Kaum ein anderer Bereich der beruflichen Bildung hat in den letzten beiden Jahrzehnten in der Fachöffentlichkeit so viel Aufmerksamkeit erfahren wie „Prüfungen und Standards“. Dabei ist die Verwendung des Begriffs „Standards“ erst in jüngerer Zeit durch Einflüsse aus der internationalen, insbesondere anglo-amerikanischen pädagogischen Diskussion verbreitet worden. Die – wenn auch zögerliche – Öffnung für internationale schulische Leistungsvergleiche im deutschsprachigen Raum und die große Beachtung, die insbesondere die TIMSS- und PISA-Studien fanden, haben der Diskussion um Leistungsmessungen, die sich an transparent ausgewiesenen, begründeten Standards orientierten, starke Impulse verliehen. Neben dieser allgemein-pädagogischen Entwicklungslinie gibt es originäre eigenständige Beiträge der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die „Prüfungen und Standards“ in Verbindung mit der Entwicklung von beruflicher Handlungskompetenz thematisieren.
Vor allem in der Diskussion um die Abschlussprüfungen in der beruflichen Erstausbildung spiegeln sich grundlegende Herausforderungen an das tradierte berufliche Bildungssystem wider. Obgleich weitreichende und wegweisende Veränderungen von Prüfungsverfahren in Teilbereichen der Aus- und Weiterbildung erprobt wurden, fehlen übergreifende und von den relevanten Akteuren akzeptierte Reformentwürfe. So definieren trotz teilweise heftiger Kritik die Abschlussprüfungen weiterhin oft den Kern eines „heimlichen Curriculums“ der dualen Berufsausbildung, das Lernprozesse in Betrieben, vor allem aber in Berufsschulen nachhaltig beeinflusst. Besonders die Prüfungspraxis der zuständigen Stellen steht im begründeten Verdacht, überfällige Reformen zu konterkarieren, ja mehr noch in paradigmatischem Widerspruch zu jenen Leitlinien beruflicher Bildung bzw. beruflichen Kompetenzerwerbs zu stehen, die sich mit den Begriffen „Handlungsorientierung“ oder „Lernfeldorientierung“ verbinden. Wenn Berufsschule und Betrieb systematisch abgestimmt berufliche Handlungskompetenz fördern sollen, dann müssen auch die Prüfungen diese Kompetenzentwicklung möglichst umfassend, „ganzheitlich“ abbilden. Schon der BIBB-Fachkongress von 1992 hatte hier ein Schwerpunktthema.
In gewisser Weise wurde mit dieser Entwicklung die Diskussion um die standardisierte Prüfung von „life skills“ in internationalen Schulleistungsvergleichen vorweg genommen. Die Forderung nach einer Abkehr von Prüfungen, die sich vornehmlich an Inhalten der Schulfächer orientierten, wurde in der beruflichen Bildung früher und radikaler gestellt als für die allgemeinbildenden Bildungsgänge. Wenn diese Forderung sich nicht in der Prüfungspraxis durchsetzen konnte, lag das nicht zuletzt an starken bildungspolitischen Signalen von Seiten der Kammern, die unter dem Gesichtspunkt der Kostenkontrolle eine stärkere Standardisierung und Zentralisierung des Prüfungswesens befürworten und damit eine eigene Definition von „Standardisierung“ durchzusetzen versuchen.
Früher als in anderen Bereichen des Bildungswesens gewannen internationale Einflüsse auf die Entwicklung von Standards der Berufsausbildung besonders unter dem Gesichtspunkt der Vergleichbarkeit von Berufsabschlüssen zunehmend an Bedeutung (Internationale Konferenz zu „Assessment, Recognition, and Certification of Occupational Skills and Competences“ Porto 1992). Es sind vor allem Impulse aus der EU, hier in den letzten Jahren der sogenannte Kopenhagen-Maastricht-Prozess, die eine Entwicklung nationaler kompetenzorientierter Standards einschließlich ihrer Operationalisierung und der Durchführungsverfahren als Steuerungs- und Kontrollinstrumente in den Vordergrund drängen. Kompetenzorientierte Standards markieren damit die Zieldimension beruflicher Bildung und darauf bezogene kompetenzorientierte Prüfungen sind von daher unerlässlich für die Evaluation von individuellen Berufsbildungsprozessen und -systemen.
Erste Studien zur Einstufung deutscher Abschlussprüfungen im internationalen Vergleich wurden zwar in beschränktem Umfang durchgeführt, aber angesichts der bildungspolitisch fest etablierten Abschlussprüfungen wurden Entwicklung und Begründung von Standards zur Evaluation beruflicher Lernprozesse nicht intensiv systematisch thematisiert. Für das Design von Prüfungen und die Erstellung von Prüfungsaufgaben sind deshalb nur eingeschränkt die nötigen Vorklärungen getroffen worden.
Wie wohl nicht anders zu erwarten war, sind unter der Überschrift „Prüfungen und Standards“ systematische Verbindungen zu nahezu allen Foci der aktuellen Diskussion um die Weiterentwicklung der beruflichen Aus- und Weiterbildung herzustellen. Sie verleihen dem Thema einerseits seine zentrale Bedeutung, andererseits erschweren sie die Fortentwicklung theoretisch begründeter und konsensfähiger Problemlösungen. Die Komplexität der Entwicklung von international akzeptierbaren, kompetenzorientierten Prüfungen und Standards in der beruflichen Bildung wird in den folgenden Beiträgen deutlich. Hoffnungsvoll stimmt, dass es gelungen ist, so viele Autorinnen und Autoren zur Mitarbeit an diesem Thema zu gewinnen.
Die Ausgabe 8 von bwp@ spannt durch theoriebetonte, empirisch-evaluative und praxisbezogene Beiträge einen thematischen Bogen, der die folgenden Kernprobleme fokussiert:
Die Beiträge in diesem Teil greifen aktuelle Diskussionen um das Konzept kompetenzorientierter Standards auf. Dabei werden aus unterschiedlichen Perspektiven einflussreiche Beiträge kritisch auf ihre Tragfähigkeit für die Entwicklung kompetenzorientierter Standards in der beruflichen Bildung geprüft. Deutlich wird, dass die systematische Qualität der Diskussion weiter gefördert werden muss. Allerdings wird anhand von vergleichenden Lernstandsuntersuchungen auch deutlich, dass die Risiken von Standards entscheidend durch die Verwendung der Testergebnisse in einem fördernden versus rigide kontrollierenden schulischen Umfeld bestimmt werden.
Knut SCHWIPPERT: Vergleichende Lernstandsuntersuchungen, Bildungsstandards und die Steuerung von schulischen Bildungsprozessen
Peter F. E. SLOANE / Bernadette DILGER: The competence crash – Dilemmata bei der Übertragung des 'Konzepts der nationalen Bildungsstandards' auf die berufliche Bildung
Klaus BREUER: Berufliche Handlungskompetenz – Aspekte zu einer gültigen Diagnostik in der beruflichen Bildung
Gerald A. STRAKA: Die KMK-Handreichungen zur Erarbeitung von Rahmenlehrplänen – eine kritische Reflexion zum zehnten Jahrestag .
Die Diskussion um kompetenzorientierte Standards in der beruflichen Bildung wurde von Anbeginn sehr stark international beeinflusst. Diskussions- und Implementierungsprozesse in verschiedenen Ländern haben unterschiedliche Verläufe genommen und jeweils spezifische Probleme und Chancen deutlich werden lassen. Die weitere Entwicklung wird nachhaltig von der europäischen Diskussion bestimmt werden. Besonders interessant werden in diesem Zusammenhang länderübergreifende „large scale assessments“ sein, zu deren Voraussetzungen der Bericht über eine Machbarkeitsstudie Aussagen trifft.
Georg Hans NEUWEG: Vorsichtsstandards für den Umgang mit Bildungsstandards
Christoph METZGER: Entwicklung von Standards für die berufliche Bildung in der Schweiz
Michael SCHOPF: EUROPASS, EQF, ECVET und CQAF– reformiert die EU jetzt die deutsche Berufsbildung?
Burkart SELLIN: Europäischer Qualifikationsrahmen (EQF) – ein gemeinsames Bezugssystem für Bildung und Lernen in Europa
Frank ACHTENHAGEN / Lena ARENDS: Machbarkeitsstudie für ein „Berufsbildungs-PISA“
Die Beiträge in diesem Teil stellen Werkstattberichte aus dem Projekt ULME I-III dar, das als Längsschnittstudie in drei Erhebungswellen angelegt, Schülerinnen und Schüler aus Hamburger berufsbildenden Schulen auf „Leistungen, Motivation und Einstellungen“ jeweils am Anfang und am Ende ihres Bildungsgangs untersuchte. Für die Erfassung berufsspezifischer kognitiver Kompetenzen wurde ein Klassifikationsraster entwickelt, das auf ein theoretisch begründetes Modell von Kompetenzniveaus zurückgeht.
Willi BRAND / Wiebke HOFMEISTER / Tade TRAMM: Auf dem Weg zu einem Kompetenzstufenmodell für die berufliche Bildung – Erfahrungen aus dem Projekt ULME
Wiebke HOFMEISTER: "Erläuterung der Klassifikationsmatrix zum ULME-Kompetenzstufenmodell"
Stanislav IVANOV / Rainer H. LEHMANN: Mathematische Grundqualifikationen zu Beginn der beruflichen Ausbildung
Susan SEEBER: Zur Erfassung und Vermittlung berufsbezogener Kompetenzen im teilqualifizierenden Bildungsgang „Wirtschaft und Verwaltung“ an Hamburger Berufsfachschulen
Die lang anhaltende Diskussion um verbesserte Prüfungen in der Aus- und Weiterbildung hat dazu geführt, dass eine Vielzahl neuer Prüfungsformen entwickelt und oft in Modellversuchen erprobt wurde. In ihnen liegt ein großes Potenzial für validere Prüfungen und für eine kompetenzorientierte Steuerung von beruflichen Bildungsprozessen; denn immer noch sind es vor allem Prüfungen, die vorgängige Lernprozesse wirksam kontrollieren. Die Aufwertung außerschulischer Qualifizierungsprozesse wird sowohl im Hinblick auf die IT-Weiterbildung als auch in der Zertifizierung informell erworbener beruflicher Kompetenzen deutlich.
Margit EBBINGHAUS: Stand und Perspektiven bei beruflichen Prüfungen – Ansätze zur Reform des Prüfungswesens in der dualen Ausbildung
Lothar REETZ: Situierte Prüfungsaufgaben. Die Funktion von Situationsaufgaben in Abschlussprüfungen des Dualen Systems der Berufsausbildung
Andreas DIETTRICH / Matthias KOHL / Gabriele MOLZBERGER: Kompetenzorientierte Prüfungen und Zertifizierungen in der Berufsbildung – Zum Umsetzungsstand in der IT-Aus- und IT-Weiterbildung
Sandra SCHAFFERT: Online-Prüfungen zur Zertifizierung informell erworbener beruflicher Kompetenzen
Thomas SCHEIB: Ganzheitliche Leistungsmessung durch erweiterte Verhaltensbeobachtung
Die Diversifikation von Wegen des beruflichen Kompetenzerwerbs in der Aus- und Weiterbildung macht es schwer, erworbene Kompetenzen so darzustellen, dass sie z. B. für Personaleinstellung und -entwicklung in Unternehmen transparent werden. Vor allem über Zertifikate soll diese Transparenz hergestellt werden. Welche Anforderungen an die Zertifizierung beruflicher Kompetenzen zu stellen sind, damit sie individuell und gesellschaftlich angemessene Allokationsentscheidungen ermöglichen, wird in den Beiträgen dieses Teils diskutiert.
Per VESPERMANN: Die Bedeutung zertifikatsgestützter Systematisierungsstrategien in der beruflichen Weiterbildung für die Kompetenzentwicklung
Ralf TENBERG / Britta HESS: Auseinandersetzung mit Kompetenzen in der Wirtschaft: Explorative Untersuchung über 'Kompetenzmanagement' an 14 deutschen Großbetrieben
Gabriele FIETZ / Christiane KOCH / Ursula KRINGS: Zertifikate als innovative Dienstleistung – wie kann die Bildungspraxis den betrieblichen Anforderungen gerecht werden?
Thomas HÄCKER: Portfolio als Instrument der Kompetenzdarstellung und reflexiven Lernprozesssteuerung.
Tade Tramm & Willi Brand