Was liegt näher, als für berufliche Abschlussprüfungen zu postulieren, dass sie von den Berufslernenden verlangen bzw. ihnen ermöglichen, ihre Handlungskompetenz zu zeigen, d.h. gestützt auf die eigene Sach-, Sozial- und Selbstkompetenz berufliche Situationen im Sinne des Problemlösens aktiv und reflektiv zu bewältigen. Nur so erlauben entsprechende Abschlusszeugnisse auch eine verlässliche Aussage über das von gelernten Einsteigern in ein Berufsfeld erforderliche Können. Da Berufsbildung jedoch - mindestens im schweizerischen Kontext - auch einen so genannt allgemein bildenden Auftrag hat, bezieht sich dieser Anspruch auch auf außerberufliche Lebenssituationen. Diese Forderung steht in Einklang mit dem aktuellen Stand der testtheoretischen Diskussion - so etwa unter dem Begriff „performance assessment“ - , nach welcher Prüfungen möglichst authentisch und handlungsorientiert und damit gültig gestaltet werden sollten (DARLING-HAMMOND, ANCESS, & FALK 1995).
Die folgende Analyse wird zeigen, dass Abschlussprüfungen der beruflichen Grundbildung der Schweiz im kaufmännischen Bereich insgesamt der hier skizzierten Anforderung gut entsprechen, allerdings aber auch einige Einschränkungen zu nennen sind, die Anlass zu Verbesserungen geben sollten.
Die Gestaltung von Prüfungen (s. Abb. 1) bedarf im Kern der Entscheidungen über die Inhalte (WAS prüfen) und Formen des Prüfens (WIE prüfen) sowie die Formen des Auswertens, besonders der Bewertung und Kommunikation. Diese Entscheidungen hängen maßgeblich von zwei übergeordneten Fragen ab: Erstens ist zu klären, wozu überhaupt geprüft werden soll, zweitens ist zu entscheiden, in welchem Maße den üblichen Anforderungen an eine Prüfung (besonders Gültigkeit und Zuverlässigkeit) im Sinne empirischer Sozialforschung entsprochen werden soll, d.h. wie gut geprüft werden soll. Schließlich sind Funktionen des Prüfens, Anforderungen an das Prüfen sowie der eigentliche Prüfungsprozess nicht als geschlossenes System zu betrachten, sondern eingebettet in den gesellschaftlich-curricularen Rahmen des fraglichen Bildungssystems, hier der beruflichen Grundbildung im Besondern, sowie in das wegleitende bzw. vorherrschende Lehr-Lernverständnis.
Charakteristisch für die berufliche Grundbildung der Schweiz ist seit vielen Jahren, dass sie dual angelegt ist, in eine kaufmännische und eine Vielzahl „industriell-gewerblicher“ Ausbildungen sowie nach Anforderungsniveaus differenziert ist, sowohl berufsorientierte als auch nicht-berufsorientierte, schwergewichtig handlungsorientierte Kompetenzen anstrebt und über eine Abschlussprüfung zum eidgenössischen Fähigkeitsausweis führt. Stellvertretend für aktuelle curriculare Tendenzen in den verschiedenen Ausbildungen stehen die Merkmale der Neuen Kaufmännischen Grundbildung (NKG) (BBT 2006a): Integrierte Förderung von Fach-, Methoden- und Sozialkompetenz, stärkere Verschränkung von betrieblicher und schulischer Ausbildung, prozessorientierteres Lehren und Lernen mittels Ausbildungs- und Prozesseinheiten, Betonung des fächerübergreifenden Lernens.
Die oben genannten Merkmale der Grundbildung lassen darauf schließen, dass ein kognitivistisch-konstruktivistisches Lehr-Lernverständnis postuliert wird, in welchem Lernen als aktives, situatives, reflektiertes, soziales Konstruieren in komplexeren Lehr-Lernarrangements (ACHTENHAGEN 1992) aufgefasst wird, die Rolle der Instruktion aber durchaus auch bedeutsam ist (REINMANN-ROTHMEIER & MANDL 1998). Diese Auffassung schlägt sich in den einschlägigen Lehrplänen nieder, mindestens soweit es sich um die generelleren Bildungs- und Lernziele handelt. Auf der konkretesten Lernzielebene, in der NKG „Leistungsziele“ genannt, wird allerdings auf ein teilweise sehr objektivistisches und behavioristisches Lehr-Lernverständnis (RESNICK & RESNICK 1992) zurückgegriffen, mit der Tendenz zur Atomisierung und Reduktion auf das objektiv Messbare.
Basierend auf einem kognitivistisch-konstruktivistischen Lehr-Lernverständnis sollen die beruflichen Abschlussprüfungen dem Nachweis relevanter berufs- und allgemeinbildender Kompetenzen dienen (METZGER 2000; METZGER, DÖRIG & WAIBEL 1998).
Wie Prüfungen generell haben auch berufliche Abschlussprüfungen den vier Anforderungen Gültigkeit, Chancengerechtigkeit, Ökonomie und Zuverlässigkeit in einem genügenden Maße zu entsprechen (AERA, APA & NCME 2002; BAKER, LINN & HERMAN 1996; METZGER, DÖRIG & WAIBEL 1998 , LIENERT 1989; LINN & GRONLUND 1995; MESSICK 1994). (1) Gültigkeit bedeutet, dass Berufsabschlussprüfungen inhaltlich sowie von ihrer Form und den Beurteilungsverfahren her wirklich das überprüfen, was die Prüflinge gemäß geforderter Kompetenzen können sollen. Das heißt besonders: Erstens müssen die Prüfungen angemessen über die curricular relevanten Themen und Fähigkeiten hinweg streuen, zweitens sollen die Aufgaben die für die Prüfung ausgewählten relevanten Themen und Fähigkeiten auch wirklich, d. h. in jener Komplexität erfassen, wie sie gemäß Curriculum und vorangegangenen Lehr-Lernprozessen angestrebt wurden. (2) Eng verknüpft mit der Gültigkeit ist die Anforderung der Chancengerechtigkeit . Danach sollen die besagten Prüfungen in Form und Inhalt den jeweiligen schulischen bzw. betrieblichen (z.B. Lehrkräfte, Anzahl Lektionen, Lehrmittel) und externen Lernbedingungen (z.B. Zugang zu Medien, sprachliches Umfeld) entsprechen. (3) Die genannten Prüfungen sollen das, was sie erfassen sollen, möglichst zuverlässig erfassen, d.h. es dürfen keine Messfehler auftreten, die das Prüfungsergebnis und letztlich dessen Bewertung und Interpretation wesentlich verfälschen. Dies ist mittels möglichst hoher Objektivität, d.h. für alle betroffenen Prüflinge gleichartiger und präziser Bedingungen in der Durchführung, Auswertung und Interpretation anzustreben. (4) Schließlich sollen Prüfungen ökonomisch sein. Sie sollen den Nutzen, den sie aufgrund ihrer Funktion zu erbringen haben, mit einem vertretbaren Aufwand erbringen, was die Konstruktion, Durchführung und Auswertung betrifft.
Während im behavioristisch orientierten Lehr-Lernverständnis besonderes Gewicht auf die Zuverlässigkeit gelegt wird, die Gültigkeit hingegen einige Einschränkungen erfährt, muss im kognitivistisch-konstruktivistischen Modell der Gültigkeit höchste Bedeutung zugemessen werden (GIPPS 1995; MOSS 1994). Ein differenzierter, aussagekräftiger Kompetenznachweis ist demnach nur möglich, wenn Prüfungen die geforderten Kompetenzen wirklich in der inhaltlich nötigen Breite und Tiefe verlangen und das relevante Können der Lernenden in jenen Kontexten überprüfen, in denen das Wissen und die Fähigkeiten eine Bedeutung und einen Anwendungsbezug haben (RESNICK & RESNICK 1992). In diesem Prüfungsverständnis werden einerseits die Lernprozesse stärker betont, anderseits wird das Wissen als weniger objektivierbar betrachtet. Der Prüfungsprozess wird sozusagen als weiterer Konstruktionsprozess aufgefasst. Überdies kommt der Chancengerechtigkeit von Prüfungen eine hohe Bedeutung zu ( BAKER, LINN & HERMAN 1996 ; DARLING-HAMMOND, ANCESS & FALK 1995). Einschränkungen werden im kognitivistisch-konstruktivistischen Modell bei der Zuverlässigkeit und Ökonomie in Kauf genommen. So wird akzeptiert, dass hochgültige Prüfungsaufgaben an Zuverlässigkeit einbüßen, weil sie oft umfangreicher, komplexer, kontextgebundener und individualisierter sind und deshalb schon in der Konstruktion und Durchführung, besonders aber in der Auswertung nicht denselben Objektivitätsansprüchen genügen können wie reproduktive Prüfungsaufgaben. Allerdings sind auch gemäß Exponenten dieser Richtung (so etwa HERMAN, ASCHBACHER & WINTERS 1992; LINN & GRONLUND 1995 ; MOSS 1994) Maßnahmen zu treffen, um eine zufrieden stellende Zuverlässigkeit zu erreichen, so z.B. Schulung und Einsatz mehrerer Korrektoren. Ausgehend von der Maxime hoher Gültigkeit folgt schließlich, dass die Ökonomie erst dann in Betracht zu ziehen ist, wenn zwei gleichermaßen gültig scheinende Prüfungsmethoden unterschiedlich aufwendig sind.
Der kognitivistisch-konstruktivistisch orientierten Optimierung der Prüfungsanforderungen folgend ergeben sich folgende prüfungspraktische Konsequenzen :
Die Abschlussprüfungen müssen inhaltlich repräsentativ sein, d.h. Kompetenzen in jener Breite und Tiefe sowie jenen Kontexten erfassen, wie sie in der betrieblichen und schulischen Ausbildung von den Lernenden zu erwerben waren. Dies erfordert den Einsatz produkt- und prozessorientierter Prüfungsmethoden . Als Durchführungsmodi sind schriftliche, mündliche und praktische Prüfungen, sinnvoll aufeinander abgestimmt, einzusetzen. Aufgaben zur freien ausführlichen Bearbeitung (z.B. Fallaufgaben, Berichte, Konstruktionen, Projekte, Präsentationen) sind gegenüber Kurzantwort- und Auswahlaufgaben weitestgehend vorzuziehen. Die Prüfungen sollen sich im Weiteren nicht allein auf das Ende der Ausbildung konzentrieren, sondern zeitraumbezogen einerseits Ergebnisse von Zwischenprüfungen oder -zeugnissen, anderseits auch begleitend zur Ausbildung verschiedene über eine längere Zeitspanne Leistungen einbeziehen. Überdies sollen neben individuell zu erbringenden Leistungen auch kooperative Formen des Prüfens eingesetzt werden. Praktisch heißt das, dass mehrere Lernende gemeinsam eine Leistung zu erbringen haben. Konsequenterweise sollte dabei das Gruppenergebnis beurteilt werden, womit zwangsläufig nicht nur die Qualität individueller Leistungen, sondern auch jene der Gruppenprozesse bedeutsam werden. Komplexere Durchführungsmodi, Bearbeitungsformen und Prüfungsinhalte machen es nötig, dass verschiedene, miteinander zusammenhängende Aspekte einer komplexeren Leistung analytisch anhand verschiedener, gewichteter Kriterien beurteilt werden. Solche Korrekturraster oder „Rubrics“ (z.B. HERMAN, ASCHBACHER & WINTERS 1992) basieren oft nicht auf eindeutigen Musterlösungen, sondern verlangen nach einer Einschätzung anhand formalerer Standards. Damit für die Prüflinge die Nähe zu den Lernbedingungen gewahrt bleibt, sollten Abschlussprüfungen möglichst dezentral, d.h. von den Lehrenden selbst konstruiert und durchgeführt werden. Für eine primär an der Gültigkeit orientierte Prüfung gilt schließlich, dass die Leistungen eines Individuums nicht im Vergleich zu den übrigen Mitgliedern derselben oder einer außenstehenden Gruppe bewertet werden, sondern dass aufgabenbezogen bewertet wird.
Für das Ergebnis der Abschlussprüfung der kaufmännischen Grundbildung zählen zu gleichen Teilen die betriebliche und schulische Seite. Im Folgenden seien die wesentlichen Merkmale dargestellt (BBT 2006a, BBT 2006b). Zum Abschlussergebnis des betrieblichen Teils tragen folgende Elemente bei, von denen besonders die ersten zwei Elemente neuartig sind: (1) Die periodisch zu beurteilenden Leistungen des Berufslernenden (Lehrling) am Arbeits- und Lernplatz, basierend auf Leistungszielen; (2) Durchschnittsnote aus drei zu leistenden Prozesseinheiten von je 5 bis 15 Stunden Arbeitsaufwand, unter Einschluss von Lernjournalen; (3) Bewältigung von berufspraktischen Situationen und Fällen in einer schriftlichen Prüfung am Ende der Lehre; (4) Bewältigung beruflicher Situationen, wie sie in Betrieben vorkommen und besonders auch gute Kommunikation (Beratung, Verkauf) verlangen, in einer branchenspezifischen mündlichen Prüfung von 30 Minuten am Ende der Lehre.
Der schulische Teil der Abschlussprüfung umfasst folgende Elemente: (1) In den drei Lernbereichen IKA (Information/Kommunikation/Administration), Mutter-/Fremdsprache sowie Wirtschaft und Gesellschaft zählen sowohl Erfahrungsnoten als auch die Schlussprüfungen. Teilweise werden die Aufgaben durch eine Prüfungskommission zentral erstellt, teilweise dezentral (d.h. regional oder schulspezifisch). Im Vergleich zu früheren Prüfungskonzepten wirklich neu ist, dass die Prüflinge erstens im 3. Lehrjahr individuell oder in Gruppen eine selbständige Arbeit in einem der drei Lernbereiche Wirtschaft/ Gesellschaft, IKA oder Muttersprache zu verfassen haben. Sie soll maximal ca. 40 Arbeitsstunden innerhalb einer zweimonatigen Bearbeitungsphase beanspruchen. Zusätzlich kann sie Gegenstand einer 10-minütigen mündlichen Prüfung sein, die gegebenenfalls 30 % der Gesamtnote ausmacht. Zweitens haben die Berufslernenden, verteilt über die drei Jahre, mindestens drei Ausbildungseinheiten von je 10 bis 20 Stunden Arbeitsbelastung zu bearbeiten und in einem Lernjournal zu reflektieren, mit der Möglichkeit einer mündlichen Prüfung. Die Gestaltung dieser Prüfungen liegt in der Hand der einzelnen Schulen bzw. Lehrpersonen.
Die Gestaltung der Abschlussprüfungen der neuen kaufmännischen Grundbildung kann gemessen an den ausgeführten Anforderungen und Rahmenbedingungen insgesamt positiv beurteilt werden.
Auf der operativen Ebene kommen verschiedene prüfungspraktische Vorgaben den entsprechenden Postulaten entgegen. Zum einen betonen Aspekte wie Gleichgewichtung des betrieblichen und schulischen Teils, Streuung über alle Lernbereiche, Variation in den Prüfungsmethoden und -zeitpunkten den Anspruch auf hohe Repräsentativität der Prüfung. Zum andern wird das Bestreben nach einer ausgewogenen Mischung produkt- und prozessorientierter Prüfungsmethoden deutlich. Mit den gewählten Durchführungsmodi wird genügend zwischen schriftlicher, mündlicher und praktischer Form variiert. Besonders hervorzuheben sind dabei schulseitig der Einbezug einer selbständigen Arbeit und die Bewertung von Ausbildungseinheiten, im betrieblichen Kontext die Beurteilung von Prozesseinheiten sowie periodische Leistungsbeurteilungen. Deutlicher als bisher werden komplexere, offenere Aufgabenstellungen betont . Zeitraumbezogene Beurteilungen kommen durch die Quartalsbeurteilungen und Prozesseinheiten betrieblicherseits, durch die Erfahrungsnoten, die Ausbildungseinheiten und die selbständige Arbeit schulseitig vermehrt zum Zuge. Kooperative Prüfungsformen werden dadurch etwas verstärkt, dass in der mündlichen berufspraktischen Prüfung sowie in der schulischen selbständigen Arbeit die Gruppenform explizit ermöglicht wird. Der Einsatz von Einschätzskalen wird verschiedentlich erwähnt, so bei der Beurteilung am Arbeitsplatz, der selbständigen Arbeit oder der schulischen Prüfung in IKA. Die Dezentralisierung der Prüfung wird verstärkt, betrieblich durch die periodischen Leistungsbeurteilungen und die Prozesseinheiten, schulisch durch die regionale Schlussprüfung im Lernbereich Wirtschaft/Gesellschaft, die Ausbildungseinheiten und die selbständige Arbeit.
Die Summe dieser Maßnahmen zeigt deutlich, dass auf der strategischen Ebene großer Wert darauf gelegt wird, dass die Prüflinge im Laufe der dreijährigen kaufmännischen Ausbildung nachweisen müssen, wie weit sie über die erforderlichen berufs- und nicht-berufsbezogenen, sog. allgemein bildenden Kompetenzen verfügen. Der Gültigkeit wird damit ein hoher Stellenwert eingeräumt. Anderseits zeigt sich, dass die Zuverlässigkeit nicht als primäres Kriterium für die Gestaltung der Prüfungen gilt. Sie wird zwar mittels einer starken Streuung und hohen Zahl von Prüfungen angestrebt, jedoch durch viele Abstriche an der Objektivität relativiert. Noch deutlicher in den Hintergrund tritt die rein ökonomische Aufwand/Nutzen-Überlegung.
Beobachtet man die Wirklichkeit der Abschlussprüfungen, so lassen sich sowohl auf der konzeptionellen wie auch konkreten Gestaltungsebene Elemente ausmachen, die den oben postulierten Anforderungen nicht entsprechen oder zuwiderlaufen.
Drei Kritikpunkte sind hier zu nennen. Indem die Leistungsbeurteilung über das zweite und dritte Lehrjahr verteilt wird, besteht erstens die Gefahr, dass wegen der Vielzahl von Prüfungen Lern- und Prüfungsprozess andauernd miteinander vermengt werden, mit andern Worten die Berufslernenden kaum mehr prüfungsfreie Zeiträume erleben, die einzig dem Lernen dienen. Zweitens muten die zentralen Vorgaben teilweise sehr technokratisch und formalistisch an, z.B. wenn für einen Lernbereich die minimale Zahl von Prüfungen innerhalb eines Jahres bestimmt, die genaue Zahl zu prüfender Leistungsziele in einem Lernbereich genannt oder ein bestimmtes Taxonomieniveau von Prüfungsaufgaben vorgeschrieben werden.
Obwohl die berufspraktische Seite stärker betont wird, wird drittens immer noch nicht gewagt, die praktische Prüfung wirklich an einem dem Prüfling vertrauten Arbeitsplatz durchzuführen.
Im Zusammenhang mit der konkreten Gestaltung der Abschlussprüfungen sind drei Probleme zu nennen.
Problem 1: Grenzen handlungsorientierter Aufgaben
Im Lernbereich Wirtschaft/Gesellschaft wird, was den zentral gestellten Prüfungsteil betrifft, mittels weniger, umfangreicher Fallaufgaben mit jeweils einer Vielzahl von Teilaufgaben versucht, handlungsorientiert zu prüfen, d.h. letztlich die Problemlösefähigkeit zu prüfen. Aus Gründen der Vertraulichkeit soll hier zwar kein konkretes Beispiel gezeigt werden. Sie kann aber trotzdem hypothetisch charakterisiert werden.
Die Prüfung von 180 Minuten Dauer besteht aus zwei Fallaufgaben. Beide werden durch eine konkrete Ausgangslage („Story“, Daten, Fakten, Materialien) eingeleitet. Es folgt jeweils eine Vielzahl von Teilaufgaben mit jeweils mehreren Unteraufgaben, die über mehrere Themengebiete hinweg streuen. Eine der Fallaufgaben spricht beispielsweise Wahl der Rechtsform, Finanzierung und Kapitalanlage, Handelsregister, Umwelt und Ziele der Unternehmung, Marketing-Mix, Preiskalkulation, Mietvertrag, Kaufvertrag, Versicherungen an. In einer ersten Teilaufgabe haben die Prüflinge zu begründen, warum eine bestimmte Rechtsform für ein zu gründendes Unternehmen nicht in Frage kommt. Für die Antwort ist ein Lösungsfeld für etwa zwei Zeilen Handschrift vorgegeben.
Positiv an einer solchen Prüfung ist zu werten, dass erstens eine breite Themenstreuung erzielt und zweitens in den meisten Teilaufgaben ein enger Bezug zur Ausgangslage sowie zusätzlichem Begleitmaterial (z.B. Zeitungstext) hergestellt wird, so dass die meisten Aufgaben eine diesbezügliche Anwendung verlangen. Bei der Durchsicht mehrerer Prüfungsserien ist allerdings unverkennbar, dass viele Aufgaben im Kern auch ohne Bezug zur Ausgangslage gestellt werden könnten und sie trotzdem dieselben Fähigkeiten prüfen würden. Dies rührt daher, dass die Ausgangslage wenig reichhaltig in Bezug auf darin verborgene Probleme ist. Zudem werden, wohl bedingt durch Zuverlässigkeits- und Ökonomieüberlegungen betreffend Auswertung der Lösungen, sehr enge Aufgabenstellungen gewählt, so dass die Prüflinge nur ganz kurze, meist stichwortartige Antworten bzw. Berechnungen liefern sowie in einigen Fällen auch nur Auswahlaufgaben, meist vom Typus Richtig/Falsch, lösen müssen. Damit werden komplexere Handlungen und dafür notwendige anspruchsvollere kognitive Prozesse, vor allem des Kreierens und Evaluierens nicht erfasst. Die gleiche Tendenz kann in den branchenspezifischen bzw. „branchenneutralen“ (s. etwa IGKG 2006b) schriftlichen Schlussprüfungen ausgemacht werden. Ein Fortschritt in Richtung stärkerer Handlungsorientierung könnte wohl dann erzielt werden, wenn in den schulischen Prüfungen mehr Prüfungszeit zur Verfügung gestellt würde und/oder auf Kosten der thematischen Breite mehr in die Tiefe gegangen sowie die Korrekturökonomie hintangestellt würde. Auf der betrieblichen Seite müssten, so sei als These gewagt, - in Anlehnung an die Prüfungspraxis in vielen gewerblich-industriellen Prüfungen - zeitlich wesentlich längere, inhaltlich authentische, möglichst am Arbeitsplatz stattfindende Prüfungen ins Auge gefasst werden.
Problem 2: Mündliche Prüfungen im Lernbereich Branche und Betrieb
Konzeptionell ist vorgesehen, dass die Prüflinge am Ende der Lehre in einer mündlichen Prüfung berufliche Situationen, wie sie in Betrieben vorkommen können und besonders auch gute Kommunikation (Beratung, Verkauf) verlangen, bewältigen. Dementsprechend stehen zwei Formen der mündlichen Prüfung im Vordergrund, das Fachgespräch und das Beratungs- bzw. Verkaufsgespräch (METZGER 2003; IGKG 2006c). Im Unterschied zur reinen Befragung oder Abfrage wird in einem Fachgespräch von den Kandidatinnen und Kandidaten verlangt, in einem fachlichen Dialog zu bestehen, indem sie Auskunft auf Fragen geben, Meinungen äußern, eine Position beziehen und verteidigen sowie auf Zwischenfragen wie auch gegenteilige Meinungen eingehen können. Dabei können die Komplexität der Inhalte und die kognitiven Prozesse wiederum variieren, tendenziell sollte es sich aber um eher anspruchsvolle Leistungen handeln. Im Unterschied zur Befragung übernehmen die Prüfenden die Rolle verschiedener denkbarer Partner, so etwa jene eines Mitarbeitenden am Arbeitsplatz, einer Fachexpertin oder der interessierten Lehrperson selbst. Im Vergleich zur bloßen Befragung wird hier neben der Fachkompetenz die sozial-kommunikative Kompetenz im Sinne des aktiven Mitwirkens in einem Dialog wesentlich stärker betont bzw. erst richtig verlangt. Fließend ist der Übergang zum Beratungs- oder Verkaufsgespräch . Wie es der Begriff bereits deutlich ausdrückt, hat der Prüfling hier seine Kompetenz zu zeigen, einem Ratsuchenden zu helfen bzw. ein Produkt oder eine Dienstleistung zu verkaufen (vgl. BREUER 2000). Der Prüfende übernimmt die Rolle des Ratsuchenden oder des potenziellen Käufers, der in der Regel weniger gut informiert ist als die Kandidatin/der Kandidat oder sich seiner Wünsche und Bedürfnisse, z.B. Kaufvorstellungen oder Versicherungsbedarf, noch nicht ganz klar bewusst ist bzw. diesbezüglich noch beeinflussbar ist. Verknüpft mit der Fachkompetenz werden wiederum sozial-kommunikative Kompetenzen verlangt, diesmal mit einem Schwergewicht auf durchaus auch kognitiv orientierten Prozessen, wie Ermitteln von Bedürfnissen, Aufzeigen von Alternativen, Entwickeln von Angeboten, Überzeugen sowie Bewegen zu einer Handlung.
Wenn in diesen Formen mündlicher Prüfung nun neben der Fachkompetenz die sozial-kommunikative Kompetenz besonders betont wird, so stellt sich umgehend die Frage, ob von den Prüflingen dies auch erwartet werden darf. Analog zu den Voraussetzungen, die bei schriftlichen Prüfungen erfüllt sein müssen, müssen auch hier Bedingungen zutreffen, damit von gültigen Prüfungen gesprochen werden kann. In erster Linie müssen die geforderten sozial-kommunikativen Kompetenzen in konkrete Lernziele gefasst werden. Dies ist in den Leistungszielen der betrieblichen wie auch schulischen Lehrpläne nur vage und ansatzweise der Fall (s. dazu auch ein Bewertungsbogen für Experten: IGKG 2006c). Da sozial-kommunikative Kompetenzen trotz Inhalts- und Situationsbezug durchaus auch einen übergreifenden Gehalt haben, spielen Elemente wie der sprachliche Ausdruck (fach- und adressatengerechte Sprache, Korrektheit, Differenziertheit und Stil), das Auftreten (Gestik, Mimik, Körperhaltung) und Aufmerksamkeit sowie Reaktionsvermögen im Gespräch (aktives Zuhören, Aufgreifen von Fragen, Nachfragen) eine wesentliche Rolle. Sie sind zielorientiert in Betrieb wie Schule zu fördern, nur unter dieser Bedingung dürfen sie auch in die Beurteilung einbezogen werden.
Problem 3: Beurteilungsraster
Wie gefordert, werden zur Beurteilung von Prozesseinheiten, Ausbildungseinheiten, Arbeits- und Lernsituationen sowie der selbständigen Vertiefungsarbeit - teilweise durch die zentrale Prüfungskommission vorgeschrieben - in der Regel Beurteilungsraster verwendet, die - analytisch aufgebaut - in eine Mehrzahl von themenübergreifenden, aber für den jeweiligen Aufgabentypus spezifizierten Kriterien unterscheiden. An zwei Beispielen sei dies ausschnittweise gezeigt. (1) Für die Beurteilung des Berufslernenden in betrieblichen Arbeits- und Lernsituationen besteht ein Katalog von „Bewertungskriterien zur Einschätzung des Verhaltens“ (IGKG 2006a). Zum Leistungsziel „Kundenbedürfnisse erfassen und weiterleiten“ beispielsweise werden die Teilkriterien „Erfasst Kundenkriterien stichwortartig / Sie sind vollständig erfasst und richtig geordnet / Kundenwünsche sind für andere nachvollziehbar“ unterschieden, wovon jedes mit 3, 2, 1 oder 0 Punkten bewertet werden kann. (2) Für die Beurteilung einer Prozesseinheit im 1. Lehrjahr werden die Bewertungskriterien Prozessdokumentation / Fachliche Richtigkeit des Kurzberichts / Anwendung der Fachsprache / Ziele und Prioritäten setzen und einhalten vorgegeben (IGKG 2006a). Für jedes dieser Kriterien werden mehrere Teilkriterien vorgegeben, für die Prozessdokumentation beispielsweise „fachlich korrekter Ablauf / Teilschritte korrekt bezeichnet / verlangte Anzahl Teilschritte“, für die Anwendung der Fachsprache „fachlicher Sprachschatz vorhanden / Verwendung Fachausdrücke korrekt / kann Fachausdrücke erklären“. Auch hier wird für jedes Teilkriterium eine standardisierte Ausprägungsskala mit den Bezeichnungen 3 = gut erfüllt, 2 = erfüllt, 1 = teilweise erfüllt, 0 = nicht erfüllt vorgegeben.
Diese Beispiele stehen für das positiv zu wertende Bemühen, die Bewertung gültiger wie auch zuverlässiger zu gestalten. Problematisch ist jedoch, dass die Ausprägungen für die einzelnen Kriterien nicht spezifisch genug über Indikatoren operationalisiert werden, sondern stillschweigend davon ausgegangen wird, dass die Experten ein gemeinsames Verständnis von verschiedenen Leistungsqualitäten in den einzelnen Kriterien haben, was die Zuverlässigkeit im Sinne der interindividuellen Vergleich der Leistungseinschätzungen verringern kann. Hier ist noch Entwicklungsarbeit erforderlich. Derselbe Mangel wurde auch bei der genannten Untersuchung von Abschlussprüfungen verschiedener weiterer Berufe festgestellt (AMOS, AMSLER, MARTIN & METZGER 2004)
Ein in sich stimmiges Konzept von kompetenzorientierten Berufsabschlussprüfungen in der beruflichen Grundbildung zu bestimmen und umzusetzen heißt, sich klar zu werden, welche Funktionen und Anforderungen solche Prüfungen, eingebettet in den gesellschaftlich-curricularen Rahmen und das aktuelle Lehr-Lernverständnis, in welchem Maße erfüllen können und sollen sowie welche Methoden und Inhalte des Prüfens darauf abgestimmt zu wählen sind. Kompromisse sind dabei, so zeigt das Beispiel der kaufmännischen Grundbildung der Schweiz, nicht zu vermeiden. Das Bemühen muss es aber sein, die Prüfungswirklichkeit den Ansprüchen kontinuierlich anzunähern.
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online seit: 24.2.2006