Befunde einer empirischen Untersuchung deuten darauf hin, dass die betriebliche Realität in ihren Gestaltungsformen von Lern- und Weiterbildungsprozessen den begrifflichen Präzisierungen, theoretischen, empirischen und konzeptionellen Entwürfen der Berufspädagogik voraus eilt. Darin besteht der Ausgangspunkt des Beitrags, der in Erweiterung einer Beschreibung betrieblicher Wirklichkeit(en) konzeptionelle Überlegungen anschließt. Der Hintergrund sind Erhebungen, bei denen Lernformen in der Weiterbildung gefunden wurden, die auf neue Lernorte in Betrieben verweisen. Die Lernformen werden arbeitsnah ein- und umgesetzt und sind wenig formalisiert. Die Orte, an denen diese Lernformen stattfinden, finden sich jenseits des eigenen Arbeitsplatzes in anderen Abteilungen und Bereichen im Betrieb. Diese anderen Betriebsteile, z.B. die Nachbarabteilung, werden damit zu Lernorten (Abschnitt 2).
Diese empirischen Beobachtungen aufgreifend, fragen wir danach, inwieweit der in der Berufspädagogik eingeführte Lernortbegriff und die damit verbundene Lernorttheorie Anschlussmöglichkeiten bieten, um die im Wandel befindlichen betrieblichen Lern- und Weiterbildungsformen theoretisch zu erfassen bzw. ob diese eine Erweiterung und Ausdifferenzierung erfahren könnten (Abschnitt 3).
Das Lernen in diesen Lernformen erfolgt nah am Arbeitsplatz, aber meistens nicht direkt in der routinemäßigen Arbeit. Als Lehrende sind oft keine hauptamtlichen Weiterbildner tätig, sondern vielfach Kollegen, Vorgesetzte oder betriebliche Experten, die ggf. von professionellen Weiterbildnern unterstützt werden. In der Empirie deutet sich damit ein auch in der Theorie diskutierter Aspekt an, nämlich dass pädagogisches Handeln nicht zwingend an pädagogische Professionalität gebunden ist (Abschnitt 4).
Die Berufs- und Betriebspädagogik ist gefordert, die neuen Lernorte zu erschließen und in Konzepte einzubinden. Es stellen sich Fragen im Bezug auf die Strukturierung solcher bisher wenig formalisierten und damit vielfach eher zufälligen Lernformen. Dabei deutet sich zudem eine erweiterte Aufgabe für Betriebspädagogen dergestalt an, dass diese hier als eine Art „LEHRprozessbegleiter“ agieren, um das wenig bewusste didaktische Handeln der betrieblichen Experten zu unterstützen (Abschnitt 5).
Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen sind Befunde im Rahmen von Untersuchungen in der betrieblichen Weiterbildung. Empirischer Hintergrund sind Erhebungen, bei denen – im Rahmen einer Evaluation einer betrieblichen „Qualifizierungsoffensive“ in der chemischen Industrie – neue Lernformen in der Weiterbildung sichtbar wurden (ELSHOLZ/ PROSS 2005). Zur näheren Beschreibung sollen nachfolgend zwei konkrete Beispiele vorgestellt werden. Initiiert und angeregt wurden die beschriebenen Formen des Lernens jeweils von den betrieblichen Weiterbildnern, die vornehmlich die Rahmenbedingungen (Zeiten, Inhalte, Lehrende) gestalten und vereinbaren, ohne notwendigerweise selbst daran teilzunehmen.
Beispiel A: Exkursion ins Klärwerk
Ein erstes Beispiel bezieht sich auf die Exkursion in ein Klärwerk in einem chemischen Unternehmen. Störfälle, aber auch kleinere Abweichungen im Produktionsbetrieb, können in der chemischen Industrie an anderer Stelle der Prozesskette schädliche Folgen haben, ohne dass dies den Bedienmannschaften unmittelbar bewusst wird. Ein solches Beispiel ist die Belastung von Abwasser mit Schadstoffen und die damit zusammenhängenden Probleme, die im Klärwerk des Unternehmens auftreten können. Eine Exkursion in das Klärwerk kann dazu beitragen, dass die Produktionsmitarbeiter ein größeres Verständnis für die Auswirkungen ihres Arbeitshandelns entwickeln. Der Fachexperte des Klärwerks erläutert ihnen dann, welche Verunreinigungen des Abwassers welche Folgen für eine Klärung besitzen und wann besondere Maßnahmen ergriffen werden müssen. Die Mitarbeiter erhalten so Hintergrundwissen darüber, welche Folgen ihr Arbeitshandeln haben kann. Die Exkursion, die aus einem betrieblichen Anlass (oder Problem) entstanden ist, bietet die Möglichkeit, konkrete Verabredungen für zukünftige problematische Situationen zu treffen. Im hier dargestellten Fall der Abwasserbelastung wurde beispielsweise eine zügige Information des Klärwerks vereinbart, sofern bestimmte Abwasserbelastungen zu befürchten sind.
Beispiel B: Tag des offenen Labors
Ein zweites Beispiel stammt ebenfalls aus einem Unternehmen der Chemieindustrie und ist die Folge aus Mitarbeitergesprächen zur Weiterbildung und Kompetenzentwicklung. Für die Beschäftigten besteht die Möglichkeit in einem vereinbarten Zeitraum – z.B. an einem Nachmittag –, sich in einem Labor über die Aufgaben und Arbeitsweisen der Kollegen zu informieren, mit denen sie normalerweise wenig direkten Kontakt haben, deren Arbeit sich aber auch auf ihre Tätigkeiten auswirkt. Die dort Beschäftigten gehen weiter ihrer Arbeit nach, nehmen sich aber die Zeit, die eigenen Tätigkeiten und typische Probleme zu erläutern. Die beteiligten Mitarbeiter erarbeiten sich geeignete Präsentationsmöglichkeiten und reflektieren in der Vorbereitung auf den Tag des offenen Labors auch ihre eigene Tätigkeit. Durch Gespräche, die ggf. durch Präsentationen oder Demonstrationen ergänzt werden, werden gleichermaßen fachliche Aspekte der Tätigkeiten als auch Kooperationsnotwendigkeiten über Abteilungsgrenzen hinweg besprochen. Dadurch wird innerbetrieblich Transparenz geschaffen und das Verständnis für die Arbeitsabläufe des anderen gestärkt.
Solche und ähnliche Lernformen an neuen Lernorten sind – darauf deuten Gespräche mit Personalverantwortlichen und Betriebsräten anderer Unternehmen hin – in vielen Betrieben verbreitet; allerdings erfolgen sie in der Regel unsystematisch und zufällig. In einer ersten Annäherung lassen sich diese Formen des Lernens durch folgende Merkmale beschreiben:
Das Lernen bezieht sich auf die Arbeit und Arbeitsprozesse. Lernort und realer Arbeitsplatz sind in der Regel nicht identisch. Der Lernort, also z.B. das Klärwerk oder das Labor, befindet sich aber im Betrieb. Ein Arbeitsort wird dabei temporär zum Lernort.
Im Unterschied zu informellem Lernen, bei dem die Handlungsintention auf das Arbeiten gerichtet ist und nicht gezielt gelernt wird, steht ausdrücklich Lernzeit zur Verfügung. Die Lernformen benötigen im Gegensatz zu Arbeitsformen einen gewissen Grad der Strukturierung, der aber keinesfalls soweit geht, dass eine strukturierte Lernumgebung kontinuierlich und dauerhaft zur Verfügung steht.
Die Lerninhalte entstehen aus den Anforderungen, die an die Beschäftigten gestellt werden und den Lernbedürfnissen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die Lerninhalte ergeben sich aus den Prozessen und Arbeitsabläufen und erweitern die Perspektive der Mitarbeiter auf die Zusammenhänge, in die ihre Tätigkeit eingebunden ist. Kenntnisse über vor- und nachgelagerte Arbeitsschritte, der Blick über Schnittstellen hinweg, interne und externe Kundenanforderungen ordnen die eigenen Aufgaben in größere Abläufe entlang der Prozesskette ein.
Als „Lehrende“ fungieren nicht in erster Linie professionelle Pädagogen, sondern betriebliche Kolleginnen und Kollegen oder Vorgesetzte – und zwar abhängig davon, wer jeweils Experte für ein bestimmtes Thema oder den spezifischen Arbeitsablauf ist. Es wird ein angemessener Ausschnitt aus den komplexen betrieblichen Abläufen abgebildet.
Die berufliche Praxis der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird mit Hintergrundwissen verbunden. Damit wird ihre berufliche Handlungskompetenz dergestalt erweitert, als dass sie – wie in den beschriebenen Fällen – ihre Arbeitstätigkeit in der Gesamtunternehmung besser einzuschätzen lernen.
Mit dieser Beschreibung lassen sich die in Rede stehenden Lernformen abgrenzen gegenüber Arbeitsformen sowie gegenüber betriebspädagogischen Lernorganisationsformen wie etwa Lerninseln oder Qualitätszirkeln. Sie sind nichts prinzipiell Neues; es hat sie in ähnlicher Weise schon immer gegeben, doch bleiben sie im betrieblichen Alltag meist situativ und zufällig. Um sie jedoch gezielt, verlässlich und nachhaltig umzusetzen und damit das Kompetenz- bzw. Qualifikationsniveau einer langfristigen Belegschaft zu erhöhen, scheint eine Analyse und Systematisierung dieser Lernformen notwendig.
Zwei Aspekte erscheinen unter berufspädagogischen Gesichtspunkten von besonderer Relevanz und werden nachfolgend weiter in den Blick genommen. Zum einen findet das Lernen an neuen Lernorten innerhalb des Betriebs statt; und zwar an solchen Orten, die bisher nicht für das Lernen vorgesehen und damit nicht im Fokus berufspädagogischer Betrachtung sind. Zum anderen treten „neue“ Lehrende auf den Plan, indem nicht professionelle Pädagogen, sondern Kollegen und betriebliche Fachexperten ihr Wissen gezielt weitergeben. Damit stellen sich Fragen nach einer Erweiterung oder Spezifizierung pädagogischen und didaktischen Handelns.
Historisch haben sich in der beruflichen Bildung lernorttheoretisch die komplementären Lernorte „Betrieb“ und „Schule“ des dualen Systems der Erstausbildung herausgebildet und in ihren Erscheinungsformen differenziert und pluralisiert. Die Lernorttheorie nimmt die lokale organisatorische Rahmung von Lernprozessen zum Ausgangspunkt berufspädagogischer Theoriebildung und Praxisentwicklung (DEHNBOSTEL 1996; EULER 1998; HEIDACK 1987; MÜNCH/ KATH 1973).
Der ‚Lernort' als Begriff und berufspädagogisches Konzept, welches Lernen nicht nur zeitlich, sondern auch lokal gliedert, wurde durch den Deutschen Bildungsrat als „eine im Rahmen des öffentlichen Bildungswesens anerkannte Einrichtung, die Lernangebote organisiert“ eingeführt (DEUTSCHER BILDUNGSRAT 1974, 69). Als in ihrer pädagogischen Funktion unterscheidbare Orte wurden die vier Lernorte Schule, Betrieb, Lehrwerkstatt und Studio gefasst. Im Anschluss an diese Bestimmung wurde in verschiedenen Arbeiten der Arbeitsplatz als Lernort unter pädagogischen Merkmalen und didaktischen Funktionen weiter systematisiert (DEHNBOSTEL 1996).
Ausgangspunkt der Grundsatzkritik an der Lernorttheorie, die von Anfang an in fundamentaler Weise geäußert wurde, bildet die Adäquatheit der Raummetapher (BECK 1984). Demnach sind Lernort und Lernbedingungen auseinander zu halten. Der Lernortbegriff sei für die berufspädagogische Theoriebildung untauglich, weil der einzige Ort, an den Lernen gebunden ist, der menschliche Körper sei (BECK 1984, 257).
Die ‚klassische' Lernorttheorie mag einerseits mit guten Gründen kritisiert worden sein, weil mit ihr „Kriterien und Analysen zur Qualität, Lernergiebigkeit und Güte von Lernorten zu wenig entwickelt und fundiert wurden“ (DEHNBOSTEL 2002, 361); andererseits bietet eine weiter entwickelte Theorie betrieblichen Lernens unter lernorttheoretischer Perspektive Anknüpfungspunkte, den veränderten Produktions- und Arbeitsbedingungen Rechnung zu tragen und neue betriebliche Lernorte konzeptionell zu erschließen.
Anfang der 1990er Jahre wurden mit dem Konzept des dezentralen Lernens neue Formen arbeitsplatzbezogenen Lernens sowie integrative Verbindungen von Lernen und Arbeiten im Rahmen beruflicher Erstausbildung entwickelt (DEHNBOSTEL 1996). ARNOLD/ MÜNCH weisen denn auch darauf hin, „dass der Betrieb als Lernortträger sehr viele unterschiedliche Lernorte umfassen kann, von denen lediglich einer der Arbeitsplatz ist“ (ARNOLD/ MÜNCH 1996, 45). Bei der systematischen Unterscheidung zwischen arbeitsgebundenem, arbeitsverbundenem und arbeitsorientiertem Lernen werden entsprechende Lernorte ausgewiesen (DEHNBOSTEL 2001, 55ff.). Differenzierungskriterium ist dabei das Verhältnis der organisatorischen Einheiten (Lernort – Arbeitsort) und die entsprechende Zuordnung informellen oder formellen Lernens (DEHNBOSTEL/ PÄTZOLD 2004, 28).
Unter Hinzunahme weiterer Kriterien lassen sich Lernorte nicht nur für die Ausbildung, sondern auch im Feld der Weiterbildung beschreiben und systematisieren. Die räumlich-organisatorische Rahmung ist dabei ein Kriterium zur Beschreibung der spezifischen pädagogischen Prozesse. Dies mag mit der folgenden Definition betriebspädagogischer Lernformen deutlich werden:
Betriebspädagogische Lernformen sind demnach „organisatorisch eigenständige zu Lernzwecken initiierte und mit einer ausgewiesenen pädagogischen Lehr-Lernintention geschaffene Lernkontexte, in denen anhand von möglichst realen Arbeitsaufgaben unter didaktisch-methodisch geplanten Strukturen“ und unter Beachtung pädagogischer Grundprinzipien reflektiert gelernt werden kann (KOHL/ MOLZBERGER 2005, 359). Einschlägige Beispiele für arbeitsbezogene Lernformen sind Lerninseln, Lernstatt oder Qualitätszirkel. Die betrieblichen Lernorganisationsformen sind darauf gerichtet, Freiräume für und Orientierungen auf Lernen und Kompetenzentwicklung herzustellen. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie informelle Lernprozesse, die in unterschiedlichsten Arbeitsorganisationsformen stattfinden, mit formellen Lernanteilen anreichern. Dafür spricht die explizite Lehr-Lernintention, ein methodisches Vorgehen und eine pädagogische Professionalität, die wiederum eine pädagogische Orientierung am berufspädagogischen Leitziel der Kompetenzentwicklung impliziert. Die Lernintentionen müssen allerdings bewusst gemacht oder vereinbart werden. In institutionalisierten und formalisierten pädagogischen Kontexten werden sie zumeist stillschweigend vorausgesetzt oder zu Beginn von Veranstaltungen durch entsprechende Methoden sichtbar gemacht.
In Abgrenzung zu den in der Regel dauerhaft „eingerichteten“ betrieblichen Lernorganisationsformen, die durch die genannten Merkmale gekennzeichnet sind, verweisen die von uns in Abschnitt 2 beschriebenen Lernformen darauf, dass es innerhalb des Lernortträgers Betrieb auch temporäre Lernorte gibt. Die dargestellten Lernformen „Tag der offenen Tür“ und „Exkursion“ lassen sich einerseits kennzeichnen durch eine objektiv-räumliche Struktur und andererseits durch eine Lehr-Lernintention. D.h. der reale Ort – hier die Kläranlage – wird von den Beteiligten durch die bewusste Lehr- und Lernintention als Lernort konstituiert. Aber eben nur temporär. Die Zuschreibung als Lernort erfolgt nicht allein aufgrund materialisiert-räumlicher Aspekte, sondern aufgrund eines ‚Raumes', den Individuen in Interaktion und Kommunikation für sich gemeinsam erschaffen. In der pädagogischen Theoriebildung findet man dies auch bezeichnet als „Erfahrungsraum“. Diesen beschreibt WITTWER als die Möglichkeit, in sozialen Situationen innerhalb und außerhalb des Betriebs informell zu lernen. Erfahrungsräume sind demnach „strukturell-organisatorisch und didaktisch-methodisch so angelegt […], dass dort neues Wissen sowie neue Fertigkeiten und Fähigkeiten in fachlicher und sozialer Hinsicht erworben werden können (WITTWER 2003, 34).
Die Lernorttheorie verweist darauf, dass Lernen auch durch seine räumliche Verfasstheit bestimmt wird. Die fokussierten neuen Lernorte im Betrieb werden temporär zu Lernorten. Ein Raum bzw. Ort – der üblicherweise Arbeitsort ist – wird durch die Vereinbarung von Lernenden und Lehrenden zu einem Lernort.
Ein wesentlicher Aspekt der neuen Lernformen – der auch aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive anschlussfähig erscheint und Konsequenzen für die Berufs- und Betriebspädagogik nach sich zieht – ist der Befund, dass in diesen neuen temporären Lernformen vielfach keine professionellen Pädagogen als Lehrende agieren. Es gibt zwar – im angesprochenen Klärwerk – eine eindeutig zugeschriebene Rolle eines Lehrenden; doch dieser Lehrende ist kein Betriebspädagoge, sondern der Mitarbeiter des Klärwerks als ein betrieblicher Experte für den in Rede stehenden Lerngegenstand. Ähnlich gestaltet sich dieses beim „Tag des offenen Labors“, bei dem ein Laborbeschäftigter als Experte für seinen eigenen Arbeitsprozess und damit als „Lehrender“ auftritt.
Findet hier also entgrenzte pädagogische Vermittlungsarbeit ohne professionell pädagogische Begleitung statt? Oder handelt es sich um einfache Wissens- und Informationsweitergabe im Rahmen alltäglicher Arbeitskommunikation? Nach KADE/ SEITTER lässt sich pädagogische Vermittlungsarbeit von einfacher Wissensvermittlung dadurch unterscheiden, dass „man sich auf der Seite der Wissensvermittlung für die Aneignung interessiert, diese in jene reflektiert ist“ (2003, 609). Die pädagogische Kommunikation vollzieht sich demnach als eine Folgehandlung aus pädagogischer Absicht, Vermittlung, Aneignung und Überprüfung von Wissen. Insofern handelt es sich bei den beschriebenen Lernformen tatsächlich um – wenn auch „unprofessionelle“ – pädagogische Vermittlungsarbeit.
Um die spezifischen Kommunikations- und Interaktionsweisen zu untersuchen, in denen aneignungsbezogene Kommunikationsarbeit von betrieblichen Akteuren geleistet wird, sind die beschriebenen Lernformen weiter zu untersuchen. Darüber hinaus ist unseres Erachtens die Beschreibung solcher Handlungsformen im Rahmen des jeweiligen betrieblich-organisationalen Gefüges erforderlich. Denn zweifelsohne ist der Betrieb keine Bildungsinstitution und der Umgang mit Wissen von mikropolitischen Aspekten seitens aller beteiligten Akteure beeinflusst. In der Gestaltung betrieblicher Lernformen konkretisieren sich die Normen, Werte, Potenziale und Motivationen der betrieblichen Akteure sowie das strukturelle Machtgefüge innerhalb des Betriebs.
Weitergehend stellt sich die Frage, ob die Berufs- und Betriebspädagogen überflüssig sind, wenn die Beschäftigten als Experten für die Arbeitsprozesse voneinander lernen. In den beschriebenen Beispielen zeigt sich, dass sie in der konkreten Durchführung zwar ohne Betriebspädagogen stattfinden, aber andererseits die betrieblichen Weiterbildner vornehmlich den Rahmen (Zeiten, Inhalte, Lehrende) der Lernarrangements festlegen. Denn ohne eine solche Strukturierung würden diese Formen des Lehrens in der Regel gar nicht stattfinden.
Hier deuten sich veränderte Aufgaben für die Betriebspädagogik an, die im nächsten Abschnitt weiter fokussiert werden.
Aus den Beschreibungen im Zusammenhang mit neuen Lernorten im Betrieb (die als solche bisher keine Lernorte waren) und mit den neuen „Lehrenden“ im Betrieb ergeben sich theoretische und praktische Aufgaben und Herausforderungen.
Für die Berufs- und Betriebspädagogik stellt sich eine Vielzahl von Fragen:
Welche Lerninhalte und welches Hintergrundwissen werden über diese Lernformen erschlossen und abgebildet?
Inwiefern bestimmt der Ort, d.h. die lokale organisatorische Rahmung durch den Betrieb, den Lerninhalt mit?
Neben diesen stärker wissenschaftlich akzentuierten Fragestellungen stellen sich auch für die Weiterbildner und Betriebspädagogen in den Unternehmen konkrete Herausforderungen, die ihr Tätigkeitsfeld und Professionsverständnis beeinflussen. Dabei deutet sich eine veränderte Rolle dergestalt an, dass Betriebspädagogen hier als „LEHRprozessbegleiter“ fungieren, um das wenig bewusste didaktische Handeln der betrieblichen Akteure zu unterstützen:
Wie können geeignete Lernorte im Betrieb identifiziert werden?
Wie können die neuen Lehrenden – als die betrieblichen Experten, Vorgesetzten und Kollegen – angemessen unterstützt werden?
Wie kann eine systematische Einbindung dieser Lernformen in die betriebliche Bildungsarbeit erfolgen, hinsichtlich der Lernzeiten und hinsichtlich der Verbindung „informellen“ und „formellen“ Lernens?
Ein Ansatz, der ähnlichen Fragestellungen nachgeht, wird neuerdings im Rahmen des Programmbereichs „Lernen im Prozess der Arbeit“ der Arbeitsgemeinschaft Betriebliche Weiterbildungsforschung e.V. verfolgt. Dazu werden Ergebnisse wissenschaftlicher Projektbegleitungen aus den vergangenen Jahren zusammengetragen und die in den Praxisprojekten entwickelten Formen betrieblichen Lernens systematisiert. Diese vorwiegend in kleinen und mittleren Unternehmen gefundenen Lernformen werden mittels einer Matrix abgebildet. Als die beiden Dimensionen aus denen sich eine Neun-Felder Tafel ergibt, wurden der ‚Arbeitsbezug des Lernens' und die ‚Gestaltung des Lernens' gewählt ( Pfeiffer et al. 2005 ). In der Dimension ‚Arbeitsbezug des Lernens' wird Lernen in seinem inhaltlichen Bezug zum Arbeitsprozess als arbeitsimmanent, arbeitsgebunden und arbeitsbezogen unterschieden. In der Dimension ‚Gestaltung des Lernens' wird Lernen über die maßgebliche Verantwortlichkeit für die Gestaltung des Lernprozesses als individuelles, angeleitetes oder kooperatives Lernen unterschieden. Die von Pfeiffer et al. (2005) gewählten Dimensionen erscheinen allerdings noch nicht ausreichend systematisch theoretisch begründet und hergeleitet. Ihre Dimensionierung in arbeitsimmanentes, -gebundenes und -bezogenes Lernen tritt neben die bereits vor Jahren entwickelte Systematisierung in arbeitsgebundenes, arbeitsverbundenes und arbeitsorientiertes Lernen (DEHNBOSTEL 2001).
Ebenso wichtig wie eine begriffliche Schärfung der theoretischen Konzepte erscheint die These, dass gerade eine bestimmte Kombination von Lernorganisationsformen in einem Unternehmen zu einer spezifischen Wirkung führt. Auf der Grundlage von typischen Kombinationsmustern von betrieblichen Lernorganisationsformen ließen sich möglicherweise Aussagen über erfolgreiche oder weniger erfolgreiche Lern- und Bildungsprozesse in Unternehmen treffen.
Übergreifend stellt sich dabei die analytische Frage, wie stark informelles Lernen organisiert und strukturiert werden sollte (BAUER ET AL. 2004). Es stellt sich die Herausforderung, einerseits den „informellen“ Charakter der Lernformen zu wahren, ihre Erschließung und Durchführung aber andererseits systematisch und mit einer sichergestellten Qualität zu verfolgen.
Hier ist die Berufs- und Betriebspädagogik gefordert, Ansätze und Konzepte zur Erschließung und Gestaltung des Lernens in der Arbeit weiter zu entwickeln und damit die Weiterbildner im Betrieb zu unterstützen. Eine solche Begleitfunktion der betrieblichen Experten scheint zur Qualitätssicherung unabdingbar (JOHNSON/ LEACH 2001). Zwar gibt es einige Diskussionen über einen Rollenwechsel etwa des Ausbildungspersonals zum Lernprozessbegleiter (FLÜGGE/ VORMROCK 2004) sowie zur Rolle eines Lernberaters (WENZIG 2004), doch die hier angedeutete veränderte Aufgabe der Betriebspädagogen als „LEHRprozessbegleiter“ ist bisher nicht beschrieben und sollte weiter fokussiert werden.
Beruflich-betriebliche Weiterbildungsforschung ist aufgefordert, die aufgezeigten innovativen Entwicklungen und neuen Lernformen zu analysieren und konzeptionell umzusetzen. Lernorttheoretische Überlegungen können zum Ausgangspunkt genommen werden, um das innovative Feld betrieblicher Weiterbildung zu erschließen. Der Betrieb rückt als Institution mit differenzierten Lernorten und Lernkontexten in den Fokus.
Ob dabei das Lernortkonzept theoretisch tragfähig ist, wird die weitere Theoriebildung zeigen müssen. Betrachtet man das gesamte Bildungssystem unter lokalen Gesichtpunkten, verwischt die Lernortmetapher begriffsstrategisch die Differenz von Kern- und Randbereichen des Lernens (SEITTER 2001). Jedoch ist sie derzeit in der Betriebspädagogik aufgrund ihres Praxisfeldes zwischen Bildungs- und Wirtschaftssystem ein relativ gut ausgearbeiteter Ausgangspunkt um die Veränderungen, die sich in den Unternehmen im Umgang mit Lern- und Weiterbildungsformen abzeichnen, pädagogisch beschreibbar und konzeptionell erschließbar zu machen.
Die empirischen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen zum Betrieb als differenziertem Metalernort führen sowohl praktisch als auch theoretisch zum Theorem der Entgrenzung bzw. Universalisierung des Pädagogischen. Durch die Entwicklung von Konzepten zur Erschließung neuer Lernorte in Betrieben, die von Prozessorientierung und offenen Entwicklungsverläufen geprägt sind, reagiert die Betriebspädagogik auf die Differenzierung und befördert die Entgrenzung des Pädagogischen in ihrem Praxisfeld mit. Allerdings sehen wir nur eine „begrenzte Entgrenzung“, d.h. es gibt zwar eine Entgrenzung des Pädagogischen, aber eben keine Beliebigkeit und vollkommene Universalisierung. Die Disziplin sehen wir gefordert, ihren Fokus zu erweitern und zugleich weiter zu spezifizieren.
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