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Editorial
MARTIN KIPP & WOLFGANG SEYD (Universität Hamburg)
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Viel war die Rede vom Paradigmenwechsel, eingeläutet durch das epochale
Sozialgesetzbuch IX. Von gleicher Augenhöhe der Leistungsberechtigten
mit den Leistungserbringern und Rehabilitationsträgern wurde gesprochen.
Doch nun scheint alle Euphorie verflogen. Berufliche Bildung benachteiligter
und behinderter Menschen ist in der Tat durch einen Paradigmenwechsel
gekennzeichnet. Und der ist nicht primär durch sozialgesetzgeberische
Aktivitäten herbeigeführt, sondern letztlich durch den Arbeitsmarkt
veranlasst worden. Und das in doppelter Hinsicht:
Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit arbeitsmarktbenachteiligter Jugendlicher
wirft die Frage auf, ob die Anstrengungen der betroffenen Menschen, die
sich diese in der Hoffnung auf eine Stelle auferlegen, die Anstrengungen
ihrer Ausbilder, Betreuer und Berater, die diese mit der Perspektive auf
einen Vermittlungserfolg auf sich nehmen, und die finanziellen Leistungen,
die von der Bundesagentur für Arbeit und den anderen Leistungsträgern
eingesetzt werden, noch gerechtfertigt sind. Das ist die eine Seite.
Hohe Arbeitslosigkeit reißt aber auch erhebliche Löcher in
die Steuer- und Sozialkassen. Sie nimmt den Handlungsspielraum staatlicher
und halbstaatlicher Instanzen. Seit Jahren stehen die Leistungserbringer
unter erheblichem Kostendruck. Sie sollen trotz sinkender finanzieller
Zuwendungen billiger, flexibler, schneller, erfolgreicher arbeiten. Leistungsträger
drohen mit verschärftem Wettbewerb. Inwieweit das Grundgesetz mit
seinem Benachteiligungsverbot einen wirksamen Schutz bietet,
ist fraglich. Das ist die andere Seite.
Der oben angesprochene Paradigmenwechsel ist in den Beiträgen dieser
Ausgabe von bwp@ nicht immer, aber doch häufig erkennbar. Dem Zusammenhang
zwischen Arbeitsmarkt und beruflicher Rehabilitation/Benachteiligtenförderung
hatten wir ein eigenes Kapitel zugedacht. Wir haben keinen originären
Beitrag dazu erhalten. Aber in mehreren Artikeln finden sich Betrachtungen
zum wirtschaftlichen Hintergrund der Benachteiligten- und Behindertenförderung.
Wir haben allerdings die ursprüngliche, im Call for papers unterlegte
thematische Struktur aufgegeben, denn die die Sichtung der 18 Beiträge
ließ andere Schwerpunkte erkennen, als wir sie in der Planungsphase
unterlegt hatten. Sie finden nunmehr eine Gliederung in vier Themenfelder:
1. Theoretische und konzeptionelle Grundlagen der Benachteiligtenförderung
4 Beiträge
2. Theoretische und konzeptionelle Beiträge zur beruflichen Rehabilitation
von Menschen mit Behinderungen 3 Beiträge
3. Adressatenorientierte Förderung 3 Beiträge
4. Ergebnisse und Erkenntnisse aus Forschungsprojekten zur Förderung
benachteiligter Menschen und von Menschen mit Behinderungen 8 Beiträge.
Theoretische und konzeptionelle Grundlagen der Benachteiligtenförderung
ARNULF BOJANOWSKI, PETER ECKARDT und GÜNTER RATSCHINSKI haben die
unübersichtliche Landschaft der Benachteiligtenforschung sondiert
und einen Überblick über die Entwicklung der letzten 30 Jahre
geliefert, der durch knappe Hinweise auf Forschungsdesiderate und Entwicklungsperspektiven
ergänzt wird.
MANFRED ECKERT beschreibt den Stellenwert von Berufsvorbereitung und Berufsausbildung,
die für ihn nur als Einheit denkbar sind. Berufsvorbereitung ist
sozialpädagogisch auszurichten. ECKERT warnt davor, das Berufskonzept
einem Employability-Konzept zu opfern, bei dem betriebsgewünscht
zertifiziert statt kammerverantwortlich geprüft und damit
Teilhabe am Arbeitsleben und am gesellschaftlichen Leben angebahnt wird.
HORST BIERMANN beschäftigt sich in kritischer Absicht mit der beruflichen
Rehabilitation behinderter Menschen in den etablierten Institutionen.
Der Leser stößt auf eine Fülle von Thesen, die einen Umdenkprozess
für die Konzeption beruflicher Rehabilitation einfordern.
BEATRIX NIEMEYER setzt sich mit der Professionalisierung der an der Benachteiligtenförderung
beteiligten Berufsgruppen auseinander. Aus einer von ihr vorgenommenen
professionstheoretischen Verortung der Benachteiligtenförderung leitet
die Autorin die Forderung nach wissenschaftlicher Absicherung der Qualifikationsangebote
an die in diesem Bereich Tätigen ab.
Theoretische und konzeptionelle Beiträge zur beruflichen Rehabilitation
von Menschen mit Behinderungen
ULRICH WITTWER und WOLFGANG SEYD formulieren und begründen aufgrund
einer normativ und empirisch fundierten Situationsanalyse Forderungen
und Empfehlungen zur weiteren Gestaltung des Rehabilitationssystems.
Vor dem Hintergrund politischer Forderungen nach stärkerer Einbeziehung
von Wirtschaftsunternehmen in die berufliche Rehabilitation setzt sich
WOLFGANG SEYD mit den Möglichkeiten und Grenzen, Modellen, Konzeptionen
und Realisierungen von betrieblicher Rehabilitation als Ersatz und als
Ergänzung außerbetrieblicher Rehabilitation auseinander.
Manche sehen darin nur eine optimierte Beratungspraxis, andere einen durchschlagskräftigen
grundlegend neuen Ansatz: Von Case Management ist die Rede. WOLFGANG SEYD
und WILLI BRAND versuchen Licht in das Dunkel der Begriffe, Konzepte und
Umsetzungen zu bringen. Sie lassen sich von Fragen leiten, die auf die
Bedeutung, die Möglichkeiten, Vorraussetzungen, Grenzen und Realisierungschancen
von CM verweisen. Dabei gehen sie auch der Frage nach, ob sich mit CM
berufliche Rehabilitation effektiver und effizienter gestalten lässt.
Adressatenorientierte Förderung
HELGA FASCHING und MATHILDE NIEHAUS liefern zunächst eine Teilnehmeranalyse
der Sonderschulabgänger, die in die berufliche Bildung einmünden.
Dabei zeichnen sie ein differenziertes Bild der Benachteiligungen, problematisieren
den Zusammenhang mit dem Arbeitsmarkt und formulieren ziel
gruppengerechte
Gestaltungsempfehlungen.
Mit der speziellen Situation Jugendlicher mit Migrationshintergrund beschäftigt
sich der Beitrag von STEPHAN STOMPOROWSKI. Auf der Basis statistischer
Untersuchungen, skizziert er die in den letzten Jahrzehnten mangelhaft
gebliebene berufliche Integration dieser Personengruppe und bilanziert
kritisch das berufspädagogische sowie berufsbildungspolitische Interesse
an diesem Themenfeld.
In Niedersachsen wurden gute Erfahrungen mit Jugendbüros
gemacht. Hier kümmern sich Fachleute um Sozialhilfeempfänger
ohne Ausbildung. GERHARD CHRISTE berichtet aus der Begleituntersuchung,
mit der das Oldenburger Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe
betraut worden ist.
Ergebnisse und Erkenntnisse aus Forschungsprojekten zur Förderung
benachteiligter Menschen und von Menschen mit Behinderungen
Angesichts der zunehmenden Konkurrenz auf dem Ausbildungsstellenmarkt
ist es für Absolventen der Sonderschule besonders schwierig, eine
betriebliche Ausbildung zu beginnen. BARBARA KOCH und JOHANNES KORTENBUSCH
berichten über einen Modellversuch, der sich dieser Problematik widmet.
In Kooperation mit Schulen, Betrieben und anderen Institutionen werden
Konzepte zur speziellen Förderung von Sonderschülern und ihrer
Integration in den Arbeitsmarkt entwickelt, erprobt und evaluiert.
Auf das nordrhein-westfälische Berufskolleg hebt auch der Beitrag
von DETLEF BUSCHFELD und KATJA KORENY ab. An 12 Berufskollegs wird ein
Qualifizierungsbaustein erprobt, der konzeptionell mit Betriebsbeteiligung
verknüpft ist. Das demonstrieren die beiden Autoren an zwei Fallstudien,
indem sie Voraussetzungen und didaktisches Konzept des Qualifizierungsbausteins
skizzieren.
SUSANNE M. WEBER widmet sich dem Aufbau und Funktionieren lokaler Netzwerke
in der Jugendberufshilfe. Auf der Basis eines mehrdimensionalen Evaluationsmodells
demonstriert sie die Erfassung von Input-, Prozess-, Output- und Outcomequalität
am Beispiel von Vernetzungsprojekten in drei Landkreisen.
In drei schleswig-holsteinischen Jugendaufbauwerken sollte handlungsorientiertes
Lernen Einzug halten. BEATRIX NIEMEYER beschreibt den Fortbildungsprozess
der Akteure, zu dessen zentralen Elementen Selbstreflexion und Präsentation
eigner Praxisbeispiele gehören. Die Autorin benennt und erörtert
zudem Schwachstellen wie die Freizeitgestaltung für die und mit den
Jugendlichen sowie die Kooperation mit Berufsschulen.
Einen Hamburger Modellversuch mit lernbenachteiligten, leistungsverminderten
und verhaltensauffälligen Jugendlichen schildern FALK HOWE und SÖNKE
KNUTZEN. Im Projekt Kompetenzwerkst@tt werden arbeitsprozessorientierte
Lehr-Lernarrangements mit integrierter Lernsoftware entwickelt und eingesetzt.
Die Autoren reflektieren den didaktischen Zuschnitt und die Projektergebnisse
nach zwei Dritteln der Projektlaufzeit.
Mit dem Problem der Vertragslösungen beschäftigte sich eine
EMNID-Untersuchung, bei der die Erfahrungen von 400 Auszubildenden, 300
Ausbildern und 310 Berufsschullehrern erfasst wurden. SANDRA BOHLINGERs
Fazit: Vorherige Praktika helfen nicht, Ausbildungsabbrüche zu vermeiden
und werden hinsichtlich ihrer Bedeutung oft überschätzt. Demgegenüber
kommt der Beratung ein höherer Stellenwert zu, wenn es um den Erhalt
der Ausbildung geht.
MARIANNE GOLTZ schildert Erkenntnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung
der Hamburger QuAS-Konzepte zur Förderung von Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss.
Ein Ergebnis ist, dass der Übergang in betriebliche Ausbildung erschwert
wird, weil die Betriebe erheblich größeren Wert auf das Vorhandensein
eines Hauptschulabschlusses legen als dies in den Konzepten vorgesehen
ist.
RUDOLF SCHRÖDER beschreibt den Einsatz von E-Learning auf der Basis
virtueller Modellunternehmen zur Ausbildung von schwerstbehinderten Jugendlichen
in zwei Berufsbildungswerken. Zu den Ergebnissen der Begleitforschung
gehört der Nachweis einer enorm hohen Motivation der Teilnehmer,
die bessere Prüfungsergebnisse als ihre Präsenz-Kollegen in
der Berufsschule erzielen.
Die Beiträge dieser bwp@-Ausgabe unterstreichen nicht nur den dringlichen
Veränderungsbedarf im Bereich der Förderung benachteiligter
und der beruflichen Rehabilitation behinderter Jugendlicher, sondern sie
zeigen zudem vielfältige und erfolgversprechende Reformperspektiven.
Gern wollen wir all jenen danken, die uns ihre Beiträge zur Verfügung
gestellt haben, und denen, die uns bei der redaktionellen Arbeit geholfen
haben: Gabriele Weise-Borkowski für Koordination und Aufbereitung,
Karin Büchter für Kritik und Sichtung, Franz Gramlinger für
wegweisende Ratschläge und stete Ermunterung.
Martin Kipp & Wolfgang Seyd
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