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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT15 - Politik/Wirtschaftslehre
Herausgeber: Eberhard Jung, Martin Kenner & Hans-Georg Lambertz

Titel:
Bildungsziel Übergangsbewältigung: Pädagogisch didaktische Herausforderungen und Strategien am Übergang ins Ausbildungs- und Beschäftigungssystem


Verbesserung der Systematik beim Übergang von den allgemeinbildenden Schulen unter besonderer Berücksichtigung der berufsbildenden Schulen

Beitrag von Rudolf SCHRÖDER (Universität Oldenburg, Institut für Ökonomische Bildung)

Abstract

Die derzeitige Situation der Berufsorientierung ist einerseits durch eine Vielzahl von Initiativen, Maßnahmen und Akteuren gekennzeichnet. Andererseits kommt es zu erheblichen Effizienzverlusten, weil die Maßnahmen nicht hinreichend aufeinander abgestimmt sind und zahlreiche Lehrkräfte überfordert sind. Erschwerend kommt hinzu, dass bislang der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung oder in das Studium im Mittelpunkt der Betrachtung standen oder immer noch stehen. Das vielfältige Angebot der berufsbildenden Schulen in Verbindung mit der Spezialisierung auf bestimmte Berufsfelder und Bildungsgänge wird oftmals unzureichend in den Übergangsentscheidungen der Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I berücksichtigt, was zu Problemen in den berufsbildenden Schulen und den sich anschließenden Übergängen führt. Die zwingend notwendige Verbesserung des Übergangs von den allgemeinbildenden in die berufsbildenden Schulen ist zugleich in eine Gesamtkonzeption zur Berufsorientierung einzubinden. Diesbezüglich werden zentrale Qualitätsbereiche beleuchtet, die in zahlreichen Konzepten der Bundesländer zur Schulqualität enthalten sind. Zahlreiche Bundesländer haben in den letzten Jahren – allerdings in einem unterschiedlichen Umfang und mit unterschiedlichen Konzepten – die Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen ausgebaut. Exemplarisch wird auf Niedersachsen eingegangen, wo die neuen Erlasse zur Arbeit in den Haupt- und Realschulen die Zusammenarbeit mit den berufsbildenden Schulen besonders intensiv einfordern.

1 Zur Situation des Übergangs von den allgemeinbildenden Schulen

Die Berufsorientierung stellt eine aktuelle, aber keinesfalls eine neue Herausforderung dar. Derzeit ändert sich zumindest vordergründig als Folge des demografischen Wandels die Situation auf dem Ausbildungsmarkt. Wurde vor wenigen Jahren noch auf die fehlenden Ausbildungsplätze verwiesen, übersteigt seit Ende des letzten Jahrzehnts die Zahl der unbesetzten Ausbildungsplätze die Zahl der unversorgten Bewerberinnen und Bewerber. Als Konsequenz wird vor einem Fachkräftemangel gewarnt; beispielsweise hat das Handwerk im letzten Jahr eine Imagekampagne zur Anwerbung von Auszubildenden gestartet. Bei einer genaueren Betrachtung zeigen sich allerdings zahlreiche Disparitäten beim beruflichen Übergang in Abhängigkeit von z. B. sozialer Herkunft, Migrationshintergrund oder Geschlecht. Außerdem werden das Angebot an und die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen statistisch nur bedingt erfasst, weil für die Jugendlichen und Ausbildungsbetriebe gleichermaßen keine Pflicht besteht, sich bei der Bundesagentur für Arbeit registrieren zu lassen (vgl. BMBF 2009, 15). So gaben im Frühling 2010 77 % der Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit einem Hauptschulabschluss als Ziel eine duale Ausbildung an;  gemäß der Erhebung zu den vollzogenen Übergängen im Herbst 2010 wurde aber der Übergang nur von 36 % vollzogen. Im Gegenzug lag der angestrebte Übergang in eine berufliche Vollzeitschule (Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundschuljahr, Berufsfachschule) bei 9 %, der real vollzogene Übergang bei 24 %. Auch bei den Absolventinnen und Absolventen mit einem mittlerem Bildungsabschluss gab es eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Ziel (58 %) und dem Vollzug (36 %) des Übergangs in eine duale Ausbildung; allerdings weichen diese Schülerinnen und Schüler seltener in eine berufliche Vollzeitschule aus (vgl. BIBB 2011, 84, 88). Aufgrund dieser Diskrepanz ist seit Anfang der 90er die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den beruflichen Vollzeitschulen von 264.120 (1992) auf 566.000 (2005) Schülerinnen und Schüler gestiegen (vgl. BIBB 2011, 203). Zugleich vollzog sich der Anstieg der Teilnehmerzahlen primär in der Berufsfachschule. Wenngleich die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den beruflichen Vollzeitschulen aufgrund der verbesserten Situation auf dem Ausbildungsmarkt auf unter 500.000 gesunken ist, kann nicht von einer grundsätzlichen Entschärfung der Übergangsproblematik gesprochen werden.

Als Ursache der geschilderten Übergangsproblematik in einen Ausbildungsberuf wird seitens der Wirtschaft oftmals die fehlende Ausbildungsreife angeführt. Andererseits ist zu konstatieren, dass die Anforderungen in zahlreichen Ausbildungsberufen gestiegen sind. Exemplarisch sei auf die Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker anstelle des früheren Kfz-Mechanikers verwiesen. Hieraus erwächst strukturell ein verstärkter Bedarf nach einer beruflichen Grundbildung insbesondere durch die Berufsfachschule.

Nicht wenige Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I vollziehen den Übergang in die berufsbildenden Schulen ohne eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den vielfältigen Angeboten in Abhängigkeit von den formalen Eingangs- und Ausgangsqualifikationen, den Berufsfeldern, sowie den daraus resultierenden Spezialisierungen der einzelnen berufsbildenden Schulen. Als Folge wählen die Jugendlichen beispielsweise ein für sie unpassendes Berufsfeld in der nah am Wohnort gelegenen berufsbildenden Schule, was Motivations- und Leistungsprobleme nach sich zieht. Dieses Problem kann aber auch teilweise auf ein Ausweichverhalten zurückgeführt werden, um sich durch den Wechsel auf eine andere Schule vermeintlich noch nicht mit der Berufswahl auseinandersetzen zu müssen. Zu berücksichtigten sind aber auch die Jugendlichen, die aufgrund erfolgloser Bewerbungsaktivitäten die vollzeitschulischen Bildungsgänge als subjektiv wahrgenommene Notlösung mit reduzierter Motivation absolvieren. Als Konsequenz werden „Warteschleifen“ an den berufsbildenden Schulen (und anderen Bildungseinrichtungen des Übergangssystems) absolviert, ohne dass ein zügiger Übergang in eine Berufsausbildung erfolgt.

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Abb. 1: Vielfältiges Angebot der berufsbildenden Schulen

Angesichts der neuen Herausforderungen wurden in den letzten Jahren zahlreiche Programme zur Verbesserung des beruflichen Übergangs initiiert (vgl. BMBF 2011, 57 ff.; AUTORENGRUPPE BIBB/ BERTELSMANN STIFTUNG 2011, 33). Außerdem haben die meisten Bundesländer in den letzten Jahren die Angebote zur Förderung der Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen ausgebaut. Die Erlasse weisen aber hinsichtlich des Umfangs, der didaktisch-methodischen und schulpädagogischen Umsetzung (z. B. Verzahnung mit dem Fachunterricht oder Verantwortlichkeiten) sowie der regionalen Vernetzung der Akteure erhebliche Unterschiede auf. Gleichwohl ist generell festzustellen, dass die systematische Zusammenarbeit der Akteure  Probleme bereitet (vgl. BIBB/ BERTELSMANN STIFTUNG 2011). Hierfür lassen sich mehrere Gründe anführen:

  • Zahlreiche lokale Akteure „überschwemmen“ die Schulen mit zweifelsohne gut gemeinten, aber in der Regel nur unzureichend abgestimmten Angeboten zur Berufsorientierung. Die vielfältigen Angebote werden aufgrund der Informationsflut und der mangelnden Abstimmung der Akteure zunehmend kritisch betrachtet (vgl. KNAUF/ OECHSLE 2007, 146)
  • Die zahlreichen Angebote treffen darüber hinaus in den Schulen auf Lehrkräfte, deren Qualifikation (u. a. Berufswahltheorien, Kenntnisse des regionalen Wirtschaftsraums und Arbeitsmarktes sowie Angebote der berufsbildenden Schulen) bezüglich der Berufsorientierung nicht gesichert ist. Vielmehr wird die Aufgabe oftmals „fachfremd“ wahrgenommen, was zu deutlichen Qualitätseinbußen in der Berufsorientierung führt.
  • Nur in wenigen Bundesländern, wie beispielsweise in Hessen, ist konkret geregelt wie die Berufsorientierung didaktisch-methodisch und organisatorisch umgesetzt werden soll.

Eine weitere Herausforderung stellt die Koordination der regionalen Angebote dar; das bekannteste Programm zur diesbezüglichen Förderung stellt das „Regionale Übergangsmanagement“ (RÜM) in 55 deutschen Regionen dar. Hierbei handelt es sich um einen Baustein des Programms „Perspektive Berufsabschluss“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds finanziert wird.

2 Elemente einer systematischen Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen

Die Angebote der berufsbildenden Schulen sind eine wesentliche, aber nicht alleinige Alternative für die Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I. Vor diesem Hintergrund sind die Aktivitäten zur Verbesserung des Übergangs in die berufsbildenden in ein systematisches Gesamtkonzept einzubinden. Nachfolgend werden – in Anlehnung an typische Qualitätsbereiche zur Schulqualität (z. B. in Nordrhein Westfalen und Niedersachsen) – wesentliche Elemente einer systematischen Berufsorientierung vorgestellt (ausführlich in SCHRÖDER 2011).

2.1 Angestrebte Lernergebnisse

Vor dem Hintergrund fragmentierter Berufsbiografien und des lebenslangen Lernens kann sich die Berufsorientierung nicht auf die Gestaltung des unmittelbar anstehenden Übergangs beschränken. Vielmehr sind die Jugendlichen zu befähigen auch weitere Übergänge in ihrem zukünftigen Leben zu gestalten.

Über die konkreten Anforderungen an die Ausbildungsreife gibt es unterschiedliche Auffassungen (vgl. MÜLLER/ REBMANN 2008; EHRENTHAL/ EBERHARD/ ULRICH 2005). Dem EXPERTENKREIS AUSBILDUNGSREIFE (vgl. 2006) ist zuzustimmen, dass die Berufswahlreife eine Dimension der Ausbildungsreife darstellt. Allerdings wird von dem Expertenkreis die Berufswahlreife sehr verkürzt dargestellt und weitgehend auf die Selbsteinschätzungs- und Informationskompetenz beschränkt (vgl. a.a.O., 21, 58 f.).

Als Ausgangspunkt einer systematischen Berufsorientierung ist somit die Frage zu stellen, was unter der Berufswahlreife zu verstehen ist. In einer konkreteren Annäherung können unter der Berufswahlreife die Fähigkeit und Bereitschaft verstanden werden, als Ergebnis eines möglichst selbstgesteuerten Berufsorientierungsprozesses einen individuell geeigneten Beruf zu wählen und die Wahl in Form von Bewerbungsaktivitäten zu realisieren. Um die Umsetzung der Berufsorientierung im Schulalltag zu erleichtern, bietet sich die Entwicklung von Bildungsstandards und Kompetenzmodelle zur Berufsorientierung an. Bildungsstandards legen nach der Definition der Kultusministerkonferenz fest, „welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe an wesentlichen Inhalten erworben haben sollen“ (KMK 2005, 9). Weitere Eigenschaften sind der kumulative Kompetenzaufbau und die Output-Orientierung.  Das Beispiel in der Abb. 2 zeigt die Umsetzung im Kerncurriculum für den Fachbereich Arbeit-Wirtschaft -Technik an den Integrierten Gesamtschulen in Niedersachsen. Es ist eindeutig ausgewiesen, über welche Kompetenzen die Schüler am Ende des Themenfeldes „Erwerbstätige im Wirtschaftsgeschehen“ verfügen sollen. Außerdem werden die Potenziale des Fachs Wirtschaft i. w. S. zur Berufsorientierung genutzt.


  Themenbereich „Erwerbstätige im Wirtschaftsgeschehen“

  Kompetenzbereich Fachwissen: Die Schülerinnen und Schüler…

  • nennen Stationen im Zeitplan zur Berufsfindung.
  • stellen im Rahmen der Berufswahl Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten zusammen.
  • nennen Einflussfaktoren auf die Berufswahl.
  • stellen Informationsquellen zur Berufswahl zusammen.
  • beschreiben verschiedene Wege in den Beruf- und Weiterbildungsmöglichkeiten.
  • beschreiben Anforderungen und Merkmale verschiedener Berufe.
  • benennen aktuelle Ausbildungsplatzangebote der Region.
  • nennen den typischen Ablauf eines Bewerbungsverfahrens.
  • nennen die Elemente eines Ausbildungsvertrages.
  • nennen Rechte und Pflichten der / des Auszubildenden und des Ausbildungsbetriebes.

  Kompetenzbereich Erkenntnisgewinnung: Die Schülerinnen und Schüler …

  • erstellen einen persönlichen Zeitplan zur Berufsfindung.
  • vergleichen Selbsteinschätzung mit Fremdeinschätzung.
  • arbeiten Informationen aus Tests und Beratungen für ihre berufliche/schulische Planung heraus.
  • werten Informationen zu einem Beruf aus.
  • erkunden einen Beruf.
  • entwickeln Entscheidungshilfen für die Berufswahl.
  • entwickeln Berufsperspektiven.
  • bewerben sich um einen Betriebspraktikumsplatz.
  • erkunden einen Beruf im Betriebspraktikum.

  Kompetenzbereich Beurteilen/Bewerten: Die Schülerinnen und Schüler …

  • beurteilen Interessen, Fähigkeiten und Fertigkeiten hinsichtlich einer möglichen Berufswahl.
  • bewerten Einflussfaktoren auf die Berufswahl.
  • beurteilen verschiedene Informationsquellen zur Berufswahl.
  • beurteilen das regionale Ausbildungsplatzangebot.
  • setzen sich mit den Erfahrungen aus dem Betriebspraktikum auseinander.

 

Abb. 2: Berufswahlkompetenzen im Fach Arbeit-Wirtschaft-Technik an Integrierten Gesamtschulen in Niedersachsen (vgl. NIEDERSÄCHSISCHES KULTUSMINISTERIUM  2010 d), 29f.)

Die Bildungsstandards haben nicht den Anspruch, das gesamte Spektrum von Erziehung und Bildung abzudecken (vgl. KMK 2005, 16). Vor diesem Hintergrund ist das in der Abb. 2 dargestellte Beispiel als eine Annäherung an die kognitive Dimension der Berufswahlreife zu verstehen. Im Hinblick auf eine umfassende Förderung der Berufswahlreife ist (mit Blick auf den entwicklungs- und übergangstheoretischen Ansatz; vgl. Kapitel 2.2) außerdem zu berücksichtigen, dass auch die Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung zu fördern sind. Für eine Schärfung des Begriffs Berufswahlreife sind theoretische Konzepte z. B. zur Entwicklungspsychologie (vgl. SUPER 1957, CRITES/ SAVICKAS 1995) Selbstkonzepten (vgl. JUNG/ ÖSTERLE 2009, 168 ff.) oder epistemologischen Überzeugungen (vgl. MÜLLER/ PAECHTER/ REBMANN 2008, 1; PRIEMER 2006) als sehr bedeutsam anzusehen. Hieraus erwächst als ein Forschungsdesiderat die Entwicklung eines umfassenden theoretischen Gesamtkonzepts unter Einbeziehung der relevanten theoretischen Ansätze. Dabei sind auch die Berufswahltheorien zu berücksichtigen, auf die im nächsten Kapitel eingegangen wird.

2.2  Lernen und Lehren gestalten

Die Gestaltung der Lehr- und insbesondere der Lernprozesse im Rahmen der Berufsorientierung bedingt die Berücksichtigung von Berufswahltheorien. Bei allen Unterschiedlichkeiten sind die verschiedenen Berufswahltheorien zwischen zwei Polen angesiedelt: dem berufswählenden Individuum einerseits, sowie den Umwelteinflüssen andererseits.

Nachfolgend sollen einige Berufswahltheorien vorgestellt werden, die im Rahmen einer systematischen Berufsorientierung zu berücksichtigen sind:

  • Differenzialpsychologische Ansätze (vgl. z. B. das hexadiagonale Modell von HOLLAND 1985) haben in der Berufseignungspsychologie und als Folge in der Berufsberatung eine große Bedeutung erlangt. Die Berufswahl stellt einen Prozess der Zuordnung der Berufswähler zu geeigneten Berufen dar; Bindeglieder sind die beruflichen Anforderungen einerseits und die Persönlichkeitsmerkmale und das Kompetenzprofil des Berufswählers anderseits.
  • Entscheidungstheoretische Ansätze stellen im Gegensatz zu allokationstheoretischen Ansätzen den individuellen Entscheidungsprozess des Individuums in den Mittelpunkt der Betrachtung. Hinsichtlich des Entscheidungsverhaltens lassen sich beispielsweise verschiedene Varianten (rationale Wahl, „Durchwurschteln“, Zufallswahl) unterscheiden (vgl. DICHATSCHEK 2002, 6).
  • Entwicklungstheoretische Ansätze (vgl. SUPER 1957, CRITES/ SAVICKAS 199, STANGL/ SEIFERT 1986, BERGMANN/ EDER 1998) erklären die Berufswahl als entwicklungspsychologisches Geschehen und als Abschnitt eines lebenslangen Entwicklungsprozesses. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, über welche Einstellungen, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Berufswähler in der jeweiligen Phase seiner beruflichen Entwicklung verfügen sollte. Angesichts des Lebensphasenkonzepts relativieren entwicklungspsychologische Ansätze die Bedeutung der Erstberufswahl.
  • Gemäß dem übergangstheoretischen Ansatz (vgl. BUßHOFF 1998) stellt die Berufswahl die Bewältigung eines Übergangs dar. Der Übergang wird als eine individuelle Anpassungsleistung verstanden, um Unstimmigkeiten im Verhältnis zur Umwelt zu reduzieren. Gefordert sind also Übergangskompetenzen wie die Wahrnehmung von Herausforderungen sowie deren Annahme, die Entdeckung persönlicher Ressourcen, sowie Kompetenzen zur Planung und Umsetzung von Anpassungsprozessen.
  • Das Kooperationsmodell (vgl. EGLOFF 1998, 2001) basiert auf dem entwicklungspsychologischen und übergangstheoretischen Ansatz. Kerngedanke ist, dass die Jugendlichen im Übergang rollenspezifische Unterstützung durch Kooperationspartner wie Eltern und Lehrer finden, die eine selbstverantwortliche Entscheidung fördern. Die Entwicklung der Berufswahlreife umfasst sowohl Reife – als auch Lernprozesse. Wer die Persönlichkeitswerdung der Jugendlichen beeinflusst, ist somit automatisch fördernd oder hemmend an der Entwicklung der Berufswahlreife beteiligt. Ziel ist es also, dass die beeinflussenden Personen in dem Prozess ihre Hilfe möglichst förderlich zur Verfügung stellen.

Als Grundlage zur Unterstützung der Berufswahl erscheint insbesondere das Kooperationsmodell als geeignet, weil es den Entwicklungsprozess in Verbindung mit der Selbststeuerung des Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt und zugleich die Unterstützung des sozialen Umfeldes mit einbezieht. Ein weiterer Vorteil des Kooperationsmodells ist die hohe Kompatibilität zu einer gemäßigt konstruktivistischen Unterrichtsphilosophie, da die Selbststeuerung der Lernenden im Mittelpunkt steht, ohne auf Fremdsteuerung und Anleitung verzichten zu wollen. Anzumerken ist, dass das Kooperationsmodell nicht im Widerspruch zu differentialpsychologischen Ansätzen steht; der Einsatz von Testverfahren ist sehr hilfreich, um die Selbsterkenntnis der Jugendlichen zu fördern.

2.3 Kooperation und Schulkultur

Für eine differenzierte Betrachtung der Gestaltung von Kooperationen erscheint die Unterscheidung zwischen Berufsorientierung im engeren und weiteren Sinne (vgl. MÜLLER 2002, 180) sinnvoll:

  • Berufsorientierung im weiteren Sinne soll Erkenntnisse, Einsichten und kritische Reflexionen über die Bereiche Gesellschaft, Technik und Wirtschaft ermöglichen.
  • Berufsorientierung im engeren Sinne soll die Schülerinnen und Schüler befähigen, ihre berufliche Orientierung und Wahl möglichst selbständig zu gestalten.

Die Berufsorientierung im weiteren Sinne ist zwingend notwendig, um einen Orientierungsrahmen für die Berufsorientierung im engeren Sinne herzustellen. Ein wesentliches Element der Berufsorientierung im engeren Sinne sind die Praxiskontakte, beispielsweise Praktika in Unternehmen und berufsbildenden Schulen, Betriebserkundungen u. a. m. Diesbezüglich ist nicht nur eine unterrichtliche Vor- sondern auch Nachbereitung notwendig, damit die singulären Praxiserfahrungen reflektiert werden. Deshalb stellt die Berufsorientierung eine schulische Gesamtaufgabe dar, aber gleichwohl sind die Beiträge der einzelnen Fächer zu konkretisieren, um einer „verteilten Nicht-Verantwortlichkeit“ vorzubeugen.

Das Fach Wirtschaft i. w. S. bietet sich als Ankerfach für die Berufsorientierung an, denn es kann und muss zentrale Beiträge zu Berufsorientierung liefern, damit die Jugendlichen vor ihrem Eintritt in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt verstehen, wie dieser Markt funktioniert, welche Akteure in diesem Markt agieren und wie sich der Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund neuer Trends verändert. Nur so ist es möglich, dass ein Abgleich zwischen den individuellen Interessen und Fähigkeiten und den Erfordernissen des Arbeitsmarktes erfolgt. Außerdem kann aufgrund der Affinität die Vor- und Nachbereitung der Praxiskontakte sehr gut im Wirtschaftsunterricht erfolgen.

Eine schulinterne Vernetzung der Fächer und der Kolleginnen und Kollegen ist somit die zwingende Voraussetzung für die erfolgreiche Vernetzung mit den schulexternen Partnern. Hinsichtlich der externen Vernetzung stellt sich die Frage, wie die vielfältigen schulexternen Angebote in den Berufsorientierungsprozesse der Schülerinnen und Schüler zu integrieren  und mit den Beiträgen der Fächer abzustimmen sind. In dem hier zugrunde gelegten Kooperationsmodell umfasst der Berufswahlprozess sechs Stufen, die zugleich mit Reife- und Lernprozessen einhergehen. Im Mittelpunkt steht der Jugendliche, der möglichst selbstverantwortlich seinen Berufsorientierungsprozess gestalten soll. Den unterstützenden sozialen Systemen (Eltern, Lehrkräfte, Unternehmen, Berufsberater usw.) kommen rollenspezifische Förderungsmöglichkeiten in dem Berufswahlprozess und bei der Erlangung der Berufswahlreife zu. Basierend auf dem – hinsichtlich der Stufen reduzierten – Kooperationsmodell wird in der Abb. 3 am Beispiel der niedersächsischen Hauptschulen dargestellt, wie die externen Angebote und Inhalte des Fachunterrichts (unter besonderer Berücksichtigung des zweistündigen Fachs Wirtschaft) sinnvoll angeordnet werden können.

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Abb. 3:  Beispiel zur Verzahnung der Maßnahmen zur Berufsorientierung im engeren und weiteren Sinne an niedersächsischen Hauptschulen (eigene Darstellung)

Zur effektiven Abstimmung der verschiedenen Akteure wird zunehmend der Aufbau regionaler Berufsorientierungsnetzwerke bzw. Bildungsketten vorangetrieben, in denen sich alle mit der Berufsorientierung befassten Partnereinrichtungen zusammenschließen und ihr Angebot koordinieren.

Netzwerke haben in der dualen Ausbildungsstruktur der beruflichen Bildung eine lange Tradition. Besonders herauszustellen ist das BLK-Modellversuchsprogramm KOLIBRI (Kooperation der Lernorte in der beruflichen Bildung) (vgl. KRAFCZYK/ WALZIK 2001) mit 27 Modellversuchen zur Lernortkooperation in der beruflichen Bildung. Die Erfahrungen zur Kooperation mit Wirtschaftspartner können die berufsbildenden Schulen gewinnbringend in die Zusammenarbeit mit den allgemeinbildenden Schulen einbringen.

2.4 Ziele und Strategien der Schulentwicklung

Die vorangegangenen Qualitätsbausteine haben bereits deutlich gemacht, dass die Berufsorientierung eine strategische Schulentwicklungsaufgabe darstellt. Ausgangspunkt hierfür ist ein Paradigmenwechsel von dem Abschluss – hin zur Anschlussorientierung. Der Schulabschluss ist ein Meilenstein, aber kein Schlusspunkt. Notwendig ist deshalb eine Erweiterung der Perspektive seitens der abgebenden Schulen, um die Schüler bei der Planung und Gestaltung des Übergangs zu unterstützen. Die Verankerung im Schulprogramm ist eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Notwendigkeit. Notwendig ist, dass die Berufsorientierung als Schulleiteraufgabe wahrgenommen und in die konkrete Schulentwicklungs- und Unterrichtsarbeit überführt wird.

Dies bedingt eine umfassende schulpädagogische Herangehensweise, die sich nicht auf den unterrichtlichen Kontext beschränkt, sondern die Gestaltung institutionalisierter Lern- und Lehrprozesse insgesamt und somit auch das Bildungssystem in den Blick nimmt. FEND (vgl. 2008, 16 f.) unterscheidet diesbezüglich zwischen der Makroebene (Schulpolitik und Schulverwaltung), Mesoebene (Schulleitung und -entwicklung) und der Mikroebene (unterrichtliches Handeln der Lehrenden und Lernenden). Eine wesentliche Ursache für die oftmals mangelnde Systematik der schulischen Aktivitäten zur Berufsorientierung ist auf der Makroebene, d. h. nicht hinreichend präzisen in den Lehrplänen und Erlassen zur Berufsorientierung zu finden. Wenn in den bildungspolitischen Vorgaben nur allgemein von Berufsorientierung als „schulischen Gesamtaufgabe“ gesprochen wird, mag die damit einhergehende Freiheit der Schulentwicklung einzelnen Schulen entgegen kommen, führt aber zugleich zu einer Überforderung in zahlreichen anderen Kollegien. Verstärkend kommt in diesem Zusammenhang die oftmals ungesicherte Qualifikation der mit Berufsorientierung befassten Lehrkräfte hinzu (vgl. Kapitel 2.6). Auf der anderen Seite dürfen die Vorgaben insbesondere in Flächenländern nicht zu eng gesetzt sein, weil bei der externen Vernetzung der Schulen die Struktur des regionalen Wirtschaftsraumes unbedingt zu berücksichtigen ist.

2.5 Schulmanagement und Qualitätsentwicklung

Die praktische Notwendigkeit zur umfassenden Schulentwicklung zeigt sich auch an typischen Bausteinen der Programme zur Qualitätsentwicklung an Schulen. Die Gliederung dieses Kapitels orientiert sich an den Qualitätsbereichen, die in den Programmen zur Schulqualität in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, aber auch ähnlich in anderen Bundesländern zu finden sind. Diesbezüglich ist aber problematisch, dass die Berufsorientierung nicht systematisch in den Qualitätsprogramme eingebettet sind. Derzeit lassen deshalb zahlreiche Schulen ihre Berufsorientierungsprogramme von den diversen Qualitätssiegel-Programmen zertifizieren. Bei der Gegenüberstellung der schulischen Qualitätskriterien mit den diversen Zertifizierungssystemen wird aber ein konzeptionelles Defizit auf der Makro- und Mesoebene deutlich: einerseits ist das Thema Berufsorientierung in den Programmen zur Qualitätsentwicklung nur teilweise enthalten, anderseits sind die Zertifizierungsangebote zur Berufsorientierung nicht auf die Konzepte zur Schulqualität in den Ländern abgestimmt. In der Abb. 4 wird das Grundmuster eines ausgefeilten Qualitätsmanagementsystems zur Berufsorientierung dargestellt. Wichtig ist, dass die Implementation eines solchen oder ähnlichen Systems im Kontext des schulischen Qualitätsmanagements erfolgt.

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Abb. 4: Qualiltätsmanagementsystem zur Berufsorientierung (BERTELSMANN-STIFTUNG, BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT SCHULE WIRTSCHAFT, MTO 2009, 19)

2.6 Professionalität der Lehrkräfte

Einerseits sind die Lehrkräfte zentrale Ansprechpartner für die Schülerinnen und Schüler, andererseits legen sie die Grundlagen für die Umsetzung der Verordnungen zur Berufs- und Studienorientierung. Letztendlich entscheidet die Arbeit der Lehrkräfte darüber, ob insbesondere die Praxiskontakte bei den Schülern fragmentarische Erinnerungen bleiben oder einen domänenspezifischen Kontext eingefügt werden. Allerdings ist die Situation in doppelter Weise hinsichtlich der Lehrerprofessionalität problematisch. Einerseits wird die Verantwortung für die Berufsorientierung oftmals Lehrkräften übertragen, die in nicht affinen Fächern unterrichten (insb. Klassenlehrermodell). Anderseits fehlt es in zahlreichen Bundesländern an einer hinreichend verbindlichen Verankerung ökonomischer Inhalte im Lehrplan, d. h. in der Konsequenz werden entsprechende Inhalte fachfremd unterrichtet. Somit kommen die Potenziale eines (Anker-)Fachs Wirtschaft (vgl. Kapitel 2.3) in der Berufsorientierung nicht zum Tragen.

Die schulische Realisierung der Berufs- und Studienorientierung bedingt somit die Entwicklung und Durchführung entsprechender Fortbildungskonzepte. Darüber hinaus ist die Berufsorientierung in die affinen Fachdidaktiken und allgemeinpädagogischen Studieninhalte der Lehrererstausbildung zu integrieren. Hierfür ist eine Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Studienseminaren und Lehrerfortbildungseinrichtungen erforderlich, um die Angebote in der drei Phasen der Lehrerbildung aufeinander abzustimmen.

3 Förderung eines systematischen Übergangs in die berufsbildenden Schulen am Beispiel Niedersachsen

Einige Bundesländer wie beispielsweise Hamburg und Niedersachsen haben bei der Reform der Berufsorientierung einen besonderen Schwerpunkt auf die Einbeziehung der berufsbildenden Schulen gelegt. Nachfolgend wird Niedersachsen vorgestellt, das aufgrund seines geografischen Charakters eines Flächenlandes durch städtische als auch ländliche Regionen gekennzeichnet ist.

Die niedersächsische Landesregierung hat im Jahr 2004 einen Erlass zur Berufsorientierung (vgl. NIEDESÄCHSISCHES KULTUSMINISTERIUM 2004) eingeführt, der insbesondere die Hauptschulen mit der Einführung von Betriebs- und Praxistagen mit einem Umfang von 60 bis 80 Tagen in den Jahrgangsstufen 8 – 10 betraf. Unter dem Begriff Betriebs- und Praxistage werden insbesondere Schülerbetriebspraktika, Erkundungen, berufspraktische Projekte und praxisorientierte Lernphasen innerhalb des Fachunterrichts an den allgemeinbildenden (z. B. Schülerfirmen) und berufsbildenden Schulen subsummiert. Zum Schuljahr 2011/12 treten neue Erlasse zur Arbeit in den Hauptschulen und Realschulen in Kraft (vgl. NIEDESÄCHSISCHES KULTUSMINISTERIUM 2010 a, b). Ein Schwerpunkt dieser Erlasse stellt die Intensivierung der Berufsorientierung und die Intensivierung der Zusammenarbeit der allgemeinbildenden Schulen mit den berufsbildenden Schulen und der Berufsberatung dar (ausführlich in JANßEN 2011). Mit Blick auf die Zusammenarbeit mit den berufsbildenden Schulen sind vor allem die folgenden Regelungen relevant:

  • In den Hauptschulen wird die Anzahl der Betriebs- und Praxistage auf mindestens 80 Tage in den Schuljahrgängen 7 – 10 erhöht. Außerdem sollen explizit berufsbildende Inhalte unterrichtet werden. Durch eine intensivierte Zusammenarbeit mit berufsbildenden im Sinne des „Neustädter Modells“ (ein niedersächsisches Modellprojekt, welches nach der gleichnamigen Stadt benannt ist) kann bereits die berufliche Grundbildung für die Anerkennung als erstes Ausbildungsjahr in einem Berufsfeld erworben werden.
  • Die Berufsorientierung als Aufgabe der Realschulen soll gezielt auf den Übergang in die Berufs- und Arbeitswelt vorbereiten. In Anlehnung an die Betriebs- und Praxistage in den Hauptschulen werden berufsorientierende Maßnahmen mit einem Umfang von mindestens 30 Schultagen vorrangig in Jahrgängen 8 bis 10 eingeführt. Außerdem führen die Realschulen die Profilfächer Französisch, Technik, Wirtschaft und/oder Gesundheit/Soziales, die in den Jahrgängen 9 und 10 mit zwei oder vier Wochenstunden unterrichtet werden, ein. Die Profilfächer bereiten implizit auf zentrale Berufsfelder der berufsbildenden Schulen vor.

Die Umsetzung der Erlasse wird durch verschiedene Maßnahmen flankiert:

  • Die Haupt- und Realschulen werden bei der Umsetzung der Neuerung durch das niedersächsische System der Fachberaterinnen und Fachberater zur Berufsorientierung unterstützt. Die Fachberaterinnen und Fachberater sind Lehrkräfte mit reduzierter Unterrichtsverpflichtung, die an den Schulen ihrer Region Beratungen und Schulungen zur Berufsorientierung durchführen.
  • Der Berufsberater bzw. die Berufsberaterin, die für die Schule zuständig sind, sowie die mit der Koordination der Berufsorientierung befasste Lehrkraft arbeiten eng zusammen und wählen gemeinsam und Kriterien geleitet (vgl. BUNDESAGENTUR FÜR ARBEIT/ BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT SCHULE WIRTSCHAFT 2011) die externen Angebote zur Berufsorientierung aus.
  • Die Einführung von landesweiten Kompetenzfeststellungsverfahren, welche auch die Eignung für Berufsfelder erfassen, wird in der Jahrgangsstufe 7 oder 8 vorangetrieben, um die Berufs- und Profilwahl der Schülerinnen und Schüler zu unterstützen.
  • Die Schülerinnen und Schüler dokumentieren ihren Berufsorientierungsprozess z. B. im Berufswahlpass.
  • Das Erfahrungspotenzial der berufsbildenden Schulen hinsichtlich der Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft wird genutzt. Hierfür gibt es an den berufsbildenden Schulen eine halbe Stelle zur Koordination der Zusammenarbeit mit und zwischen den allgemeinbildenden Schulen und Unternehmen.

Die Neuerungen gehen nach der Meinung des Autors in die richtige Richtung, werfen aber hinsichtlich der Umsetzung Fragen und Herausforderungen auf:

  • Die Zusammenarbeit zwischen den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen stellt eine logistische und organisatorische Herausforderung dar: In ländlichen Gebieten sind große Entfernungen bis zur berufsbildenden Schule mit dem beruflichen Schwerpunkt, der den Eignungen und Neigungen der Lernenden entspricht, zurückzulegen. Außerdem stellen sich die für die Kooperation verfügbaren personellen Kapazitäten an den berufsbildenden Schulen sehr unterschiedlich dar. Hinzu kommen formalrechtliche Fragen z. B. bei Unterrichtsverbünden.
  • Für die Realschulen sind keine musischen oder naturwissenschaftlichen Profilfächer vorgesehen, die auf einen Übergang auf ein allgemeinbildendes Gymnasium vorbereiten. Die Jahrhunderte alte Diskussion  zum Verhältnis von Allgemeinbildung und Berufsbildung in den allgemeinbildenden Schulen kann hier nicht thematisiert werden.
  • Eine zentrale Frage ist die Qualifikation der Lehrkräfte. Dies betrifft zunächst einmal die Gestaltung der Berufsorientierung, die oftmals ohne einschlägige Fakultas erfolgt (vgl. Kapitel 2.6). Das Problem verschärft sich an den Realschulen hinsichtlich der Einrichtung der Profilfächer. Beispielsweise kommen zu dem zweistündigen Pflichtfach Wirtschaft zwei oder vier weitere Unterrichtsstunden in dem gleichnamigen Profilfach. Es liegt auf der Hand, dass aus den neuen Erlassen ein massiver Weiterbildungsbedarf der Lehrkräfte resultiert (vgl. Kapitel 2.6).

Wenngleich die neuen Erlasse nur die Haupt- und Realschulen direkt in die Pflicht nehmen, liegt auch die Verantwortung der berufsbildenden Schulen auf der Hand. Als Folge der Einführung der Betriebs- und Praxistagen im Jahr 2005 in den Hauptschulen haben sich bereits – wenngleich sehr unterschiedliche – Kooperationen zwischen den regionalen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen entwickelt. Kooperationsaktivitäten der berufsbildenden Schulen, die es noch auszubauen gilt, sind beispielsweise:

  • Regelmäßige Praxistage (z. B. ein Tag pro Woche), in denen die Schülerinnen und Schüler in unterschiedliche Berufsfelder der berufsbildenden Schulen eingeführt werden
  • Ausrichtung von regionalen Ausbildungs- und Praktikumsmessen durch die berufsbildenden Schulen
  • Informationsveranstaltungen für Lehrkräfte der Sekundarstufe I zu den komplexen Angeboten der berufsbildenden Schulen
  • Abstimmung der Aktivitäten zwischen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen im regionalen Kontext

Zur Unterstützung der Schulen bei der Umsetzung der neuen Erlasse haben im Jahr 2010 das Oldenburger Institut für Ökonomische Bildung und die Oldenburgische Industrie- und Handelskammer  die Fachtagung „Übergang Schule und Beruf in Niedersachsen“ ausgerichtet (vgl. SCHRÖDER/ WESTER/ KAMINSKI/ HILDEBRANDT 2011). Unter anderem wurde in schulformspezifischen Workshops gemäß dem Motto „Das Rad muss nicht neu erfunden werden“ den Lehrkräften die Möglichkeit gegeben, ihre Best Practice Beispiele darzustellen und hinsichtlich der Übertragbarkeit zu diskutieren. Außerdem hat sich eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Mitgliedern der beiden genannten Einrichtungen, Schulen, Schulverwaltung, Fachberatern und Arbeitsagentur gebildet, die an einem Leitfaden zur Berufsorientierung für Niedersachsen arbeiten.

4 Zusammenfassung

Die zentralen Aussagen der vorangegangen Kapitel sollen noch einmal kurz zusammengefasst werden:

  • Mit Blick auf den sich abzeichnenden Fachkräftemangel in der deutschen Wirtschaft stellt die Verbesserung der Ausbildungsreife und Berufsorientierung nicht nur eine soziale, sondern auch eine zunehmend gesamtwirtschaftliche Notwendigkeit dar.
  • Die Angebote zur Berufsorientierung in der Sekundarstufe wurden in den letzten Jahren ausgebaut; die  systematische Zusammenarbeit der zahlreichen regionalen Partner ist derzeit eine zentrale Herausforderung.
  • Die Berufsorientierung stellt für die berufsbildenden Schulen eine Herausforderung nicht nur auf der abgebenden, sondern auch aufnehmenden Seite dar. Hinsichtlich der Verbesserung des Übergangs aus der Sekundarstufe I ist den berufsbildenden Schulen ein größerer Stellenwert einzuräumen.
  • Die Angebote der berufsbildenden Schulen sind eine wesentliche, aber nicht alleinige Alternative für die Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I. Vor diesem Hintergrund sind die Aktivitäten zur Verbesserung des Übergangs in die berufsbildenden in ein systematisches Gesamtkonzept einzubinden.
  • Die berufsbildenden Schulen können ihre umfangreiche Kooperationserfahrung mit Partnern aus der Wirtschaft in die Zusammenarbeit mit den allgemeinbildenden Schulen einbringen.
  • Die Intensivierung der Zusammenarbeit zwischen den allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen ist mit diversen Herausforderungen verbunden, wie am Beispiel des Bundeslandes Niedersachsen aufgezeigt wurde.

Aus der universitären Perspektive erwachsen aus den praktischen Herausforderungen Forschungsaufgaben, die unterschiedliche Fachdidaktiken, sowie pädagogische, soziologische und psychologische Disziplinen tangieren, was eine interdisziplinäre Herangehensweise nahe legt. Notwendig sind die theoretische Fundierung der Berufswahlreife sowie die Entwicklung valider Erhebungsinstrumente. Einen weiteren Schwerpunkt sollte die schulpädagogische Fundierung der Berufsorientierung darstellen.

Eine nachhaltige Verbesserung der Berufsorientierung bedingt eine Verbesserung entsprechenden Lehrerqualifikation, die in den allgemeinbildenden Schulen nicht hinreichend gesichert ist. Notwendig sind Fort- und Weiterbildungsprogramme, aber auch die verstärkte Integration in die Erstausbildung der Lehrkräfte. Dies betrifft sowohl die affinen Fachdidaktiken als auch allgemeine pädagogische Veranstaltungen.

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Zitieren dieses Beitrages

SCHRÖDER, R. (2011): Verbesserung der Systematik beim Übergang von den allgemeinbildenden Schulen unter besonderer Berücksichtigung der berufsbildenden Schulen. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 15, hrsg. v. JUNG, E./ KENNER, M./ LAMBERTZ, H.-G., 1-19. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft15/schroeder_ft15-ht2011.pdf (26-09-2011).



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