RUDOLF SCHRÖDER (Universität Paderborn)
1. Hintergrund des Virtuellen Berufsbildungswerks
Das Modellprojekt „Aufbau eines virtuellen Berufsbildungswerkes zur Erstausbildung von schwerstkörperbehinderten Menschen“, im weiteren Verlauf kurz als Virtuelles Berufsbildungswerk (VBBW) bezeichnet, wurde in der Zeit vom 01.09.2000 bis 31.08.2003 in Kooperation zwischen den Berufsbildungswerken in Neckargemünd und Hannover (in Zusammenarbeit mit der Berufsbildenden Schule 14) durchgeführt. Um die Unterschiede hinsichtlich der Rahmenbedingungen, der Ausgestaltung der Ausbildung und der Evaluationsergebnisse zwischen den Berufsbildungswerken darstellen zu können und zugleich die Anonymität zu wahren, wird im weiteren Verlauf der Arbeit von den Berufsbildungswerken BBW I und BBW II gesprochen.
In den drei Jahren wurden insgesamt 19 schwerstkörperbehinderte Menschen – inklusive IHK-Abschlussprüfung – nahezu vollständig virtuell via E-Learning und Telearbeit entsprechend § 25 BBiG zu Bürokaufleuten ausgebildet. Das ehemalige Bundesministerium für Arbeit finanzierte einen Teil der Anlaufinvestitionen und die wissenschaftliche Begleitung (Förderkennzeichen: Vb 2 - 58 663 - 6/52). Ansonsten finanzierten die beiden Berufsbildungswerke die berufliche Erstausbildung der Teilnehmenden über die Kostenerstattungen der Bundesanstalt für Arbeit. Bereits nach dem ersten Ausbildungsjahr wurde das VBBW in den Regelbetrieb überführt, d.h. in den Jahren 2001 bis 2003 haben weitere Auszubildende die virtuelle Ausbildung aufgenommen.
Hintergrund des VBBW ist die Problematik, dass die berufliche Erstausbildung schwerstkörperbehinderter Menschen oftmals selbst in den Berufsbildungswerken nicht geleistet werden kann. Schwerstkörperbehinderten Menschen bleibt der Zugang zu einer beruflichen Erstausbildung und somit zu einer späteren Berufsausübung oftmals verwehrt, weil
• sie aufgrund medizinischer Behandlungen während der Kernarbeitszeiten (Montags-Freitags, 08.00-16.00 Uhr) zeitweilig verhindert sind,
• ihre physische Belastbarkeit eingeschränkt ist,
• sie behinderungsbedingt das häusliche Umfeld kaum verlassen können und eine spezielle medizinische Betreuung benötigen, die auch in einem Berufsbildungswerk nicht geleistet werden kann.
Vor diesem Hintergrund wurde im VBBW das pädagogische Innovationspotenzial der Neuen Informations- und Kommunikationstechnologien (NIKT) in zweifacher Hinsicht zum Wohle behinderter Menschen genutzt:
Die Ausbildung wurde nahezu vollständig virtuell via E-Learning und Telearbeit abgewickelt, so dass die Auszubildenden vom heimischen Arbeitsplatz aus an der Ausbildung teilnehmen konnten. Somit konnten die Lern- und Arbeitszeiten flexibel gestaltet und Pflegemaßnahmen individuell im häuslichen Umfeld organisiert werden.
Weitergehend wurden die Auszubildenden auf eine spätere Berufsausübung via Telearbeit vorbereitet, um die berufliche Mobilität bei gleichzeitiger Beibehaltung des Wohnortes zu gewährleisten (vgl. Goll/Lilienthal/Zapp 2000, 13 ff.).
2. Forschungskonzept der wissenschaftlichen Begleitung
2.1 Wissenschaftstheoretische Fundierung
Die vom Autor wahrgenommene wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts (so die Bezeichnung seitens des ehemaligen BMA als finanzierende Einrichtung) stand in der Tradition einer Modellversuchsforschung, verstanden als eine theoriegeleitete Reflexion von Modellversuchen, um Erkenntnisse über und durch die Veränderungen in den sozialen Praxisfeldern zu gewinnen (vgl. Euler / Sloane 1998, 315). Angesichts der Rahmenbedingungen und Zielsetzungen wurde von der Annahme ausgegangen, dass Erkenntnisse der Grundlagenforschung aus den pädagogischen Bezugsdisziplinen nur dann eine Basis für die hier zu leistende Arbeit darstellen können, wenn die Fragen und Probleme aus der Praxis bei der Modellierung des Forschungsdesigns berücksichtigt werden (vgl. Kremer / Melke / Sloane 2001, 96). Somit wurden die wissenschaftlichen Erkenntnisse bezüglich der Entwicklung, Implementation und Evaluation eines virtuellen Ausbildungskonzepts zur Qualifizierung schwerstkörperbehinderter Menschen in enger Zusammenarbeit mit der Praxis gewonnen.
Die wissenschaftliche Begleitung hatte zum Ziel, aktiv zum Gelingen des Modellprojekts beizutragen und wurde in der Tradition der Aktions- bzw. Handlungsforschung, die insbesondere durch zwei Merkmale beschrieben werden kann (vgl. König / Zedler 2002, 132 f.), ausgeübt:
• Handlungsforschung ist weniger auf verallgemeinerbare Erkenntnisse, als vielmehr auf die Entwicklung konzeptioneller Vorstellungen und die Lösung praktischer Probleme aus dem pädagogischen Alltag ausgerichtet.
• Das traditionelle Subjekt-Objekt-Verhältnis zwischen Forscher und Forschungsobjekt wird weitgehend in ein Subjekt-Subjekt-Verhältnis umgewandelt: Dieser Perspektivenwechsel war für die Arbeit im Modellprojekt von Bedeutung, um mit den Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden der Berufsbildungswerke in direkten Kontakt treten zu können.
Abb.1: Vorgehensweise der Arbeit
Die mit der wissenschaftlichen Begleitung verbundenen Arbeitsschwerpunkte beinhalteten insbesondere die theoretische Fundierung und Entwicklung der Grundlagen des virtuellen Ausbildungskonzepts, die Beratung der Berufsbildungswerke hinsichtlich der Implementation des Ausbildungskonzepts sowie die Evaluation der virtuellen Ausbildung in Verbindung mit der Entwicklung von Vorschlägen zur Verbesserung und Weiterentwicklung des Ausbildungskonzepts. Die Arbeitsschwerpunkte werden in Abb. 1 dargestellt und nachfolgend vertieft.
2.2 Theoretische Fundierung, Entwicklung und Implementation des Ausbildungskonzepts
Berufsbildungswerke stellen Lernorte eigener didaktisch-methodischer Prägung dar, wobei die Ausgestaltung der Lehr- und Lernprozesse einerseits von der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, sowie andererseits von der Sonderpädagogik bestimmt wird. Angesichts der Bedeutung der NIKT für die berufliche Bildung im Allgemeinen und für das VBBW im Speziellen galt es für den theoretischen Bezugsrahmen überdies, die Medienpädagogik zu berücksichtigen. Vor diesem Hintergrund war zunächst zu erörtern, welchen Beitrag die genannten Disziplinen zur theoretischen Fundierung des Ausbildungskonzepts leisten können.
Aus sonderpädagogischer Perspektive stellt die Entwicklung des virtuellen Ausbildungskonzepts nicht nur eine Notwendigkeit vor dem Hintergrund geänderter politischer Rahmenbedingungen dar, sondern ist zugleich als moralische Verpflichtung zu begreifen, durch technische Innovationen das Bildungsrecht behinderter Menschen einzulösen (vgl. Antor/Bleidick 2000, 95 ff.). Wenngleich den sonderpädagogischen Aspekten eine wesentliche Bedeutung zukommt, i st zu konstatieren, dass im Mittelpunkt der Arbeit der Berufsbildungswerke berufspädagogische Aufgaben stehen (vgl. Stadler 1998, 183). Im Gegensatz zu beispielsweise sinnesbehinderten Menschen bedurfte die hier angesprochene Zielgruppe keiner speziellen sonderpädagogischen Didaktik und Methodik, um den Zugang zu den Lerninhalten herzustellen. Folglich stellte die Didaktik und Methodik des Wirtschaftslehreunterrichts die zentrale Grundlage für die Ausgestaltung des Ausbildungskonzepts auf der Basis von E-Learning und Telearbeit dar, d.h. es dominierte die wirtschaftspädagogische Perspektive. Gleichwohl war auch den sonderpädagogischen Anforderungen, beispielsweise hinsichtlich der Umsetzung individueller Fördermaßnahmen, Rechnung zu tragen.
Im Hinblick auf das Ausbildungskonzept war weiterhin die Frage zu konkretisieren, welche Impulse von Multimedia und Telekommunikation zur Lösung wirtschaftspädagogischer Probleme ausgehen können (vgl. Euler 1998). Aus einer prozessorientierten Sicht ergeben sich wesentliche strukturelle Elemente eines virtuellen und behindertengerechten Ausbildungskonzepts aus den Potenzialen der NIKT, auf deren Basis eine internetbasierte Kommunikation und Kooperation realisiert werden kann. Aus einer ergebnisorientierten Perspektive hat sich mit Telearbeit eine neue Arbeitsform entwickelt, die schwerstkörperbehinderten Menschen eine Berufsausübung als Bürokaufmann/-frau nach dem Ausbildungsabschluss ermöglicht.
Abb.2: Grundstruktur und Einflussfaktoren des handlungsorientierten, virtuellen und behindertengerechten Ausbildungskonzepts zum/zur Bürokaufmann/-frau
Somit dominierte bei der theoriegeleiteten Entwicklung des Ausbildungskonzepts die wirtschaftspädagogische Perspektive, wobei von einem handlungsorientierten Ausbildungskonzept auf gemäßigt konstruktivistischer Basis auszugehen war. Im Hinblick auf eine behindertengerechte Gestaltung der Lern- und Arbeitsprozesse wurde – unter Verwendung der NIKT – ein weitgehend individualisiertes Ausbildungskonzept angestrebt, das in besonderer Weise auf die Selbstorganisation und -steuerung der Lernprozesse am heimischen Arbeitsplatz setzt, so dass die Auszubildenden die Ausbildungsverpflichtungen mit den Ruhe- und Therapiezeiten in Einklang bringen konnten. Mit Blick auf die spätere Implementation waren bei der Konzeptentwicklung außerdem die bildungspolitischen und curricularen Vorgaben, die organisatorischen Rahmenbedingungen der Berufsbildungswerke sowie die Lernvoraussetzungen der Auszubildenden zu berücksichtigen (vgl. Abb. 2).
Die konzeptionelle Entwicklung und Implementation des virtuellen Ausbildungskonzepts konzentrierte sich auf die didaktisch-methodische, technische und mediale Ausgestaltung des Ausbildungskonzepts. Wesentliche Aspekte waren die didaktisch-methodische Verwendung der internetbasierten Kommunikationsmittel, die Verwendung von onlinefähigen Lernmaterialien und die Konzeption virtueller Modellunternehmen, in denen der betriebliche Ausbildungspart abgewickelt wird. Hierauf wird im dritten Kapitel eingegangen.
2.3 Evaluationskonzept der wissenschaftlichen Begleitung
Der Evaluationsarbeit wurden die folgenden erkenntnisleitenden Fragen zugrunde gelegt, die zunächst im Rahmen der theoriegeleiteten Konzeptentwicklung, weiterhin aber auch aufgrund von Erhebungen im VBBW identifiziert wurden.
• Unter welchen Rahmenbedingungen wird die Ausbildung durchgeführt?
• Wie wird die virtuelle Ausbildung unter den gegebenen Rahmenbedingungen in den Berufsbildungswerken gestaltet?
• Wie ist die Motivation der Auszubildenden ausgeprägt und von welchen Faktoren wird sie beeinflusst?
• Wie beurteilen die Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden die Ausbildung?
• Ist die virtuelle Ausbildungsdurchführung geeignet, um das Sozialleben der Auszubildenden zu verbessern?
• Können die Auszubildenden durch die virtuelle Ausbildungsform angemessen qualifiziert werden?
• Können den Auszubildenden neue berufliche Chancen eröffnet werden?
Wie anhand der Fragen ersichtlich ist, ging es weniger um einen Vergleich unterschiedlicher didaktisch-methodischer Konzepte, d.h. virtuelle Ausbildung versus Präsenzausbildung, da mit diesen Konzepten teilweise unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden. Vielmehr galt es zu untersuchen, inwieweit das virtuelle Ausbildungskonzept die damit verbundenen Zielsetzungen erfüllt, wobei die spezifischen Entwicklungsbedingungen zu berücksichtigen waren. Auch wenn dem gewählten Forschungsansatz entsprechend primär qualitative Methoden wie Leitfadeninterviews, Dokumentenanalysen, Tagebücher und teilstandardisierte schriftliche Befragungen verwendet wurden, kamen auch empirisch-analytische Verfahren wie standardisierte Befragungen zum Einsatz. Die verwendeten empirisch-analytischen Evaluationsverfahren dienten weniger dazu, im Sinne einer konfirmatorischen Vorgehensweise Hypothesen zu testen und verallgemeinerungsfähige Aussagen zu gewinnen, was nicht nur aufgrund der kleinen, sondern auch nicht repräsentativen Stichprobe problematisch gewesen wäre. Vielmehr wurden quantitative Instrumente eingesetzt, um zusätzliche Informationen für die Absicherung der diskursiven, subjektiv-qualitativen Bewertung der Erhebungsergebnisse einzubringen.
3. Das implementierte Ausbildungskonzept: die Ausbildung zum/zur Bürokaufmann/-frau im Virtuellen Berufsbildungswerk
3.1 Technische Infrastruktur und Lernmaterialien
Zu Beginn der Ausbildung wurden die heimischen Arbeitsplätze der Auszubildenden mit einem multimediafähigen PC und Internetzugang (zunächst ISDN, später DSL) ausgestattet. Sofern notwendig, wurden die Computer mit behinderungsgerechter Hard- und Software aufgerüstet. Die Kosten für die Hard- und Software und die laufende Internetnutzung wurden von den Berufsbildungswerken getragen. Für die Ausbildenden und Lehrenden wurden PC-Arbeitsplätze in den Berufsbildungswerken eingerichtet.
Die Berufsbildungswerke setzten als Plattform für die Kommunikation und Bereitstellung der Lernmaterialien das Lernmanagementsystem DLS Distance Learning System® der Firma e/t/s media didaktik GmbH ein. Die Audio-/Videokonferenzen wurden seit dem zweiten Ausbildungsjahr über CentraOne, das an das DLS gekoppelt wurde, abgewickelt. Das Hosting des Lernmanagementsystems sowie des MTP-Konferenzsystems übernahm ebenfalls die Firma e/t/s.
Die technische Infrastruktur zur internetbasierten Kommunikation und Kooperation im betrieblichen und berufsschulischen Ausbildungspart wird in Abb 3. dargestellt. In Abschnitt 3.4 wird die technische und didaktisch-methodische Ausgestaltung der virtuellen Modellunternehmen erläutert.
Abb.3: Technische Infrastruktur für die virtuelle Ausbildungsdurchführung im VBBW
Angesichts der behinderungsbedingten Probleme einiger Auszubildender hinsichtlich der Handhabung von Printmedien wurde das Modellprojekt mit dem Ziel gestartet, nach Möglichkeit ausschließlich computerbasierte Lernmaterialien einzusetzen. Zugleich sollten die Lernmaterialien dem individualisierten Ausbildungskonzept Rechnung tragen. Vor diesem Hintergrund konnten die Ausbildenden und Lehrenden für ökonomische und informationstechnische Inhalte auf einen Pool von multimedialen Lernarrangements der Firma e/t/s GmbH zugreifen, die das mediengestützte Einzellernen fördern. Da die Betreuung der Auszubildenden durch Angehörige und Pflegepersonal besser als erwartet war, kamen seit September 2001 auch in einem begrenzten Umfang wieder klassische Printmedien wie Schulbücher zum Einsatz, die sich bereits in der Präsenzausbildung bewährt hatten. Sofern n
ur wenige Seiten eines Printmediums benötigt wurden, wurden diese – soweit urheberrechtlich möglich – eingescannt und den Auszubildenden digital zur Verfügung gestellt; die Auszubildenden wiederum konnten die Materialien – wenn gewünscht – ausdrucken.
3.2 Grundsätzliche didaktisch-methodische Ausgestaltung
Da die Auszubildenden in 10 verschiedenen Bundesländern und im Durchschnitt rund 200 km von den betreuenden Berufsbildungswerken entfernt wohnten, war die Möglichkeit zur Betreuung vor Ort beschränkt. Im Durchschnitt wurden die Auszubildenden ein bis zwei Mal jährlich von den Ausbildenden und Lehrenden, zumeist begleitet von einem Mitarbeiter des sozialen Dienstes, besucht. Die Ausbildung wurde ansonsten virtuell abgewickelt.
Im Rahmen der Ausbildungsdurchführung wurde die Bandbreite der über das DLS verfügbaren Kommunikationsmöglichkeiten (E-Mail, Foren, Chat, Audio-/Videokonferenzen) genutzt. Den Audio-/Videokonferenzen kam eine wesentliche Bedeutung zu, weil aufgrund ihres synchronen Kommunikationscharakters der Tagesablauf der Auszubildenden partiell vorstrukturiert wird. Audio-/Videokonferenzen weisen außerdem eine methodische Ähnlichkeit zum Präsenzunterricht auf, können aber aus methodischen und technischen Gründen nur im personell kleineren Rahmen durchgeführt werden. Deshalb wurden die Auszubildenden in beiden Berufsbildungswerken in drei Lerngruppen (so die Bezeichnung seitens der Berufsbildungswerke) eingeteilt, was bedeutet, dass die Ausbildenden und Lehrenden jede Konferenz dreifach in den Lerngruppen durchführen mussten.
Pro Woche nahm jeder Auszubildende acht bis 10 Stunden an Audio-/Videokonferenzen teil. Sechs bis acht Stunden wurden für die berufsschulischen Inhalte verwendet, die restliche Zeit für den betrieblichen Ausbildungspart. Hinzu kamen ein bis zwei Stunden individueller Förderunterricht unter „vier Augen“, der je nach individuellem Förderbedarf von den Ausbildenden oder Lehrenden durchgeführt wurde. Über die restliche Arbeitszeit, gekennzeichnet durch Einzelarbeit, asynchrone Kommunikation (E-Mail, Foren) und weitere synchrone Kommunikation (Telefonate, individuell vereinbarte Konferenzen) konnten die Auszubildenden weitgehend selbstständig verfügen, wobei allerdings die Pflicht bestand, sich an jedem Arbeitstag bei den Ausbildenden via E-Mail zur Arbeit zu melden.
3.3 Didaktisch-methodische und technische Ausgestaltung des berufsschulischen Ausbildungsparts
Zwecks Realisierung didaktisch-methodischer Synergieeffekte wurde entschieden, dass im berufsschulischen Part der virtuellen Ausbildung inhaltlich parallel zu den Klassen der Präsenzausbildung, in denen die Lehrenden zumeist auch unterrichteten, vorgegangen werden sollte. Didaktisch-methodische Parallelitäten zur Präsenzausbildung im berufsschulischen Ausbildungspart waren bei der Entwicklung des Ausbildungskonzepts somit durchaus erwünscht. Gleichwohl ist zu konstatieren, dass sich die didaktisch-methodische Ausgestaltung des berufsschulischen Ausbildungsparts viel stärker an die Präsenzausbildung angenähert hat, als es erwartet wurde:
• Das seit dem zweiten Ausbildungsjahr eingesetzte Konferenzsystem CentraOne ermöglichte es, in den Klassen der virtuellen Ausbildung methodisch ähnlich wie in den Klassen der Präsenzausbildung vorzugehen. Dies betraf sowohl die Möglichkeiten einer vermittelnden als auch aktiv-erarbeitenden Vorgehensweise. Im Vergleich zu den Präsenzstunden wurden die Online-Konferenzen aufgrund der mehrfachen Durchführung zumeist zeitlich leicht verkürzt. Zur Kompensation wurden mehr „Hausaufgaben“ aufgegeben, die primär via E-Mail betreut wurden.
• Zahlreiche Lernmaterialien – seien es zugekaufte Printmedien, im Internet recherchierte Materialien oder selbst entwickelte Arbeitsblätter – wurden in der virtuellen Ausbildung wie auch in der Präsenzausbildung eingesetzt.
So sagte eine der Lehrenden im Rahmen der Abschlussdiskussion zum Projektende: „Wir machen grundsätzlich immer noch das Gleiche wie vorher auch.“ Dieses Statement wurde auf Rückfrage des Autors von den Lehrenden beider Berufsbildungswerke einhellig bestätigt.
3.4 Didaktisch-methodische und technische Ausgestaltung des betrieblichen Ausbildungsparts
Der betriebliche Ausbildungspart wird in den Berufsbildungswerken im Rahmen der Präsenzausbildung in Modellunternehmen durchgeführt und durch Praktika in realen Unternehmen ergänzt. Eine zentrale didaktisch-methodische und technische Herausforderung hinsichtlich der Konzeption und Implementation des Ausbildungskonzepts bestand darin, Modellunternehmen aufzubauen, in denen die Auszubildenden und Ausbildenden virtuell arbeiten konnten. Im Rahmen der Ausgestaltung der Modellunternehmen beschritten die beiden Berufsbildungswerke unterschiedliche Wege:
• Im BBW I arbeiteten die Auszubildenden arbeitsteilig in dem gemeinsamen Modellunternehmen Performance (Online-Computerhandel). Als Plattform für die gemeinsame Arbeit diente im zweiten Ausbildungsjahr das DLS, das mit Hilfe der wissenschaftlichen Begleitung auf die speziellen Anforderungen hin modifiziert worden ist. Im dritten Ausbildungsjahr wurde die Plattform DLS sukzessive durch eine speziell entwickelte Applikation auf der Basis der Groupware Lotus Notes ersetzt. Außerdem erfolgte ein Anschluss an den Deutschen Übungsfirmenring. Da sich bereits die Einrichtung der DLS- und Notes-basierten Plattform als sehr aufwändig erwies, konnte kaufmännische Software im Jahrgang des Modellprojekts nicht mehr eingeführt werden.
• Demgegenüber gründeten alle Auszubildenden des BBW II eigene Modellunternehmen, die untereinander in Kunden-/ Lieferantenbeziehungen standen. Diese Konstellation wird seitens des BBW II als Korrespondenzübungsfirmenring bezeichnet. Somit musste jeder Auszubildende alle anfallenden Arbeiten in seinem Modellunternehmen erledigen. Außerdem wurde die kaufmännische Software des Herstellers Lexware zur Fakturierung, Buchhaltung und Lohn- und Gehaltsabrechnung eingesetzt. Eine spezielle Plattform im Sinne einer Groupware kam nicht zum Einsatz; die Modellunternehmen standen primär via E-Mail (Microsoft Outlook) in Kontakt. Seitens der Ausbildenden gab es Vorgaben, die den Umfang der geschäftlichen Aktivitäten untereinander regelten. Ein Anschluss an den DÜF wurde nicht durchgeführt.
Ergänzend zur Arbeit in dem virtuellen Modellunternehmen absolvierten die Auszubildenden des BBW I Praktika in externen Unternehmen.
Abb.4: Durchführung des betrieblichen Ausbildungsparts
Abb.5. Außensteuerung der virtuellen Modellunternehmen
4. Evaluationsergebnisse der wissenschaftlichen Begleitung
4.1 Eingangsvoraussetzungen der Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden
Die Rahmenbedingungen der Ausbildungsdurchführung wurden mit der Hilfe von teilstandardisierten Befragungen der Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden, Leitfadeninterviews mit den Projektverantwortlichen sowie Dokumentenanalysen von Lehrplänen, Stoffverteilungsplänen usw. erhoben.
Die schulischen Eingangsvoraussetzungen und Behinderungen der insgesamt 27 Auszubildenden, die im August 2000 die Ausbildung aufgenommen hatten, bedingten ein individualisiertes Ausbildungskonzept. Die schulischen Eingangsvoraussetzungen reichten von der abgeschlossenen Hauptschule – Klasse 9 – bis hin zur allgemeinen Hochschulreife. Die in Abb. 6 dargestellten Behinderungen führten zu deutlichen Einschränkungen hinsichtlich der Mobilität, Motorik und teilweise auch Sprache. Bei der Mehrzahl der Auszubildenden war di
e Schreibgeschwindigkeit an der Tastatur reduziert. Hinzu kamen Einschränkungen hinsichtlich der zeitlichen Belastbarkeit und der pflege- bzw. rehabilitationsbedingten Abwesenheitszeiten. Die individuelle Schwere der Behinderungen zeigte sich insbesondere im BBW II, wo drei Auszubildende während der Ausbildung verstarben. Krankheitsbedingt mussten drei Auszubildende, in einem Fall sogar während der Abschlussprüfung, abbrechen. Im BBW I gab es demgegenüber einen Abbruch aus gesundheitlichen Gründen. Für gute Erfolgsaussichten der Auszubildenden sprachen die Motivation sowie der familiäre Rückhalt.
Abb.6: Angaben zu den Behinderungen der Auszubildenden
Wichtig für einen erfolgreichen Ausbildungsverlauf waren die Eingangsvoraussetzungen der insgesamt vier Ausbildenden und sieben Lehrenden, insbesondere die zumeist mehrjährige Praxis hinsichtlich der Ausbildung behinderter Menschen in Präsenzform. Alle Befragten hatten schon oft oder zumindest gelegentlich mit typischen Office- und Internetprogrammen gearbeitet. Erfahrungen hinsichtlich der Durchführung von Computerschulungen konnten ebenfalls die meisten Befragten vorweisen; Erfahrungen zur pädagogischen Nutzung des Internets waren aber kaum vorhanden. Um sich auf die speziellen Anforderungen der virtuellen Ausbildungsdurchführung vorzubereiten, absolvierten die Ausbildenden und Lehrenden die Qualifizierung und Zertifizierung zum TeleCoach (vgl. Kaiser/Schröder 2001 und 2002).
4.2 Probleme im Ausbildungsverlauf
Lernprobleme traten während der Ausbildungsdurchführung nur sehr vereinzelt auf. Dies zeigt sich auch daran, dass es während der drei Ausbildungsjahre nur drei leistungsbedingte Ausbildungsabbrüche bzw. Nichtversetzungen gab, wobei die Leistungsschwäche in zwei Fällen zumindest partiell auf gesundheitliche Gründe zurückgeführt werden konnte. In den drei Jahren wurde seitens der Ausbildenden und Lehrenden nur einmal die Meinung geäußert, dass Disziplinprobleme vergleichbar mit denen in der Präsenzausbildung auftraten. Ansonsten wurde stets mehrfach herausgestellt, dass Disziplinprobleme weniger stark ausgeprägt oder nicht existent waren.
Im ersten Ausbildungsjahr hatten die Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden gleichermaßen mit technischen Problemen, insbesondere in den Audio-/Videokonferenzen, zu kämpfen. Durch die Einführung des Konferenzsystems CentraOne sowie schnellerer Internetzugänge konnten die technischen Probleme im zweiten Ausbildungsjahr erheblich verringert werden.
4.3 Motivation der Auszubildenden
Die Motivation der Auszubildenden war aufgrund der virtuellen Durchführung der Ausbildung ein wesentlicher Erfolgsfaktor, weil der Großteil der Arbeitszeit nicht unter unmittelbarer Aufsicht durch die Ausbildenden und Lehrenden stattfand. Zugleich war die Gefahr der Demotivation gegeben, wenn bei technischen oder inhaltlichen Problemen nicht schnell und kompetent geholfen werden konnte oder sich die Teilnehmenden sozial isoliert fühlten. Die deshalb durchgeführte Erhebung zur Motivation orientierte sich an dem Forschungsprojekt „Selbstbestimmt motiviertes und interessiertes Lernen in der kaufmännischen Erstausbildung“ (vgl. u.a. Prenzel/Kristen/Dengler/Ettle/Beer 1996; Prenzel/Kramer/Drechsel 2001), das im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms „Lern-/Lehrprozesse in der kaufmännischen Erstausbildung“ durchgeführt wurde. Theoretische Grundlage dieses Forschungsprojekts sind die Kompetenz- und Selbstbestimmungstheorie sowie die pädagogische Interessentheorie.
Zur Erfassung der Konstrukte hinsichtlich der Motivationsarten, der Empfindungen beim Lernen und Arbeiten sowie der wahrgenommenen Rahmenbedingungen wurde ein standardisierter Fragebogen entwickelt, der von den Auszubildenden getrennt nach dem berufsschulischen und betrieblichen Ausbildungspart zu beantworten war.
• Motivationsarten (nach steigender Ausprägung der Motivation):
• „Amotiviert“ kennzeichnet Zustände ohne gerichtete Lernmotivation.
• „Extrinsisch“ motiviertes Lernen/Arbeiten bezeichnet einen Zustand, in dem die Person nur lernt, um eine Belohnung zu erlangen oder einer drohenden Strafe zu entgehen.
• „Introjiziert“ bedeutet, dass der Lernende das äußere Bekräftigungssystem verinnerlicht hat.
• „Identifiziert“ bedeutet, dass dem Lernenden die Inhalte und Tätigkeiten persönlich wichtig sind und er sie als wertvoll anerkennt.
• Beim „intrinsisch“ motivierten Lernen/Arbeiten hat der Lernende ohne drohende Strafe, Versprechen oder Anstöße von außen das Bestreben, eine Sache voll und ganz zu beherrschen.
• Das „interessiert“ motivierte Lernen/Arbeiten stellt eine Erweiterung der intrinsischen Motivation dar. Die Person möchte über die aktuelle Situation hinaus mehr über den Gegenstand erfahren.
• Empfindungen beim Arbeiten und Lernen
• Emotional negatives Empfinden
• Emotional positives Empfinden
• Flow-Erleben
• Empfinden von Wichtigkeit
• Beurteilung der positiven bzw. negativen motivationalen Rahmenbedingungen:
• Inhaltliche Relevanz
• Interesse der Ausbildenden/Lehrenden
• Soziale Einbindung
• Kompetenzunterstützung
• Autonomieunterstützung
• Nachvollziehbare Vorgehensweise
• Überforderung
• Technische Probleme
• Probleme mit den Lernmaterialien
Zu den 19 Konstrukten wurden insgesamt 69 Items (Beispiel „amotiviertes Lernen/Arbeiten“: „Beim Lernen versuchte ich mich zu drücken.“) formuliert, die auf einer Skala von „0 – nie“ bis „5 – sehr oft“ bewertet werden konnten. Die Erhebung wurde zu drei Zeitpunkten durchgeführt:
• Die Befragungen konzentrierten sich auf das zweite und dritte Ausbildungsjahr des VBBW, weil die Arbeit in den virtuellen Modellunternehmen im zweiten Ausbildungsjahr anlief, so dass erst ab diesem Zeitpunkt sichergestellt war, dass die Auszubildenden die beiden Lernorte auch differenziert wahrnahmen. Die erste Befragung (November 2001) fand während des Einstiegs in die eigentliche Arbeit im Modellunternehmen statt. Zum Zeitpunkt der zweiten Befragung (Juni 2002) war die Arbeit in den Modellunternehmen bereits Routine; die Auszubildenden des BBW I waren zusätzlich als Praktikanten in realen Unternehmen tätig. Die dritte Befragung (März 2003) fand rund zwei Monate vor der Abschlussprüfung statt.
• Darüber hinaus wurden die Auszubildenden der Präsenzausbildung zum/zur Bürokaufmann/-frau des BBW I (d.h. diese Auszubildenden wurden parallel zu den Auszubildenden des VBBW ausgebildet) in die Befragung einbezogen.
• Weiterhin wurde zum Ende des zweiten Ausbildungsjahres (Juni 2003) eine nach Lernorten differenzierte Befragung der virtuellen Auszubildenden des Nachfolgejahrgangs (d.h. Ausbildungsbeginn September 2001) beider Berufsbildungswerke durchgeführt.
Im Hinblick auf die Motivation der Auszubildenden des VBBW ergaben die Erhebungen folgende Befunde:
• Den Auszubildenden der virtuellen Ausbildung kann eine gute Motivation bescheinigt werden. Die höchsten Mittelwerte erzielten stets das identifiziert und introjiziert motivierte Lernen/Arbeiten; die niedrigsten Mittelwerte entfielen stets auf das amotivierte und extrinsisch motivierte Lernen/Arbe iten.
• Selbst die niedrigsten Mittelwerte zu den positiven Rahmenbedingungen lagen bis auf wenige Ausnahmen über den höchsten Mittelwerten der negativen Rahmenbedingungen, d.h. die Ausbildenden und Lehrenden haben eine motivationsunterstützende Atmosphäre geschaffen.
• Hinsichtlich der Empfindungen beim Arbeiten und Lernen erzielten die emotional negativen Empfindungen stets die niedrigsten Mittelwerte, d.h. die Ausbildungsteilnahme wurde nur in einem geringen Umfang durch negatives Empfinden beeinträchtigt.
• Zwischen dem betrieblichen und berufsschulischen Ausbildungspart waren hinsichtlich der Motivationsarten und Rahmenbedingungen trotz der sehr unterschiedlichen didaktisch-methodischen Ausgestaltung nur wenige signifikante Unterschiede zu verzeichnen.
• Die positiven Ergebnisse zur Motivation in der virtuellen Ausbildung wurden auch durch entsprechende Erhebungen im Nachfolgejahrgang bestätigt.
Abb.7: Vergleich zwischen den Auszubildenden der Präsenzausbildung und denen des VBBW des BBW I (Befragungszeitpunkt 06/2002)
Die Erhebung wurde außerdem im BBW I bei den angehenden Bürokaufleuten, die die Ausbildung in Präsenzform absolvierten, durchgeführt. In Abb. 7 werden die Ergebnisse zum betrieblichen und berufsschulischen Ausbildungspart zum Ende des zweiten Ausbildungsjahres gegenübergestellt. Beim Vergleich fällt auf, dass die Mittelwertdifferenzen zwischen den Auszubildenden der virtuellen Ausbildung und denen der Präsenzausbildung zu den Konstrukten im berufsschulischen Ausbildungsteil zumeist größer ausfielen als im betrieblichen Ausbildungsteil. Signifikante Unterschiede waren im betrieblichen Ausbildungsteil lediglich hinsichtlich der nachvollziehbaren Vorgehensweise zugunsten der virtuellen Ausbildung festzustellen. Im berufsschulischen Teil war der Mittelwert zum amotivierten Lernen/Arbeiten in der Präsenzausbildung signifikant höher als in der virtuellen Ausbildung ausgeprägt. Die berufsschulischen Mittelwerte zum emotional positiven Empfinden sowie zum Flow-Erleben fielen im Rahmen der virtuellen Ausbildung signifikant bzw. hoch signifikant höher aus. Im berufsschulischen Ausbildungsteil der virtuellen Ausbildung erzielten sämtliche positiven Rahmenbedingungen höhere bzw. sämtliche negativen Rahmenbedingungen niedrigere Mittelwerte als in der Präsenzausbildung. Dies zeigt, dass insbesondere im berufsschulischen Teil die virtuellen Auszubildenden höher motiviert waren und die motivationsunterstützenden Rahmenbedingungen positiver wahrnahmen. Dies wurde von den Lehrenden plausibel damit erklärt, dass die Auszubildenden der virtuellen Ausbildung intensiver als die Auszubildenden der Präsenzausbildung betreut wurden. Während in der Präsenzausbildung die Kontakte weitgehend auf die Unterrichtsstunden beschränkt blieben, fand im VBBW auch zwischen den MTP-Konferenzen eine intensive Kommunikation (z.B. zwecks Korrektur der Hausaufgaben) statt.
Als Ergebnis der Erhebung kann den Auszubildenden des Modellprojekts eine gute Motivation bescheinigt werden. Den Ausbildenden und Lehrenden ist es insgesamt gelungen, im Rahmen des virtuellen Ausbildungskonzepts Bedingungen für ein motiviertes Lernen und Arbeiten zu schaffen.
4.4 Qualifizierungspotenzial des virtuellen Ausbildungskonzepts
Hinsichtlich der Durchführung der Abschlussprüfung wurde in Gesprächen zwischen den Berufsbildungswerken, den zuständigen IHK's und der wissenschaftlichen Begleitung vereinbart, dass die Auszubildenden von zu Hause aus an der Prüfung teilnahmen, wobei Aufsichtspersonen das Geschehen bei den Auszubildenden vor Ort überwachten. Inhaltlich war die IHK-Abschlussprüfung im VBBW identisch mit der Prüfung in der Präsenzausbildung, so dass diese Prüfung einen wesentlichen Indikator für das Qualifizierungspotenzial der virtuellen Ausbildung darstellte. Die Prüfungsergebnisse werden in Abb. 8 dargestellt:
• Im BBW I lag das durchschnittliche Prüfungsergebnis der Auszubildenden der virtuellen Ausbildung mit 71,1% um 2,6 Prozentpunkte über dem der Auszubildenden in der Präsenzausbildung. Gegenüber dem IHK-Durchschnitt, in dem sämtliche Abschlussprüfungen zum/zur Bürokaufmann/-frau des Kammerbezirks erfasst sind, „fehlten“ den virtuellen Auszubildenden im Durchschnitt 2,9 Prozentpunkte.
• Im BBW II erzielten die virtuellen Auszubildenden mit einem Mittelwert von 74,7% schon fast signifikant (p=0,075) bessere Ergebnisse als die Auszubildenden der Präsenzausbildung, die im Durchschnitt 66,4% der maximal möglichen Punkte erreichten. Der regionale IHK-Durchschnitt, in dem sämtliche Abschlussprüfungen zum/zur Bürokaufmann/-frau des Kammerbezirks erfasst sind, lag um 3,3 Prozentpunkte über dem Durchschnitt der virtuellen Auszubildenden.
Anzumerken ist, dass die Ausgestaltung der Abschlussprüfung in Niedersachsen und Baden-Württemberg deutliche Unterschiede aufweist, so dass ein Vergleich zwischen den Berufsbildungswerken nicht möglich ist.
Abb.8: Durchschnittsergebnisse der Abschlussprüfung 2003 – Vergleich zwischen der virtuellen Ausbildung und der Präsenzausbildung der Berufsbildungswerke sowie mit dem IHK-Durchschnitt des jeweiligen Kammerbezirks
Weiterhin wurde im Rahmen einer multiplen, linearen Regressionsanalyse untersucht, inwieweit sich die Ergebnisse der Abschlussprüfung (abhängige Variable) auf der Basis der schulischen Eingangsvoraussetzungen, der Motivation der Auszubildenden, der Unterschiede hinsichtlich der virtuellen Ausbildungsdurchführung in den involvierten Berufsbildungswerken und der virtuellen und präsenten Ausbildungsdurchführung (unabhängige Variablen) erklären lassen. Die Ergebnisse der Regressionsanalyse weisen ebenfalls darauf hin, dass im internen Vergleich der Berufsbildungswerke die Auszubildenden der virtuellen Ausbildung den Auszubildenden der Präsenzausbildung in der Abschlussprüfung zumindest ebenbürtig waren. Auch im Vergleich zum jeweiligen IHK-Durchschnitt haben die virtuellen Auszubildenden, insbesondere wenn man die Schwere der Behinderungen berücksichtigt, ein respektables Ergebnis erzielt.
4.5 Beurteilung der Ausbildung
Die Beurteilung der Ausbildung durch die Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden wurde mit Hilfe von schriftlichen, teilstandardisierten Befragungen zum Ende der drei Ausbildungsjahre erhoben. Zahlreiche Fragen waren in den Fragenbögen, die von den Auszubildenden bzw. Ausbildenden/Lehrenden ausgefüllt wurden, identisch, um den gleichen Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchten zu können.
Abb.9: Gesamtbeurteilung der Ausbildung im Virtuellen Berufsbildungswerk durch die Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden
Insgesamt wurde die virtuelle Ausbildung trotz einiger Detailkritik (die insbesondere im ersten Ausbildungsjahr technische Aspekte zum Gegenstand hatte) von den Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden positiv beurteilt. Hinsichtlich der Gesamtbeurteilung der virtuellen Ausbildung wurden bis auf eine Ausnahme von den Auszubildenden der beiden Berufsbildungswerke zu allen Erhebungszeitpunkten keine Noten schlechter als „befriedigend“ vergeben. Zum Ausbildungsende betrug die Durchschnittsnote im BBW I 2,18 und im BBW II 2,14. Die Durchschnittsnote zur Gesamtbeurteilung der Ausbildung seitens der Ausbildenden und Lehrenden lag zum Ausbildungsende in beiden Berufsbildungswerken jeweils bei 2,00 (vgl. Abb. 9).
4.6 Virtuelle Ausbildungsdurchführung und Sozialleben der Auszubildenden
Im Rahmen der Erhebungen zum Ende der drei Ausbildungsjahre wurden die Auszubildenden hinsichtlich des Einfl usses der Ausbildung auf das Sozialleben befragt. Zu allen Erhebungszeitpunkten verneinten nahezu alle Auszubildenden beider Berufsbildungswerke die Frage, ob sie sich aufgrund der virtuellen Ausbildungsdurchführung sozial isoliert fühlten (vgl. Abb. 10). Die Frage, ob sich aufgrund der virtuellen Ausbildungsteilnahme ihr Sozialleben verbessert habe, wurde von den Auszubildenden vorsichtiger beantwortet: Zu allen Erhebungszeitpunkten entschied sich jeweils mindestens die Hälfte der Auszubildenden der beiden Berufsbildungswerke für die Antwortalternative „unentschieden“.
Abb.10: Antworten der Auszubildenden zum Gefühl der sozialen Isolation
4.7 Berufliche Integration der Auszubildenden
Die berufliche Integration der Auszubildenden konnte nur ansatzweise erfasst werden, da der Auftrag der wissenschaftlichen Begleitung mit dem Ausbildungsabschluss endete. Mitte Dezember 2003 – d.h. rund vier Monate nach Ausbildungsende – wurden die Absolventinnen und Absolventen telefonisch nach ihren derzeitigen beruflichen und schulischen Aktivitäten bzw. Plänen befragt. Die Ergebnisse zur beruflichen Integration der Auszubildenden können Abb. 11 entnommen werden.
• Zum Erhebungszeitpunkt waren im BBW I neun der 11 Absolventinnen und Absolventen auf der Suche nach einem Arbeitsplatz. Ein Absolvent besuchte eine weiterführende Schule, ein anderer hatte sich selbstständig gemacht.
• Im BBW II hatten drei der acht Absolventinnen und Absolventen einen Arbeitsplatz als Bürokaufmann/-frau gefunden. Anzumerken ist, dass sich ein Auszubildender (der in der Tabelle nicht erfasst ist) während der Ausbildung erfolgreich selbstständig gemacht und deshalb seine Ausbildung abgebrochen hatte.
Abb.11: Status der beruflichen Integration der Absolventinnen und Absolventen des VBBW im Dezember 2003
Zum Erhebungszeitpunkt war die Beschäftigungssituation der Absolventinnen und Absolventen durch eine hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Dies kann teilweise auf die generell schwierige Lage auf dem Arbeitsmarkt zurückgeführt werden. Auch ist zu berücksichtigen, dass sich der Arbeitsmarkt für Telearbeit nicht in dem Maße entwickelt hat, wie es zu Projektbeginn erwartet wurde (vgl. empirica 2002).
5. Zusammenfassung der Ergebnisse
Die Befunde der wissenschaftlichen Begleitung belegen, dass die virtuelle Ausbildung schwerstkörperbehinderter Menschen unter unterschiedlichen Rahmenbedingungen der beiden Berufsbildungswerke erfolgversprechend durchgeführt werden kann, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
• Das Ausbildungskonzept geht von der Würde und Bildungsfähigkeit der behinderten Menschen aus.
• Die Ausbildung wird nicht mit der Zielsetzung der Kostenersparnis, sondern zu den gleichen Kostensätzen wie die Präsenzausbildung betrieben, so dass eine leistungsfähige technische Infrastruktur eingesetzt und eine intensive Betreuung der Auszubildenden sichergestellt werden kann.
• Es wird selbstorganisiertes Lernen gefördert, zugleich jedoch großer Wert auf eine individuelle Betreuung der Auszubildenden gelegt.
• Die Auszubildenden nehmen motiviert an der Ausbildung teil und werden von ihrem sozialen Umfeld hinsichtlich der Ausbildungsteilnahme bestärkt.
• Die Auszubildenden, Ausbildenden und Lehrenden sind bereit, sich auf die neuen Anforderungen der virtuellen Ausbildungsdurchführung einzustellen.
• Die Ausbildenden und Lehrenden verfügen über pädagogische Erfahrung im Umgang mit behinderten Menschen und über die Kompetenz, die Auszubildenden über das Internet zu betreuen.
Darüber hinaus ist im Hinblick auf die Integration der Absolventinnen und Absolventen in den Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung, dass die Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung nachkommen und auch eine entsprechende Zahl behinderter Menschen einstellen. Zugleich sind die Integrationsdienste der Berufsbildungswerke sowie die Arbeitsämter gefordert, denn ein mangelnder Erfolg hinsichtlich der beruflichen Integration kann dazu führen, dass mittel- bis langfristig die Perspektiven eines an sich erfolgreichen Ausbildungskonzepts in Frage gestellt werden. So wird in den beiden Berufsbildungswerken derzeit erwogen, durch die Zusammenarbeit mit Arbeitsüberlassungsunternehmen oder den eigenen Aufbau solcher Unternehmen die berufliche Integration der Auszubildenden zu forcieren.
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text only - bwp@ Ausgabe Nr. 6 | Juni 2004
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