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bwp@ Ausgabe 6
Hrsg. von Martin Kipp und Wolfgang Seyd

Bohlinger

Sandra Bohlinger (TU Darmstadt)

Der Zusammenhang von Benachteiligung, Vertragslösungen und Praktika

1.  Vertragslösungen als Benachteiligung

Die vorzeitige Lösung eines Ausbildungsvertrags im dualen System wird häufig mit der Benachteiligung von Jugendlichen an der ersten Schwelle gleichgesetzt. Dabei wurde lange Zeit davon ausgegangen, dass Abbrüche grundsätzlich in Arbeitslosigkeit oder einer Angelerntentätigkeit münden (vgl. z.B. Althoff 1993; Blien/Reinberg/Tessaring 1990; Bunk/Schelten; Huth 2000).

Über die Tatsache, dass dies auf nicht einmal ein Drittel aller Abbruchfälle zutrifft, soll hier allerdings nur am Rande eingegangen werden. Vielmehr steht im Mittelpunkt des Beitrags eine Meinung, die im Kontext mit Benachteiligung und Abbruchvermeidung bislang kaum diskutiert, dafür allerdings umso häufiger unkritisch als richtig angenommen wurde: Gemeint sind betriebliche Praktika, die als gute Vorbereitung auf die berufliche Ausbildung und daher als Beitrag zur Reduktion von Benachteiligten an der ersten oder zweiten Schwelle, d.h. von "Abbrechern", gelten (vgl. Bunk/Schelten 1980; Dostal/Parmentier/Schober 1998; Quante-Brandt 2000). Diese Vermutung basiert erstens auf der Annahme, Abbrüche seien mit Benachteiligung gleichzusetzen, und zweitens auf der Feststellung, dass u.a. falsche Berufsvorstellungen und als Folge davon kein bzw. mangelndes Interesse am Ausbildungsberuf und -betrieb sowie falsche Vorstellungen über das Arbeitsleben wichtige Gründe für das Scheitern von Ausbildungen sind (vgl . Bohlinger , 2003; Hensge 1987; Marstedt/Müller 1998; Reiser 1992; Weiß 1982, 215).

Allerdings ist unklar, ob und in welchem Umfang Praktika vor Beginn der Ausbildung tatsächlich zu einer Vermeidung von Vertragslösungen beitragen und damit "Benachteiligung" reduzieren können oder ob dieser Zusammenhang vielmehr der Wunschvorstellung über den Nutzen von betrieblichen Arbeitserfahrungen entspricht (vgl. Feldhoff 1985, 9ff.; Groth 1975; Kaiser 1971 ; Faulstich-Wieland 1996 ).

Gab es bislang kaum Untersuchungen über diesen Zusammenhang, so lassen Ergebnisse eines Projektes zur Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen zumindest für einen Teil vorzeitiger Vertragslösungen erhebliche Zweifel an dem Allheilmittel "Praktikum" aufkommen.

•  "Ziellauf" - Ein Handlungsansatz zur Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen

Der Westdeutsche Handwerkskammertag führte ab Januar 2000 in Kooperation mit den Handwerkskammern Dortmund und Düsseldorf sowie mit der Universität Karlsruhe ein dreijähriges Projekt zur Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen nach dem ersten Ausbildungsjahr durch. Kern des Projekts war die Initiierung eines Beratungsangebots bei gefährdeten Ausbildungen im nordrhein-westfälischen Handwerk zur Prävention von und zur Intervention bei Konflikten. Zudem wurden in den Fällen, in denen der Abbruch nicht vermeidbar war, die Betroffenen bei der Wiederbesetzung des Ausbildungsplatzes bzw. bei der Reintegration in die Ausbildung unterstützt. Es wurde ein Netzwerk zwischen den Partnern der Ausbildung aufgebaut, das eine verstärkte Lernortkooperation, einen intensiven Informationsaustausch bei drohenden Abbrüchen und den Erhalt des Ausbildungsstellenpotenzials förderte. Wichtigster Knotenpunkt dieses Netzwerks waren die "Ausbildungsstellencoaches" - zwei Mitarbeiter der Handwerkskammern Düsseldorf und Dortmund - die das Netzwerk vor Ort aufbauten, betreuten und für Ausbilder und Auszubildende Beratungen bei Ausbildungskonflikten anboten. Das Beratungsangebot konzentrierte sich auf Ausbildungsverhältnisse zwischen dem zweiten und vierten Ausbildungsjahr bei Ausbildungsberufen im Handwerk. Diese Beratungen wurden vollständig dokumentiert und evaluiert.

Die Konzentration auf Ausbildungen im Handwerk hatte mehrere Gründe. Erstens existieren nur wenige Untersuchungen über "späte Abbrüche", also jene nach dem ersten Ausbildungsjahr, obwohl zwischen dem zweiten und vierten Ausbildungsjahr ca. 50% aller Vertragslösungen stattfinden. Zweitens ist das Handwerk als zweitgrößter Ausbildungsbereich zwar seit Jahren im besonderen Maß von vorzeitigen Vertragslösungen betroffen, doch ist über die Gründe dafür kaum etwas bekannt. Drittens verursachen vorzeitige Vertragslösungen einen hohen zeitlichen und finanziellen Aufwand; dies gilt umso mehr, je später der Abbruch stattfindet. Nicht zuletzt wird in der bisherigen Abbruchforschung die Rolle der Ausbildungsbetriebe und der Berufsschullehrer nur wenig berücksichtigt, weshalb bisher kaum etwas über deren Einfluss auf das Geschehen bekannt ist.

Im Rahmen des Projekts wurde zusätzlich zu diesem Beratungsangebot eine telefonische und schriftliche Befragung - im Folgenden EMNID-Studie genannt - bei über 1000 (400 von Abbrüchen persönlich betroffene Jugendliche, 300 betroffene Ausbilder und 310 Berufsschullehrer, die in ihren Klassen eben solche Abbrüche erlebt hatten. ) betroffenen Auszubildenden, Ausbildern und Berufsschullehrern in Nordrhein-Westfalen durchgeführt, um einen Vergleich zwischen erfolgreich vermiedenen und tatsächlichen Abbrüchen durchführen zu können. Hatten die Betriebe (oder in geringerem Umfang auch die Jugendlichen) mehrere Abbrüche erlebt, so bezogen sich die Angaben grundsätzlich auf den neuesten Fall. Bei der Befragung wurden so weit als möglich inhaltlich übereinstimmende und standardisierte Fragebögen verwendet, um einen Vergleich der Ergebnisse zwischen den Befragtengruppen zu ermöglichen.

Inhaltlich bildeten bei dieser Untersuchung nicht nur die Abbruchgründe ein zentrales Thema, sondern auch der Verlauf der Ausbildung und Maßnahmen, die aus der Sicht der Betroffenen den Abbruch hätten vermeiden können, aber nicht durchgeführt wurden sowie Maßnahmen, die tatsächlich durchgeführt wurden. Die Befragung umfasste darüber hinaus Angaben zur Berufswahl bzw. zum Bewerbungsverfahren, zu Kontakten zur Arbeitswelt bzw. zum

Auszubildenden vor Beginn der Ausbildung in Form von Praktika, dem Besuch von Ausbildungsbörsen, Nebenjobs etc.. Ferner wurde nach Schwierigkeiten im Verlauf der Ausbildung und nach dem Verbleib des Auszubildenden bzw. zur Wiederbesetzung der Ausbildungsstelle nach dem Abbruch gefragt. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden mit den Daten aus den Beratungsgesprächen der Coaches verglichen und brachten überraschende Ergebnisse zu Tage.

•  Berufserfahrungen vor Beginn der Ausbildung

Bei der Untersuchung wurde u. a. der Frage nachgegangen, ob die betroffenen Jugendlichen vor dem Abbruch ein Praktikum im späteren Ausbildungsberuf oder -betrieb absolviert hatten und um welche Art von Praktikum es sich dabei handelte. Bei der EMNID-Studie ergab sich bei den 400 Jugendlichen und den 300 Ausbildern folgendes Bild:

•  Angaben zu Praktika vor Beginn der Ausbildung. Angaben in Prozent .

Von den 400 Auszubildenden hatten 45% in dem Betrieb, in dem sie später eine Ausbildung begannen, ein Praktikum vor Beginn der Ausbildung absolviert. Weitere 17% hatten im gleichen Ausbildungsberuf , aber in einem anderen Ausbildungsbetrieb , erste Berufserfahrungen gesammelt. Insgesamt hatten 88,3% aller befragten Jugendlichen mindestens ein Praktikum vor Beginn der Ausbildung gemacht. Diese Angabe ergibt sich, wenn man auch diejenigen Auszubildenden berücksichtigt, die in einem anderen Ausbildungsberuf - teilweise im späteren Ausbildungsbetrieb - ein Praktikum gemacht haben. Damit zeigt sich, dass entgegen bisheriger Annahmen (vgl. Kau/Alex 1990, 38) eine hohe Anzahl der Jugendlichen, die ihre Ausbildung nach dem ersten Ausbildungsjahr vorzeitig beenden, Praxiserfahrungen vor Beginn der Ausbildung sammelt. Ein ähnliches Bild zeigt sich bei der Befragung der Ausbilder: Insgesamt 58,7% geben an, dass der Auszubildende ein Praktikum im Ausbildungsberuf gemacht hat - entweder im eigenen oder in einem anderen Ausbildungsbetrieb. 24,4% der Ausbildenden geben dagegen an, dass der Auszubildende keinerlei Praktika absolviert. Rund 17% der Ausbilder sind über ihre eigenen Auszubildenden unzureichend informiert: Sie wissen nicht, ob oder in welchem Betrieb die Jugendlichen ein Praktikum absolviert haben. (Diese Angabe wurde nicht in die Grafik aufgenommen, da sie nur von den Ausbildern angegeben werden konnte.) Dieses Ergebnis erhält umso mehr Bedeutung, weil in der Stichprobe nur Angaben von Ausbildern berücksichtigt wurden, die die Abbruchfälle persönlich betreuten. Ähnliche Ergebnisse weist eine Studie von Puhlmann (1994, 134) auf, die feststellt, dass zwar über die Hälfte der Ausbildungsbetriebe ein Praktikum im späteren Ausbildungsberuf und -betrieb wichtig findet, aber dass sich nur rund ein Viertel auch aktiv dafür einsetzt, ein solches vor Ausbildungsbeginn tatsächlich zu ermöglichen.

Neben den Angaben zu Praktika im Ausbildungsberuf oder -betrieb wurden von den Auszubildenden Angaben über anderweitige Kontakte zur Arbeitswelt vor Beginn der Ausbildung erfragt. Die Ergebnisse zu dieser Frage zeigen einmal mehr, dass "Abbrecher" keinesfalls ausschließlich uninformierte, benachteiligte und desinteressierte Jugendliche sind: Ein Drittel der Jugendlichen (34%) hat - teils zusätzlich zu einem Praktikum - an Betriebsbesichtigungen oder Erkundungen teilgenommen. Weitere 26% hatten während ihrer Berufswahl Ausbildungsmessen oder -börsen besucht und Erkundigungen über einen oder mehrere Ausbildungsberufe und -betriebe eingeholt. Lediglich 8,8% der Befragten blieben vor Ausbildungsbeginn gänzlich ohne Kontakt zur Arbeitswelt. Von den 151 Jugendlichen, die kein Praktikum im Ausbildungsberuf geleistet haben, hatten nur 19 vor Beginn der Ausbildung keinerlei Kontakte zur Arbeitswelt. Die Übrigen befassten sich durch Betriebsbesichtigungen (54 Nennungen), anderweitigen Praktika (126 Nennungen) und Ausbildungsbörsen (42 Nennungen) vor Beginn der Ausbildung mit ihrer beruflichen Laufbahn, wobei Mehrfachnennungen möglich waren.

Die Möglichkeit, den Kontakt zum Jugendlichen nach einem Praktikum aufrecht zu erhalten, wird dagegen nur von 36 Betrieben genutzt. Abgesehen von den Fällen, in denen der Jugendliche direkt nach dem Praktikum einen Ausbildungsvertrag erhält - auf diese Art wurden 16 Ausbildungsverträge abgeschlossen - werden in den übrigen Fällen keinerlei Maßnahmen ergriffen, um mit den Jugendlichen in Verbindung zu bleiben.

In diesem Kontext ist noch ein überraschendes Ergebnis der Studie erwähnenswert: Von den insgesamt 400 Jugendlichen, die ihre Ausbildung vorzeitig beendeten, wechselten 143 in direktem Anschluss an den Abbruch den Ausbildungsbetrieb und konnten ihre Ausbildung ohne Unterbrechung fortsetzen; dies entspricht 36%. Weitere 73 Jugendliche wechselten noch während des laufenden Ausbildungsjahres den Ausbildungsbetrieb und -beruf. 5,8% nahmen ein Studium oder eine vollzeitschulische Ausbildung auf. Dagegen wurden nur 17,6%

arbeitslos oder befanden sich zum Zeitpunkt der Befragung in einer Maßnahme des Arbeitsamtes. In den übrigen Fällen nahmen die Betroffenen u. a. eine Tätigkeit ohne Ausbildung auf (21%, wobei einige der Befragten bereits über eine abgeschlossene Ausbildung verfügten), leisteten ihren Wehr- bzw. Zivildienst (2,5%) oder verblieben im Haushalt (1,7%). Betrachtet man den Verbleib der Jugendlichen je nachdem, ob sie ein Praktikum im Ausbildungsberuf absolviert haben oder nicht (siehe Abbildung 2), so fällt auf, dass die Unterschiede nur sehr gering sind: Die mit 5% größte Differenz bildet die Gruppe der Jugendlichen, die vor Beginn der Ausbildung ein Praktikum geleistet hatten und nach dem Abbruch ohne Ausbildung berufstätig sind. Offensichtlich spielt ein Praktikum im Ausbildungsberuf eine nur geringfügige Rolle für den Verbleib des Auszubildenden nach einer Vertragslösung.

•  Verbleib der Jugendlichen nach dem Abbruch mit und ohne Praktikum im Ausbildungsberuf. Angaben in Prozent.

In der EMNID-Studie wurde u. a. gefragt, ob der Abbruch durch bestimmte Maßnahmen vermeidbar gewesen wäre. Bei dieser Frage ging es um eine subjektive Beurteilung des Geschehens einer oder mehrerer Abbruchfälle. Auf die Frage, ob der Abbruch durch ein Praktikum im späteren Ausbildungsbetrieb hätte vermieden werden können, antworteten

•  30,5 % aller Auszubildenden mit "ja",

•  15,3 % aller Ausbilder mit "ja" und

•  84,2 % aller Berufsschullehrer mit "eher häufig" oder "immer".

Abgesehen davon, dass insbesondere die Berufsschullehrer die Bedeutung von Praktika im späteren Ausbildungsbetrieb als sehr wichtig einstufen, fällt auf, dass ein Drittel der Auszubildenden selbst angibt, ein einschlägiges Praktikum hätte für einen Verbleib im Ausbildungsverhältnis von Bedeutung sein können. Bei dieser Gruppe handelt es sich zu zwei Dritteln um Auszubildende, die vor dem Abbruch kein Praktikum im Ausbildungsberuf absolviert hatten. Zugleich gab knapp ein Drittel derjenigen, die zw ar ein Praktikum im späteren Ausbildungsberuf, aber nicht im späteren Ausbildungsbetrieb vorweisen können, an, dass ein Praktikum im späteren Ausbildungsbetrieb von entscheidender Bedeutung gewesen wäre, um den Abbruch zu vermeiden.

Die große Differenz zwischen den Aussagen von Ausbildern und Berufsschullehrern scheint dagegen ein Hinweis auf die Fehlein- bzw. Überschätzung von Praktika als Maßnahme gegen Vertragslösungen zu sein, obgleich sowohl Ausbilder als auch Berufsschullehrer die Ursachen für Ausbildungsabbrüche in den gleichen Faktoren begründet sehen. So geben beide Gruppen an, dass ein Praktikum nicht dazu beigetragen hätte, den Abbruch zu verhindern. Das kann im Kontext damit gesehen werden, dass aus der Sicht von Ausbildern und Berufsschullehrern die Hauptursachen für Ausbildungsabbrüche im mangelnden Interesse an der Ausbildung, im Fehlverhalten des Auszubildenden und in persönlichen Problemen des Auszubildenden mit seiner Familie liegen. Das mangelnde Interesse an der Ausbildung wird hierbei anscheinend nicht auf eine fehlende oder unzureichende Berufsvorbereitung zurück geführt, sondern eher auf ein in der Person des Auszubildenden liegendes Defizit. Darauf deuten auch die Angaben der Ausbilder, dass die Vertragslösung nicht hätte vermieden werden können, weil die Kündigung im persönlichen Umfeld und Verhalten der Jugendlichen begründet gewesen sei.

Und es gibt noch einen weiteren markanten Zusammenhang: Hinsichtlich der erstmaligen Beschäftigung mit der Berufswahl und dem Kontakt zur Arbeitswelt in Form von Praktika ist ein eindeutiger Zusammenhang zu erkennen (? 2 =13,87; df=4; p=0,008): Jugendliche, die sich frühzeitig mit der Berufswahl befassen, absolvieren zu über 50% ein Praktikum im Ausbildungsberuf, wobei dieses Praktikum meist im späteren Ausbildungsbetrieb stattfindet. Bei Jugendlichen, die sich in der Abschlussklasse oder erst nach der Abschlussklasse mit der Berufswahl beschäftigen, ist dies deutlich seltener der Fall (43,9% bzw. 36,6%). Umgekehrt absolvieren die Jugendlichen, die sich erstmals nach Beendigung der Abschlussklasse mit der Berufswahl beschäftigen, zu über 50% kein Praktikum im Ausbildungsberuf. Tendenziell lässt sich festhalten, dass die Wahrscheinlichkeit für fehlende Kontakte zur Arbeitswelt steigt, je später junge Menschen sich mit der Berufswahl befassen. Umgekehrt nehmen Jugendliche, die sich mit ihrem Berufsweg frühzeitig befassen, auch deutlich häufiger frühzeitig Kontakt zur Arbeitwelt auf.

Vergleicht man zudem die Gründe für den Abbruch (nach Aussagen der Auszubildenden) je nachdem, ob der Jugendliche vor Beginn der Ausbildung ein Praktikum im Ausbildungsberuf geleistet hat oder nicht, so zeigt sich, dass es keinerlei signifikante Unterschiede zwischen den beiden Gruppen gibt: An erster Stelle werden von beiden Gruppen Konflikte mit den Vorgesetzten, viele ausbildungsfremde Tätigkeiten, mangelnde pädagogische Kenntnisse der Ausbilder und häufig unbezahlte Überstunden genannt. Auch bei diesen Faktoren ist ähnlich wie bei den Angaben der Ausbilder und Berufsschullehrer fraglich, ob die Vertragslösungen mit Hilfe von Praktika vermeidbar gewesen wären. Dies gilt umso mehr, als die von den Auszubildenden genannten Gründe und insbesondere die Konflikte zwischen den Vertragspartnern während eines Praktikums vor Ausbildungsbeginn nur schwerlich erkennbar sein dürften.

•  Ergebnisse der Beratungsgespräche

Neben der Auswertung der Daten aus der EMNID-Studie wurden auch die Beratungen durch die Ausbildungsstellencoaches evaluiert (s.o.). Bei der Dokumentation dieser Beratungen standen die konkreten Maßnahmen zum Umgang mit typischen Ausbildungskonflikten und zur Erhaltung des Ausbildungsverhältnisses im Vordergrund. Ein "idealer" Beratungsfall umfasste dabei Gespräche sowohl mit dem Auszubildenden als auch mit dem Ausbilder. Die Kontaktierung beider Vertragspartner war allerdings in vielen Fällen weder notwendig noch möglich. Die Notwendigkeit war beispielsweise dann nicht gegeben, wenn die Vertragslösung bereits vor der Beratung stattfand. Häufig fanden sich zudem Fälle, in denen der Auszubildende die Kontaktierung des Betriebes durch den Ausbildungsstellencoach aus Angst vor möglichen Konsequenzen nicht wünschte. In den Fällen, in denen der Betrieb und der Auszubildende Unterstützung nach einer Vertragslösung benötigten, erwies es sich für die Coaches am schwierigsten, den Verbleib des Auszubildenden und der Ausbildungsstelle zu klären. Da in all diesen Fällen meist nur Angaben von einer der beiden Vertragsparteien vorlagen, erweist sich eine Auswertung der Daten als besonders schwierig.

Ebenso wie in der EMNID-Studie wurde auch bei den Beratungen der Frage nach Praktika vor Beginn der Ausbildung nachgegangen. Während die Ausbildungsbetriebe nach Praktika im Ausbildungsberuf und -betrieb befragt wurden, war für die Auszubildenden nur eine Frage zu Praktika im Ausbildungsberuf vorgesehen. Dadurch kann bei den Auszubildenden nicht geklärt werden, wo das Praktikum gemacht wurde.

Bei den 262 auswertbaren Beratungsfällen (Diese Angabe bezieht sich auf den gesamten Projektzeitraum. Insgesamt wurden 299 Fälle erhoben. Allerdings liegen zu dieser Frage in 37 Fällen nur Angaben von einer der beiden Vertragsparteien vor, weshalb diese nicht in die Auswertung aufgenommen wurden.) ergab sich insgesamt eine ähnliche Verteilung wie bei den Ergebnissen der EMNID-Studie. Die Auswertungen zeigen deutlich zweierlei, nämlich erstens, dass ein Praktikum im Ausbildungsberuf oder -betrieb keine Garantie für eine problemfreie oder erfolgreiche Ausbildung darstellt und zweitens, dass die Mehrheit der Jugendlichen vor Ausbildungsbeginn ein Betriebspraktikum absolviert hat.

•  Angaben der Betriebe zu Praktika vor Beginn der Ausbildung

Damit liegen insgesamt 146 Fälle (von 262 gültigen Nennungen) vor, in denen die Jugendlichen im Ausbildungsberuf erste Erfahrungen mit der Arbeitswelt sammeln konnten, darunter 8,4%, die das Praktikum in einem anderen als dem späteren Ausbildungsbetrieb gemacht haben.

Erstaunlich ist dagegen, dass über 40% der Betriebe nicht wissen, ob ihre Auszubildenden ein Praktikum im Ausbildungsberuf (in einem anderen Betrieb) absolviert haben oder nicht. Ob an derartigen Praktika keinerlei Interesse oder Nutzen besteht oder ob dies möglicherweise auf Desinteresse der Betriebe an diesem Faktor beruht, geht aus den Daten nicht hervor. Tatsache ist dagegen, dass die Betriebe in diesem Punkt schlecht über ihre eigenen Auszubildenden informiert sind. Diese Ergebnisse decken sich auch mit jenen der EMNID-Studie, in der deutlich wurde, dass Praktika im Ausbildungsberuf ein wichtiges Einstellungskriterium sind, aber dies von vielen Ausbildungsbetrieben nicht explizit gefordert und/oder überprüft wird. Vielmehr sehen die Betriebe im Interesse am Ausbildungsberuf (laut EMNID-Studie 80%) das Hauptkriterium für die Auswahl der Jugendlichen. Fraglich bleibt dabei allerdings, wie die Betriebe dieses Interesse überprüfen.

Darüber hinaus zeigt sich deutlich, dass nach Angaben der Betriebe nur die wenigsten Auszubildenden keinerlei Praktika vor Beginn der Ausbildung geleistet haben: Nach Angaben der Ausbilder sind die 3,4%. Zwar liegt die Anzahl der Jugendlichen zu dieser Frage bei 29,3%, allerdings ist dabei zu beachten, dass sich dies e Angaben ausschließlich auf Praktika im späteren Ausbildungsbetrieb beziehen, d.h. diese Daten sagen nichts darüber aus, ob die Jugendlichen im späteren Ausbildungsberuf, aber in einem anderen Ausbildungsbetrieb ein Praktikum absolviert haben. Da bei den Jugendlichen zudem die Rubrik "nicht bekannt" nicht in den Beratungsbogen aufgenommen wurde, war zu erwarten, dass die Angaben über (nicht) durchgeführte Praktika höher sind als bei den Ausbildungsbetrieben.

Betrachtet man die Anzahl der Auszubildenden, die vor Lehrbeginn erste Berufserfahrungen durch ein freiwilliges Praktikum (47,0%) oder ein Schulpraktikum (24,0%) im späteren Ausbildungsbetrieb sammeln konnten, so liegen insgesamt 148 Fälle (70,4%) vor, in denen die Jugendlichen auf diese Weise erste Berufserfahrungen sammeln konnten. Demgegenüber bestätigen nur 55,7% der Ausbildungsbetriebe, dass der Vertragspartner ein Praktikum im Ausbildungsberuf (im eigenen oder in einem anderen Ausbildungsbetrieb) absolviert hat.

•  Qualität und Quantität

Es sei an dieser Stelle nochmals ausdrücklich betont: Die erhobenen Daten liefern keinerlei Aussagen über den Einfluss von Praktika auf Ausbildungsabbrüche innerhalb des ersten Ausbildungsjahres. Es ist durchaus möglich, dass bei den "frühen" Abbrüchen zahlreiche Jugendliche zu finden sind, die kein Praktikum im Ausbildungsberuf vorweisen können. Für die "späten" Abbrüche gilt dies aber definitiv nicht. Diese Ergebnisse werden zusätzlich dadurch untermauert, dass nicht nur eine Betroffenengruppe befragt wurde, sondern auch die Ausbilder und die Berufsschullehrer in die Erhebung einbezogen wurden. Außerdem bilden die Daten des Beratungsangebots eine Art Kontrollgruppe, die zusätzliche und sogar ähnliche Ergebnisse liefert. Das spricht, neben den Stichprobengrößen, nicht nur eindeutig für die Repräsentativität der Daten für den Ausbildungsbereich Handwerk in Nordrhein-Westfalen, sondern auch für die Bedeutung von Praktika. Es scheint, als werde ihre Wichtigkeit hinsichtlich ihres Beitrags zur Vermeidung von Ausbildungsabbrüchen insbesondere von den Berufsschullehrern deutlich überschätzt. Dafür spricht im Übringen auch das Verhalten der Ausbildungsbetriebe: So wurde bei der Untersuchung nämlich auch nach den Einstellungskriterien und nach den Mindestvoraussetzungen gefragt: Bei der Auswertung beider Datenbestände zeigt sich eindeutig, dass das Kriterium ÇPraktikum' bei der konkreten Bewerberauswahl eine eher untergeordnete Rolle spielt und von nur 34% aller Betriebe genannt wird, während an erster Stelle das Interesse am Ausbildungsberuf (80%) und das Verhalten bzw. Auftreten des Auszubildenden (73%) standen. (Bei der Frage nach den Einstellungskriterien waren Mehrfachnennungen möglich. )

Wenn bei beiden Untersuchungen - nach Angaben von Betrieben und Auszubildenden - die Jugendlichen zu über 50% vor Beginn der Ausbildung ein Praktikum im Ausbildungsberuf und dies zu über 30% sogar im späteren Ausbildungsbetrieb absolviert haben, so ergeben sich daraus mehrere Folgerungen:

•  Von Abbrüchen betroffene Jugendliche (im Handwerk und nach dem ersten Ausbildungsjahr) sind zu großen Teilen über ihren späteren Ausbildungsberuf informiert. Sie absolvieren Praktika, besuchen Ausbildungsmessen und -börsen und beschäftigen sich großteils schon während der Schulzeit mit ihrer Berufswahl.

•  Ein Praktikum im späteren Ausbildungsbetrieb und/oder -beruf ist weder Garant für eine problemlos verlaufende Ausbildung noch für die Vermeidung eines Ausbildungsabbruchs. Dies gilt unabhängig davon, ob - im Fall der Beratungsgespräche - der drohende Abbruch vermieden werden kann oder nicht. Bei beiden Erhebungen zeichnet sich zudem deutlich ab, dass dies auch unabhängig vom Verbleib der Jugendlichen nach dem Abbruch zutrifft.

•  Eine nicht unerhebliche Anzahl an Ausbildungsbetrieben kann keinerlei Angaben zu Praktika ihrer Auszubildenden geben, sofern diese nicht im eigenen Ausbildungsbetrieb geleistet wurden. Ob an derartigen Praktika keinerlei Interesse oder Nutzen besteht, geht aus den Daten nicht hervor. Tatsache ist dagegen, dass die Betriebe in diesem Punkt unzureichend über ihre eigenen Auszubildenden informiert sind.

•  Obwohl Praktika im Ausbildungsberuf sicherlich ein wichtiges Einstellungskriterium sind, wird dies von vielen Ausbildungsbetrieben nicht explizit gefordert und/oder beim Einstellungsverfahren überprüft. Vielmehr sehen die Betriebe im Interesse am Ausbildungsberuf das Hauptkriterium für die Auswahl der Jugendlichen.

•  Die betroffenen Jugendlichen sind keinesfalls Benachteiligte, die nach der Vertragslösung unumgänglich arbeitslos werden und mit der nächsten Maßnahme versorgt werden müssen. Vielmehr wechselt die Mehrheit den Ausbildungsbetrieb (und -beruf) und setzt die Ausbildung mit nur geringer Unterbrechung fort.

Sind Praktika also eine Möglichkeit, Ausbildungsabbrüche zu vermeiden? Für die Abbrüche, die nach dem ersten Ausbildungsjahr zu verzeichnen sind - und dies sind immerhin 50% - gilt dies sicherlich nicht. Zwar können sie einen ersten Einblick in die Arbeitswelt bieten, doch sind sie weder eine Garantie auf eine "stressfreie" Ausbildung noch dafür, dass der Auszubildende mit Sicherheit die Ausbildung in dem Betrieb beendet, in dem er sie beginnt.

Letztlich - und dies ist möglicherweise das wichtigste Ergebnis: Ausbildungsabbrüche sind weniger durch Praktika, sondern vor allem durch Beratung und Unterstützung bei Konflikten zwischen Auszubildenden und Ausbildern vermeidbar. Dies gilt unabhängig davon, ob die betroffenen Jugendlichen per se oder nur unter bestimmten Bedingungen, ob nur einige von ihnen oder viele als benachteiligt betrachtet werden: So konnten in dem Projekt mit Hilfe des Beratungsangebots in 226 von insgesamt 299 Fällen das Ausbildungsverhältnis aufrecht erhalten werden.

Ausbildungsabbrüche sind also nicht darauf zurück zu führen, dass vor Beginn der Ausbildung kein Praktikum im Ausbildungsberuf geleistet wird. Wenn dennoch 48% der Auszubildenden, die ein Praktikum im Ausbildungsbetrieb absolviert haben, angeben, der Abbruch sei durch mehr Informationen über den Ausbildungsbetrieb vermeidbar gewesen, so sollte dies nicht als Hinweis auf zu selten durchgeführte Praktika bewertet oder als Plädoyer gegen Praktika bewertet werden, sondern vielmehr ein Anlass zum kritischen Nachdenken über den inhaltlichen Ablauf von betrieblichen Praktika sein: Ebenso wenig, wie allein die Tatsache, dass sich ein Jugendlicher in einer Ausbildung befindet, eine Aussage über die Ausbildungsqualität zulässt, lässt die bloße Tatsache des (Nicht)Absolvierens eines Praktikums ein Urteil über dessen Qualität zu. Vielmehr müssen beide Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden: Erst darin besteht der Nutzen von Praktika.

Literatur

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