wbv   Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.

 

 

 

Biermann

Horst Biermann (Universität Dortmund)

Segmentierung Behinderter und Benachteiligter durch Förderung

1. Paradigmen und Postulate

1.1  Teilhabe durch Integration und Förderung

Die wissenschaftliche Disziplin der Sonderpädagogik konstatiert seit einem Jahrzehnt einen Paradigmenwechsel. Stichpunkte dieses Wandels sind eine Abkehr vom Helfersyndrom, von einer fürsorgenden Betreuung, dem Defizitdenken und der Förderung durch Separierung hin zu einer alle Lebensbereiche umfassenden Integration. Das Konzept der Normalisierung und Instrumente wie Casemanagement, Empowerment, Förderdiagnostik und nicht zuletzt ein anderer Sprachgebrauch, der nun Behinderte als Menschen mit Behinderungen etikettiert, sind praktische Auswirkungen dieses Prozesses. Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben rückt auch in den Kern der gesetzlichen Novellierungen, vom Antidiskriminierungsgebot bis zu den Sozialgesetzbüchern (SGB). Vor allem die zielgruppenbezogenen Maßnahmen in der beruflichen Bildung Behinderter und Benachteiligter sollen diese Teilhabe durch berufliche und soziale Rehabilitation gewährleisten (vgl. BA 1997 u. BA 2002). Auch auf EU-Ebene wird die Arbeitsmarktintegration besonderer Gruppen (people with special needs) durch Programme wie Horizon , Equal, Leonardo da Vinci mit Milliardenbeträgen gefördert; 2003 rief die EU zum europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen aus.

Teilhabe wird auch von selbstbewussten Behindertengruppen eingefordert, oft in kritischer Abgrenzung von tradierten Wohlfahrtsverbänden, Expertentum und separaten Einrichtungen. Bewegungen wie people first oder selbstbestimmtes leben, aber auch eher informelle bzw. nicht traditionell sonderpädagogisch klassifizierte Gruppen, wie chronisch Kranke oder Unfallopfer mit Schädel-Hirn-Traumata oder Aphasiker, artikulieren in der Öffentlichkeit ihre Forderungen nach Teilhabe.

Fortschritte in der medizinischen Behandlung ermöglichen ein längeres und aktiveres Leben auch bei Beeinträchtigungen, unter Umständen sogar eine Gesundung, z.B. bei Epilepsie durch neue Methoden bei der Hirnoperation. Neue Technologien bieten die Chance, eine neue Dimension von rehabilitativen Hilfsmitteln für Wohnen und Arbeiten zu entwickeln und zu vertretbaren Kosten anzuwenden. Elektronische Kommunikationsformen können gerade bei Behinderungen zu mehr Selbstbestimmtheit verhelfen. Neue Arbeitsplätze für Behinderte und andere Formen der Arbeitsorganisation wären grundsätzlich möglich, u.a. weil sich heute bei Schwerstmehrfachbehinderten Arbeits- und Therapiezeiten neu aufeinander abstimmen lassen.

1.2  Modernisierung der Berufsbildung oder: Kompetenzen für die Wissensgesellschaft

In der Berufsbildung der BRD leiteten Ende der 80er Jahre die Sozialpartner mit der Neuordnung der industriellen Metall- und Elektroberufe eine Modernisierung der Erstausbildung junger Erwachsener ein. Legitimiert wurde das neue Berufsbildungskonzept mit empirischen Untersuchungen über die veränderten Arbeitstätigkeiten. Aufgrund der festgestellten gestiegenen Anforderungen in den Betrieben wurde an Stelle der Vermittlung von Fertigkeiten und Kenntnissen und regelhaftem Wissen auf eine umfassende Theoretisierung und Entspezialisierung in Grundberufen gesetzt. An die Stelle der Vier-Stufen-Methode, die auf Imitationslernen, Vormachen, Üben und Kontrollieren beruht, treten Kompetenzerwerb und Schlüsselqualifikationen, soziales und methodenbewusstes Lernen sowie ein Rollenwechsel vom Lehrenden zum Moderator und Lernberater. Idealtypisch steht die Projekt- und transferorientierte Berufsausbildung (PETRA) des Siemenskonzerns für diesen Determinismus von (vermeintlich) gestiegener Arbeits- und Qualifikationsanforderung aufgrund des technischen sowie arbeitsorganisatorischen Wandels. In Tarifverträgen, Ausbildungs- und Prüfungsordnungen und schulischen Lehrplänen ist das Konzept der Neuordnung formal festgeschrieben, als Prinzip für alle anerkannten Ausbildungen inzwischen generalisiert und innerhalb einer Generation in der Praxis von Ausbildern angekommen.

Bezieht man den Anspruch auf Integration und Teilhabe von Beeinträchtigten auf die reale Situation, ist zunächst festzustellen, dass die technischen und arbeitsorganisatorischen Möglichkeiten nicht einmal ansatzweise für diese Gruppe genutzt werden. Ein Grund ist sicher, dass technische und ökonomische Veränderungen nicht wegen der Gruppe der Behinderten entwickelt wurden, sondern bestenfalls als "Abfallprodukt" sekundär verwertet werden. Zum anderen hat die Generation der Entscheidungsträger über die Anwendung der Technik ihre eigene Sozialisation in der Phase der Analogtechnik und Mechanik erfahren und ist offensichtlich nicht in der Lage, die neuen Potentiale für die Gruppe der Behinderten zu denken. Zieht man den Bericht von 1998 zur Lage der Behinderten heran, so zeigt sich, dass von 6,6 Millionen Schwerbehinderten 5,4 Millionen, bzw. bezogen auf die Erwerbsjahrgänge rund 3 Millionen nicht erwerbsbeteiligt sind (BMAS 1998). Diskutiert wird aber im Zusammenhang mit der Reduzierung der Ausgleichsabgabe der Betriebe nur die Zahl der rund 180.000 registrierten Arbeitslosen, von denen durch besondere Bemühungen 46.000 vermittelt worden sein sollen. Postulierter Anspruch und Realität in der Erwerbsarbeit klaffen somit erheblich auseinander, obwohl Rehabilitation und Platzierung in Arbeit mit erheblichen Mitteln gefördert werden. Diese Diskrepanz wird jedoch nicht thematisiert, eher tabuisiert. Offensichtlich bedarf der Arbeitsmarkt der Behinderten nicht (ZELLER 2001). Dann wären aber alle Maßnahmen Fehlinvestitionen, alle Postulate hinfällig bzw. Ideologie und der Paradigmenwechsel eine Farce.

2.  Entwicklung zum segmentierten Berufsbildungssystem

2.1 Wandel der Sozialstruktur und des Arbeitsmarktes

Die international zu beobachtenden Makrotrends als Folgen von Globalisierung, technischen Möglichkeiten und neuen Unternehmensstrategien tangieren zwangsläufig auch das etablierte System beruflicher Erstausbildung wie auch die für die EU angestrebten Ziele eines liberalisierten Arbeitsmarktes mit Freizügigkeit für Arbeitnehmer, mit anrech enbaren Berufs- und Studienabschlüssen und transnationalen Programmen. Vor diesem Hintergrund ist der sozialstrukturelle Wandel zu einer segmentierten Gesellschaft in Deutschland zu sehen. Typisch hierfür ist, dass die von DAHRENDORF in den 60er Jahren charakterisierte nivellierte Mittelschichtsgesellschaft Historie ist. Die "Schichtenzwiebel" aus Ober-, Mittel- und Unterschicht mit den idealtypischen Zuschreibungen von Herkunft, Beruf, Arbeit, Status, Leistungsprinzip ist durch ein Mosaik von Gruppierungen verdrängt worden. Die Biografien verlaufen differenzierter, weniger gradlinig und prognostizierbar. Dabei fallen "kulturelles und ökonomisches Kapital" (BOURDIEU) auseinander, Normen und Werte gelten nicht mehr universal, sondern nur noch innerhalb der jeweiligen Bezugsgruppe (VESTER u.a. 1993). Derartige Prozesse beeinflussen zwangsläufig auch die Sozialisation Jugendlicher. Vergleicht man Jugendstudien im Längsschnitt, so zeigt sich, dass es keine Normal-, sondern eher Patchwork-Biografien gibt (vgl. JUGEND UND BERUF 1993). Für die berufliche Sozialisation ist prägend, dass die Ausdehnung der Jugendphase durch Schulbildung dazu führt, wichtige Erfahrungen, z.B. nützliche Arbeit zu leisten oder sich mit betrieblichen Normen auseinander zu setzen, nicht mehr mit 15 Jahren als Heranwachsender, sondern erst mit 20 Jahren als Erwachsener gemacht werden können. Je höher die Vorbildung, desto größer der Anspruch an die Sinnhaftigkeit von Arbeit und je geringer die Vorbildung, desto größer der Trend zur Sicherheit. Bezogen auf Behinderte fehlen zwar empirisch fundierte Jugendstudien, aber es erscheint plausibel, dass vor allem Übergänge innerhalb der Schule, zur Ausbildung und in Arbeit oder vom Elternhaus in die eigene Wohnung mit Risiken des Scheiterns verbunden sind. Speziell Berufseinmündung ist eine krisenhafte Erfahrung und kann zu Brüchen in der Biografie führen: Maßnahmekarrieren, negative Arbeitserfahrungen, Ausgrenzung. Die Länge der Bildungsphase gerade bei Behinderten (z.B. benötigt ein Absolvent der Sonderschule für Lernbehinderte heute statt 11 rund 14 Bildungsjahre, um Bäcker oder Maler zu werden), meist in separaten Bildungseinrichtungen, betreutem Wohnen, geregelten Freizeitangeboten, bietet zwar einerseits die Chance umfassender Förderung, langjähriger Betreuung und attraktiver Angebote, führt aber andererseits zu Realitätsverlusten - bei beiden: den Jugendlichen wie den Trägern und den dort Tätigen. Im Intergenerationenvergleich muss die heutige Jugend in ihrem jeweiligen sozialen Mosaik mehr leisten, länger Anstrengungen in Kauf nehmen und hat dabei vergleichsweise geringere Chancen als die Generation vor ihr.

Dem sozialstrukturellen Wandel entspricht ein segmentierter Arbeitsmarkt. Die Polarisierungsthese (KERN/SCHUMANN 1977), nach der einer beruflichen Elite ein Heer Minderqualifizierter gegenüber steht und sich somit gerade Arbeitsmarktchancen mit repetetiver Teilarbeit für angelernte Behinderte eröffnen, wird durch das Propagieren des Endes der Arbeitsteilung verdrängt. Reintegration von Facharbeit, Anreichern der Tätigkeiten um Planung und Kontrolle des Arbeitsergebnisses, Zunahme der Sachbearbeiterpositionen im kaufmännisch-verwaltenden Bereich führen zu neuen Formen der Arbeitsorganisation, zur Technisierung von Arbeitsabläufen und erfordert anders aus- und weitergebildete Arbeitskräfte. Flache Hierarchien, Teamansätze, Gruppenarbeit, Qualitätszirkel, Fertigungsinseln sind Stichworte für diese Trends ( Kern/Schumann 1984). Die industriesoziologischen Studien fassen in aller Regel aber nicht die internationale Arbeitsteilung. So lässt sich Dequalifizierung sowohl "exportieren" (Textilnäherin) als auch "importieren" wie das Beispiel der Bauarbeiten zeigt. Während die frühe Industrialisierung Beschäftigung förderte, wurde im Zuge der Intellektualisierung der Arbeit das Heer der Ungelernten zu einer Minderheit. Dabei entwickelte sich der für Deutschland typische Facharbeitsmarkt. Die globale Arbeitsorganisation bietet dagegen nur noch einer Elite Erwerbschancen, allerdings keine dauerhaften, zudem aufgesplittet in Kern- und Randbelegschaften. Bei Personen mit Leistungsproblemen überlagern sich vier Arbeitsmarktrisiken:

1. Wandel der Wirtschaftssektoren : Bei der Entwicklung zur Dienstleistungs- und Kommunikationsgesellschaft brechen ganze Tätigkeitsbereiche weg. Produktion und Fertigung nehmen in Deutschland ab, während Beraten, Publizieren, Lehren zunehmen. Damit verringern sich für Beeinträchtigte die Ausbildungs- und Beschäftigungschancen.

2. Tätigkeitswandel : Die Tätigkeiten selbst werden immer intensiver, der Stress nimmt zu, Arbeitsergebnisse müssen präzise eingehalten und zeitlich garantiert werden (Qualitätsmanagement). Technisch-gewerbliche Arbeiten werden mit kaufmännisch-verwaltenden und Service-Tätigkeiten verknüpft. Neben den inhaltlich hohen Anforderungen wird auch die Organisation der Arbeiten betriebswirtschaftlich optimiert. Vieles wird delegiert, "outgesourced" und Scheinselbständigen, Subunternehmen, freien Mitarbeitern übertragen. Das gilt für Handwerker ebenso wie für Wissenschaftler.

3. Wandel der Qualifikationsniveaus: Prognosen, so von PROGNOS/IAB zeigen einen Rückgang an einfachen Tätigkeiten; sie brechen bereits jetzt, aber zunehmend im nächsten Jahrzehnt weg. Schätzungsweise gehen diese Arbeiten auf ¼ des Standes von 1985 zurück. Da die Gruppe der formal gering Qualifizierten aber voraussichtlich nur um die Hälfte abnimmt, bleibt jeder Zweite dieses Personenkreises dauerhaft erwerbslos ( Tessaring 1994 ). Um die verbleibenden einfachen Tätigkeiten konkurrieren zunehmend leistungsstarke Bewerber, auch illegal Beschäftigte sowie lohnsubventionierte Behinderte.

4. Totale Ökonomisierung der Produktion und Dienstleistungen: Die Philosophie der Ökonomisierung erfasst nicht nur die traditionellen Produktions- und Dienstleistungsbereiche, sondern auch die neuen IT-Berufe und Medienarbeiten und den Ausbildungsbereich. Typisch sind sogenannte unternehmensübergreifende Produktionsketten. Ermöglicht wird das durch die leistungsstarken Informations- und Kommunikationstechniken. Hohe Produktivität, ebenfalls hohe Flexibilität führen zu dezentralen Unternehmen, die strategische Allianzen eingehen. Dafür sind interne und externe Kontrollen erforderlich. Instrumente sind z.B. wertschöpfende Entlohnung und Zielvereinbarungen. Mit dieser Strukturveränderung in der Arbeitsorganisation verändert sich auch die Qualifikationsstruktur. Beruflichkeit und fachlicher Kern weichen sogenannten hybriden Qualifikationsbündeln. Dabei kommt es zu einer Polarisierung von Leiharbeitern, geringfügig Beschäftigten, befristet eingestellten Angestellten einerseits und andererseits dem leistungsstarken "Arbeitskraftunternehmer". Dieser übt Selbstkontrolle aus, akzeptiert schnell wandelnde Arbeitsbedingungen und die "Verbetrieblichung" seiner Lebensumstände.

Fazit: Erwerbschancen für Behinderte und Benachteiligte bestehen lediglich in der Randbelegschaft, zeitlich befristet, in "sterbenden" Bereichen, zu unattraktiven Bedingungen. Somit sind Beschäftigungsrisiken und Armut vorgezeichnet. Bewertet man die Qualität der beruflichen und sozialen Rehabilitation vom Arbeitsmarkt her, gelingt es offensichtlich nicht, diesen Mechanismus zu durchbrechen, so dass unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit Praxis und Konzeption der Förderung Behinderter und Benachteiligter in Frage zu stellen sind. Da aber umgekehrt vom Subjekt her Förderung in den segmentierten Arbeitsmarkt projizie rt wird, wird die Vielzahl etikettierter Zielgruppen durch Intervention wie Lohnsubventionen, regionale oder sektorale Programme, Integrationsfirmen, Nachbetreuung, Job-Coaching, bevorzugte Vermittlung, Schutzgesetze zueinander in Konkurrenz um die geringen Erwerbschancen gesetzt.

2.2  Segmente des Berufsbildungssystems

2.2.1  Segment Regelausbildung

Der Kern der dualen Berufsbildung ist die marktwirtschaftlich regulierte betriebliche Ausbildung mit staatlichen Rahmenvorgaben. Bei formaler Gleichheit der Berufsabschlüsse bildet sich bei faktisch ungleichen Anforderungen eine Hierarchie der Berufe heraus. Ergänzt wird dieser Mechanismus durch Berufsfachschulen, die in ein- oder zweijähriger Form vor allem jungen Frauen in kaufmännischen oder pflegerisch und verbrauchswirtschaftlichen Bereichen eine Qualifizierung bieten. Der Preis dieses Systems sind die teilzeitberufsschulpflichtigen Jugendlichen ohne Ausbildungsvertrag, um 1970 rund 10 Prozent eines Altersjahrganges, wobei die Männer bei unzulänglicher Vorbildung ("Versager") stets unter dem Durchschnitt und die jungen Frauen ("Verzichter") trotz hoher allgemeiner Vorbildung stets über der Quote lagen. Rund ein Fünftel aller Sonderschüler gelangte zu der Zeit ohne zusätzliche Hilfen in anerkannte Ausbildungen, vornehmlich in handwerklichen Berufen der "unteren" Hierarchie (Bauwesen, Ernährungsberufe, schlosserische Ausbildungen). Betriebs- und Berufswechsel waren vorgezeichnet, aber da es vorrangig nicht um die Qualifizierungsfunktion ging, sondern um die soziale Einbindung der Schulentlassenen, konnte für einen Großteil der Jugendlichen die Lehrzeit nur eine Leerzeit sein. Nur eine kleine Elite wurde in industriellen Lehrwerkstätten getrennt von der Produktion schulisch systematisch qualifiziert. Sonderschülern standen hier reduzierte Ausbildungen wie "Teilezurichter" offen. Erst mit dem Berufsbildungsgesetz gelang es 1969 Standards für die betriebliche Ausbildung zu kodifizieren. Dabei wurden die Anlernberufe für die Erstausbildung untersagt, aber individuelle Regelungen in der Ausbildung körperlich, geistig, seelisch Behinderter zugelassen. Durch staatliche Intervention ist seit den 70er Jahren der Marktmechanismus im Ausbildungssektor gestört. So wurde durch das staatlich finanzierte Berufsgrundbildungsjahr (BGJ) versucht, gerade in regional unterversorgten Gebieten potenziellen Handwerkslehrlingen auch eine systematische Grundbildung zu vermitteln, verbunden mit dem Ziel, die Zahl der Ungelernten zu minimieren, die Berufs(feld)wahl zu optimieren, eine Anrechnung auf die Ausbildung zu sichern und den betrieblichen Durchlauf zu erhöhen. Auf Druck der Lehrer wurden in den Ländern verschiedene Sonderformen des BGJ institutionalisiert. Im Zuge der einsetzenden Jugendarbeitslosigkeit verkamen die BGJ zu Auffangjahren mit fragwürdigem Image, wurden politisch als Verstaatlichung der Berufsbildung diskreditiert und lediglich die Sonderformen an Berufsschulen weiter ausgebaut. Pädagogisch blieb das berufsvorbereitende Konzept ein didaktischer Torso, da Grundbildung nicht flächendeckend eingeführt und meistens nicht in einer betrieblichen Fachbildung fortgeführt werden konnte, so dass die einjährigen berufsvorbereitenden Bildungsgänge an die Stelle von Berufsbildung traten. Eine weitere staatliche Intervention ist das Kollegschulkonzept der Integration von allgemeiner und beruflicher Bildung. Auch hier legitimierte das Postulat der Förderung von Schülern ohne Abschluss und der Ungelernten die intendierte Reform. Als letztes Bundesland hat NRW nach rund 20 Jahren Modellversuchsstatus der Kollegstufe das Berufskolleg als Klammer von allgemeinen und beruflichen Schulformen eingeführt. Die Vorklassen zum Berufsgrundschuljahr (VK BGJ) und die Klassen für Schüler ohne Berufsausbildung (KSoB) sind Auffangbecken für alle Jugendlichen, die nicht clever genug sind, bei Freien Trägern in Maßnahmen der Benachteiligtenförderung individuell finanziell gestützt und anschließend bevorzugt vermittelt zu werden. Faktisch ist auch die Modernisierung des tradierten Dualen Systems durch eine Doppelqualifizierung gescheitert. Lediglich berufsqualifizierende Berufsfachschulen mit Abschlüssen nach Landesrecht in Nischen wie "Sozialpflege" eröffnen eine neue Qualifizierungsmöglichkeit.

Staatliche Intervention bezog sich seit Mitte der 70er Jahre mit den "Markierungspunkten" auf die Qualität der betrieblichen Berufsausbildung, wobei eine Ausbildung aller Jugendlichen postuliert wurde. Von den Vertretern der Wirtschaft wurde die Reform nicht akzeptiert und mit Boykottandrohungen von Ausbildungsangeboten beantwortet. Vor allem Arbeitsamtsmaßnahmen gegen die Jugendarbeitslosigkeit überdeckten das Unvermögen staatlicher Stellen, die berufliche Bildung zu modernisieren. Die 1977 begonnenen jährlichen Berufsbildungsberichte belegen den strukturellen Wandel und weisen einen Rückgang von Ausbildungen in gewerblichen Berufen aus, zeigen damit die Systemerosion in der beruflichen Berufsbildung an. Für Jugendliche mit Beeinträchtigungen bedeutete dies eine Unterversorgung mit betrieblichen Ausbildungsmöglichkeiten. Obwohl 1982 vom damaligen Kanzler KOHL eine Lehrstellengarantie ausgesprochen wurde, konnte diese bundesweit nicht eingelöst werden. Die nicht versorgten Jugendlichen galten vielmehr als "Ausbildungsverzichter" und als "Versager", eine stigmatisierende Etikettierung, die HÖHN (1974) bereits Anfang der 70er Jahre in der Diskussion um Ungelernte empirisch zu belegen versuchte. Die wechselseitigen Schuldzuweisungen um nicht flexible und nicht leistungsfähige Jugendliche einerseits bzw. von Arbeitgebern vorenthaltene Ausbildungsplätze, ausbildungsplatzhemmende Vorschriften andererseits fanden mit der Neuordnung 1987 ein vorläufiges Ende, da die Sozialpartner sich in der exportabhängigen Wirtschaft auf eine radikale Modernisierung der Ausbildungsgänge vertraglich einigten. Das betriebliche Qualifizierungszentrum steht für diese Entwicklung: Theorie und Praxis lassen sich ebenso wie Erst- und Weiterbildung verbinden, so dass eine optimale Auslastung dieses Lernortes gegeben und die traditionelle Arbeitsteilung von Schule und Betrieb aufgehoben ist. Angesichts der hohen Ausbildungskosten und der gestiegenen Anforderungen sowie einer Übernachfrage seitens der Jugendlichen blieben Personen mit Lern- oder Verhaltensschwierigkeiten außen vor. Die Qualifizierungsfunktion verdrängte die der sozialen Integration des bisherigen Ausbildungssystems. Trotz der strukturellen Ausbildungskrise gelang es nicht, die Kompetenzen der verschiedenen staatlichen Stellen zu bündeln und eine Reform der beruflichen Bildung anzugehen. Das Bündnis für Arbeit, Beschäftigung und Ausbildung belegte, dass der Staat sich als Gestaltungsfaktor zurückzieht und nur noch exekutiert, worauf sich die Sozialpartner in Fragen der Ausbildung einigen. Flexibilisierung, Behinderte und Finanzierungsfragen sind je nach Interessenlage die öffentlich diskutierten Themen.

Die Firmenphilosophie der Ökonomisierung im letzten Jahrzehnt führte im Berufsbildungsbereich zu drei Strategien: Zum einen bilden Betriebe nicht mehr aus, seit der Neuordnung ist die Zahl der Ausbildungsbetriebe insgesamt von 500.000 auf 300.000 gesunken. Ein weiteres Konzept der Global Players wie Siemens ist es, mit ihren Ausbildungszentren den Absatzmärkten zu folgen, also Ausbildungszentren in der BRD zu schließen und in China für asiatische Länder ein Managementinstitut aufzubauen, das nicht mehr dem dualen System verpflichtet ist, sondern auf hohe Allgemeinbildung setzt, auf Moderation, auftragsbezogenes Lernen und ggf. die erste von fünf Management-Hierarchien an Ausbildungsprojekte der Entwicklungszusammenarbeit, damit an den deutschen Steuerzahler, delegiert ( MAGENHEIM-HÖRMANN 2004, 11 ) . Outsourcing von Bildungsabteilungen der Industrie zu eigenständigen Bildungsfirmen - oft in der Rechtsform einer gemeinnützigen GmbH - ist die am meisten beachtete Strategie. Aus der Lehrlingswerkstatt ist über das Qualifizierungszentrum ein Profit-Center geworden. Angeboten werden alle Formen von Bildung, Beratung, Therapie, die sich refinanzieren lassen. So bietet der gleiche Bildungsträger RAG BILDUNG - ehemals ein eher traditioneller Bildungsanbieter im Montanbereich mit Ersatzberufsschulen und Fachhochschulen - berufsvorbereitende Lehrgänge nach dem SGB III über die Arbeitsagentur für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten an, ebenso Umschulungen im Bereich Hotel und Gaststätten mit IHK Abschluss oder Umschulungen von arbeitslosen Juristen zu Immobilienmaklern oder Managementkurse für chinesische Experten. Im Prinzip sind derartige Träger angesichts der neuen Ausschreibungspraxis der Arbeitsagentur auch potenzielle Anbieter beruflicher Rehabilitationsmaßnahmen. Verbunden ist diese Entwicklung mit einer Polarisierung der Lehrkräfte in Kern- und Randbelegschaften.

2.2.3  Segment Rehabilitation

Das Segment Rehabilitation ist in den 70er Jahren zu einem landesweiten Netz ausgebaut worden. Im internationalen Vergleich wurden hohe Standards vor allem in der Infrastruktur der Einrichtungen erreicht. Das System sowie die Prinzipien der Rehabilitation wurden in den 90er Jahren bruchlos auf die neuen Bundesländer übertragen, obwohl die Krise des Regelausbildungssystems und der strukturelle Wandel des Arbeitsmarktes bereits nicht mehr zu ignorieren waren. Entstanden sind als zentrale Säulen zum einen Berufsförderungswerke (BFW) für erwachsene Arbeitnehmer mit einem Angebot von Umschulung, Weiterbildung und u.U. auch Ausbildung. Durch eine spezielle Vorbereitung werden auch bildungsungewohnte Personen wieder an Ausbildung herangeführt, wobei mittels eines Assessmentverfahrens prognostiziert werden soll, ob anerkannte Ausbildung, Nischenqualifizierung, z.B. zum Haustechniker, (reduzierte) Ausbildung für Behinderte nach § 48 BBiG oder eine Arbeitsmarktqualifizierung für den jeweiligen Kostenträger vertretbar ist. Die BFW haben in ihrer Berliner Erklärung festgelegt, dass sie sich zu einem modernen Dienstleister und Weiterbildungsträger entwickeln wollen. Ein Instrument ist die konsequente handlungsorientierte Qualifizierung, die ein hohes Maß an individuellen Aneignungsprozessen in der Ausbildung ermöglicht. Die BFW haben den Vorteil, nicht dem Berufsbildungsgesetz zu unterliegen, sie müssen daher keine Berufsschule vorhalten und können pädagogisch wie fachlich kompetentes Lehrpersonal als einheitliche Statusgruppe beschäftigen. Ob der Übergang in sozialversicherungspflichtige Beschäftigung das alleinige Qualitätskriterium sein sollte, ist angesichts der Segmentierung der Arbeitsmärkte und der häufig geringen Qualität der offenen Arbeitsplätze sowie dem eventuell sozialen Abstieg bei einem Arbeitplatztraining zu hinterfragen.

Die zweite Säule der institutionalisierten Rehabilitation umfasst ein Netz von Werkstätten (WfbM) mit rund 200.000 Plätzen für Schwerbehinderte. Aktuell ist die Umwandlung des Arbeitstrainingsbereichs (ATB) in den Bereich Berufliche Bildung (BBB). Bis zu zwei Jahre kann die Qualifizierung umfassen, wobei anerkannte Ausbildung nicht intendiert ist, auch die sogenannten 48er Ausbildungen (BBiG) noch selten sind, allerdings von Verbänden angestrebt werden. Die neue Ausbildung zur Fachkraft in Arbeits- und Berufsförderung soll die Qualität der Ausbildung in den Werkstätten sichern und handlungsorientierte Formen der Qualifizierung aufweisen. Die WfbM haben nach dem SGB IX auch die Funktion, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt vorzubereiten, tatsächlich aber sind Übergänge selten. Die Arbeitsverwaltung als Kostenträger stellt daher das zweite Jahr der Ausbildung in Frage. Für nicht vermittelte Behinderte bieten die Werkstätten einen Arbeitsbereich oder bei Schwerstbehinderung einen Förderbereich an, allerdings ohne einen Arbeitnehmerstatus zu eröffnen. Durchgängiges Problem der Werkstätten ist die kritische Auftragssituation, da Betriebe trotz des üblicherweise vorhandenen Qualitätsmanagements in den WfbM Aufträge in Erweiterungsländer der EU vergeben, die noch kostengünstiger anbieten (VIENDENT u.a. 2000).

Die Berufsbildungswerke (BBW) bieten für Jugendliche als überregionale Rehabilitationsträger in mehr als 50 Einrichtungen bundesweit Erstausbildungen an. Dabei sind neben anerkannten Ausbildungen auch spezielle Formen (§§ 48 BBiG/42b HwO) möglich. Konzeptionell sind die industriellen Lehrwerkstätten der 70er Jahre Vorbild auch für die handwerklichen Ausbildungsangebote gewesen, daher dominieren gewerbliche Berufe und Theorie und Praxis werden getrennt in Sonder-Berufsschule und Arbeitsbereich. Die BBW tragen an diesem Erbe, bilden immer noch vorrangig in Berufen mit hohem Beschäftigungsrisiko aus, wobei konzeptionell das BBW-interne Duale System durch die Modernisierung im Regelbereich überholt ist. Die BBW unterliegen einerseits dem Bildungsauftrag der Schulgesetze, andererseits sind sie vom Monopol der Arbeitsagenturen abhängig, mit der Folge, dass sie keine Rücklagen bilden und Innovationen im Sinne der Neuordnung nicht hinreichend umsetzen können. Da bundesweit keine (Sonder)Berufsschullehrer ausgebildet werden, fehlt den BBWs angesichts der bevorstehenden Pensionierungswelle das Personal für die Neugestaltung der pädagogischen Konzeption. Angesichts der hohen Kosten stehen die BBWs, gerade mit Blick auf die Gruppe der Lernbehinderten, in Konkurrenz zu Trägern in der Benachteiligtenförderung.

Das Segment der beruflichen Rehabilitation ist weitgehend reglementiert, Verfahren, Träger, Prinzipien sind standardisiert. Zurzeit werden die Kompetenzen neu verteilt, zuständig für Rehabilitation ist heute das Gesundheitsministerium, die Hauptfürsorgestellen sind neuerdings Integrationsämter, und Integrationsfachdienste (IFD) fungieren auf kommunaler Ebene als die Anlaufstelle für Behinderte. Flexibler sind auch die Angebote zum Arbeitsmarkt: Unterstützte Beschäftigung, Arbeitsassistenz, Berufliche Trainingszentren (BTZ) speziell für die Gruppe der psychisch Beeinträchtigten sind Stichworte für diese Entwicklung. Verbunden ist die Flexibilisierung meistens mit der Reduktion von Ansprüchen und Angeboten.

2.2.4  Segment Benachteiligtenförderung

1980 entstand die Benachteiligtenförderung im Rahmen eines kleinen Modellvorhabens des BMBW. Sie wurde 1987/88 in die Zuständigkeit der Arbeitsverwaltung und damit von einer steuer- in eine beitragsfinanzierte Maßnahme überführt. Mit dem Wechsel gelang den Freien Trägern - obwohl eine Evaluation sie als kritisch zu sehende Durchführungsträger auswies - ausbildungsbegleitende Hilfen (abH) und die Berufsausbildung in überbetrieblichen (außerbetrieblichen) Einrichtungen (BüE) zu monopolisieren und schulische wie betriebliche Träger auszugrenzen. Zwar galt das Konzept der sozialpädagogisch orientierten Berufsausbildung lange als Erfolgsansatz, um Jugendliche mit Lern- und Verhaltensproblemen auszubilden, aber eine Evaluation dieses teuersten Programms in der Berufsbildung fand nicht statt. Mit Blick auf die Nachhaltigkeit lässt sich feststellen, dass auch dort genau in den Berufen ausgebildet wurde, die nach PROGNOS mit hohem Beschäftigungsrisiko behaftet sind. Weder regionale, noch ges chlechtsspezifische noch nationale Benachteiligungen konnten wesentlich minimiert werden. Die EMNID-Studie zu Nicht-Formal Qualifizierten (NFQ) zeigt, dass Maßnahmekarrieren und Randgruppenbiografien entstanden, verfestigt, nicht aufgehoben werden konnten (BMBF 1999). Die Flexibilisierung der Benachteiligtenförderung durch "berufsausbildungsvorbereitende Module", die im BBiG neu verankert sind, ist faktisch eine Abkehr von der bisherigen Vollausbildung. Zielsetzung ist eine erhöhte Effizienz (Durchlauf, Dauer, Quantität, geringere Kosten), die jahrzehntelang gewollte Konkurrenz der Träger soll nun durch Netzwerke aufgehoben werden (BMBF 2003). Die Gesamtgruppe der Benachteiligten ist wesentlich größer als die von den Freien Trägern Betreuten, wenn man die Jugendlichen in Berufsvorbereitungsjahren, Ungelerntenklassen, Werkhöfen der Jugendberufshilfe nicht ignoriert. Zudem hätten die abH originär in Berufsbildenden Schulen ihren Ort und blieben Aufgabe der Länder.

2.3  Pädagogische Segmentierung

Segmentierungen von Sozialstruktur, Arbeitsmarkt und Bildungssystem schlagen durch bis in die konkrete pädagogische Arbeit. Dies spiegelt sich wider in Etiketten wie Handlungsorientierung, Kompetenzerwerb oder Methodenlernen, mit denen die Eliteausbildungen belegt werden. Es besteht ein hoher personaler Anspruch an Selbstorganisation, Eigenverantwortung, Selbstbewertung des Lernprozesses. Lernen ist komplex und prozessorientiert und nicht mehr trennscharf abgegrenzt von Arbeit. Betrachtet man dagegen den Pol der Pädagogik mit Benachteiligten und Behinderten, wird praktisches Arbeiten dominant, Lernen bleibt regelhaft und wird auf die angenommenen Potenziale der Jugendlichen verkürzt.

Versucht man die pädagogischen Ansätze zu typisieren, zeigt sich, dass nicht die "Defizite" der Jugendlichen, sondern vielmehr die für die Akteure relevante Bezugsdisziplin oder die zufälligen Interessen der Lehrenden die Konzeptionen bestimmen. Sie werden mit modernistischen Termini überhöht, seien es Lernzielpädagogik oder Handlungsorientierung, Assessment oder Förderplan.

2.3.1  Traditionelle Lernkonzepte

Traditionelle Aneignungsformen von Kenntnissen und Fertigkeiten, wie sie in der Regelausbildung üblich waren, beherrschten auch die Jungarbeiterpädagogik der Teilzeitberufsschule: Vormachen und Üben, Imitationslernen und Memorieren. Da keine Lehrplanvorgaben den Unterricht einengten, konnten die Berufsschullehrer, die in schrumpfenden Branchen in Fachklassen nicht mehr einsetzbar waren, ihr jeweiliges Berufswissen oder ihre Hobbies in die Betreuung der Jugendlichen ohne Ausbildungsvertrag einbringen. Neben Freizeit- und Erlebnispädagogik, Kulturtechniken, lebenspraktischen Themen, Exkursionen finden sich auch eine manuelle Grundschulung und das Erstellen von Projekten. Schulmüdigkeit und Fluktuation begünstigten diese Form des Gelegenheitsunterrichts. Es lag nahe, in einer Vollzeitbeschulung "die" Lösung zu sehen. Die traditionellen Lernkonzepte wurden damit aber nicht überwunden und finden sich auch in der Teestuben-Atmosphäre der abH wieder oder in den Mini-Klassen der BBW.

2.3.2  Kompensationspädagogik

In einer reduzierten Analyse systemstiftender Faktoren für Randständigkeit werden oft nur die Defizite der Jugendlichen thematisiert. Fehlende "Berufsreife" soll durch spezifische Maßnahmen - vom Testen, Informieren, Probieren (TIP) bis zum Berufsvorbereitungsjahr - behoben werden, die auch zur Ausbildung motivieren und befähigen sollen. Praktisches Tun gilt als allumfassend anwendbares Instrument. Sonderpädagogische Ansätze wollen den "gestörten Sozialisationsprozess" durch Stärkung des Selbstvertrauens, Abbau von Misstrauen und Zweifel, Orientierung an der Wirklichkeit und Aufbau individueller Zukunftsperspektiven aufarbeiten. Lernmaterial soll so aufbereitet sein, dass Lösungen nahe liegen, der Stoff in Teilprobleme gegliedert ist und Schüler Lösungsversuche bildhaft, handelnd, mit viel Zeit sprachlich ausführen. Lehrerzentrierung, kleine Lerngruppen und subjektivierte Beurteilungen sind die Unterrichtsprinzipien (ARBEITSGEMEINSCHAFT o.J.). Auch die sozialpädagogisch orientierte Berufsausbildung ist faktisch eine Kompensationspädagogik, die auf Gespräch, Atmosphäre und Nachhilfe setzt. Insgesamt definieren sich diese Formen der Pädagogik durch aufwändige Ressourcen: kleine Klassen, Zulagen für die Lehrenden, wenig Formalisierung. Obwohl die curriculare Stimmigkeit fragwürdig ist und die Übergänge in Ausbildung und Arbeit gering bleiben, werden kompensatorische Angebote zunehmend ausgeweitet und umfassen heute auch Lernen mit Medien, Bewerbungstraining, Kunstprojekte.

2.3.3  Flexibilisierungskonzepte

Die vielfältigen Möglichkeiten der flexiblen Gestaltung gerade der Erstausbildung werden in der Diskussion um neue Ausbildungen weitgehend ignoriert. Gefordert werden vor allem Qualifizierungen unterhalb des Facharbeiterniveaus und organisatorische Ansätze wie Module oder Baukästen. Diese Kurzausbildungen sollen im Einklang stehen mit der Eignung der Jugendlichen und den Anforderungen der Betriebe. Von Stufenausbildungen bis zu Behindertenausbildungen, vom Training on the Job (erst platzieren, dann qualifizieren) bei der Unterstützten Beschäftigung bis zu methodischen Differenzierungen reichen die Vorstellungen. Vorliegende Entwürfe zur Ausbildungsvorbereitung in Modulen sind curricular eher simpel und in der Durchführung faktisch eine Reduzierung des Bildungsanspruchs und Niveaus - für Lehrende und Lernende. Flexible Ausbildungen mit einem hohen Grad an Eigenqualifizierung, wie in dänischen Produktionsschulen oder im MAN-Modellversuch COMET mit heterogenen Gruppen, finden kaum Beachtung (vgl. WIEMANN 2002) - vielleicht auch, weil sie den Professionalisierungsinteressen der Lehrer/Ausbilder nicht entgegen kommen und für die Träger offensichtlich ökonomisch nicht interessant sind.

3.  Aspekte zur Diskussion

3.1 Regulierung von Maßnahmen und Legitimationszwänge

Seit der Neuordnung der Erstausbildung hat sich der Staat als Gestaltungsfaktor aus diesem Segment zurückgezogen, er appelliert, verwaltet, droht, z.B. seit 1977 mit einer Ausbildungsplatzabgabe. In den Segmenten Benachteiligtenförderung und Rehabilitation dagegen herrscht Überregulierung vor. Durch staatliche Intervention und systemwidrige Subventionen sind spezifische Maßnahmen, Trägergruppen, gesonderte Rechtsgrundlagen, Vergabevorschriften, Qualitätskriterien für anerkannte Behinderte und Benachteiligte institutionalisiert und ausgebaut worden mit dem Anspruch der Kompensation von persönlichen Defiziten und der Integration in den ersten, allgemeinen Arbeitsmarkt. Integrations- und Normalisierungspostulat erweisen sich heute als Ideologie, da es weder einen Normalbürger, noch Durchschnittsarbeitnehmer, noch Durchschnittsbildungsbürger gibt. In welche Normalität soll integriert werden? Es ist nicht gelungen, die Kompetenzen in Bildung, Arbeit und Sozialem auf Landes- und Bundesebene so zu ordnen, dass die erheblichen finanziellen Ressourcen die betroffenen Auszubildenden erreichen. Vielmehr sind durch Verwaltungshandeln Träger großzügig alimentiert und privilegierte Arbeitsbedingungen geschaffen worden. Die derzeitige liberalisierte Vergabepraxis der Maßnahmen neutralisiert die sozialstaatlichen Legitimationszwänge, Netzwerke sollen dabei die Ökonomisierung der beruflich-sozialen Rehabilitation aus Sicht der Politikebene optimieren. Die Kostenträger behalten sich aber über homepages, Tagungen und Publikationen das Interpretationsmonopol über die Qualität der Arbeit mit Behinderten und Benachteiligten vor (vgl. BMBF 2003; kurs direkt 2000 ff.).

3.2  Maßnahmepädagogik statt Kompetenzvermittlung

Die Träger der beruflichen und sozialen Rehabilitation haben ihre Freiräume nicht nutzen können, um pädagogische Konzeptionen zu entwickeln, die auch Vorbild für den Regelbereich sein könnten. Statt einer Angebotspädagogik mit einer Vereinbarungskultur wie beispielsweise in dänischen Produktionsschulen herrscht eine rigide verwaltete Maßnahmepädagogik vor. Da den Auszubildenden keine realistischen beruflichen Perspektiven vermittelt werden können, beherrscht die Praxis eine überkommene Kompensations- und an Defiziten orientierte Sonder- und Sozialpädagogik. In der beruflichen Bildung besteht ein time lag von etwa einer Generation zu den qualitativ neugeordneten Ausbildungskonzeptionen. Systemische Ansätze werden zwar punktuell entwickelt, können aber aufgrund der öffentlichen Armut in der Lehrerfortbildung nicht umgesetzt werden (LfS 2004).

3.3  Alternativen

Wenn die Durchführungsträger sich zu flexiblen und attraktiven Bildungsanbietern entwickeln wollen, müssten sie eine autonome Finanzierung ihrer Arbeit, z.B. durch eine bundesweite, selbstverwaltete Stiftung Rehabilitation anstreben. Nur so können sie nach pädagogischen Kriterien über einen Zyklus von etwa einem Jahrzehnt die erforderliche Bildungsinfrastruktur vorhalten, Personal qualifizieren, Medien entwickeln, eigenständig evaluieren sowie die Konzeption fortschreiben. Eine Öffnung für andere Bildungsnachfrager und regionale Einbindung der Einrichtungen in Qualifizierungsnetzwerke sowie eine regionale Berufsbildungsplanung wären weitere Schritte, um die erheblichen Kosten durch Mehrfachnutzung und optimale Auslastung zu rechtfertigen.

Die Partizipation der jungen Erwachsenen in der Jugendberufshilfe und Rehabilitation sowie der Arbeitnehmer in Werkstätten und Berufsförderungswerken muss in eine pädagogische Konzeption eingebunden sein, die analog zu den Erfahrungen der BFW auf einen konsequent handlungsorientierten Lernprozess in Verbindung mit realer Arbeit setzt.

Literatur

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