bereitstellung von Lerninhalten über das Netz erlaubt eine höhere Aktualität der Lerninhalte.
Diese Potentiale sollen ebenso wenig in Frage gestellt werden wie die Bedeutung des Erwerbs einer fundierten Sachkompetenz im Rahmen eines Studiums. Gleichwohl sollen im Folgenden solche Zielbezüge in den Vordergrund treten, die die diskursiv-kommunikativen Dimensionen des Studiums hervorheben und auf die Förderung einer Kultur des selbstorganisierten, kooperativen Lernens abheben. Dies bedeutet:

· Die Studierenden sollen einen möglichst hohen Grad an Eigenverantwortung für ihr Studium übernehmen. Dies betrifft insbesondere auch die Selbstorganisation der eigenen Lernprozesse. Selbstorganisiertes Lernen zeichnet sich dadurch aus, dass der Lernende mit Hilfe geeigneter Strategien (z.B. selektiv wahrnehmen, elaborieren, strukturieren, vergleichen, Hypothesen testen) seinen Wissens- und Kompetenzerwerb selbst steuert. In diesem Zusammenhang setzt er sich selbständig Ziele, analysiert die zu bewältigende Aufgaben- oder Problemstellung, überwacht den Lernfortschritt und beurteilt das Lernergebnis.

· Der Erwerb von Sachwissen soll ergänzt werden durch den Erwerb von Lern- und Sozialkompetenzen. Dies erfordert u.a. Lernumgebungen, in denen die Studierenden Problemstellungen im Team bearbeiten, Lösungen präsentieren und sich in Prozessen der Fremd- und Selbstevaluation gegenseitig Rückmeldungen geben. In einer solchen Lernumgebung besitzt die intensive Kommunikation mit den Lehrenden, aber auch diejenige zwischen den Studierenden einen hohen Stellenwert.

· Leitgedanke ist eine Universität, in der die Lehrenden und Lernenden nicht nur an technische Systeme angebunden ("connectivity"), sondern auch persönlich eingebunden und miteinander verbunden ("community") sind. Eine solche "community" konstituiert sich im universitären Rahmen durch gemeinschaftliches Lernen, regen Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch sowie gegenseitige Unterstützung in einem informellen Beziehungsrahmen.


5 Einschätzungen: Potentiale der elektronischen Medien im Hinblick auf die Förderung einer Kultur des selbstorganisierten Lernens im Team

Elektronische Medien können zum Bestandteil einer Lernumgebung werden. Als solche stehen sie alternativ oder ergänzend zu bekannten Lernumgebungen wie etwa der Vorlesung, dem Seminargespräch oder der Bearbeitung einer Fallstudie. Vor diesem Hintergrund besitzen elektronische Medien das Potential, die methodische Gestaltung einer Lernumgebung zu erweitern und begründen so neue Optionen für das Lehren und Lernen. Prinzipiell können Lernumgebungen über die folgenden Grundbausteine arrangiert werden:

· Sozialformen, d.h. das Lernen vollzieht sich entweder individualistisch oder eingebunden in ein Team bzw. in ein größeres Plenum (z.B. Klasse, Vorlesungsgruppe);

· Sozial-kommunikative Lehraktionsformen, d.h. das Lernen wird unterstützt durch die sozialen Aktivitäten eines Lehrenden. Dieser bietet Inhalte dar, entwickelt diese im Dialog oder schafft die Bedingungen zu deren eigenständiger Erarbeitung.

· Medien wie beispielsweise Bücher, Tonaufzeichnungen, Grafiken oder Filme.
Zum Lernen mit elektronischen Medien und zu den Lehrunterstützungsformen E-Instruktion, E-Tutoring sowie E-Moderation/E-Coaching sei auf den Beitrag von WILBERS, Kap. 2.1 in dieser Ausgabe von bwp@ verwiesen.

Im Ablauf einer Lehrveranstaltung können auch Verbindungen zwischen sozial-kommunikativen und E-Lehr-Aktionsformen entstehen:

 

Das Beispiel steht für die Integration der elektronischen Medien in ein didaktisches Design des so genannten "blended learning", d.h. der Verbindung von sozial- und telekommunikativ getragenen Phasen des Lehrens und Lernens.

Nach einer Kick-off-Veranstaltung, in der sich die Studierenden kennen lernen und mit einigen grundlegenden inhaltlichen und organisatorischen Rahmenvorgaben vertraut gemacht werden, besteht der Kern der Lehrveranstaltung in der Bearbeitung von Fallsituationen in Lernteams. Die Teams arbeiten selbstorganisiert mit Hilfe von bereitgestellten Lernressourcen, wobei die Studierenden neben den Face-to-face-Kontakten auch Phasen des Austauschs über das Netz (im Diskussionsforum) erleben. Der Wechsel von sozial- und telekommunikativen Kontakten bezieht sich auch auf den Austausch mit dem Lehrenden, der u.a. die Rollen des E-Tutors sowie des E-Moderators einnimmt.

Bei der Gestaltung der Lernumgebungen kommt es wesentlich darauf an, das Lernen in teambezogene Sozialformen einzubetten und durch die Bereitstellung zielgruppenangemessener Problemstellungen die Lernprozesse hochgradig in die Eigenverantwortung der Studierenden zu legen. Der Lehrende kann in diesem Kontext unterschiedliche Rollen übernehmen:

· Er definiert den Rahmen für das selbstorganisierte Lernen, gibt beispielsweise einen Überblick, klärt im Dialog Verständnisprobleme oder bietet ein Feedback auf die präsentierten Lernergebnisse der Studierenden.

· Er organisiert die (traditionellen und elektronischen) Medien, die als Lernressourcen das selbstorganisierte Lernen unterstützen sollen. Dabei greift er auf verfügbare Medien zurück oder entwickelt eigene.

· Er steht in unterschiedlichen Rollen selbst als telekommunikative Lernunterstützung bereit.

· Er leitet die Reflexion der Teamentwicklungsprozesse an und trägt in diesem Zusammenhang mit dazu bei, dass neben dem Erwerb von Sach- und Lernkompetenzen auch soziale Handlungskompetenzen entwickelt werden können.

Didaktische Konzepte eines selbstgesteuerten Lernens sind häufig mit zwei Befürchtungen konfrontiert:


(1) Das Lernen vollzieht sich isoliert und individualistisch;

(2) Der Lehrende ist weitgehend überflüssig.

Die Ausführungen zeigen, dass beiden Befürchtungen entgegengewirkt werden kann. So kann selbstgesteuertes Lernen in unterschiedlichen Sozialformen erfolgen, auch in Partner- und Teamstrukturen. Und der genaue Blick zeigt, dass selbstgesteuertes Lernen durchaus eine Unterstützung durch den Lehrenden benötigt. Dies betrifft die sozial-kommunikative Lehr-Aktionsform "erarbeiten lassen" ebenso wie die E-Lehr-Aktionsformen. Zugleich ist evident, dass von einem Lehrenden in einem solchen Rahmen Fähigkeiten erwartet werden, die das übliche Kompetenzprofil eines Dozierenden übersteigen. Dies leitet über in die Frage nach der Implementierung der Visionen und Potentiale.


6 Implementation: Der Prozess des Wandels zu einer Kultur des selbstorganisierten Lernens im Team mit elektronischen Medien

Die Ausführungen zeigen, dass die elektronischen Medien spezifische Potentiale bieten, die Lernprozesse im Studium auf die Entwicklung der angestrebten Lernkultur auszurichten. Dabei ist erkennbar, dass die Umsetzung der Potentiale einerseits von der kreativen didaktischen Ausgestaltung zielbezogener Lernumgebungen, andererseits von der Herstellung förderlicher Rahmenbedingungen abhängt. Wie viele Negativbeispiele veranschaulichen, können die elektronischen Medien auch zu Lernumgebungen führen, die hinter bestehende Standards zurückfallen - man denke beispielsweise an eine Lernsoftware, die in Form einer textlastigen elektronischen Blättermaschine am Bildschirm durchgearbeitet werden soll, oder an Diskussionsforen, bei denen sich niemand beteiligt.

Im Folgenden werden die Faktoren - in drei Schritten - herausgearbeitet, deren Gestaltung den Wandel hin zu der angestrebten Studienkultur wesentlich beeinflussen:

· Zunächst werden einige ausgewählte empirische Befunde referiert, die insbesondere die Frage aufnehmen, wie sich die Kommunikationsprozesse durch die Integration von E-Medien und E-Lehr-Aktionsformen in eine Lernumgebung verändern können (6.1).

· Anschließend werden die Ergebnisse aus einer Pilotstudie an einer niederländischen Universität referiert, die Aufschluss über zentrale Gestaltungsfaktoren im Prozess der Veränderung von Lernkulturen geben (6.2).

· Zum Abschluss erfolgt eine Fokussierung der Überlegungen auf die Frage, welche Konsequenzen die veränderte Lernkultur für den Lehrenden haben (6.3).


6.1 Befunde über Veränderungen in der Kommunikation durch die Integration von E-Medien und E-Lehr-Aktionsformen in Lernumgebungen

Empirische Befunde über die Mikroprozesse des Lernens, Lehrens und Kommunizierens in Lernumgebungen, die durch die unterschiedlichen Formen des E-Learnings unterstützt werden, liegen erst spärlich vor. Dies ist zum einen bedingt durch die permanenten Veränderungen in den technischen Bezugssystemen und der damit verbundenen Kurzlebigkeit der Befunde; zum anderen sind konkrete Anwendungen zumeist in ein komplexes Geflecht von je spezifischen Kontextfaktoren eingebunden, so dass eine Generalisierung von erzielten Forschungsergebnissen methodologisch nicht haltbar wäre. Vor diesem Hintergrund sind die nachfolgend referierten Befunde als Orientierungsaussagen zu verstehen.

Die Erfahrungen mit der Aktionsform der E-Instruktion im Rahmen eines synchronen Teleteaching sind insgesamt eher ernüchternd. Es gibt nachdrückliche Hinweise darauf, dass die Kommunikationsintensität zwischen Dozenten und Studenten in der virtuellen Vorlesung im Vergleich zu einer Präsenzvorlesung weiter sinkt; insbesondere die Studierenden am entfernten Ort melden sich so gut wie gar nicht (vgl. MAYR 1999, 37, 68 und 93). Die E-Instruktoren haben Schwierigkeiten, sich auf die veränderte Situation einzustellen, sie ‚vergessen' beispielsweise die Studierenden am entfernten Ort (keine Begrüßung und Verabschiedung, Irritation bei Fragen) (vgl. MAYR 1999, 57, 66). Eine ungezwungene bzw. spontane Beteiligung ist aufgrund der technischen Justierung (Bildausrichtung, Mikrofon) schwieriger. Die Störeffekte bzw. der Lärmpegel sind am entfernten Ort häufig so hoch, dass ein konzentriertes Lernen erschwert wird. Insgesamt wird die Teleteaching-Vorlesung von den Studenten eher als eine Fernsehübertragung, weniger als eine interaktive Veranstaltung, wahrgenommen. Vereinzelt wird es als nachteilig beurteilt, dass der Dozent schwerer erreichbar ist, d.h. kein Direktkontakt während und nach der Veranstaltung möglich ist (vgl. MAYR 1999, 42 f). Interessant ist der Hinweis, dass die synchrone Kommunikation neue Kommunikationsregeln begründet: Die aufgrund der technischen Unzulänglichkeiten auftretenden Sprachverzögerungen und der Umstand, dass das gleichzeitige Sprechen das akustische Verstehen unmöglich macht, erfordern von den Teilnehmern eine strenge Kommunikationsdisziplin. Die Erfahrungen beziehen sich auf die Übertragung von Vorlesungen in der Sozialform eines Plenums. Inwieweit die kritischen Einwände auch für die Sozialformen Einzel- oder Teamlernen gelten, bleibt offen.

Die Kommunikationsprozesse im Rahmen eines E-Tutoring hängen wesentlich davon ab, welcher Grad an Vertrautheit zwischen Lernenden und Lehrenden besteht. Sofern der E-Tutor für die Lernenden (noch) unbekannt ist, können Befunde aus der Analyse der E-Mail-Kommunikation aufgenommen werden. Diese deuten darauf hin, dass sich Formen des Teledialogs angstfreier, experimentierfreudiger und enthemmter vollziehen können (vgl. HESSE/GARSOFFKY/HRON 1995, 256). Das vergleichsweise geringe Maß an sozialer Kontrolle reduziert zum einen die unmittelbare Verantwortlichkeit für das eigene Handeln, zum anderen werden die Äußerungen der Kommunikationspartner als unverbindlicher und daher weniger fordernd empfunden. Auch fehlt der Rückmeldung auf eigene Äußerungen die Sanktionskraft, die etwa dem personalen Feedback durch einen Lehrenden eigen ist. Telekommunikation wird zudem häufig als statusnivellierend charakterisiert, weil die sozialen Kontexthinweisreize fehlen. Nicht zuletzt aufgrund der eingeschränkten nonverbalen Kommunikationsebene verläuft der Dialog zumindest in der Anfangsphase zumeist stärker aufgaben- und weniger beziehungsorientiert. Wie schon bei der E-Instruktion fehlt auch beim E-Tutoring prinzipiell die Direktheit, die Unausweichlichkeit und die Verbindlichkeit der Kommunikation, d.h. der Einzelne bleibt anonymer, er kann sich der Kommunikation in einem höheren Maße entziehen. Dieser Sachverhalt kann sehr unterschiedlich auf den Lernenden wirken, d.h. die im Vergleich zur Realbegegnung reduzierte soziale Intensität und informelle Kommunikation können je nach Präferenz von einem Lernenden entweder als hilfreich oder auch als störend für das Lernen beurteilt werden (vgl. TENBERG 2000, 183).
Die Netzkommunikation ist nur bedingt mit den bekannten Kommunikationsformen vergleichbar (vgl. auch DÖRING 1999). Sie besitzt gleichzeitig Elemente der mündlichen und schriftlichen Kommunikation, sie repräsentiert eine eigene Sprache zwischen Schriftlichkeit und Mündlichkeit ("Oraliteralität"). Die Kommunikation ist häufig eine Mischung aus Geschäftsbrief, Telefonat, Notizzettel und Flurgespräch - d.h. sie liegt irgendwo zwischen gesprochener Schrift bzw. geschriebenem Gespräch. Informalität, Dynamik, Reflexionsgeleitetheit, Fixierbarkeit der Äußerungen, Elaboriertheit der Aussagen lassen sich in einer spezifischen Weise ausprägen. Im Vergleich mit dem Face-to-Face-Gespräch fällt die non-verbale Seite der Kommunikation (Gestik, Mimik u.a.) aus. Geübte Netzbenutzer versuchen diese Defizite auszugleichen und verwenden neue Sprachelemente. Da sind beispielsweise die so genannten Emoticons - der einfache Smiley (J) für Freude, der augenzwinkernde für Ironie, der Frowny (L) für Trauer und Missstimmung, das mehrfache Klammerauf/ Klammerzu als Einrahmung zum Wort "Gruß" als Ausdruck einer mehr oder weniger festen Umarmung. Oder die so genannten Soundwörter wie "hmn" oder "huch", die als Ersatz für paraverbale Sprache eingesetzt werden. Ferner die Aktionswörter wie "schluck", "würg" oder "staun", die an die Comicsprache erinnern und ebenfalls emotionale Äußerungen zum Ausdruck bringen sollen. Die Verwendung dieser netzspezifischen Ausdrucksformen dient nicht nur als Ersatz für eine non-verbale Kommunikation, sondern sie dokumentiert auch Netzkompetenz und Gruppenzugehörigkeit zur Net-Society.

Die Formen der E-Moderation und des E-Coaching sind in einen vergleichsweise offenen Kommunikationsrahmen eingebettet. Auch in diesem Kontext ist der Grad der Vertrautheit und damit verbunden die Ausprägung der Beziehungsebene zwischen den Kommunizierenden von großer Bedeutung. Der Austausch in Diskussionsforen wird von den Studierenden i.d.R. als Erweiterung zu Präsenzveranstaltungen, nicht als deren Ersatz verstanden (Diskussionsgruppen über E-Mail "steigern die Erwartung auf echte Diskussionen eher, als dass sie sie reduzieren." (FARRINGTON 1997, 52f.)). Die Lernenden nutzen ein Diskussionsforum häufig nur als Informationsquelle, ohne Druck reagieren sie nur selten auf die eingestellten Fragen. Gelegentlich dient das Forum auch als Form der Selbstdarstellung (Vgl. auch SCHULMEISTER 2001, S. 274. PALLOFF/PRATT 1999, 50 f. weisen auf das Phänomen der Informationssucht ("information addiction") bei einzelnen Lernenden hin; diese manifestiert sich in der Neigung, kontinuierlich Informationen in eine Gruppe einspeisen bzw. solche abrufen zu wollen.). Die Qualität der Beiträge ist ohne externe Unterstützung zumeist niedrig (Gefahr der Verbreitung von Dilettantismus). Es hängt von der Kompetenz des E-Moderators ab, inwieweit Diskussionen entfacht, Teilnehmer zu Beiträgen aufgefordert, diskrepante Beiträge zusammengeführt und für die weitere Diskussion aufbereitet, Zwischenergebnisse festgehalten und auf diese Weise die Qualität der Diskussionen gesteigert werden.

Der erfolgreiche Ablauf eines virtuellen Seminars (CSCL) ist seitens der Lernenden u.a. abhängig von ihrer technischen Kompetenz, der Fähigkeit zur Selbststeuerung der Lern- und Arbeitsprozesse und der Teamfähigkeit. Wesentlich ist zudem eine störungsfreie Technik und ein gutes E-Coaching (vgl. SCHULMEISTER 2001, 219). Der Koordinationsaufwand im Hinblick auf den Umgang mit der Technik ist beträchtlich, wenn die Lernenden mit der Technik noch nicht vertraut sind. Entsprechend kann die inhaltliche Arbeit an der Problemstellung in den Hintergrund treten. Mit zunehmender Dauer und Gewöhnung lässt dieser Belastungsfaktor nach (vgl. FISCHER/MANDL 2000, 4 ff). Der Arbeitsaufwand ist für die Lernenden i.d.R. höher als in vergleichbaren Präsenzseminaren. Je komplexer, mehrdeutiger, offener und abstimmungsbedürftiger die Problemstellung ist, desto reichhaltiger sollten die Möglichkeiten des Kommunikationsumfeldes beschaffen sein. Während für einfache und eindeutige Aufgaben ein textbasierter Austausch ausreichen kann, erfordern komplexe Probleme eher eine videobasierte Kommunikation, ggf. ergänzt durch Face-to-Face-Kontakte (vgl. REINMANN-ROTHMEIER/MANDL 1999, 34 unter Bezugnahme auf MCGRATH/ HOLLINGSHEAD sowie HANSEN u.a.). Die Aussagen über das E-Tutoring gelten im übertragenen Sinne auch für die Kommunikation in virtuellen Seminaren. Wenn sich die Gruppenmitglieder nicht persönlich kennen, sind zunächst eine geringe Statusorientierung in der Kommunikation und eine vergleichsweise hohe Aufgabenorientierung erwartbar. Der Kommunikationsfluss zwischen den Gruppen vollzieht sich i.d.R. schwerfälliger als in Face-to-Face-Situationen, zudem kann es zu einer Parteienbildung innerhalb der Gruppen an den Standorten kommen (vgl. KREMER/WILBERS 2000). Ferner besteht eine erhöhte Gefahr des Abbruchs der Kommunikation bei auftretenden Konflikten in der gemeinsamen Arbeit. Bei solchen Konflikten schicken die Teilnehmer ihre postings vorzugshalber an den E-Moderator, während sich die Kommunikation zwischen den Gruppen reduziert (vgl. PALLOFF/PRATT 1999, 28).

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu beachten, dass viele Effekte verschwinden, wenn eingespielte Gruppen untersucht werden. "In Gruppen, die über einen längeren Zeitraum hinweg zusammenarbeiten, werden z.T. Statusunterschiede aufrechterhalten und eine soziale Identität entwickelt, mit der wiederum der normative Einfluss steigt."( REINMANN-ROTHMEIER/MANDL 1999, 33 mit Bezugnahme auf LEA/SPEARS). Die Tendenzen schwächen sich ab, wenn sich die Kommunikation über einen längeren Zeitraum vollzieht bzw. durch reichhaltige Kommunikationsumgebungen (z.B. Videokonferenz) getragen wird ("No differences could be found between videoconferencing and face-to-face cooperative learning." (FISCHER/MANDL 2000, S. 9 unter Bezugnahme auf EDELSON/PEA/GOMEZ). REINMANN-ROTHMEIER/ MANDL 1999, S. 20 weisen auf die Abhängigkeit der Erkenntnisse von dem eingesetzten Untersuchungsdesign hin: So konzentrierten die traditionellen Experimentaldesigns ihre Analysen i.d.R. auf kurzfristige Ad-hoc-Gruppen, einmalige Aufgabenbearbeitungen und die Betrachtung von Ergebnissen. Längerfristige Prozesse in realen Arbeitsgruppen werden demgegenüber selten untersucht.). Des weiteren wurde beobachtet, dass sich die Teilnehmer in virtuellen Szenarien auf die veränderten Kommunikationsbedingungen einstellen und Kompensationsstrategien im Hinblick auf den Sprecherwechsel einsetzen. So verfassen sie im Vergleich zu Face-to-Face-Situationen zwar wenige, dafür aber vergleichsweise lange Äußerungen (vgl. REINMANN-ROTHMEIER/ MANDL 1999, 35 unter Bezugnahme auf BLACK u.a.).

Die Erkenntnisse über den Verlauf und den Erfolg des Lernens im Rahmen von virtuellen Seminaren sind insgesamt noch fragmentarisch. Einzelne Untersuchungen konzentrieren sich auf die Frage, in welchem Maße geteiltes bzw. ungeteiltes Wissen im kooperativen Prozess der Problemlösung zum Einsatz kommt. Eine Studie von GRÄSEL u.a. (2000) kommt zu dem Ergebnis, dass die Lernenden in der telekooperativen Problembearbeitung vergleichsweise selten auf ihr Vorwissen zurückgreifen. Stattdessen arbeiten sie primär mit den Informationen aus der Problemvorgabe. FISCHER/MANDL (2000, 15) bestätigen den begrenzten Einsatz von ungeteiltem Wissen, sehen darin aber kein Spezifikum der Telekooperation, sondern erkennen es gleichermaßen als ein wesentliches Merkmal beim kooperativen Problemlösen in Face-to-Face-Situationen.


6.2 Gestaltungsfaktoren bei der Veränderung von Lernkulturen

Nach dieser summarischen Betrachtung der empirischen Befundlage soll die Ausgangsfrage nunmehr aus einer anderen Perspektive aufgenommen werden (vgl. BAETS/VAN DER LINDEN 2000; BAETS/WALKER 2000). An der niederländischen Universität Nyenrode wurde das konventionelle Studium (Vorlesungen mit Vor- und Nachbereitung anhand von Lehrbüchern) in zwei MBA-Kursen in Lernumgebungen transformiert, innerhalb derer wesentliche Studieninhalte selbstorganisiert im Rahmen von Teams aus 4 - 6 Personen erarbeitet werden sollen. Jeder Gruppe ist ein E-Tutor/E-Moderator zugeordnet, der den Studierenden bei inhaltlichen, technischen und organisatorischen Fragen zur Verfügung steht.

· Im ersten Kurs wurde den Studierenden eine Kommunikationsplattform zur Verfügung gestellt. Die Plattform enthielt ein synchrones Chat, ein asynchrones Diskussionsforum sowie ein Message Board. Die Studieninhalte wurden über Lehrbücher bereitgestellt.

· In dem zweiten Kurs wurde über die Kommunikationsplattform hinaus eine Knowledge-Plattform bereitgestellt. Über die Funktionen des ersten Kurses hinaus bestand die Möglichkeit zu einem Videoconferencing; zudem stellte die Knowledge-Plattform sämtliche Lernmaterialien (Hypertext-Konzepte, Studientexte) zur Verfügung und ersetzte so die Lehrbücher.

Die Lernprozesse wurden über Lernaufträge (assignments) unterschiedlicher Komplexität gesteuert. Das Konzept war eingebettet in Präsenzphasen, in denen sich Lernende und Lehrende face-to-face austauschen konnten.
Der Übergang von der konventionellen in die neuen Lernumgebungen wurde zum Gegenstand einer Pilotstudie. Die Erfahrungen der Studierenden wurden über Fragebögen vor und nach der sechswöchigen Selbstlernphase, über Interviews mit ausgewählten Studierenden sowie über die Auswertung der Chats, Diskussionsforen und Kommunikation mit den E-Tutoren / E-Moderatoren untersucht. Ein Auswertungsstrang konzentrierte sich auf die Identifikation von Faktoren, deren didaktisch-kommunikative Gestaltung den Verlauf und Erfolg des Lernprozesses wesentlich beeinflussen. Zusammengefasst:

· Die Einführung der beiden Lernumgebungen wird als ein Sozialisations- bzw. Akkulturationsprozess dargestellt, in dem es um die Überwindung bestehender Erwartungen und Gewohnheiten im Hinblick auf das eigene Lernen und Studieren geht.

· Zu Beginn ist es wesentlich, den Studierenden die Ziele und das Konzept des Kurses überzeugend darzulegen. Sie müssen erkennen und davon überzeugt werden, welchen Zusatznutzen diese Form des Lernens für sie beinhaltet. Dies kann sich insbesondere bei ‚prüfungsorientierten' Studenten als schwierig erweisen, die über die vergleichsweise offenen Lernprozesse verunsichert oder gar verängstigt werden. Die Einstellung der Studierenden gegenüber der neuen Lernkultur wird teilweise durch die Gruppenmeinung beeinflusst. Stimmungen können sich in die eine oder andere Richtung verstärken, so dass ein Teil der Bemühungen darauf gerichtet sein muss, eine positive Atmosphäre bzw. Offenheit gegenüber den neuen Lernformen zu schaffen.

· Die Lernvoraussetzungen in kognitiver, technischer und motivationaler Hinsicht sind häufig heterogen. Insbesondere zu Beginn bedürfen die Studierenden einer intensiven Anleitung und Unterstützung. Dies gilt in besonderer Weise für diejenigen Studierenden, die fachlich, motivational oder technisch Schwierigkeiten mit der Lernumgebung haben.
· Die Lernenden müssen mit den technischen Funktionalitäten intensiv vertraut gemacht werden. Viele haben keine Erfahrungen mit Chats, Diskussionsforen, Groupware und Teletutoring. Ist die Einführung zu kurz, werden die Lernprozesse durch zeitaufwändige Auseinandersetzungen mit der Technik belastet.

· Für technische Probleme sollte eine eigene Helpline zur Verfügung stehen, die nicht notwendigerweise durch den E-Tutor bedient wird.

· Das Konzept sollte methodisch konsistent umgesetzt werden, d.h. solange diese Formen des Lernens Enklaven im Gesamtsystem darstellen, werden sie als untypisch, experimentell und weniger ernsthaft wahrgenommen.

· Eine ähnliche Wahrnehmung droht dann, wenn telekommunikative und sozial-kommunikative Phasen inhaltlich nicht eng miteinander verzahnt sind.

· Die Lernumgebungen müssen im Hinblick auf die Arbeitsbelastung angemessen dosiert werden. Wenn die Arbeitsbelastung und / oder die Unsicherheit im Hinblick auf die Erreichbarkeit der Lernziele zu hoch werden, wachsen Ablehnung und Demotivation.

· Es besteht insbesondere zu Beginn die Gefahr, dass die Instrumente nicht lernzielbezogen eingesetzt werden (z.B. in Diskussionsforen erfolgt kein themenbezogener Austausch, sondern es wird ‚geplaudert'). Dies kann als ein Versuch gedeutet werden, Phasen der informellen Kommunikation zu sichern. Zudem können im Rahmen der virtuellen Kommunikation unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten dazu führen, dass sich langsame (oder auch lernschwächere) Studierende zurückziehen.


6.3 Anforderungen an die Kompetenzen eines E-Lehrenden

Die skizzierten Erfahrungen weisen auf die bedeutsame Rolle des Lehrenden in einer Kultur des selbstgesteuerten Lernens im Team hin. Wenn die elektronischen Medien nicht nur ein Angebundensein, sondern das Eingebunden- und Verbundensein in einer learning community ermöglichen sollen, dann benötigt dies spezifische Lehraktivitäten. Neben diesen normativen Orientierungen bieten die skizzierten Befunde einige Hinweise auf wesentliche Anforderungen, deren Bewältigung von den Lehrenden spezifische Kompetenzen erfordert. Abschließend daher einige wesentliche Hinweise auf das Profil und die Aktivitäten eines kompetenten E-Lehrenden:

· Herstellung von Lern- und Kommunikationshaltungen wie "honesty, responsiveness, relevance, respect, openness" sowie "conscious commitment to a group" (PALLOFF/ PRATT 1999, 20, 26).

· Vereinbarung und Praktizierung von Regeln und Normen für die E-Kommunikation. Intervention bei gravierenden Regelverletzungen.

· Als Handlungsregel kann das Subsidiaritätsprinzip aufgenommen werden: Die Lernenden sollten ihre Fragen, Abläufe und Konflikte weitgehend selbst klären - erst wenn sie dies nicht schaffen, ist der Lehrende gefragt. Der Lehrende sollte im Rahmen der sich entwickelnden Rollenfixierungen komplementär agieren, d.h. insbesondere nicht ausgefüllte Funktionen und Positionen initiieren oder belegen.

· Lernhilfen sollten weitgehend prozessbezogen ansetzen.

· Konzentration der Unterstützung und Ermutigung auf Teilnehmer mit fachlichen oder motivationalen Problemen.

· Aktive Ansprache der passiven Teilnehmer.

· Aussagen sollten Verbindlichkeit besitzen und Sicherheit geben.

· Der Lehrende ist für die Kommunikation ein Rollenmodell (z.B. niedrige Antwortzeiten, respektvoller und freundlicher Kommunikationsstil, explizites Eingehen auf emotionale Aspekte in Äußerungen).

· Aufbau eines Raums für die Kommunikation jenseits der Sachebene, ohne diese zu zerstören.

· Reflexion der Arbeits- und Kommunikationsprozesse in der Gruppe auf der Grundlage der eingeführten Normen und Regeln.


7 Abschluss

Elektronische Medien sind zunächst nicht mehr als neue Potentiale für das Lehren und Lernen. Der Weg von der Potentialität zur Aktualität beschreibt einen anspruchsvollen Prozess der didaktischen Gestaltung und des Bildungsmanagements. In diesem Kontext würde eine enge Konzentration auf die Medienentwicklung zu kurz greifen - notwendig ist die zielbezogene Gestaltung von komplexen Lernumgebungen sowie der strukturellen und kulturellen Rahmenbedingungen.

Es scheint zu den Charakteristika dieses Feldes zu gehören, dass die Potentiale den Realisationen immer weiter voraus sind. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn bereits neue Begriffe mit neuen Technikbezügen aufscheinen - nach E-Learning steht das M-Learning, das Lernen mit Mobilfunk-Technologien, vor der Tür (vgl. BACK/BENDEL/STOLLER-SCHAI 2001, 260 ff.). Ist daher aktuell der richtige Zeitpunkt, Konzepte des E-Learning in die Universitätslehre einzuführen? Die Antwort bleibt immanent unbefriedigend: Es gibt immer drei Augenblicke, einen verfrühten, einen verpassten und einen richtigen - leider weiß man zumeist erst später, welchen man erwischt hat!



Literatur

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SCHULMEISTER, R. (2001): Virtuelle Universität - virtuelles Lernen. München/Wien.

TENBERG, R. (2000): Multimedia und Telekommunikation im beruflichen Unterricht - Theoretische Analyse und empirische Untersuchungen im gewerblich-technischen Berufsfeld. Habilitationsschrift. München


1. Medien in der Kultur - Medien als Kultur?

2. Elektronische Medien im Spannungsfeld von pädagogischen Ansprüchen und ökonomischen Erwartungen

3. Zwischenfazit: Bezugspunkte für die Gestaltung von elektronischen Medien in der Universitätslehre

4. Visionen: Das Studium in einer Kultur des selbstorganisierten Lernens im Team

3.2 Veränderungen der Partizipation: Betreuungsintensität

3.3 Veränderungen der Gleichzeitigkeit von Lern- und Lehrsituation: Synchronität und Asynchronität

5. Einschätzungen: Potentiale der elektronischen Medien im Hinblick auf die Förderung einer Kultur des selbstorganisierten Lernens im Team

6. Implementation: Der Prozess des Wandels zu einer Kultur des selbstorganisierten Lernens im Team mit elektronischen Medien

6.1 Befunde über Veränderungen in der Kommunikation durch die Integration von E-Medien und E-Lehr-Aktionsformen in Lernumgebungen

6.2 Gestaltungsfaktoren bei der Veränderung von Lernkulturen

6.3 Anforderungen an die Kompetenzen eines E-Lehrenden Medien

7. Abschluss



Literatur








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