Beitrag von Annette OSTENDORF & Markus AMMANN (Leopold-Franzens-Universität Innsbruck)
Dieser Beitrag verfolgt das Ziel, didaktische Potentiale für grenzüberschreitende Arrange-ments zur beruflichen Kompetenzentwicklung aufzuzeigen. Dies geschieht am Beispiel des Betriebspraktikums als Variante eines „Cross-Border-Learning“. Der Begriff des „Cross-Border-Learning“ wird in diesem Beitrag konzeptionell breiter eingeführt und begründet. Hil-festellung bieten dabei tätigkeitstheoretische und mikropolitische Konzepte sowie die analyti-sche Perspektive eines ‚situated learning‘. Ziel ist es dabei, das Spektrum der didaktisch zu berücksichtigenden Aspekte im Hinblick auf die Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung von Betriebspraktika zu entfalten.
Cross-Border-Learning – Learning in cross-border arrangements using the example of work experience for school pupils
This paper aims to sketch out the didactic potential of cross-border arrangements for developing vocational competence. This is done using the example of work experience as one variant of ‘cross-border learning’. In this paper, the concept of ‘cross-border learning’ is introduced and justified in a broader conceptual way. This is supported by activity theory and micro-political concepts as well as by the analytical perspective of ‘situated learning’. The aim is to display the spectrum of the aspects that need to be considered in terms of didactics with regard to the preparation, guidance and analysis of periods of work experience.
Betriebspraktika sind eine Mischung aus Lern- und Arbeitsräumen in einem Betrieb. Der Gedanke der „Mischung“ ist hierbei sehr zentral, sind doch reine Arbeitsverhältnisse und reine Lernverhältnisse nicht mehr mit der didaktischen Idee eines „Betriebspraktikums“ zu vereinbaren. Diese „didaktische Idee“ eines Betriebspraktikums bedeutet, dass es als zielgerichtetes (Lehr-)Lernsetting gedacht wird, das zur Förderung beruflicher Kompetenzentwicklung beitragen soll. Ein Betriebspraktikum in diesem Sinne wird in unserem Beitrag demgemäß als „(...) ein zeitlich befristetes mehr oder weniger didaktisch strukturiertes Lern- und Arbeitsverhältnis in einem Unternehmen“ (OSTENDORF 2007, 166) definiert.
Wenn Lernende im Rahmen ihrer (hoch-)schulischen (Aus-)Bildung ein Betriebspraktikum absolvieren, tauchen Sie in ein neues institutionelles Setting ein. Die neuen institutionellen Strukturen, die sich über unterschiedliche Kategorien – wie Aufgabenverteilung, Verteilung von Weisungs- und Entscheidungsrechten, Regelsysteme, Kommunikation oder Machtstrukturen (vgl. etwa PICOT 1984) – beschreiben lassen, verlangen vom/von der PraktikantIn erhebliche Flexibilität bzw. Anpassungsleistungen und werden somit zur Quelle von Unsicherheit und neuen Erfahrungen. Das Überschreiten von Grenzen in der Aufnahme eines Betriebspraktikums umfasst zudem auch ein Überschreiten vielfältiger soziokultureller Grenzen.
In unserem Beitrag werden diese beiden Typen von Grenzen, die selbstverständlich auch Überschneidungen aufweisen, genauer beschrieben. Durch einen differenzierteren Zugang zu den Spezifika der Grenzüberschreitungen (oder: des „border-crossing“) werden auch didaktische Potentiale und Möglichkeiten des „Brückenbaus“ durch Lehrende und Begleitende deutlich, die wir als „Bridging“ skizzieren wollen. „Bridging“ wird hier im Sinne eines „Scaffolding in Übergängen“ betrachtet. Begleitpersonen haben die Aufgabe, eine Art „Gerüst“ zu bauen, damit der/die PraktikantIn einen individuellen Entwicklungsfortschritt in der Zone proximaler Entwicklung erzielen kann. Die Zone proximaler Entwicklung „(…) is the distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with more capable peers.“ (VYGOTSKY 1978, 86) Hierzu ist es zunächst aus Sicht der Begleitung notwendig, eine genauere Vorstellung darüber zu gewinnen, was dieses Gerüst umfassen könnte. Hierzu gäbe es vielfältige theoretische Perspektiven, die Hinweise darauf geben können. Wir wählen in diesem Beitrag speziell drei aus, die insbesondere auch die soziale Dimension menschlicher Entwicklung und Handelns betonen: Theorien situierter Kognition, Tätigkeitstheorie und Mikropolitik.
Die Aufnahme eines Betriebspraktikums bedeutet für die SchülerInnen ein Verlassen der eigenen alltäglichen Lebenswelt als Konglomerat von SchülerInnenrolle, KlassenkameradInnen und LehrerInnen, Schulstrukturen etc., also einer intersubjektiv geteilten Alltäglichkeit. SCHÜTZ/ LUCKMANN (2003, 29) verweisen auf das Phänomen der alltäglichen Lebenswelt als „(…) Wirklichkeitsbereich, an der der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt.“ Diese alltägliche Lebenswelt wird vom einzelnen schlicht vorgefunden und nicht hinterfragt. „Sie ist der unbefragte Boden aller Gegebenheiten sowie der fraglose Rahmen, in dem sich mir die Probleme stellen, die ich bewältigen muß. Sie erscheint mir in zusammenhängenden Gliederungen wohlumschriebener Objekte mit bestimmten Eigenschaften.“ (SCHÜTZ/ LUCKMANN 2003, 30).
Die ‚gewohnte Alltäglichkeit’ geht im Praktikum verloren, was zu enormen Anpassungsleistungen und Anforderungen an die reflexive Bewältigung des Neuen herausfordert. Der eigene Wissensvorrat wird teils in Frage gestellt. PraktikantInnen treten ein in eine von anderen Personen geteilte Alltagswelt, was zur Anpassung ihrer Lebenswelt und zur Beeinflussung der fremden führt. „Die Lebenswelt ist also eine Wirklichkeit, die wir durch unsere Handlungen modifizieren und die andererseits unsere Handlungen modifiziert“ (SCHÜTZ/ LUCKMANN 2003, 33). Die ‚gewohnte Alltäglichkeit’ geht in Praktika besonders stark verloren, wenn es sich auch noch um ein Praktikum in einem fremden (national-)kulturellem Raum handelt. Trotz der im idealen Falle sehr guten Beherrschung der relevanten Fremdsprache gibt es Werte und Normen des Gastlandes, die dem/der PraktikantIn schlecht zugänglich sind. Die Übertragung bestimmter Muster der gewohnten Alltagswelt ist nur sehr bedingt möglich und erfordert die Entwicklung interkultureller Handlungskompetenzen (vgl. hierzu OSTENDORF 2007a).
In der neuen Aufnahme eines Praktikums beginnt für die PraktikantInnen ein Prozess, den LAVE/ WENGER (1991) als legitimierte periphere Partizipation an einer Praxisgemeinschaft bezeichnet haben. Legitimiert bedeutet, dass es eine organisierte, durch Absprachen oder Verträge gesicherte Beschäftigung ist. Das Attribut ‚peripher‘ verweist darauf, dass es sich nicht um eine „volle“ Teilhabe handeln kann, sondern um eine von einer randständigen Position ausgehende. Eine Praxisgemeinschaft („community of practice“ CoP) zeichnet sich durch einen inneren Zusammenhalt aus, der auch strukturübergreifend etabliert werden kann. „A community of practice is a set of relations among persons, activity, and world, over time and in relation with other tangential and overlapping communities of practice. “ (LAVE/ WENGER 1991, 98)
Die Besonderheit am Grenzübertritt des/der Schüler/in in die Arbeitswelt besteht darin, dass ihre bisherige CoP an der Schule kaum Berührungspunkte mit betrieblichen CoP haben, was das – wenngleich periphere – Eintauchen in die betriebliche CoP, aber auch die Rückkehr in die schulische CoP besonders herausfordernd macht. PraktikantInnen, die das Praktikum im Rahmen schulischer Curricula in Teilzeit absolvieren, sind temporär Mitglieder zweier unterschiedlicher CoP. Im Hinblick auf ein ‚bridging‘ wäre es hilfreich, vor Aufnahme des Praktikums Bezüge zum Unternehmen herzustellen, z.B. in Form von Fallbeispielen aus dem Unternehmen, Betriebs- und Werksbesichtigungen, Einladung von Gästen aus dem Betrieb an die Schule. Aber auch bei der Nachbereitung der Betriebspraktika könnten betriebliche Akteure eingebunden werden. Denkbar wäre z.B. eine Praktikumsabschluss-„Messe“ mit Posterpräsentationen in der Schule, die der Schulgemeinschaft, vor allem den jüngeren SchülerInnen Einblicke in die Art der Praktikumsplätze und –erfahrungsräume geben. Hierzu können auch die verantwortlichen BetreuerInnen der Betriebe eingeladen werden.
Aus der analytischen Perspektive eines situierten Lernens wären aber auch noch weitere Aspekte für das ‚bridging‘ zu gewinnen (vgl. auch Ostendorf 2007), an denen der „Gerüstbau“ (Scaffolding) ansetzen könnte:
· In der Einarbeitungsphase wäre es gut, Hintergründe des Unternehmens, seiner Geschichte und seiner Mitglieder zugänglich zu machen.
· Kontakte zu ‚neer peers‘, die in einer ähnlichen peripheren Position in der CoP sind, unterstützen den Aufbau von Beziehungen in der Gemeinschaft und erleichtern den Zugang. ‚Neer peers‘ könnten z.B. Lehrlinge sein, andere PraktikantInnen oder jüngere/neuere MitarbeiterInnen. Diese eröffnen neue Relationen, die für eine periphere Teilhabe notwendig sind und zu einer zunehmenden Einbindung führen. „In this sense, peripherality, when it is enabled, suggests an opening, a way of gaining access to sources for understanding through growing involvement“ (LAVE/ WENGER 1991, 37).
· Ein besonderes Augenmerk wäre auch auf die Beziehung zwischen ExpertInnen und NovizInnen (hier PraktikantInnen) zu legen, die oftmals von großer Distanz geprägt ist und das Lernen in der neuen Community erschweren kann.
· Für PraktikantInnen ist es auch durchaus herausfordernd, die Strukturen des Unternehmens zu durchschauen. Einführende Erkundungsaufträge könnten z.B. für die Erhöhung der Transparenz und das Zurechtfinden in der neuen Umgebung fördern.
Im Ansatz des ‚situated learning‘ werden vielfältige Problemstrukturen im Hinblick auf den Erfahrungserwerb in einer neuen CoP deutlich. Was allerdings in diesem Konzept recht vage bleibt, ist die Vorstellung darüber, was eine CoP ausmacht und wie die personalen Relationen in Unternehmen genauer erfasst werden können. Hierzu liefern uns zum einen weiterführende tätigkeitstheoretische Überlegungen und zum anderen mikropolitische Erklärungsansätze wichtige Hinweise, die für die Konzeption und Begleitung von Betriebspraktika von Relevanz sind.
Stand bei VYGOTSKIJ noch das Individuum im Zentrum der Überlegungen, was von LEONT’EV um die Perspektive von kollektiven Handlungen erweitert wurde, so ist es Aufgabe der dritten Generation „… begriffliche Instrumente zum Verständnis von Dialog, Multiperspektivität und Netzwerken interaktiver Tätigkeitssysteme (zu, die Autoren) entwickeln.“ (ENGESTRÖM 2008, 64) Tätigkeitssysteme können als beständige „Communities of practice“ interpretiert werden, die in vielen Fällen – aber nicht ausschließlich – die Form einer Institution annehmen. Die Summe der individuellen zielorientierten Handlungen bildet die sichtbare Basis von Tätigkeitssystemen, wobei diese nicht ausschließlich auf Handlungen reduziert werden dürfen. Handlungen haben einen Anfang und ein Ende, Tätigkeitssysteme hingegen haben historisch gewachsene Rhythmen, die diese wiederkehrend prägen (vgl. ENGESTRÖM et al. 1995, 320).
Tätigkeiten sind in Tätigkeitssysteme integriert und diese können wiederum in andere Tätigkeitssysteme eingebettet sein. Die Tätigkeit des Erlernens von Rechnungswesen kann bspw. in das Tätigkeitssystem des Lernens der gesamten Klasse eingebettet werden und ein Planspielwettbewerb zwischen Klassen, bei dem die SchülerInnen auf Rechnungswesenkenntnisse rekurrieren, kann in das Tätigkeitssystem Schule eingebettet werden. Eine Klasse an sich kann ein Tätigkeitssystem sein bzw. verschiedene Tätigkeitssysteme bilden eine Klasse (vgl. TSUI/ LAW 2007, 1291). Entscheidend ist, dass immer ein Tätigkeitssystem im Zentrum der Analyse steht und nicht das Individuum (vgl. ENGESTRÖM 2008, 65 f.).
Abb. 1: Die Struktur eines menschlichen Tätigkeitssystems (ENGESTRÖM 2008, 63)
Aus Abbildung 1 ist ersichtlich, dass die individuellen Handlungen – das obere Dreieck – in das kollektive System eingebettet sind. Das Subjekt handelt in diesem Verständnis gegenstandsorientiert, mit der Absicht ein Ergebnis zu erzielen.
Hierüber lässt sich auch die Situation von PraktikantInnen als eine Einbettung in ein Tätigkeitssystem interpretieren. Ein/e PraktikantIn in einem kaufmännischen Beruf bekommt bspw. die Aufgabe – den Gegenstand – übertragen, Dokumente zu archivieren. Der zentrale Gegenstand ist in diesem Verständnis jener der Archivierung, mit dem Ziel, dass am Ende die Dokumente richtig einsortiert sind. Der/die PraktikantIn bedient sich bestimmter Werkzeuge oder Zeichen, um dieses Ergebnis zu erreichen, was im vorliegenden Fall bspw. Beschriftungsmaterial oder Ablagesysteme sein können.
Das Oval, welches den Gegenstand umgibt, steht für die Mehrdeutigkeiten, Überraschungen, Interpretationen, Sinnbildungen und Potentiale, durch die sich gegenstandsorientierte Handlungen auszeichnen (vgl. ENGESTRÖM 2008, 24 ff. & 61 ff.). Im vorliegenden Fall der Praktikantin/des Praktikanten könnten dies bspw. Dokumente sein, die über das bestehende Archivierungssystem nicht erfasst werden können, da dieser Typ eines Dokumentes neu ist. Dieses Handeln – des Archivierens – ist in einem größeren Kontext zu interpretieren, das sich einerseits an Regeln hält, andererseits in eine Gemeinschaft eingebettet ist, die sich durch Arbeitsteilung auszeichnet. Die Arbeitsteilung spiegelt sich bei der Tätigkeit des Archivierens bspw. in den verschiedenen Abteilungen und Aufgabenbereiche – Einkauf, Verkauf, Marketing, Produktion usw. – in die eine Organisation aufgeteilt werden kann. „In other words, rules and the division of labor define how participants are expected to behave and who is expected to do what in the achievement of the object of an activity system.“ (TSUI/ LAW 2007, 1291) Eingebettet ist die Tätigkeit in die Gemeinschaft der KollegInnen in der Organisation, die auf die regelgeleitete Archivierung – bspw. digital, alphabetisch, nach Datum, Nummerierungen oder auch nach SachbearbeiterInnennamen – angewiesen sind, um später einen schnellen Zugriff auf die Dokumente zu erhalten. Aus der Tätigkeitstheorie stammende Überlegungen werden auch der Analyse von Grenzübertritten zu Grunde gelegt. Der/die PraktikantIn wechselt demnach vom Tätigkeitssystem Schule in das Tätigkeitssystem Betrieb und am Ende des Praktikums wieder zurück.
ENGESTRÖM et al. Stellen also mit der Weiterentwicklung der Tätigkeitstheorie einen Ansatz vor, mit dem auch das Überschreiten von Grenzen – boundary-crossing – konzeptionell erfasst werden kann (vgl. ENGESTRÖM et al. 1995, KEROSUO/ ENGESTRÖM 2003 oder ENGESTRÖM 2008). Ausgehend von der Kritik an einem „vertikalen“ Verständnis von Expertentum, demzufolge es verschiedene Stufen bzw. Ebenen von Wissen und Fähigkeiten gibt, die auf dem Weg vom Novizen/von der Novizin zum Experten/zur Expertin zu durchlaufen sind, schlagen ENGESTRÖM et al. einen anderen Zugang vor, in dem sie „… for a broader, multi-dimensional view of expertice“ (ENGESTRÖM et al. 1995, 319) argumentieren. Das horizontale Verständnis geht von einer Kollaboration verschiedener Tätigkeitssystem aus (vgl. KEROSUO/ ENGESTRÖM 2003, 346). In dieser Perspektive wird angenommen, dass ExpertInnen in deren täglichen Arbeit parallel in verschiedenen Tätigkeitssystemen arbeiten und zu diesem Zweck auch Grenzen der Tätigkeitssysteme überwinden müssen. „Boundary-crossing involves going into unfamiliar territories and requires cognitive retooling.“ (TSUI/ LAW 2007, 1290)
Akteure sind zugleich Mitglied in verschiedenen Tätigkeitssystemen bzw. stehen vor der Herausforderung mit anderen Tätigkeitssystemen, die ihnen bisher fremd sind, in Kontakt zu treten. Instrumente, Sprache, Regeln und soziale Beziehungen der zwei Systeme haben oftmals wenig gemeinsam, womit die Akteure zu GrenzgängerInnen werden.
Gerade im Hinblick auf „Sprache“ kann dies besonders deutlich werden. Der Wechsel der „community of practice“ bedeutet auch ein Eintauchen in neue Sprachspiele WITTGENSTEIN (vgl. 2003) verweist auf die besondere Bedeutung von Sprachspielen, die in Lebensformen eingebettet sind. „Das Wort >>Sprachspiel<< soll hier hervorheben, dass das Sprechen der Sprache ein Teil ist einer Tätigkeit, oder einer Lebensform.“ (WITTGENSTEIN 2003, 26). Die Sprachspiele der Schule und des Praktikumsbetriebes können sich stark unterscheiden. Sie umfassen nicht nur Wörter, sondern auch Verweisungen wie etwa Regeln. WITTGENSTEIN (2003, 32) selbst macht dies anhand des Schachspiels deutlich. „Ich erkläre jemandem das Schachspiel; und fange damit an, indem ich auf eine Figur zeige und sage:>> Das ist der König. Er kann so und so ziehen, etc. etc.<<- In diesem Fall werden wir sagen: die Worte <<Das ist der König>> … sind nur dann eine Worterklärung, wenn der Lernende schon >weiß, was einen Spielfigur ist>. … Wir können sagen: Nach der Benennung fragt nur der sinnvoll, der schon etwas mit ihr anzufangen weiß.“ Unterschiedliche Sprachspiele können auch ‚borders’ für das Individuum darstellen. Von besonderer Bedeutung sind hier fachsprachliche Ausdrücke, die in der jeweiligen Arbeitsumwelt bestimmend sind.
Die Analyse von Tätigkeitssystemen und das Verständnis des horizontalen Lernens, welches von ENGESTRÖM entworfen wurde, setzt sowohl das Individuum, wie auch die Gruppe und die damit einhergehenden Handlungen in den Hintergrund, wie das Grundprinzip des „Tätigkeitssystems als Analyseeinheit“ zeigt. Es geht demzufolge also nicht mehr konkret um den einzelnen Praktikanten/die einzelne Praktikantin, die von der Schule in den Betrieb wechselt, sondern vielmehr um die zwei Systeme die gewechselt werden und somit als Lernszenarien betrachtet werden können. Der Ansatz rückt die kollektivistische und strukturelle Betrachtung ins Zentrum. „According to activity theory, activity is collective, oriented towards an object, and mediated by tools and signs.” (vgl. KEROSUO/ ENGESTRÖM 2003, 345) Arbeitsteilung führt dazu, dass Akteure Tätigkeiten ausführen, deren Motive und Gegenstände ihnen möglicherweise gar nicht bewusst sind, da sie das gesamte Tätigkeitssystem nicht überblicken, aber an deren Bedingungen die Tätigkeiten ausgerichtet sind. Das Tätigkeitssystem kontrolliert demnach das Individuum und nicht das Individuum die Tätigkeit (vgl. ENGESTRÖM 1999, 82).
Die ENGESTRÖMSCHE Perspektive ist zusammenfassend eine kollektive Betrachtung von Lernprozessen, die organisationales Lernen ins Zentrum rückt und weniger eine akteurszentrierte Betrachtung, die das Lernen der Akteure vor den strukturellen und historischen Bedingungen analysiert. Entscheidend ist bei ENGESTRÖM die Betrachtung der kollektiven Tätigkeitssysteme, die miteinander in Interaktion treten, um die Begrenzungen zu überwinden. „The concept of ‚boundary crossing’ has been developed to help understand the interaction between these activity systems, the multiple perspective and the ‘multi-voicedness’ … inherent in these systems.” (TSUI/ LAW 2007, 1291)
Bezogen auf Betriebspraktika eröffnet diese Perspektive die Chance, das Zusammenspiel der Tätigkeitssysteme Schule und Betrieb bzw. die Grenzen, die beim Wechsel zwischen diesen zwei Systemen überschritten werden, zu analysieren. Die verschiedenen Elemente, die Unterscheidungen dieser Elemente und die Interdependenzen dieser eröffnen eine Möglichkeit Herausforderungen, vor denen Praktikanten und Praktikantinnen stehen, aufzuzeigen und für didaktische Settings fruchtbar zu machen.
Organisationales Erleben der PraktikantInnen wird nicht nur durch explizierte strukturelle Faktoren mitbestimmt. Auch eine mikropolitische Dimension ist sehr wesentlich, die an dieser Stelle genauer im Hinblick auf didaktische Potentiale entfaltet wird. Der Zugang, Akteurshandlungen in Institutionen in Form von Spielen zu fassen, stellt PraktikantInnen vor besondere Herausforderungen. Neben dem scheinbar normalen und sichtbaren Arbeitsalltag und Arbeitsabläufen, die zu erfassen und zu verstehen sind, gilt es auch sich mit etwas „Anderem“, „Unsichtbarem“, welches dennoch wesentlichen Einfluss auf das Erreichen der Organisationsziele hat, zu arrangieren.
Mikropolitische Aktivitäten werden vielfach auch als dunkle Seite einer Organisation oder als „das Böse“ beschrieben (vgl. NEUBERGER 2006, 2), als die andere Seite der Medaille, die schwer zu fassen und zu verstehen ist und den Organisationszielen entgegenzuwirken scheint. Es sind gerade diese Spiele, die das Leben in einer Organisation wesentlich prägen, aber nicht auf den ersten Blick sichtbar sind, sondern einer ausgeprägten Auseinandersetzung mit den handelnden Akteuren bedarf. „Mikropolitik bezeichnet das Arsenal jener alltäglichen ‚kleinen’ (Mikro-!)Techniken, mit denen Macht aufgebaut und eingesetzt wird, um den eigenen Handlungsspielraum zu erweitern und sich fremder Kontrolle zu entziehen … .“ (NEUBERGER 2002, 685)
Die von NEUBERGER vorgeschlagene Herangehensweise zeigt auf, dass es bei mikropolitischen Aktivitäten nicht um ein Schwarz-weißmalen gehen darf, sondern vielmehr um eine neutrale Analyseperspektive, die es ermöglicht, alltägliche Phänomene in Institutionen besser zu verstehen und zu erklären. „Die mikropolitische Analyse fasst mit CROZIER und FRIEDBERG den Zusammenhalt von Organisationen als nicht vollständig durch Regeln determinierbares Resultat einer Reihe aneinandergefügter organisationaler Spiele auf – als nicht oder jedenfalls nicht primär intendierten Effekt nicht zuletzt von (Macht-) Spielstrategien einzelner, denen am Ganzen, am Fortbestand der Organisation, nur insofern gelegen ist, als davon ihre Spiele, Spielchancen und -gewinne abhängen.“ (ORTMANN 2003, 44)
Die besondere Herausforderung bei der Absolvierung von Betriebspraktika liegt in der Einzigartigkeit der verschiedenen Institutionen. Diese zeichnen sich durch ein hohes Maß an Individualität aus. So können diese möglicherweise der gleichen Branche und Dienstleistung bzw. dem gleichen Produkt zugeordnet werden oder auch den gleichen Auftrag verfolgen, aber in der Art und Weise, wie die verschiedenen Akteure in den jeweiligen Institutionen zusammenarbeiten, unterscheiden sich die Institutionen maßgeblich voneinander. Auf Grund ihrer Geschichte, der Strategien und der dort handelnden Akteure differiern in ihren explizit formulierten Strukturen, wie Leitbildern, Corporate Designs oder die spezifische Auf- und Ablauforganisation ebenso, wie durch implizite Merkmale, bspw. spezifische Organisationskulturen oder mikropolitische Handlungen.
In der Schule können Praktikanten und Praktikantinnen fachliches Wissen über verschiedene Unternehmensbereiche erwerben, können hinsichtlich mikropolitischer Aktivitäten sensibilisiert werden. Sie sind aber auch selbst – bewusst oder in manchen Fällen auch unbewusst – Akteure in einer mikropolitischen Arena in der Schule oder anderen Organisationen (bspw. Vereinen).
Die Partizipation an einer – im vorliegenden Fall – betrieblichen „community of practice“ als Ziel des Grenzübertritts in einem Praktikum, in dem der /die SchülerIn von der Schule in den Betrieb (und dann auch wieder zurück) wechselt, steht vor der Herausforderung, den Umgang mit den organisationalen Spielen und den Spielregeln kennenzulernen. Organisationale Spiele sind Mechanismen, mit denen Menschen in Organisationen ihre (Macht-)Beziehungen strukturieren und regulieren (vgl. CROZIER/ FRIEBERG 1979, 68). Die Metapher des Spiels bringt im organisationalen Kontext vielfach falsche Interpretationen. Es handelt sich dabei nicht um einen lockeren Zeitvertreib, sondern vielmehr um die Vermittlung zwischen der individuellen Freiheit des Entscheidens und deren Abhängigkeit vom Zwang der gegebenen Verhältnisse (vgl. ALT 2001, 299). Anders gewendet bringt die Metapher zum Ausdruck, dass für die individuelle Zielerreichung auch – wenngleich nicht immer – andere Akteure von Nöten sind, wenn man bspw. auf bestimmte Bereiche, wie Geldmittel, Sachmittel o. ä. angewiesen ist, die von diesen kontrolliert werden. Je nach Intensität der Abhängigkeit – die gegebenen Verhältnisse – wird die individuelle Freiheit des Entscheidens zu Gunsten der Zielerreichung aufgegeben, um dem Mitspieler bzw. der Mitspielerin im Gegenzug ebenso „etwas“ – bspw. Unterstützung bei zukünftigen Projekten – anbieten zu können. Diese Spiele unterliegen gewissen – auch formal vorgegebenen – Regeln, deren Beherrschung für die Partizipation der Akteure maßgeblich ist.
Der Eintritt des Praktikanten/der Praktikantin bringt eine/n temporäre/n MitspielerIn ins Geschehen ein. PraktikantInnen stehen nicht nur vor der Herausforderung die feinmaschigen mikropolitischen Beziehungsnetzwerke nicht zu kennen, sondern sie werden darüber hinaus möglicherweise auch selbst zu mikropolitischen Spielern (wider Willen?) oder unter Umständen sogar selbst zu „Spielfiguren“ von mikropolitischen Verhandlungen.
Die Frage nach der Zuständigkeit für eine Praktikantin/einen Praktikanten kann vor diesem Hintergrund diskutiert werden. Wer hat letzten Endes das Recht, PraktikantInnen mit einem Arbeitsauftrag zu betrauen und wer nicht? Dies ist die eine Frage, die aber nicht automatisch bedeutet, dass die Antwort darauf ausgesprochen wird und dies bedeutet noch lange nicht, dass der/die PraktikantIn die Antwort auch kennt. Teil eines Spiels zu sein, dessen Regeln man nicht kennt, erschwert die Partizipation an einer community in besonderem Maße, insbesondere deshalb, weil die Regeln und die Regelauslegung Teil des Spiels sind. Jene Akteure, die die Regel auslegen und in der Lage sind, diese zu interpretieren, haben letzten Endes die Deutungsmacht in der täglichen Interaktion, wie dies am Beispiel der Zuständigkeit für PraktikantInnen deutlich wird. Die Art und Weise, wie die Inhalte in die tägliche Kommunikation und über diese in die Handlungen eingebracht werden, ist in besonderem Ausmaß von den Akteuren und deren Deutungsschemata abhängig. Kommunikation als Basis der Kultur einer Institution produziert und reproduziert die Organisationskultur in der täglichen Anwendung, durch die interaktiven Austauschprozesse zwischen den Akteuren (vgl. BOGUMIL/SCHMID 2001, 65). Diese Prozesse werden von PraktikantInnen kaum durchschaut und erzeugen hierüber ein Erleben der eigenen Heteronomie. Ihre Deutungsmacht, die sie in der Institution Schule in gewisser Weise ausleben können (wie z.B. Interpretation der Regeln der Pünktlichkeit oder der Aufgabenerfüllung) ist durch den peripheren Charakter der Teilhabe stark eingeschränkt. Ein ‚Bridging‘ hätte auch hier anzusetzen. PraktikantInnen sollten nicht nur im Hinblick auf die Arbeitstätigkeit in eine CoP integriert werden, sondern es sollte auch eine soziale Teilhabe ermöglichkeit werden, z.B. durch gemeinsames Mittagessen in der Gruppe oder Betriebsfeiern.
Zusammenfassend erfordern institutionelle Grenzen von PraktikantInnen ein „Eintauchen“ in die neue Organisation. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Notwendigkeit einen Rollenwechsel zu vollziehen, vom/von der SchülerIn zum/r (zeitlich befristeten) MitarbeiterIn in einem Unternehmen. Je nach individuellem Selbstkonzept und Gestaltungsoptionen wird sich dieser Rollenwechsel als ‚role taking’ und/oder als ‚role making’ vollziehen. Äußerlich zeigt sich der Rollenwechsel am teils veränderten Kleidungsstil, Umgangsformen wie z.B. Begrüßungsritualen (z.B. ‚Mahlzeit’ wünschen zur Mittagszeit), Kommunikationsstil (z.B. im Umgang mit KundInnen oder KollegInnen) und teils auch in sprachlichen Ausdrucksweisen (wie: „in unserem Betrieb....“). Im Eintauchen in die neue community of practice werden deren Gepflogenheiten meist temporär übernommen. Nicht allen Jugendlichen gelingen diese Rollenwechsel. Für ein beiderseits als gelungen angesehenes Betriebspraktikum ist allerdings ein bestimmtes Mindestmaß an Rollenveränderungen notwendig.
Der Eintritt eines neuen Mitgliedes in eine Institution als wechselseitiger Interaktionsprozess interpretiert werden. Einerseits haben eintretende Akteure eine Anpassungsleistung an die Organisation und die dort handelnden Akteure zu vollziehen, in dem er/sie die dort geltenden Normen und Verhaltensweisen in das eigene Handeln überführt. Andererseits steht aber auch die Institution und deren Mitglieder vor der Herausforderung, die bisherigen Erfahrungen, Erwartungen, Wertvorstellungen eintretender Akteure an- und aufzunehmen (vgl. WELTE 1999, 23). Insbesondere hier öffnet sich der Raum, für didaktische Gestaltungsmöglichkeiten.
Zentrale Herausforderung einer didaktischen Gestaltung ist die Frage nach dem Umgang mit institutionellen Grenzen und wie Akteure mit den Besonderheiten der Institution, an der diese partizipieren sollen, vertraut gemacht werden bzw. wie dies für Lernsituationen fruchtbar gemacht werden kann. Hinsichtlich Praktikumssituationen dürften sich diese Bestrebungen wohl mehr im Rahmen einer Sensibilisierung diesbezüglicher Besonderheiten, denn eines vollständigen Erfassens von institutionellen Strukturen bewegen.
Bedeutend erscheint aber auf jeden Fall eine intensive Vorbereitung auf den Einsatzort, seine Regeln und organisationalen Spiele. Einarbeitungsphasen sind somit auch für PraktikantInnen zu gestalten, am besten in Zusammenarbeit der Betreuungspersonen sowohl der Schule als auch des Betriebes. Zur Vorbereitung gehört schulischerseits auch eine Wiederholung oder Intensivierung branchenspezifischen Fachwortschatzes, ggf. auch in englischer Sprache, um zumindest eine rudimentäre Anschlussfähigkeit der PraktikantInnen in den betrieblichen Sprachspielen zu ermöglichen.
Durch die sehr fremden und für PraktikantInnnen aus einer ‚peripherial view’ nur schwer zu durchschauenden organisationalen Strukturen ist es auch notwendig, während der Durchführung des Praktikums von schulischer und betrieblicher Seite ein Betreuungs- und Begleitangebot zu machen, das diese Strukturen aufgreift und vertieft, etwa durch entsprechend gestaltete Erkundungs- und Rechercheaufträge.
Die Rückkehr aus dem Praktikum bedeutet auch ein Wiedereintauchen in die vorher gewohnte Lebenswelt. Es wäre schade, wenn die neu hinzugewonnen lebensweltlichen Bezüge nicht näher reflektiert und nicht zu einer nachhaltigen Sicherung von Erfahrungswissen genutzt werden würde. Insofern ist auch eine Nachbereitungsphase von Praktika unbedingt erforderlich.
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