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 bwp@ Ausgabe Nr. 9 | Dezember 2005
Betrieb als Lernort

Die Entdeckung der Praxis


 

 

 

1. Einleitung

„Karriere mit Lehre“ – das ist ein Slogan, der unter anderem vom österreichischen Ministerium für Wirtschaft und Arbeit verwendet wird. „Die Lehre“, das heißt in einem dualen Ausbildungssystem einen von ca. 270 industriell-, gewerblich- und dienstleistungsorientierten Berufen zu erlernen (siehe http://www.lehrling.at ). Die Lehrzeit beträgt zwischen zwei und vier Jahren. Üblicherweise beginnt die Ausbildung nach Abschluss der neun Pflichtschuljahre mit ca. 15 Jahren. Innerhalb der Lehrzeit besteht ein gesetzlich geregeltes Lehrverhältnis zwischen einem ausbildenden Betrieb und dem Lehrling. Es gilt Berufsschulpflicht, entweder ca. 2 Tage pro Woche oder in Form von lehrgangsmäßigen Blockveranstaltungen. Die Berufsschule umfasst neben fachspezifischen auch allgemein bildende Fächer.

Nun stellt sich die Frage, wie ein solches duales System beurteilt und gestaltet werden soll? Wozu diese Zweiteilung in betriebliches und schulisches Lernen? Und, inwiefern soll und kann dem Ruf nach praxisrelevanter Ausbildung auch außerhalb der Lehre gefolgt werden? Wer fordert überhaupt diese Praxisrelavanz ein? Die Praxis oder die Theorie?

Im Folgenden soll das Konzept der Dualen Ausbildung nicht aus inhaltlich-didaktischer Sicht, sondern fokussiert auf die Verknüpfung zweier verschiedener Welten, der der schulischen Bildung und der der praktischen, betrieblichen Bildung, betrachtet werden. Zentral sind zwei Gedanken: erstens, wie mit Dualismen umgegangen werden kann, und zweitens, welche Funktion duale Elemente für einander entwickeln können. Reißerische Statements sind von so einem Text nicht zu erwarten, vielmehr können bestimmte Motive der Abgrenzung zu einem Bild zusammengefügt werden, um neue Perspektiven gewinnen zu können.

1.1 Methode

Ein Dualismus wie der des Dualen Ausbildungssystems lädt zum Partei ergreifen ein. Besonders wenn es sich um einen Dualismus handelt, der im politischen Gestaltungsfeld angesiedelt ist. Für eine sozialwissenschaftliche Untersuchung ist es fruchtbar, sich dieser dualen Sichtweise zu entledigen, und vielmehr die Grenzziehung, den Dualismus selbst zum Untersuchungsobjekt zu machen. Im systemischen Denken wäre dies die Beobachtung 2. Ordnung, allerdings gibt es auch in anderen Zweigen der Philosophie unterschiedlichste Zugänge, um Dualismen fruchtbar zu machen, statt sie als Gegenpole gegeneinander auszuspielen. Bei Emanuel Levinas (1995) wird das Andere zum einzigen Bezugspunkt, Poststrukturalisten finden im re-entry einer Unterscheidung ein scheinbar paradoxes Phänomen. Vorerst kann festgehalten werden, dass die Trennungen, wie beispielsweise Theorie - Praxis oder Individuum - Kollektiv als konstruierte, und somit letztendlich sprachliche Trennungen anzusehen sind. Sprachlich deshalb, weil die Unterscheidung nur durch ihre Benennung besteht und nicht in der Sache an sich angelegt ist. Dass Unterscheidungen denknotwendig, also für die Aufrechterhaltung des eigenen Systems notwendig sind, soll hier nicht näher diskutiert werden.

Eine offensichtliche aber folgenreiche Eigenschaft getrennten Denkens ist, dass immer nur eine Seite der Unterscheidung „gesehen“ werden kann. Selbst das Wissen um den dualistischen Charakter ermöglicht einem reflektierten Betrachter nicht, beide Seiten gleichzeitig zu sehen, er kann die Perspektiven wechseln, aber nie beides sehen.

Dieses bildliche Beispiel führt eine Eigenschaft von Dualismen vor Augen. Ohne die Trennung ist nichts zu erkennen, mit der Trennung sieht man immer eine Seite, und nur eine Seite klar – entweder eine Frau mit Hut, oder das Profil einer älteren Frau mit Kopftuch. Wenn nun im Folgenden über Schule und Betrieb geschrieben wird, dann kann das auch immer nur hintereinander, analog, erfolgen. Das Abgetrennte muss zwar mitgedacht, kann aber nur in Form von Verweisen auf das andere angezeigt werden. Dieser Verweis auf das Andere kann, je nach Denkschule, auch als Verweis auf das Ganze oder gar auf das Totale verstanden werden. Systemisch könnte dieser Verweis auf Kontingenz, also auf alle anderen, momentan nicht gewählten Möglichkeiten gelesen werden. Diese Denkmodelle für den Verweis aus dem Getrennten heraus behandeln, je nach Schule, die Sinnfrage, die Frage der Veränderung oder die Frage nach dem richtigen Leben. Der ausgeschlossene Teil einer dualen Unterscheidung bzw. der Verweis auf diese Unterscheidung hat, wie ich in den vorhergehenden Zeilen andeuten wollte, in der Philosophie und somit auch in der Erkenntnistheorie eine wichtige Rolle.

Somit soll das Thema Duale Ausbildung an Hand seiner internen Dualismen und der Bezüge auf das jeweils Ausgeschlossene hin untersucht werden.

2.  Duale Ausbildung als Heterotopie

Michel Foucault bietet mit seinen „anderen Räumen“ eine Denklandschaft, die das Verhältnis von Unterscheidung und Getrenntem, zwischen Welt und Gegenwelt räumlich formuliert. Als Beispiele für Heterotopien zählt Foucault in „Andere Räume“ unter anderem Gefängnisse, Psychiatrische Krankenhäuser (beides Abweichungsheterotopien), Wehrpflicht, Internate, Hochzeitsreise (alle drei sind Krisenheterotopien) auf. Der jesuitische Sonnenstaat als Kompensationsheterotopie und Hollywood Filme als Illusionsheterotopie. Kurz, und das sollen diese Beispiele zeigen, Foucault s Zugang ermöglicht die Betrachtung von Grenzziehungen (gesund/krank, gut/böse, richtig/falsch) an Hand jener Räume, auf die sich die Grenzziehungen beziehen, indem diese die Grenzziehungen verkehren und verschieben. Um über die Grenze psychischer Gesund- oder Krankheit sprechen zu können widmet sich Foucault den Krankenanstalten, Asylen und Heimen, in denen Abweichung und deren Kompensation verwaltet werden.

2.1  Foucaults Heterotopie

Im Folgenden sollen die Grundsätze von Heterotopien Foucault s (1999) folgend kurz aufgezeichnet werden:

•  Jede Kultur hat Heterotopien entwickelt – diese sind allerdings unterschiedlich ausgeformt.

•  Die Funktion von Heterotopien kann sich mit der Zeit ändern und bei Vielseitigkeit einer Gesellschaft somit auch verschiedene Funktionen haben.

•  Eine Heterotopie legt an einem Ort mehrere, scheinbar unvereinbare Orte zusammen.

•  Heterotopien sind häufig an Zeitabschnitte von Menschen gekoppelt.

•  Heterotopien haben Öffnungs- und Schließmechanismen. Der Zu- und Abgang ist nicht ohne weiteres möglich.

•  Die Funktion einer Heterotopie liegt zwischen den Polen Illusions- und Kompensationsheterotopie.

2.2  Schule und Betrieb als Heterotopien

Nach dem bisher Geschriebenen wird klar, dass auch Schulen und Betriebe im Kontext der Dualen Ausbildung als Heterotopien gesehen werden können. Beide sind an Zeitabschnitte gekoppelt, besitzen Öffnungs- und Schließmechanismen und verbinden aus Sicht der Realwelt Unvereinbares (z. B. allgemeine Schulpflicht).

Schule im berufsbildenden Kontext kann folglich auch als Gegenraum zum Arbeitsplatz gesehen werden – und umgekehrt.

Welcher Raum als Welt und welcher als Gegenwelt angesehen wird, ist eine Frage der Perspektive. Spätestens seit dem Deutschen Idealismus, der unser Bildungssystem immer noch prägt, gibt es im gesellschaftlich wichtigen Bereich der formalen Bildung eine Vorrangstellung der geistigen, theoretischen Bildung gegenüber der körperlich-praktischen. Somit sei für unser Ausbildungssystem das betriebliche Lernen die Heterotopie, das schulische die Normalwelt.

Wie wird die Arbeitswelt als Heterotopie zur Schule gesehen? Was sagt uns betriebliches Lernen und der immer wiederkehrende Trend zum betrieblichen Lernen über unser Verständnis von Bildung, über unsere Gesellschaft?

Die Arbeitswelt hat in der Zeitfolge und abhängig von der Geisteswelt unterschiedliche Bedeutungsänderungen durchgemacht. Teilwiese hatte und hat sie mehrere, auch gegenläufige Bedeutungen gleichzeitig. Im Folgenden seien einige Motive ausgeführt, die zum freien, spielerischen Interpretieren einladen sollen. Wofür steht Arbeit, oder bestimmte Formen der Arbeit aus Sicht der Schüler, der Lehrer, der Studenten, der Professoren, der Volksbildner, der Bildungspolitiker und nicht zu vergessen, der „Bildungsbürger“? Und, was sagen uns diese zugewiesenen Bilder der Arbeit über schulische Ausbildung?

Arbeitswelt als rohe Welt

Mit der Aufklärung, in Österreich mit dem aufgeklärten Absolutismus, bekommt schulische Bildung von den gebildeten, bürgerlichen und adligen Eliten eine befreiende Funktion zugeschrieben. Befreiung aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit. Befreit sollen auch Bauern, Handwerker und Lohnarbeiter werden. Das Instrument ist die allgemeine Schulpflicht. Diese Befreiung heißt aber Subjektivierung. Denken wir an Foucault s berühmtes Werk „Überwachen und Strafen“ oder an Abraham de Swaan s „Der sorgende Staat“. Als zentral anzusehen sind einerseits die Loslösung des Einzelnen aus dem Familienverband und andererseits die Disziplinierung, deren Ziel die Selbstdisziplinierung ist. Das Ergebnis dieses Prozesses ist dann, um einem weiteren Figurationstheoretiker zu folgen, die Zivilisation. Die Verhöflichung, wie sie Norbert Elias (1989) beschreibt. Zuerst ist die Schule eine Kompensationsheterotopie, mit wachsender Verbreitung der Bildungswerte wird die Arbeit, vor allem die landwirtschaftliche Arbeit eine Heterotopie für die disziplinierten Bürger als Ort des Animalisch-Wilden. Dies gipfelt in den Bemerkungen Adornos über die Rohheit der Landbevölkerung und dem Schluss genau hier bildend eingreifen zu müssen, um die Barbarei und den Rückfall in diese auszuschließen.

Arbeitswelt als emotionale Welt

Die moralische Minderschätzung der körperlichen Arbeit und die Höherschätzung geistiger Bildung, die zumindest implizit heute noch gilt, ist stark mit feudalen Gesellschaftsstrukturen des Mittelalters und noch mehr, wie zuvor angemerkt mit dem Absolutismus verbunden. Besonders in der letzteren Epoche wird körperliche Arbeit, genau genommen Landwirtschaft zu einer Projektionsfläche diverser kollektiver Sehnsüchte und Ängste des Adels und des aufkommenden Bürgertums. Exemplarisch dafür ist der „Bauernhof“ im Park des Schlosses zu Versailles. Diese Arbeitswelt wird zu einem Schauplatz für sexuelle Phantasien des französischen Adels – der Park an sich ist schon eine Heterotopie, dieser Bauernhof in Versailles ein Paradebeispiel. Hier wird die wirkliche Welt des Sonnenkönigs verkehrt. Arbeit als Heterotopie voll von Körperlichkeit, in diesem Fall Sexualität, für eine disponible Klasse die in einem engen Korsett aus (Schein-)Moral und Hofetikette lebt. Ein moralisch abgewerteter Ort, der gleichzeitig gerade deswegen zur reizvollen Gegenwelt wird. Diese Ebene existiert zweifelsohne heute noch (man denke an die TV Werbung eines bekannten Herstellers koffeinhaltiger Soft-Drinks für sein Diet Produkt in dem ein Bauarbeiter genau diese Projektion präsentiert), und hat auch in der bildungspolitischen Debatte hohe Relevanz. Ich möchte hierzu auf eine Arbeit von Paul Willis mit dem Titel „Learning to Labour“ (1982) verweisen. Dieser Text zeigt in Form einer partizipativen Untersuchung sehr genau die Besetzung der Arbeitswelt als Ort der Körperlichkeit, Maskulinität und Härte. Die schulische Ausbildung steht hier für Rationalität, Konformität, Disziplin, Lustfeindlichkeit und der Betrieb wird zur Projektionsfläche der im schulischen abgetrennten Gefühlsebene.

Arbeitswelt als Ort des vergessenen Wissens

Die Werkbank als Ausbildungsort ist auch auf einer anderen Ebene eine Heterotopie zur Welt der schulischen Bildung. Auf der Ebene der Fähigkeiten. So findet sich beispielsweise im frühen 20. Jahrhundert die Bauhausbewegung (siehe www.bauhaus-dessau.de ). Eine Hochschule für Kunsthandwerk und Architektur, die sich schon auf den ersten Blick sichtbar an mittelalterlichen Formen der gemeinschaftlichen Ausbildung orientiert. Lehrling, Geselle, Meister lernen und lehren vor allem in Werkstätten. Arbeitspraxis wird zum zentralen pädagogischen Motiv. Auch der theoretische Unterricht ist an sensorische und motorische Erfahrungen gekoppelt. Die Bauhausbewegung ist ein Paradebeispiel einer Heterotopie im Bildungswesen. Eine Heterotopie, die tradiertem Wissen, dem Wissen des Handwerks, Raum gibt in einer Welt, die von industrieller Produktion geprägt ist. Eine Heterotopie die sich durch Riten, ja sogar durch eine eigene Tracht von der rational-uniformen Welt der Moderne abgrenzt. James C. Scott (1998) folgend wird hier die Werkstätte zu einem Raum der Metis, ein Raum für jenes Wissen, das von der Übung, vom physischen Erlernen lebt, jenes Wissen, das in der Moderne keinen Platz hat.

3.  Funktionalität

Spätestens hier ist die Frage nach der Funktionalität gerechtfertigt. Welche Funktion haben diese vorher nachgezeichneten Bilder? Funktion soll in diesem Zusammenhang Weiterbestehen eines Systems bedeuten. In diesem Fall beispielsweise das Weiterbestehen der schulischen Ausbildung innerhalb des dualen Lehrlingsausbildungssystems in Österreich in einer Zeit, die betriebliche Ausbildung zu präferieren scheint. Eine Heterotopie verkörpert die Kontingenz, um einen etablierten Begriff (so auch bei Luhmann ) anzuwenden. Die Heterotopie bei Foucault als Gegenwelt, die scheinbar unvereinbare Orte vereint, hat damit die Aufgabe, ein Anders-möglich-sein, also die Kontingenz, zu repräsentieren. Dieser Verweis darauf, dass das Hier und Jetzt auch ganz anders sein könnte, ist sowohl in Foucault s Denken, als auch in den kommunikations- und auch steuerungsorientierten Systemwissenschaften DER zentrale Mechanismus, der ein Funktionieren im Sinne eines Weiterbestehens ermöglicht. Die Unterscheidung zwischen dem Gewählten und allen nicht gewählten Möglichkeiten ist eine konstitutive Differenz. Frei nach Luhmann kann zusammengefasst gesagt werden: Die Urdifferenz bei Sinnsystemen ist die Differenz zwischen Gegebenem und Möglichem - diese Differenz wird durchgehend reproduziert. Sinn ermöglicht Prozessieren von Information nach Maßgabe von Differenzen, von Differenzen, die nicht an den Dingen haften, sondern autopoetisch aus Sinn selbst produziert werden (nach LUHMANN, 1984).

Die zuvor vorgeschlagenen Bilder der Welt der Arbeit, aus Sicht der schulischen als Heterotopie, liefern genau solche „Urentscheidungen“, auf die sich alles Weitere bezieht. Der Wunsch nach Praxis und nach praxisorientierter Ausbildung, nach Internships und Soft Skills in der Managementlehre ist auf das Selbstbild und die dazu gehörige Gegenwelt der Theoretiker gerichtet. Hier ist es die Suche nach dem verlorenen Wissen in der Arbeitswelt, oder anders ausgedrückt, das Bewusstsein, dass die eigene Welt, die schulische, bestimmte Fähigkeiten nur begrenzt vermitteln kann. Umgekehrt ist der oben formulierte Wunsch von Seiten der Praxis selbst zu hören. Hier spielt die Selbstsicht und die dazu gehörige Heterotopie der betrieblichen Praxis eine Rolle. Das Bewusstsein, in Usancen und einfachen Zweckrationalitäten gefangen zu sein, konstruiert die schulische Welt zu einer Heterotopie, die die eigene konterkariert und auch bedroht. Hier liegt der Kern der teilweise sehr starken Theorieablehnung und -resistenz im betrieblichen Kontext.

4.  Fazit

Hier liegt das für die Bildungspolitik fruchtbare Element des Heterotopiekonzepts: Die (politische und wissenschaftliche) Betrachtung „des Ganzen“, also beispielsweise „des Dualen Ausbildungssystems“ gaukelt dem Betrachter eine uniforme, lineare Funktion vor. Das Duale Ausbildungssystem „Lehre“ wirkt für einen Betrachter als ein Curriculum, das schulisches und betriebliches Lernen beinhaltet und das einem Lehrling definierte Ausbildungsziele näher bringt und diese durch die Abschlussprüfung zertifiziert. Die Übergänge zwischen schulischem und betrieblichem Lernen werden zu einer Nahtstellenproblematik, die optimiert wird. Beide Ausbildungsformen sind aber eigenständig, getrennt und auf(gegen)einander bezogen. Beide Seiten konstruieren sich durch Ein- und Ausschlüsse und, und hier kommt die Heterotopie, entwickeln die andere Seite zu gegenseitigen Projektionsräumen, in denen eine andere Ordnung, entweder eine abweichende oder eine perfektere, platziert ist. Was bedeutet nun der Trend zur Praxis in der Ausbildung? Der Trend zu praxisorientierter Ausbildung und betrieblichem Lernen wird von Projektionen aus dem Milieu der formalen, theoretischen Bildung gespeist und ist kein Sachzwang von Seiten der Wirtschaft (für diese These spricht auch der Mangel an Lehrlingsstellen trotz hoher finanzieller Förderungen in Österreich). Diese Öffnung des formal-schulischen Bereichs hin zu betrieblichen Ausbildungsmodellen ist, in diesem Setting betrachtet, Ausdruck für die verstärkte Sinnsuche des schulischen Bereichs und wirft die Frage auf, was denn von „der Praxis“ erwartet wird. Ist es wirklich die Suche nach dem verlorenen Wissen, der Metis, wie es Scott (1998) vermutet?

Diese verstärkte Einverleibung der eigenen Gegenwelt, das sich Öffnen zur Kontingenz, wird üblicherweise in Zeiten drastischer Veränderung beobachtet. Dieser Prozess verändert die Bezugspunkte, die Urentscheidung und ist somit ein Kalibrierungsvorgang. Damit ändert sich das System auch als Heterotopie für die Welt des Betriebes. Die Grenzziehung beider Seiten ändert sich. Wir können versuchen die Funktionen der Gegenwelten zu verstehen, und somit Unterschiede, Gräben und Unvereinbares als konstitutiv notwendig, als formgebend, als kreativ ansehen, statt dieses anders Sein als pathologisch anzusehen. Die Reibungsverluste, die Mühe, die Verständigungsschwierigkeiten zwischen der Welt der schulischen und der betrieblichen Ausbildung, zwischen abstrakter Theorie und praktisch Erlerntem können als Kosten für die Strukturerhaltung gesehen werden. Das Aufrechterhalten der Ordnung kostet Energie (siehe BERTALANFFY, 1950) lehrt die Systemwissenschaft – diese Sichtweise fehlt oftmals im Diskurs über Dualismen und in den Idealisierungen des Reinen.

 

Literatur

BERTALANFFY, Ludwig von (1950): The Theory of Open Systems in Physics and Biology, Science Vol. 111.

FOUCAULT, Michel (1999): Botschaften der Macht, Stuttgart.

ELIAS, Norbert (1989): Die höfische Gesellschaft, Frankfurt am Main.

LEVINAS, Emanuel (1995): Die Zeit und der Andere, Hamburg.

LUHMANN, Niklas (1984): Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt am Main.

SCOTT, James C. (1998): Seeing like a state: how certain schemes to improve the human condition have failed, New Haven, London.

WILLIS, Paul (1982): Spaß am Widerstand. Gegenkultur in der Arbeiterschule, Frankfurt am Main.