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bwp@ Ausgabe Nr. 22 | Juni 2012
Funktionen und Erträge pädagogischer Diagnostik im wirtschafts- und berufspädagogischen Bereich
Herausgeber der bwp@ Ausgabe 22 sind Tade Tramm, Susan Seeber & H.-Hugo Kremer

Entwicklungsdiagnostik der Berufswahlbereitschaft und kompetenz. Konzeptüberprüfungen an Sekundarschülern in einer regionalen Längsschnittstudie

Beitrag von GÜnther RATSCHINSKI & Philipp STRUCK (Universität Hannover)


Abstract

Die Diagnostik der Berufswahlbereitschaft und -kompetenz hat insbesondere im Rahmen der Debatte um die Ausbildungsreife an Bedeutung gewonnen. Es wird angenommen, dass Ausbildungsreife Ergebnis eines vorberuflichen Entwicklungsprozesses ist, der bei einem Teil der Schulabsolventen zum Zeitpunkt der Bewerbung noch nicht abgeschlossen ist und durch berufsvorbereitende Maßnahmen nachgeholt werden kann. Zur Kontrolle der Maßnahmeneffekte liegen Fragebögen vor, die zumeist aus der beruflichen Laufbahntheorie Supers stammen und Einstellungen und Kompetenzen erfassen. Neuere Konzeptionen der Berufswahlkompetenz erweitern diesen Konzeptbestand um berufliche Selbstwirksamkeit, Zielbindung und andere Personal- und Sozialressourcen. Inwieweit die Konzepte entwicklungssensitiv sind, Maßnahmeneffekte abbilden können oder stabile Persönlichkeitszüge erfassen, muss empirisch überprüft werden. Eine solche Überprüfung diagnostischer Konzepte der Berufswahlbereitschaft und -kompetenz ist 2010 bis 2011 in einem niedersächsischen Landkreis vorgenommen worden. Erfasst wurden alle Sekundarschüler unterhalb des Gymnasialniveaus von der 7. bis 10. Klasse. Sie wurden online zu drei Messzeitpunkten in zwei Schuljahren befragt. Für die Längsschnittanalysen liegen knapp 700 vollständige Datenprotokolle aus Haupt- und Realschulen vor. In einem variablenzentrierten Ansatz werden unterschiedliche Ausgangswerte und Ausprägungsveränderungen analysiert und auf Bedingungskonstellationen und Einflussfaktoren hin untersucht.


Diagnostic development of readiness and competence for making occupational choice decisions. Examining secondary school students’ concepts in a longitudinal regional study.

Diagnostics for the readiness and competence for making occupational choice decisions have become increasingly significant in the context of the debate surrounding the educational maturity of young people. It is assumed that educational maturity is the result of a pre-occupational developmental process, which has not been fully completed by some school-leavers at the point at which they apply for jobs, and which can be completed later through pre-occupational measures. In order to account for measurement effects, questionnaires are available, which for the most part originate from Super’s theory of career development, and which capture attitudes and competences. More recent conceptions of occupational choice competence broaden these existing concepts through the addition of occupational self-efficacy, goal-orientation and other personal and social resources. The extent to which the concepts are sensitive to developments, can show measurement effects, or capture personality traits, must be empirically tested. Such as investigation of the diagnostic concepts of readiness and competence for occupational choice took place from 2010 to 2011 in a district in Lower Saxony. Data were collected from all secondary school students who were not at Gymnasien (broadly equivalent to grammar schools) from the seventh to the tenth class. They received online questionnaires at three measurement points in two school years. For the longitudinal analyses there are some 700 complete data protocols from Hauptschulen (broadly equivalent to secondary modern schools) and Realschulen (broadly equivalent to technical schools). Using a variable-centred approach, differing starting points and developments of changes are analysed and examined with regard to the constellations of the prevalent conditions and influencing factors.

1 Einleitung

Eine rationale und tragfähige Entscheidung für eine Berufsrichtung oder einen Beruf setzt Kenntnisse, Fähigkeiten und motivationale Einstellungen voraus, über die nicht alle Jugendliche zum Zeitpunkt der ersten Berufsentscheidung hinreichend verfügen. Früher wurde damit unter dem Etikett mangelnder Berufsreife die Forderung nach Verlängerung der Regelschulzeit begründet. Heute dienen unzureichende Voraussetzungen vieler Bewerber um Ausbildungsplätze als Beleg für fehlende Ausbildungsreife. Gemeinsam ist den Konzepten der Berufsreife, der oft synonym verwendeten Berufswahlreife und der Ausbildungsreife die Annahme eines Entwicklungsgeschehens. Jugendliche erwerben durch Lebenserfahrung psychosoziale Reife, die sie zu vernünftigen und angemessenen Entscheidungen befähigen.

Im Rahmen der Diskussion um Ausbildungsreife ist auch das klassische Konzept der Berufswahlreife wieder ins Bewusstsein gerückt und auf der Agenda politischer Gremien erschienen. Es ist einer von fünf Bereichen der Kriterienliste für Ausbildungsreife des Nationalen Pakts für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs (2006). Seine Definition als Selbsteinschätzungs- und Informationskompetenz stellt jedoch eine erhebliche Verkürzung der ursprünglichen Begriffsverwendung dar. Nach Super, der den Begriff vor knapp 60 Jahren einführte, umfasst vocational maturity gedankliche Beschäftigung mit Berufswahlthemen („orientation“), aktive Informationssuche und Planung, Stimmigkeit und Beständigkeit der Berufspräferenzen, Kristallisation von berufsrelevanten Persönlichkeitsmerkmalen und Urteilsrationalität („wisdom“) (SUPER 1955).

Super beschreibt die berufliche Entwicklung in Übereinstimmung mit Entwicklungstheorien seiner Zeit als Stadienabfolge, die durch Bearbeitung bestimmter Aufgaben definiert ist. Das Stadium der spezifischen Berufswahl ist als Herstellen einer Passung zwischen Selbstkonzept und Berufskonzept definiert. Sein Schüler Crites konzeptualisierte Berufswahlreife später nach dem Vorbild von Vernons Intelligenzmodell als hierarchisches System der Gruppenfaktoren Inhalte und Prozesse, die jeweils in die Komponenten Konsistenz und Realismus und Einstellungen und Kompetenzen untergliedert sind (CRITES 1978). Beide Ansätze gelten als klassische Diagnostika zu Erfassung der Berufswahlreife.

Wegen der Nähe zu biologischen Entfaltungsprozessen ist die Angemessenheit des Reifebegriffes schon früh angezweifelt worden (DIBBERN 1983; SCHNEIDER 1984). Die aktuelle Diskussion um Kompetenzen eröffnete eine sinnvolle Alternative zum Reifebegriff (z. B. RYCHEN/ SALGANIK 2001). Trotz kontroverser Diskussion besteht weitgehend Konsens darüber, dass Kompetenzen domänenspezifische Fähigkeiten, Fertigkeiten und Wissen umfassen, auf vielfältige Weise erworben werden können, als latentes Konstrukt aufzufassen sind und Handlungsfähigkeit auch in neuartigen Situationen ermöglichen. Unterschiedliche Auffassungen bestehen darüber, ob auch motivationale Aspekte zur Definition der Kompetenzen gehören. Die Autoren der PISA-Untersuchungen grenzen Motivation aus (KLIEME/ LEUTNER 2006), in der Berufspädagogik wird Motivation als Bereitschaft neben Fähigkeit einbezogen (SEEBER/ NICKOLAUS 2010).

In Sinne der berufspädagogischen Auffassung definieren wir Berufswahlkompetenz als Fähigkeit und Bereitschaft, die Entwicklungsaufgabe Berufswahl so zu bewältigen, dass sie sowohl den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Fähigkeiten als auch den Anforderungen der beruflichen Tätigkeit gerecht wird und unter den gegebenen Rahmenbedingungen realisierbar ist (vgl. RATSCHINSKI 2008). Diese weitere Begriffsverwendung schließt Berufswahlbereitschaft ein.

Der Berufswahlkompetenz kommt im Kanon der Kriterien zur Ausbildungsreife eine herausgehobene Bedeutung zu. Sie ist nicht nur chronologisch der Ausbildungsreife vorgelagert, sondern sie ist auch wichtige Voraussetzung und Bedingung. Wer keine Berufswahlkompetenz erworben hat, kann kaum als ausbildungsreif gelten. Jugendliche, die nicht wissen, was sie werden sollen, halten sich selbst für nicht ausbildungsreif, auch wenn sie von Arbeitsagenturen in Ausbildungsstellen vermittelt werden (EBERHARD/ ULRICH 2006) und sie streben keine Ausbildung an (REIßIG/ GAUPP/ LEX 2008).

Berufswahlkompetenz zeigt sich im Verhalten, in Einstellungen und im Wissen. Sie kann lediglich über Befragungen der Betroffenen sebst erfasst werden. Fremdzuschreibung wie bei den Kriterien der Ausbildungsreife, insbesondere des Arbeitsverhaltens und der Persönlichkeit, ist nicht möglich. Die Vorteile von Selbstbeschreibungen liegen auf der Hand. Attributionsfehler und Interessenkonflikte werden vermieden. Besonders wenn Ausbildungsreife als Ziel pädagogischer Maßnahmen angestrebt wird, kann die Objektivität der Beurteilung durch die Ausbilder nicht vorausgesetzt werden.

Die diagnostische Erfassung der Berufswahlkompetenz hat in den letzten Jahren besondere praktische Relevanz erhalten. Schulische und außerschulische Bildungs- und Berufsvorbereitungsmaßnahmen werden zunehmend an Ergebnissen und Evidenzkriterien ausgerichtet. Statt durch Lehrpläne und Richtlinien werden Bildungsprozesse durch Vorgabe von Bildungsstandards gesteuert. Das neue Fachkonzept der Bundesagentur für Arbeit schreibt Eignungsanalysen für berufsvorbereitende Maßnahmen vor. All diese Maßnahmen setzen die Erfassung von Lern- und Entwicklungsständen voraus und sie erfordern Indikatoren für Maßnahmeneffekte. Als Bildungsstandards sollen nach Vorstellung des Pakts für Ausbildung und Fachkräftenachwuchs auch die Kriterien für Ausbildungsreife dienen. Nicht nur schulische sondern auch außerschulische Maßnahmen der Berufsvorbereitung werden daran gemessen.

In diesem Beitrag werden klassische Berufsreifeindikatoren erweitert um Konzepte neuerer Berufswahl- und Entwicklungstheorien und zu einem Instrumentarium zur Erfassung der Berufswahlkompetenz (RATSCHINSKI 2008) zusammengestellt. Wichtigstes Auswahlkriterium ist die Sensitivität der Indikatoren für Entwicklungen und Maßnahmen im Entwicklungsfenster des Berufswahlprozesses. Nur generative Konzepte, die bei wiederholten Messungen genügend stabil sind, um ihre Bedeutungsinvarianz zu erhalten und gleichzeitig das nötige Veränderungspotential für den Nachweis von Entwicklungen und Maßnahmeneffekte haben, sollen zur Operationalisierung der Berufswahlkompetenz herangezogen werden (LENT/ BROWN 2006). Die Überprüfung dieser Konzeptmerkmale ist ein wichtiges Ziel empirischer Überprüfungen.

Für ein solches Projekt wurden alle Schüler eines niedersächsischen Landkreises wiederholt online befragt. Das Projekt wurde aus Mittel des ESF-Projekts Perspektive Berufsabschluss des Kreises Soltau-Fallingbostel (Heidekreis) finanziert.

2 Vorgehen

Ziel der Befragung war einerseits die Erhebung der Entwicklungsstände wichtiger Aspekte des Verhaltens und der Einstellungen, die eine rationale und selbstkongruente Berufsentscheidung möglich machen, und zum anderen den Effekt von Berufsorientierungsmaßnahmen auf die Entwicklung der Berufswahlkompetenz abzuschätzen.

Für diesen Zweck wurde auf einer Onlineplattform der Leibniz Universität Hannover eine Fragenbatterie mit 280 Items zu Berufsinteressen, zum Berufswahlverhalten, zu Einstellungen zur Berufswahl und zur Stressverarbeitung zusammengestellt und die Zugangsadressen den teilnehmenden Schulen mitgeteilt. 

Es sollten alle Sekundarschüler ab Klasse 7 erfasst werden, die spätestens nach der 10. Klasse in Ausbildung und Beruf gehen, also Schüler unterhalb des Gymnasialniveaus. Das waren nach Angaben des regionalen Bildungsbüros im Schuljahr 2009/2010 insgesamt 4231 Schüler. Diese Schüler wurden von der 7. bis 10. Klasse im Halbjahresabstand drei Mal befragt.

Die Teilnahme am Befragungsprojekt war den Schulen freigestellt. Insgesamt nahmen von den 21 Schulen des Kreises 15 teil. In die Auswertung kamen schließlich vollständige Datenprotokolle von 2282 Schülerinnen und Schülern (Teilnahmequote: 54%).

In den folgenden beiden Befragungswellen sank die Teilnehmerzahl der Schüler, die vollständige Längsschnittangaben gemacht haben, auf 1479 und 736. Im Datensatz der letzten Befragungswelle wurden für die Endauswertung die wenigen Förderschüler und Gesamtschüler entfernt, um Gruppenvergleich zu ermöglichen. Die Zusammensetzung der reinen Längsschnitt-Stichprobe, die den folgenden Ergebnissen zugrunde liegt, ist aus Tabelle 1 zu ersehen.  

Tabelle 1:        Stichprobenentwicklung in drei Befragungswellen

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In den drei Befragungswellen ist der Anteil der Hauptschüler von 32% über 30% auf 26% gesunken. Im gleichen Maße ist der Anteil der Realschüler von 54% über 66% auf 70% gestiegen. Der Anteil der Schülerinnen steigt von 47% in den ersten beiden Wellen auf 50% im Gesamtlängsschnitt. Der Anteil der nicht in Deutschland geborenen Schüler liegt mit 6% etwas über dem Bevölkerungsanteil im Heidekreis. Er ist in den Hauptschulen mit 8% höher als in den Realschulen. 23% der Studienteilnehmer haben einen Migrationshintergrund, d.h. sie oder zumindest ein Elternteil ist im Ausland geboren oder es wird zuhause nicht deutsch gesprochen. Auch diese Schüler sind mit einem Anteil von 33% häufiger in der Hautschule vertreten als in der Realschule (19%).

Die Fragen wurden unter Aufsicht der Klassen- oder Fachlehrer während der Unterrichtszeit im Computerraum der Schule beantwortet. Die Bearbeitung aller Fragen und Items nahm je nach Schulart zwischen 33 und 46 Minuten in Anspruch. Die Bearbeitungszeit sank von durchschnittlich 48 Minuten in den 7. Klassen auf 31 Minuten in den 10. Klassen. Einige (schwächere) Schüler benötigten bei der Bearbeitung der Items Unterstützung der Lehrkräfte. Die Lehrer, die das Projekt grundsätzlich befürworteten, betrachteten diese Unterstützung als selbstverständliche pädagogische oder sonderpädagogische Aufgabe, die v.a. bei Förderschülern auch bei der Bearbeitung anderen schriftlichen Materials notwendig ist.

Den Schülern wurde zur Belohnung die Teilnahme an einer Preisverlosung in Aussicht gestellt. Nach der zweiten Welle wurden 67 Schüler-Ferien-Tickets des Verkehrsverbunds Niedersachsen-Bremen verlost. Nach Abschluss des gesamten Versuches wurden 4 iPods unter den Teilnehmern verlost, die an allen drei Befragungen teilgenommen hatten.

Die Ergebnisse wurden allen Schulen in persönlichen Gesprächen auf Klassenebene zurückgemeldet. Im Datensatz waren aus Gründen der Anonymität keine individuellen Zuordnungen möglich. 

Trotz Beantwortung der gleichen Fragen in relativ kurzen Zeitabständen wurde die Befragung von den Schülern zumeist neutral aufgenommen. Bei den Hauptschülern der letzten Welle überwiegen sogar positive Kommentare in der Fragebogenrubrik Bemerkungen. Ein Teil der Realschüler stand den Befragungen jedoch reservierter gegenüber. Die Zahl der kritischen Äußerungen („zu lang“, „zu viele Wiederholungen“) stieg von 8% über 12% auf 16% an. Aber nur etwa 40% haben überhaupt Eintragungen gemacht.

3 Ergebnisse

Die naheliegende Frage nach dem aktuellen Berufswunsch haben nahezu alle Schüler beantwortet. Lediglich 9% haben keinen Berufswunsch angegeben, wobei kaum Unterschiede zwischen den Klassenstufen auftraten. Damit wurden deutlich mehr Berufswünsche genannt als in vergleichbaren Untersuchungen (KÖNIG/ WAGNER/ VALTIN 2011; RAHN/ BRÜGGEMANN/ HARTKOPF 2011). Früher wurde davon ausgegangen, dass etwa die Hälfte der Schüler zu Beginn des Berufsorientierungsunterrichts einen ersten Berufswunsch ausgebildet haben (ERTELT 1992).

Die Berufswünsche sind erstaunlich vernünftig. Nur ein Prozent geben provozierende Berufswünsche (Zuhälter, Mafiaboss) an und nur 3% Glamourberufe (wie Fußballstar und Model). Auch diese Zahlen liegen unter denen vergleichbarer Studien. Bei den männlichen Jugendlichen ist der beliebteste Beruf Kfz-Mechatroniker, bei den weiblichen die Erzieherin. Die Interessenrichtungen der Berufswünsche entsprechen bekannten Mustern: Mädchen bevorzugen soziale und künstlerische Berufe, Jungen handwerklich-technische (HOLLAND 1997). Beim Vergleich der Wunschberufe mit den Angaben zu Interessenausprägungen auf vorgegebenen Berufelisten wird deutlich, dass etliche Schüler Zugeständnisse an den Arbeitsmarkt gemacht haben. Insbesondere Mädchen sind stärker an künstlerischen Berufen interessiert als ihre konkreten Berufswünsche ausdrücken. Offensichtlich werden Realisierungschancen und Marktgegebenheiten bei der Nennung konkreter Berufswünsche berücksichtigt, während Fragen nach Berufsinteressen ohne Einschränkungen beantwortet werden. Entsprechend werden die Wunschberufe vor allem von Schülern der Abschlussklassen zwar zunehmend wichtiger, aber auch erreichbarer eingeschätzt. Auf einer Skala von 1 bis 9 liegen die Wichtigkeit etwa bei 8 und die Erreichbarkeit bei 7. Von der 7. zur 8. Klasse sind keine Veränderungen festzustellen. Berufe sind realistisch, aber noch nicht ganz so wichtig wie später.

3.1 Veränderungen

Realistische und vernünftige Einstellungen wurden auch mit einer Skala erfasst, in der ähnliche Aussagen (Konsistenzwert α=.89 ) zusammengestellt sind. Sie ermittelt „Einsicht in die Bedeutung der ersten Berufsentscheidung für das spätere Leben“, „die Bereitschaft, sich eingehend mit dem Problem der eigenen Berufswahl auseinander zu setzen und Alternativen in Erwägung zu ziehen“ und „durch die Bereitschaft, sich durch intrinsische oder extrinsische Motive oder Kriterien leiten zu lassen“ (STANGL/ SEIFERT 1986).

Die Schüler mussten k=8 Aussagen auf vier Stufen von trifft nicht zu bis trifft sehr zu bewerten. Die Ergebnisse werden in Punktwerten von null bis drei darstellt. Null steht für nicht realistische Einstellungen, drei für sehr realistische Einstellungen.

In Abbildung 1 sind die Wertentwicklungen der Realismus-Skala als grüne Linie nach Klassenstufe gegen die Erhebungswellen W1 bis W3 abgetragen. Danach gibt es zwar Unterschiede zwischen den Klassenstufen, aber innerhalb der Klassen nur wenige Veränderungen. Beim Übergang von der 8. zur 9. Klasse werden die Antworten sogar unreifer. Allerdings nicht bei allen. Die Streuungen der Werte gemessen in Standardabweichungen steigen in den drei Beobachtungszeitunkten deutlich an (nicht dargestellt); die Jugendlichen werden individueller. Ihre Entwicklungsverläufe sind differenziert und unterschiedlich. Einheitliche Klassen- oder Gruppenveränderungen (durch Teilnahme an gleichen Berufsorientierungsmaßnahmen) sind nicht festzustellen.

Variabilitätsanstiege sind auch bei Skalen zu beobachten, die Entwicklungsfortschritte zeigen. Die Entschiedenheit für einen Beruf steigt, besonders wenn die Berufsentscheidung ansteht. Die Skala Entscheidungssicherheit (k=11; α=.89) ist in Abbildung 1 rot dargestellt. Aber hier ist zwar ein Mittelwertanstieg zu verzeichnen, aber es gibt Schüler, deren Entscheidungssicherheit abnimmt. Unter Berücksichtigung der Messungenauigkeiten (JACOBSON/ TRUAX 1991) zeigen 15% der Schüler im Übergang von der 7. zur 8. Klasse größere Unsicherheiten, 21% zur 9. Klasse und 15% im Übergang zur 10. Klasse. 26%, 30% und 32% werden sicherer und 60%, 50% und 53% zeigen keine reliablen Veränderungen.

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 Abb. 1:   Wertentwicklungen der Einstellungen zur Berufswahl nach Klassenstufe (mittlere Skalenwerte auf der Ordinate, rage: 0-3)

Realismus und Entschiedenheit gehören zu den klassischen Einstellungs-Merkmalen der Berufswahlreife. Aus dem Itempool klassischer Berufswahlreifeverfahren (CRITES/ SAVICKAS 1995; SEIFERT/ EDER 1985) wurden über Faktorenanalysen zwei weitere Skalen abgeleitet, deren Wertentwicklung ebenfalls in Abbildung 1 dargestellt ist. Die Skala Berufsbindung (k=4; α=.82) gibt an, wie verbindlich beruflichen Ziele sind. Niedrige Skalenwerte stehen für die Bereitschaft, beliebige Ausbildungsplätze anzunehmen, um überhaupt eine Lehrstelle zu bekommen. Die Skala Eigenaktivitäten (k=6; α=.84) umschreibt, inwieweit die Schüler die Berufsentscheidung zu ihrer eigenen Sache machen und sich nicht vornehmlich auf die Eltern verlassen.

Während sich die Eigenaktivitäten auf hohem Niveau nur wenig verändern (auf Individualebene) und zwischen den Klassen nur geringe Unterschiede bestehen, steigt die Berufsbindung sowohl auf Individualebene als auch auf Klassenebene deutlich an. Berufsziele werden verbindlicher und zunehmend hartnäckiger angestrebt. Insbesondere im Zeitfenster der konkreten Vorbereitung, Entscheidung und Realisierung der Berufswahl oder des weiteren Werdeganges ab der achten Klassenstufe wird die Bindung an einmal getroffene Entscheidungen fester. Die Bereitschaft zur Kompromissbereitschaft an den Arbeitsmarkt sinkt.

Für Realismus und Eigenaktivität, die im Beobachtungszeitraum auf hohem Niveau wenige Veränderungen zeigen, ist das Entwicklungsfenster anscheinend schon geschlossen. Gravierende Entwicklungen sind vorher zu vermuten.

Die vier Einstellungs-Dimensionen werden oft zu einem Index der klassischen Berufswahlreife zusammengefasst. Die Zulässigkeit der Zusammenfassung und die für Längsschnittuntersuchungen notwendige Invarianz der Skalenmuster (vgl. z.B. GEISER 2011, 107) konnte über konfirmatorische Faktorenanalysen nachgewiesen werden.

3.1.1 Aktivitäten

Der zweite von vier Skalenblocks umfasst Berufswahl-Aktivitäten. Die Skalen erfragen, was die Jugendlichen konkret für die Vorbereitung der Berufsentscheidung tun, was sie vorhaben und wo sie ihren Handlungsbedarf sehen. 

Berufswahlaktivitäten werden hauptsächlich über das CDI - Career Development Inventory (SUPER/ THOMPSON/ LINDEMAN/ JORDAAN/ MYERS 1981) in der deutschen Adaptation Fragebogen zur Laufbahnentwicklung (LBE) von SEIFERT & EDER (1985) erfasst. Direkt übernommen wurde lediglich die LBE-Skala III zur Laufbahnplanung, die weitgehend dem amerikanischen Original entspricht. Die umfangreiche Skala zur Laufbahnexploration wurde ersetzt durch den ökonomischeren Explorations-Fragebogen von KRACKE (1997) und statt der LBE-Skala V zur beruflichen Informiertheit, die nicht im CDI enthalten ist, wurde die Skala Informationsbereitschaft aus dem Fragebogen von CRITES bzw. SEIFERT und STANGL übernommen.

Die erste Skala Informationsbereitschaft (k=5; α=.86) erfasst, inwieweit Berufswahl überhaupt ein Thema für die Schüler ist, mit dem sie sich beschäftigen müssen. Die Skala Exploration (k=6; α=.87) erfragt, ob Schüler aktiv Informationen über Berufe suchen. Weiterhin wird erfasst, ob sie konkrete Schritte planen (Skala Planung, k=11; α=.92) und ob sie sie über das notwendige Berufswissen (k=9; α=.95) verfügen. Die 11-Item-Skala „Laufbahnplanung“ ist die Teil-A-Skala der 22-Item-Skala „Laufbahnplanung“ des LBE. Sie erfasst „das Ausmaß des Engagements hinschlich der Vorbereitung auf die eigene Berufswahlentscheidung bzw. Laufbahnentscheidung… Ermittelt wird dieses Engagement … durch Selbsteinschätzungen der bisherigen Überlegungen und Pläne hinsichtlich der Vorbereitung auf die eigene Berufswahl und den Eintritt ins Berufsleben“. Die Skala „Berufswissen“ ist die Teil-B-Skala der LFE-Skala „Laufbahnplanung“. Sie erfasst „das Ausmaß des Engagements hinschlich der Vorbereitung auf die eigene Berufswahlentscheidung bzw. Laufbahnentscheidung… Ermittelt wird dieses Engagement … durch Selbsteinschätzung des Wissens über den gegenwärtig bevorzugten (bzw. am meisten in Erwägung gezogenen) Beruf“ (SEIFERT/ EDER 1985, 67).

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Abb. 2:   Wertentwicklungen der Berufswahlaktivitäten nach Klassenstufe (mittlere Skalenwerte auf der Ordinate, rage: 0-3)

Bis zur 8. Klasse ist der hohe Informationsbedarf über berufliche Optionen anscheinend gesättigt. Es gibt keine bedeutenden Veränderungen mehr. Auch die aktive Informationssuche (Exploration) verändert sich nur wenig. Dagegen steigt die Häufigkeit von Planungsaktivitäten steil an und der Wissenstand über Berufe wird deutlich erhöht, sowohl individuell als auch auf Klassenebene. Berufsorientierungsmaßnahmen der Schulen und individuelle Bemühungen finden ihren Niederschlag.

3.1.2 Wirksamkeit

Wirksamkeit, der dritte Block, erfasst Überzeugungen über die eigenen Handlungsmöglichkeiten. Der erste Ansatz zur Erfassung beruflicher Selbstwirksamkeit stammt von TAYLOR & BETZ (1983). Sie haben zu den fünf Kompetenzbereichen der Berufswahlreife von CRITES (1978) jeweils zehn Aufgaben zusammengestellt und von Studenten nach ihren Selbstwirksamkeitserwartungen einschätzen lassen. Vorgegeben war eine 10-Punkte-Skala mit den Endpunkten 9 für „völliges Vertrauen, die Aufgabe bewältigen zu können“ bis 0 (kein Vertrauen). Für 50 Items ergibt sich so ein maximaler Gesamtpunktwert von 450. Die Subskalen Selbsteinschätzung, Berufsinformationen, Zielauswahl, Planung und Problemlösung erreichten mit alpha-Werten von .88, .89, .87, .89 und .86 gute Zuverlässigkeitswerte. In diesem Projekt wird eine Kurzfassung der TAYLOR-BETZ-Skala (FOUAD/ SMITH/ ENOCHS 1997) in deutscher Übersetzung durch den Autor (G.R.) eingesetzt, in der die Antwortvorgaben auf fünfstufige Likert-Skalen verändert sind. 

Zum Komplex der Wirksamkeitsüberzeugungen gehört neben Selbstwirksamkeit auch Ergebniserwartung.

Kann ein Schüler durch eigene Anstrengungen zu erwünschten Ergebnissen kommen (Ergebniserwartung, k=5; α=.86), aber auch die Handlungen selbst ausführen (Selbstwirksamkeit, k=12; α=.94)? Weiß eine Schülerin, die Schauspielerin werden will, z.B., wie sie die Arbeitslosenquoten der Schauspielerinnen ermitteln kann usw. Die Organisation der eigenen Handlungen setzt voraus, dass konkrete Vorlieben und Abneigungen bestehen (Index Interessedifferenzierung). 

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Abb. 3:   Wertentwicklungen der Wirksamkeitsüberzeugungen nach Klassenstufe (mittlere Skalenwerte auf der Ordinate, rage: 0-3)

Im Gegensatz zu den Itemsätzen, die zu Skalen gebündelt werden, ist Interessendifferenzierung ein Index, der aus der Differenz der stärksten und der schwächsten Interessenausprägung gebildet wird (HOLLAND 1997). Seine absolute Höhe hängt von der Vorgabe der Antwortstufung ab und ist beliebig wählbar. Für die vergleichende Darstellung der relativen Veränderungen ist es etwa dem Niveau der anderen Skalen angepasst. Die stärksten Ausprägungen der Interessendifferenzen finden sich für alle Klassenstufen in der zweiten Beobachtungswelle. Insgesamt zeigen die Skalen des Wirksamkeitsblocks eher Effekte auf Klassenebene als auf Individualebene.

Die Ziele und Intentionen, Ergebniserwartungen und die Selbstwirksamkeit steigen auf allen drei Klassenstufen vom zweiten zum dritten Messzeitpunkt an. Anscheinend gibt die erfolgreiche Versetzung in die nächsthöhere Klasse vielen Schülern einen Motivationsschub auch für die Beschäftigung mit Berufswahlfragen. Entsprechend könnte von einem positiven Einfluss durch Wirksamkeitserleben im schulischen Leistungsbereich auf die Wirksamkeitserwartungen im Berufswahlprozess geschlossen werden. Der Erfolg in der Schule bzw. das Erreichen von selbstgesteckten Zielen (z.B. Klassenversetzung), fördert besonders das Setzen weiterführender Ziele und stärkt die Erwartungen an die eigene Wirksamkeit.

3.1.3 Emotionale Stabilität

Der vierte und letzte Faktor schließlich betrifft die emotionale Stabilität. Besonders in Zeiten fehlender Ausbildungsplätze und/oder erhöhter Anforderungen an kognitive und persönliche Voraussetzungen ist der Berufswahlprozess für viele Jugendliche stressbelastet. Zudem ist die Adoleszenz als Entwicklungsphase durch emotionale Turbulenzen vielfältiger Art gekennzeichnet. Insofern spricht das Ergebnismuster in Abbildung 4 für die Validität der erfassten Indikatoren. Besonders die Selbstachtung (k=7; α=.94) leidet. Die Skala Selbstachtung ist eine Kombination aus Items der Selbstwertskala von Rosenberg (COLLANI/ HERZBERG 2003) und Skalen zur Stressbewältigung (SCHWARZER/ JERUSALEM 1999), die in Faktorenanalysen mit früheren Datensätzen hohe Varianzaufklärungen erreichten.

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Abb. 4:   Wertentwicklungen der emotionalen Stabilität im Berufswahlprozess nach Klassenstufe (mittlere Skalenwerte auf der Ordinate, rage: 0-3)

Jugendliche reagieren sehr sensibel auf Erfolge und Misserfolge. Etliche empirische Jugendstudien  haben gezeigt, dass Erfolge im Laufe der Adoleszenz weniger im schulischen Lernen gesucht werden als in anderen alterstypischen Entwicklungsaufgaben (u.a. FEND 1997; KÖNIG et al. 2011). Das Selbstwertgefühl wird von schulischem Lernen abgekoppelt. Für viele sind das äußere Outfit und die Resonanz bei Gleichaltrigen und beim anderen Geschlecht wichtiger als Schulnoten. Aber Berufsorientierung und die erlebte Unterstützung sind eine Ausnahme. Sie werden für die Selbstachtung und das Selbstwertgefühl zunehmend wichtiger.

Erfolge beim Umgang mit belastenden Lebenssituationen werden durch Selbstkontrolle und Selbstdisziplin, aber auch durch die flexible Anpassung an neue Situationen, wahrscheinlicher. Dieses Fähigkeitsmuster wird durch die Skala Resilienz  (k=11; α=.89) erfasst. Ihre Werte steigen insbesondere im Übergang von der 9. zur 10. Klasse, wenn Entscheidungen über den weiteren Werdegang virulent werden.

Resilienz ist eine Ressource, die zu einer gesunden Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen beiträgt. Der Begriff lässt sich mit „psychische Widerstandsfähigkeit übersetzen und bezieht sich auf das Phänomen, dass manche Personen trotz ausgeprägter Belastungen und Risiken gesund bleiben oder sich vergleichsweise leicht von Störungen erholen, während andere unter vergleichbaren Bedingungen besonders anfällig für Störungen und Krankheiten sind“ (SCHUMACHER/ LEPPERT/ GUNZELMANN/ STRAUß/ BRÄHLER 2005, 17).

Solange Schüler persönlich wichtige Entscheidungen nicht treffen konnten, sind sie irritierbar und selbstunsicher. Im Übergang von der 9. zur 10. Klasse sind anscheinend für viele Schüler wichtige Aufgaben erledigt, die optimistisch machen und Klarheit schaffen. Klarheit und Sicherheit über den einzuschlagenden Lebensweg sind der Kern beruflicher Identität (k=7; α=.90), die eine besondere Ausprägung kurz vor Schulende erfährt. 

3.2 Maßnahmeneffekte

Besonders geeignete Methoden, emotionalen Verunsicherungen in Berufsorientierungsprozessen zu begegnen, sind personenzentrierte Beratungen. Sowohl Berufsberatung durch die Bundesagentur für Arbeit als auch Beratungsangebote der Mitarbeiter der Pro-Aktiv-Center (PACE) erhöhen Optimismus, Selbstachtung und Resilienz. 

Zur Erfassung der Maßnahmeneffekte wurden die Lehrer schriftlich danach befragt, welche Berufsorientierungsmaßnahmen in welcher Schulform und auf welcher Klassenstufe angeboten werden. Danach werden die meisten Angebote in der neunten Klasse gemacht, lediglich Girls Days (bzw. Zukunftstage) werden etwa gleich häufig in der 7., 8. und 9. Klasse veranstaltet. Betriebsbesichtigungen finden beginnend mit der 7. bis zur 9. Klasse zunehmend häufiger statt. Zusammenarbeit mit den Pro-Aktiv-Centern, Messebesuche und Berufsberatungen werden beginnend in den 8. Klassen und  schwerpunktmäßig in den 9. Klassen angeboten .

Die Skalenmittelwerte der Schülerinnen und Schüler, die an verschiedenen Maßnahmen der Schulen teilgenommen haben, sind verglichen mit denen, die nicht teilgenommen haben oder an deren Schulen diese Maßnahmen nicht angeboten haben, signifikant höher. In Tabelle 2 sind die Mittelwertdifferenzen bei sieben Berufsorientierungsmaßnahmen aufgelistet. Das über Varianzanalysen ermittelt Signifikanzniveau ist farblich hervorgehoben.

Berufsberatung durch das Arbeitsamt verhindert bzw. verringert danach auch berufliche Identitätsprobleme. Jugendliche, denen Beratungsangebote gemacht wurden oder die Beratungsangebote angenommen haben, zeigen in den genannten Dimensionen signifikant höhere Durchschnittswerte.

Die größten Mittelwertunterschiede zeigen jedoch Schüler, die Betriebspraktika absolviert haben. Sie weisen in allen vier Dimensionen der emotionalen Stabilität hochsignifikant höhere Werte auf als Schüler, die keine Praktikumserfahrung aufweisen können (Tabelle 2). Für regelmäßige Betriebskontakte der Schulen bzw. Schulklassen, Messebesuche, Betriebsbesichtigungen oder Girls Day-Angebote (bzw. Zukunftstage) lassen sich solche Effekte nicht nachweisen.

Tabelle 2:        Skalenmittelwerte der Maßnahmenteilnehmer im Vergleich zu den Nicht-Teilnehmern zum dritten Messzeitpunkt

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Nach den Mittelwertvergleichen erweisen sich insbesondere Betriebspraktika und die Berufsberatungen durch die Arbeitsverwaltung als besonders umfassend wirkungsvoll. Sie haben die stärksten Einflüsse auf die Kernbereiche der Berufswahlreife. Sie erhöhen die Verbindlichkeit der Berufsziele und die Entscheidungssicherheit, regen zur Eigenaktivität an und führen zu realistischeren Zielsetzungen. Darüber hinaus regen sie zu konkreten Berufsplanungen an und erhöhen das Berufswissen. Neben den bereits erwähnten Effekten auf die Stabilisierung der Persönlichkeit erhöhen sie auch das Vertrauen in die eigene Entscheidungsfähigkeit im Berufswahlprozess und in die Erwartung, berufliche Ziele zu erreichen.

Betriebsbesichtigungen führen ebenso wie Messebesuche zur Verstärkung von beruflichen Vorlieben und Abneigungen (sie erhöhen die Interessendifferenzierung) und regen zur selbstgesteuerten Suche nach Berufsinformationen an. Messebesuche erhöhen darüber hinaus das Berufswissen und die Bindung an die Berufsziele und motivieren zu konkreten Planungen. Sie machen flexibler und stärken das Vertrauen in die eigene Entscheidungsfindung.

Die Effekte der Zusammenarbeit mit den Pro-Aktiv-Centern liegen eher in der allgemeinen Persönlichkeitsstabilisierung und Girls Days haben gemessen an den letzten Beobachtungszeitpunkten kaum Effekte. Ihre Wirkung besteht eher in einer Lockerung der Berufsbindung, die u.U. auch der Zielsetzung entspricht. 

3.3 Rückmeldungen an die Schulen

Das Projekt, dem die vorliegenden Daten entstammen, sah eine Ergebnisrückmeldung auf Klassenebene vor. Die Angaben der Jugendlichen wurden anonym vorgenommen. Jede teilnehmende Schule erhielt für jede Klasse eine separate Auswertung, besonders für die Haupt- und Realschulen (heutige Oberschulen) bedeutete dies eine einmalige Vergleichbarkeit. Den Lehrern war es so möglich die Entwicklung der Berufswahlkompetenz ihrer Schüler nachvollziehen zu können. Der Klassenlehrer kann oftmals Entwicklungsveränderungen (hier in einem Zeitraum von 6 Monaten) am besten erklären und einordnen. Er hat Einblick in die Klasse und weiß, welche Berufsorientierungsmaßnahmen stattgefunden haben und kann demnach Rückschlüsse für sein pädagogisches Handeln ziehen.

Die Rückmeldung an die Schulen und Lehrer erfolgte nach jeder Befragungswelle in einem persönlichen Gespräch vor Ort in der Schule. Für die teilnehmenden Schulen bedeutete dies keinen Mehraufwand. Für eine Klassenauswertung wurden verschiedene statistische Rechenverfahren (u.a. Mittelwertvergleiche, Häufigkeiten, z-Wert-Vergleich, Reliable Change Index, Cohens d) zum Querschnitt- und Längsschnittvergleich genutzt. Ausgewertet wurden sowohl Klassenveränderungen auf Skalenniveau, individuelle Veränderungen der Schüler (Anzahl) sowie der Realitätsbezug der Berufswünsche. Eine Klassenauswertung erstreckt sich auf 3 Seiten (+ Skalenbeschreibung). Der Service der persönlichen und grafischen Rückmeldung fand positive Resonanz und ermöglichte den Schulen eine Optimierung ihrer Berufsorientierungsangebote. Nach Lehreraussagen, beschrieben die Ergebnisse die jeweiligen Klassen sehr gut und zuverlässig.

4 Diskussion

Die beiden wichtigsten Studienziele konnten erreicht werden: a. die erfassten 16 Dimensionen zeigen systematische Wertänderungen im typischen Altersbereich der (für viele) ersten Berufsentscheidung und b.) Berufsorientierungsmaßnahmen führen zu differenzierten Ergebnismustern. Besonders deutliche Altersanstiege zeigen die Dimensionen der klassischen Berufswahlreife: Entschiedenheit, Berufsbindung, Laufbahnplanung und Laufbahnwissen. Die lange Forschungstradition hat robuste Indikatoren hervorgebracht.

Merkmale der psychischen Stabilität und Belastbarkeit zeigen dagegen nur teilweise systematische oder eindeutige Entwicklungsveränderungen. Dieses Ergebnis entspricht Befunden aus der Literatur (HIRSCHI 2012). Emotionale Stabilität ist stärker habituell verankert als Verhaltens- und Einstellungsmerkmale. Sie zeigt zwar weniger systematische Entwicklungen, aber sie erklärt individuelle Unterschiede und ist deshalb als Dritt- oder Moderatorvariable unverzichtbar. Resilienz z.B. ist im Sinne flexibler Adaptivität wirksam. Berufsziele werden solange verfolgt, wie sie erreichbar erscheinen und flexibel gegen andere Ziele ausgetauscht, wenn die Erreichbarkeit in Frage gestellt ist. Diese Fähigkeit steigt im letzten Schuljahr deutlich an.

Die Ergebnismuster der Wirksamkeitssysteme zeigen, dass ihre Komponenten nur ansatzweise als Indikatoren für lineare Entwicklungsverläufe taugen. Die Konzepte variieren nicht unabhängig voneinander. Planungsvorhaben, die auf allen Klassenstufen die niedrigsten Ausprägungen zeigen, werden erst realisiert, wenn Selbstwirksamkeitsüberzeugen und Ergebniserwartungen stabil sind. Das Vertrauen den Berufswahlprozess erfolgreich gestalten zu können (Selbstwirksamkeit) wird deutlich durch eigene Erfahrungen in Praktika, auf Messen und durch Berufsberatungen beeinflusst und durch sozialpädagogische Unterstützung gestärkt. Berufswahlbezogene Selbstwirksamkeit ist - entsprechend der Theorie (BANDURA 1997)- direkt erfahrungsabhängig und unterliegt weniger einem Entwicklungsautomatismus.

Die erfassten Dimensionen der Berufswahlkompetenz bilden Maßnahmeneffekte deutlich und differenziert ab. Als effektivste Berufsorientierungsmaßnahmen erweisen sich die praktischen Erfahrungen in der betrieblichen Tätigkeit und die Beratungen durch die Arbeitsagentur. Betriebspraktika werden von Schülern regelmäßig als wichtigster Einflussfaktor auf die Berufsentscheidung genannt (SCHUDY 2002), obwohl sie selten in ein übergeordnetes Berufsorientierungskonzept der Schulen eingebettet sind oder systematisch vor- und nachbereitet werden (BUTZ 2006). Das umfassende Effektmuster der Betriebspraktika belegt die Validität der Fragebogenbatterie. Danach tragen Praktika zur Verbindlichkeit der Berufsentscheidung bei (die Berufsbindung wird erhöht), erhöhen die Sicherheit und Klarheit über den weiteren Werdegang (Identität) und stärken die emotionale Befindlichkeit. Nach dem Praktikum ist das Informationsbedürfnis befriedigt und weitere Explorationen sind nicht mehr notwendig (die entsprechenden Mittelwertdifferenzen sind nicht signifikant). In ähnliche Richtung gehen die Effekte der Berufsberatung und sie erscheinen ebenso plausibel. Andere Berufsorientierungsmaßnahmen wirken weniger allgemein und stärker auf spezielle Bereiche. Die negativen Effekte der Zukunftstage bzw. Girlsdays sprechen für eine gewisse Verunsicherung im Berufswahlprozess. Möglicherweise lenkt die Botschaft, auch geschlechtsuntypische Berufe in Betracht zu ziehen, von angestrebten Problemlösungen ab oder die Geschlechtstradition der Berufe ist noch ein subjektiv wichtiges Entscheidungskriterium (vgl. RATSCHINSKI 2009). Die intendierten Effekte werden nicht erzielt. Wie Reanalysen der PISA-Ergänzungsstudie von 2006 ergaben, haben außerschulische Aktivitäten - wie Girlsdays – zudem weder Effekte auf geschlechtsuntypische noch auf geschlechtstypische Berufsaspirationen (HELBIG/ LEUZE 2012). Es wäre deshalb sehr sinnvoll, Zukunftstage zum Gegenstand gezielter empirischer Untersuchungen zu machen.

Der hier verfolgte Diagnostikansatz bietet eine wichtige Ergänzung zum Kriterienkatalog für Ausbildungsreife. Nicht nur der Katalogbereich Berufswahlreife wird erheblich erweitert und differenziert, sondern auch die Softskills des Arbeitsverhaltens und Persönlichkeit werden sinnvoll ergänzt und möglicherweise relativiert. Im Gegensatz zur Kriterienliste sind die Konzepte der Berufswahlkompetenz testtheoretisch abgesichert. Fast alle Skalenkonsistenzen liegen über .80 und erlauben damit individuelle Fortschrittskontrollen (KERSTING 2006). Erste Nachweise der Entwicklungsabhängigkeit der Konzepte und ihrer differentiellen Validität, die in der Kriterienliste fehlen, sind für die Berufswahlkompetenz hier vorgelegt worden.

Ihre praktische Nützlichkeit kann dieses Verfahren der Kompetenzdiagnostik in allen Formen der Berufsorientierung und Berufsvorbereitung zeigen. Sie ermöglicht eine sinnvolle Individualisierung der Berufsorientierung (vgl. DRIESEL-LANGE/ HANY/ KRACKE/ SCHINDLER 2011). Die vergleichsweise vielen Schüler, die schon konkrete und realisierbare Berufsvorstellungen haben, benötigen andere Formen der Unterstützung und Orientierung als Schüler, die noch keine konkreten Vorstellungen haben, oder sich dem Thema noch nicht angemessen stellen.

Die vorgestellten Maßnahmeneffekte sollten nicht über die große Variabilität in den Wirkungen täuschen. Von allen angebotenen Maßnahmen profitieren einige Schüler, andere nicht. Deshalb ist die bisherige Praxis vielfältiger Angebote angemessen. Sie entspricht unserem (nach wie vor) begrenzten Kenntnisstand über die differentielle Wirkung pädagogischer Berufsvorbereitungsmaßnahmen (BOJANOWSKI/ ECKARDT/ RATSCHINSKI 2005). Jeder Schüler kann die für ihn passenden Angebote nutzen. Letztlich ist der Berufsentscheidungsprozess dann am erfolgreichsten, wenn er eigenverantwortlich und selbstgesteuert vorgenommen wird.

 

Literatur

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Zitieren dieses Beitrages

RATSCHINSKI, G./ STRUCK, P. (2012): Entwicklungsdiagnostik der Berufswahlbereitschaft und  -kompetenz. Konzeptüberprüfungen an Sekundarschülern in einer regionalen Längsschnittstudie. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 22, 1-18. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe22/ratschinski_struck_bwpat22.pdf  (26-06-2012).


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