Titel:
Bildungsziel Übergangsbewältigung: Pädagogisch didaktische Herausforderungen und Strategien am Übergang ins Ausbildungs- und Beschäftigungssystem
Beitrag von Rudolf SCHRÖDER (Universität Oldenburg, Institut für Ökonomische Bildung)
Die derzeitige Situation der Berufsorientierung ist einerseits durch eine Vielzahl von Initiativen, Maßnahmen und Akteuren gekennzeichnet. Andererseits kommt es zu erheblichen Effizienzverlusten, weil die Maßnahmen nicht hinreichend aufeinander abgestimmt sind und zahlreiche Lehrkräfte überfordert sind. Erschwerend kommt hinzu, dass bislang der Übergang von der Schule in die Berufsausbildung oder in das Studium im Mittelpunkt der Betrachtung standen oder immer noch stehen. Das vielfältige Angebot der berufsbildenden Schulen in Verbindung mit der Spezialisierung auf bestimmte Berufsfelder und Bildungsgänge wird oftmals unzureichend in den Übergangsentscheidungen der Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I berücksichtigt, was zu Problemen in den berufsbildenden Schulen und den sich anschließenden Übergängen führt. Die zwingend notwendige Verbesserung des Übergangs von den allgemeinbildenden in die berufsbildenden Schulen ist zugleich in eine Gesamtkonzeption zur Berufsorientierung einzubinden. Diesbezüglich werden zentrale Qualitätsbereiche beleuchtet, die in zahlreichen Konzepten der Bundesländer zur Schulqualität enthalten sind. Zahlreiche Bundesländer haben in den letzten Jahren – allerdings in einem unterschiedlichen Umfang und mit unterschiedlichen Konzepten – die Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen ausgebaut. Exemplarisch wird auf Niedersachsen eingegangen, wo die neuen Erlasse zur Arbeit in den Haupt- und Realschulen die Zusammenarbeit mit den berufsbildenden Schulen besonders intensiv einfordern.
Die Berufsorientierung stellt eine aktuelle, aber keinesfalls eine neue Herausforderung dar. Derzeit ändert sich zumindest vordergründig als Folge des demografischen Wandels die Situation auf dem Ausbildungsmarkt. Wurde vor wenigen Jahren noch auf die fehlenden Ausbildungsplätze verwiesen, übersteigt seit Ende des letzten Jahrzehnts die Zahl der unbesetzten Ausbildungsplätze die Zahl der unversorgten Bewerberinnen und Bewerber. Als Konsequenz wird vor einem Fachkräftemangel gewarnt; beispielsweise hat das Handwerk im letzten Jahr eine Imagekampagne zur Anwerbung von Auszubildenden gestartet. Bei einer genaueren Betrachtung zeigen sich allerdings zahlreiche Disparitäten beim beruflichen Übergang in Abhängigkeit von z. B. sozialer Herkunft, Migrationshintergrund oder Geschlecht. Außerdem werden das Angebot an und die Nachfrage nach Ausbildungsplätzen statistisch nur bedingt erfasst, weil für die Jugendlichen und Ausbildungsbetriebe gleichermaßen keine Pflicht besteht, sich bei der Bundesagentur für Arbeit registrieren zu lassen (vgl. BMBF 2009, 15). So gaben im Frühling 2010 77 % der Schulabgängerinnen und Schulabgänger mit einem Hauptschulabschluss als Ziel eine duale Ausbildung an; gemäß der Erhebung zu den vollzogenen Übergängen im Herbst 2010 wurde aber der Übergang nur von 36 % vollzogen. Im Gegenzug lag der angestrebte Übergang in eine berufliche Vollzeitschule (Berufsvorbereitungsjahr, Berufsgrundschuljahr, Berufsfachschule) bei 9 %, der real vollzogene Übergang bei 24 %. Auch bei den Absolventinnen und Absolventen mit einem mittlerem Bildungsabschluss gab es eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem Ziel (58 %) und dem Vollzug (36 %) des Übergangs in eine duale Ausbildung; allerdings weichen diese Schülerinnen und Schüler seltener in eine berufliche Vollzeitschule aus (vgl. BIBB 2011, 84, 88). Aufgrund dieser Diskrepanz ist seit Anfang der 90er die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den beruflichen Vollzeitschulen von 264.120 (1992) auf 566.000 (2005) Schülerinnen und Schüler gestiegen (vgl. BIBB 2011, 203). Zugleich vollzog sich der Anstieg der Teilnehmerzahlen primär in der Berufsfachschule. Wenngleich die Zahl der Schülerinnen und Schüler in den beruflichen Vollzeitschulen aufgrund der verbesserten Situation auf dem Ausbildungsmarkt auf unter 500.000 gesunken ist, kann nicht von einer grundsätzlichen Entschärfung der Übergangsproblematik gesprochen werden.
Als Ursache der geschilderten Übergangsproblematik in einen Ausbildungsberuf wird seitens der Wirtschaft oftmals die fehlende Ausbildungsreife angeführt. Andererseits ist zu konstatieren, dass die Anforderungen in zahlreichen Ausbildungsberufen gestiegen sind. Exemplarisch sei auf die Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker anstelle des früheren Kfz-Mechanikers verwiesen. Hieraus erwächst strukturell ein verstärkter Bedarf nach einer beruflichen Grundbildung insbesondere durch die Berufsfachschule.
Nicht wenige Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I vollziehen den Übergang in die berufsbildenden Schulen ohne eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den vielfältigen Angeboten in Abhängigkeit von den formalen Eingangs- und Ausgangsqualifikationen, den Berufsfeldern, sowie den daraus resultierenden Spezialisierungen der einzelnen berufsbildenden Schulen. Als Folge wählen die Jugendlichen beispielsweise ein für sie unpassendes Berufsfeld in der nah am Wohnort gelegenen berufsbildenden Schule, was Motivations- und Leistungsprobleme nach sich zieht. Dieses Problem kann aber auch teilweise auf ein Ausweichverhalten zurückgeführt werden, um sich durch den Wechsel auf eine andere Schule vermeintlich noch nicht mit der Berufswahl auseinandersetzen zu müssen. Zu berücksichtigten sind aber auch die Jugendlichen, die aufgrund erfolgloser Bewerbungsaktivitäten die vollzeitschulischen Bildungsgänge als subjektiv wahrgenommene Notlösung mit reduzierter Motivation absolvieren. Als Konsequenz werden „Warteschleifen“ an den berufsbildenden Schulen (und anderen Bildungseinrichtungen des Übergangssystems) absolviert, ohne dass ein zügiger Übergang in eine Berufsausbildung erfolgt.
Abb. 1: Vielfältiges Angebot der berufsbildenden Schulen
Angesichts der neuen Herausforderungen wurden in den letzten Jahren zahlreiche Programme zur Verbesserung des beruflichen Übergangs initiiert (vgl. BMBF 2011, 57 ff.; AUTORENGRUPPE BIBB/ BERTELSMANN STIFTUNG 2011, 33). Außerdem haben die meisten Bundesländer in den letzten Jahren die Angebote zur Förderung der Berufsorientierung in den allgemeinbildenden Schulen ausgebaut. Die Erlasse weisen aber hinsichtlich des Umfangs, der didaktisch-methodischen und schulpädagogischen Umsetzung (z. B. Verzahnung mit dem Fachunterricht oder Verantwortlichkeiten) sowie der regionalen Vernetzung der Akteure erhebliche Unterschiede auf. Gleichwohl ist generell festzustellen, dass die systematische Zusammenarbeit der Akteure Probleme bereitet (vgl. BIBB/ BERTELSMANN STIFTUNG 2011). Hierfür lassen sich mehrere Gründe anführen:
Eine weitere Herausforderung stellt die Koordination der regionalen Angebote dar; das bekannteste Programm zur diesbezüglichen Förderung stellt das „Regionale Übergangsmanagement“ (RÜM) in 55 deutschen Regionen dar. Hierbei handelt es sich um einen Baustein des Programms „Perspektive Berufsabschluss“, das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung und dem Europäischen Sozialfonds finanziert wird.
Die Angebote der berufsbildenden Schulen sind eine wesentliche, aber nicht alleinige Alternative für die Absolventinnen und Absolventen der Sekundarstufe I. Vor diesem Hintergrund sind die Aktivitäten zur Verbesserung des Übergangs in die berufsbildenden in ein systematisches Gesamtkonzept einzubinden. Nachfolgend werden – in Anlehnung an typische Qualitätsbereiche zur Schulqualität (z. B. in Nordrhein Westfalen und Niedersachsen) – wesentliche Elemente einer systematischen Berufsorientierung vorgestellt (ausführlich in SCHRÖDER 2011).
Vor dem Hintergrund fragmentierter Berufsbiografien und des lebenslangen Lernens kann sich die Berufsorientierung nicht auf die Gestaltung des unmittelbar anstehenden Übergangs beschränken. Vielmehr sind die Jugendlichen zu befähigen auch weitere Übergänge in ihrem zukünftigen Leben zu gestalten.
Über die konkreten Anforderungen an die Ausbildungsreife gibt es unterschiedliche Auffassungen (vgl. MÜLLER/ REBMANN 2008; EHRENTHAL/ EBERHARD/ ULRICH 2005). Dem EXPERTENKREIS AUSBILDUNGSREIFE (vgl. 2006) ist zuzustimmen, dass die Berufswahlreife eine Dimension der Ausbildungsreife darstellt. Allerdings wird von dem Expertenkreis die Berufswahlreife sehr verkürzt dargestellt und weitgehend auf die Selbsteinschätzungs- und Informationskompetenz beschränkt (vgl. a.a.O., 21, 58 f.).
Als Ausgangspunkt einer systematischen Berufsorientierung ist somit die Frage zu stellen, was unter der Berufswahlreife zu verstehen ist. In einer konkreteren Annäherung können unter der Berufswahlreife die Fähigkeit und Bereitschaft verstanden werden, als Ergebnis eines möglichst selbstgesteuerten Berufsorientierungsprozesses einen individuell geeigneten Beruf zu wählen und die Wahl in Form von Bewerbungsaktivitäten zu realisieren. Um die Umsetzung der Berufsorientierung im Schulalltag zu erleichtern, bietet sich die Entwicklung von Bildungsstandards und Kompetenzmodelle zur Berufsorientierung an. Bildungsstandards legen nach der Definition der Kultusministerkonferenz fest, „welche Kompetenzen die Schülerinnen und Schüler bis zu einer bestimmten Jahrgangsstufe an wesentlichen Inhalten erworben haben sollen“ (KMK 2005, 9). Weitere Eigenschaften sind der kumulative Kompetenzaufbau und die Output-Orientierung. Das Beispiel in der Abb. 2 zeigt die Umsetzung im Kerncurriculum für den Fachbereich Arbeit-Wirtschaft -Technik an den Integrierten Gesamtschulen in Niedersachsen. Es ist eindeutig ausgewiesen, über welche Kompetenzen die Schüler am Ende des Themenfeldes „Erwerbstätige im Wirtschaftsgeschehen“ verfügen sollen. Außerdem werden die Potenziale des Fachs Wirtschaft i. w. S. zur Berufsorientierung genutzt.
Kompetenzbereich Fachwissen: Die Schülerinnen und Schüler…
Kompetenzbereich Erkenntnisgewinnung: Die Schülerinnen und Schüler …
Kompetenzbereich Beurteilen/Bewerten: Die Schülerinnen und Schüler …
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Abb. 2: Berufswahlkompetenzen im Fach Arbeit-Wirtschaft-Technik an Integrierten Gesamtschulen in Niedersachsen (vgl. NIEDERSÄCHSISCHES KULTUSMINISTERIUM 2010 d), 29f.)
Die Bildungsstandards haben nicht den Anspruch, das gesamte Spektrum von Erziehung und Bildung abzudecken (vgl. KMK 2005, 16). Vor diesem Hintergrund ist das in der Abb. 2 dargestellte Beispiel als eine Annäherung an die kognitive Dimension der Berufswahlreife zu verstehen. Im Hinblick auf eine umfassende Förderung der Berufswahlreife ist (mit Blick auf den entwicklungs- und übergangstheoretischen Ansatz; vgl. Kapitel 2.2) außerdem zu berücksichtigen, dass auch die Identitätsfindung und Persönlichkeitsentwicklung zu fördern sind. Für eine Schärfung des Begriffs Berufswahlreife sind theoretische Konzepte z. B. zur Entwicklungspsychologie (vgl. SUPER 1957, CRITES/ SAVICKAS 1995) Selbstkonzepten (vgl. JUNG/ ÖSTERLE 2009, 168 ff.) oder epistemologischen Überzeugungen (vgl. MÜLLER/ PAECHTER/ REBMANN 2008, 1; PRIEMER 2006) als sehr bedeutsam anzusehen. Hieraus erwächst als ein Forschungsdesiderat die Entwicklung eines umfassenden theoretischen Gesamtkonzepts unter Einbeziehung der relevanten theoretischen Ansätze. Dabei sind auch die Berufswahltheorien zu berücksichtigen, auf die im nächsten Kapitel eingegangen wird.
Die Gestaltung der Lehr- und insbesondere der Lernprozesse im Rahmen der Berufsorientierung bedingt die Berücksichtigung von Berufswahltheorien. Bei allen Unterschiedlichkeiten sind die verschiedenen Berufswahltheorien zwischen zwei Polen angesiedelt: dem berufswählenden Individuum einerseits, sowie den Umwelteinflüssen andererseits.
Nachfolgend sollen einige Berufswahltheorien vorgestellt werden, die im Rahmen einer systematischen Berufsorientierung zu berücksichtigen sind:
Als Grundlage zur Unterstützung der Berufswahl erscheint insbesondere das Kooperationsmodell als geeignet, weil es den Entwicklungsprozess in Verbindung mit der Selbststeuerung des Jugendlichen in den Mittelpunkt stellt und zugleich die Unterstützung des sozialen Umfeldes mit einbezieht. Ein weiterer Vorteil des Kooperationsmodells ist die hohe Kompatibilität zu einer gemäßigt konstruktivistischen Unterrichtsphilosophie, da die Selbststeuerung der Lernenden im Mittelpunkt steht, ohne auf Fremdsteuerung und Anleitung verzichten zu wollen. Anzumerken ist, dass das Kooperationsmodell nicht im Widerspruch zu differentialpsychologischen Ansätzen steht; der Einsatz von Testverfahren ist sehr hilfreich, um die Selbsterkenntnis der Jugendlichen zu fördern.
Für eine differenzierte Betrachtung der Gestaltung von Kooperationen erscheint die Unterscheidung zwischen Berufsorientierung im engeren und weiteren Sinne (vgl. MÜLLER 2002, 180) sinnvoll:
Die Berufsorientierung im weiteren Sinne ist zwingend notwendig, um einen Orientierungsrahmen für die Berufsorientierung im engeren Sinne herzustellen. Ein wesentliches Element der Berufsorientierung im engeren Sinne sind die Praxiskontakte, beispielsweise Praktika in Unternehmen und berufsbildenden Schulen, Betriebserkundungen u. a. m. Diesbezüglich ist nicht nur eine unterrichtliche Vor- sondern auch Nachbereitung notwendig, damit die singulären Praxiserfahrungen reflektiert werden. Deshalb stellt die Berufsorientierung eine schulische Gesamtaufgabe dar, aber gleichwohl sind die Beiträge der einzelnen Fächer zu konkretisieren, um einer „verteilten Nicht-Verantwortlichkeit“ vorzubeugen.
Das Fach Wirtschaft i. w. S. bietet sich als Ankerfach für die Berufsorientierung an, denn es kann und muss zentrale Beiträge zu Berufsorientierung liefern, damit die Jugendlichen vor ihrem Eintritt in den Arbeits- und Ausbildungsmarkt verstehen, wie dieser Markt funktioniert, welche Akteure in diesem Markt agieren und wie sich der Arbeitsmarkt vor dem Hintergrund neuer Trends verändert. Nur so ist es möglich, dass ein Abgleich zwischen den individuellen Interessen und Fähigkeiten und den Erfordernissen des Arbeitsmarktes erfolgt. Außerdem kann aufgrund der Affinität die Vor- und Nachbereitung der Praxiskontakte sehr gut im Wirtschaftsunterricht erfolgen.
Eine schulinterne Vernetzung der Fächer und der Kolleginnen und Kollegen ist somit die zwingende Voraussetzung für die erfolgreiche Vernetzung mit den schulexternen Partnern. Hinsichtlich der externen Vernetzung stellt sich die Frage, wie die vielfältigen schulexternen Angebote in den Berufsorientierungsprozesse der Schülerinnen und Schüler zu integrieren und mit den Beiträgen der Fächer abzustimmen sind. In dem hier zugrunde gelegten Kooperationsmodell umfasst der Berufswahlprozess sechs Stufen, die zugleich mit Reife- und Lernprozessen einhergehen. Im Mittelpunkt steht der Jugendliche, der möglichst selbstverantwortlich seinen Berufsorientierungsprozess gestalten soll. Den unterstützenden sozialen Systemen (Eltern, Lehrkräfte, Unternehmen, Berufsberater usw.) kommen rollenspezifische Förderungsmöglichkeiten in dem Berufswahlprozess und bei der Erlangung der Berufswahlreife zu. Basierend auf dem – hinsichtlich der Stufen reduzierten – Kooperationsmodell wird in der Abb. 3 am Beispiel der niedersächsischen Hauptschulen dargestellt, wie die externen Angebote und Inhalte des Fachunterrichts (unter besonderer Berücksichtigung des zweistündigen Fachs Wirtschaft) sinnvoll angeordnet werden können.
Abb. 3: Beispiel zur Verzahnung der Maßnahmen zur Berufsorientierung im engeren und weiteren Sinne an niedersächsischen Hauptschulen (eigene Darstellung)
Zur effektiven Abstimmung der verschiedenen Akteure wird zunehmend der Aufbau regionaler Berufsorientierungsnetzwerke bzw. Bildungsketten vorangetrieben, in denen sich alle mit der Berufsorientierung befassten Partnereinrichtungen zusammenschließen und ihr Angebot koordinieren.
Netzwerke haben in der dualen Ausbildungsstruktur der beruflichen Bildung eine lange Tradition. Besonders herauszustellen ist das BLK-Modellversuchsprogramm KOLIBRI (Kooperation der Lernorte in der beruflichen Bildung) (vgl. KRAFCZYK/ WALZIK 2001) mit 27 Modellversuchen zur Lernortkooperation in der beruflichen Bildung. Die Erfahrungen zur Kooperation mit Wirtschaftspartner können die berufsbildenden Schulen gewinnbringend in die Zusammenarbeit mit den allgemeinbildenden Schulen einbringen.
Die vorangegangenen Qualitätsbausteine haben bereits deutlich gemacht, dass die Berufsorientierung eine strategische Schulentwicklungsaufgabe darstellt. Ausgangspunkt hierfür ist ein Paradigmenwechsel von dem Abschluss – hin zur Anschlussorientierung. Der Schulabschluss ist ein Meilenstein, aber kein Schlusspunkt. Notwendig ist deshalb eine Erweiterung der Perspektive seitens der abgebenden Schulen, um die Schüler bei der Planung und Gestaltung des Übergangs zu unterstützen. Die Verankerung im Schulprogramm ist eine notwendige, aber keinesfalls hinreichende Notwendigkeit. Notwendig ist, dass die Berufsorientierung als Schulleiteraufgabe wahrgenommen und in die konkrete Schulentwicklungs- und Unterrichtsarbeit überführt wird.
Dies bedingt eine umfassende schulpädagogische Herangehensweise, die sich nicht auf den unterrichtlichen Kontext beschränkt, sondern die Gestaltung institutionalisierter Lern- und Lehrprozesse insgesamt und somit auch das Bildungssystem in den Blick nimmt. FEND (vgl. 2008, 16 f.) unterscheidet diesbezüglich zwischen der Makroebene (Schulpolitik und Schulverwaltung), Mesoebene (Schulleitung und -entwicklung) und der Mikroebene (unterrichtliches Handeln der Lehrenden und Lernenden). Eine wesentliche Ursache für die oftmals mangelnde Systematik der schulischen Aktivitäten zur Berufsorientierung ist auf der Makroebene, d. h. nicht hinreichend präzisen in den Lehrplänen und Erlassen zur Berufsorientierung zu finden. Wenn in den bildungspolitischen Vorgaben nur allgemein von Berufsorientierung als „schulischen Gesamtaufgabe“ gesprochen wird, mag die damit einhergehende Freiheit der Schulentwicklung einzelnen Schulen entgegen kommen, führt aber zugleich zu einer Überforderung in zahlreichen anderen Kollegien. Verstärkend kommt in diesem Zusammenhang die oftmals ungesicherte Qualifikation der mit Berufsorientierung befassten Lehrkräfte hinzu (vgl. Kapitel 2.6). Auf der anderen Seite dürfen die Vorgaben insbesondere in Flächenländern nicht zu eng gesetzt sein, weil bei der externen Vernetzung der Schulen die Struktur des regionalen Wirtschaftsraumes unbedingt zu berücksichtigen ist.
Die praktische Notwendigkeit zur umfassenden Schulentwicklung zeigt sich auch an typischen Bausteinen der Programme zur Qualitätsentwicklung an Schulen. Die Gliederung dieses Kapitels orientiert sich an den Qualitätsbereichen, die in den Programmen zur Schulqualität in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen, aber auch ähnlich in anderen Bundesländern zu finden sind. Diesbezüglich ist aber problematisch, dass die Berufsorientierung nicht systematisch in den Qualitätsprogramme eingebettet sind. Derzeit lassen deshalb zahlreiche Schulen ihre Berufsorientierungsprogramme von den diversen Qualitätssiegel-Programmen zertifizieren. Bei der Gegenüberstellung der schulischen Qualitätskriterien mit den diversen Zertifizierungssystemen wird aber ein konzeptionelles Defizit auf der Makro- und Mesoebene deutlich: einerseits ist das Thema Berufsorientierung in den Programmen zur Qualitätsentwicklung nur teilweise enthalten, anderseits sind die Zertifizierungsangebote zur Berufsorientierung nicht auf die Konzepte zur Schulqualität in den Ländern abgestimmt. In der Abb. 4 wird das Grundmuster eines ausgefeilten Qualitätsmanagementsystems zur Berufsorientierung dargestellt. Wichtig ist, dass die Implementation eines solchen oder ähnlichen Systems im Kontext des schulischen Qualitätsmanagements erfolgt.
Abb. 4: Qualiltätsmanagementsystem zur Berufsorientierung (BERTELSMANN-STIFTUNG, BUNDESARBEITSGEMEINSCHAFT SCHULE WIRTSCHAFT, MTO 2009, 19)
Einerseits sind die Lehrkräfte zentrale Ansprechpartner für die Schülerinnen und Schüler, andererseits legen sie die Grundlagen für die Umsetzung der Verordnungen zur Berufs- und Studienorientierung. Letztendlich entscheidet die Arbeit der Lehrkräfte darüber, ob insbesondere die Praxiskontakte bei den Schülern fragmentarische Erinnerungen bleiben oder einen domänenspezifischen Kontext eingefügt werden. Allerdings ist die Situation in doppelter Weise hinsichtlich der Lehrerprofessionalität problematisch. Einerseits wird die Verantwortung für die Berufsorientierung oftmals Lehrkräften übertragen, die in nicht affinen Fächern unterrichten (insb. Klassenlehrermodell). Anderseits fehlt es in zahlreichen Bundesländern an einer hinreichend verbindlichen Verankerung ökonomischer Inhalte im Lehrplan, d. h. in der Konsequenz werden entsprechende Inhalte fachfremd unterrichtet. Somit kommen die Potenziale eines (Anker-)Fachs Wirtschaft (vgl. Kapitel 2.3) in der Berufsorientierung nicht zum Tragen.
Die schulische Realisierung der Berufs- und Studienorientierung bedingt somit die Entwicklung und Durchführung entsprechender Fortbildungskonzepte. Darüber hinaus ist die Berufsorientierung in die affinen Fachdidaktiken und allgemeinpädagogischen Studieninhalte der Lehrererstausbildung zu integrieren. Hierfür ist eine Zusammenarbeit zwischen Universitäten, Studienseminaren und Lehrerfortbildungseinrichtungen erforderlich, um die Angebote in der drei Phasen der Lehrerbildung aufeinander abzustimmen.
Einige Bundesländer wie beispielsweise Hamburg und Niedersachsen haben bei der Reform der Berufsorientierung einen besonderen Schwerpunkt auf die Einbeziehung der berufsbildenden Schulen gelegt. Nachfolgend wird Niedersachsen vorgestellt, das aufgrund seines geografischen Charakters eines Flächenlandes durch städtische als auch ländliche Regionen gekennzeichnet ist.
Die niedersächsische Landesregierung hat im Jahr 2004 einen Erlass zur Berufsorientierung (vgl. NIEDESÄCHSISCHES KULTUSMINISTERIUM 2004) eingeführt, der insbesondere die Hauptschulen mit der Einführung von Betriebs- und Praxistagen mit einem Umfang von 60 bis 80 Tagen in den Jahrgangsstufen 8 – 10 betraf. Unter dem Begriff Betriebs- und Praxistage werden insbesondere Schülerbetriebspraktika, Erkundungen, berufspraktische Projekte und praxisorientierte Lernphasen innerhalb des Fachunterrichts an den allgemeinbildenden (z. B. Schülerfirmen) und berufsbildenden Schulen subsummiert. Zum Schuljahr 2011/12 treten neue Erlasse zur Arbeit in den Hauptschulen und Realschulen in Kraft (vgl. NIEDESÄCHSISCHES KULTUSMINISTERIUM 2010 a, b). Ein Schwerpunkt dieser Erlasse stellt die Intensivierung der Berufsorientierung und die Intensivierung der Zusammenarbeit der allgemeinbildenden Schulen mit den berufsbildenden Schulen und der Berufsberatung dar (ausführlich in JANßEN 2011). Mit Blick auf die Zusammenarbeit mit den berufsbildenden Schulen sind vor allem die folgenden Regelungen relevant:
Die Umsetzung der Erlasse wird durch verschiedene Maßnahmen flankiert:
Die Neuerungen gehen nach der Meinung des Autors in die richtige Richtung, werfen aber hinsichtlich der Umsetzung Fragen und Herausforderungen auf:
Wenngleich die neuen Erlasse nur die Haupt- und Realschulen direkt in die Pflicht nehmen, liegt auch die Verantwortung der berufsbildenden Schulen auf der Hand. Als Folge der Einführung der Betriebs- und Praxistagen im Jahr 2005 in den Hauptschulen haben sich bereits – wenngleich sehr unterschiedliche – Kooperationen zwischen den regionalen allgemeinbildenden und berufsbildenden Schulen entwickelt. Kooperationsaktivitäten der berufsbildenden Schulen, die es noch auszubauen gilt, sind beispielsweise:
Zur Unterstützung der Schulen bei der Umsetzung der neuen Erlasse haben im Jahr 2010 das Oldenburger Institut für Ökonomische Bildung und die Oldenburgische Industrie- und Handelskammer die Fachtagung „Übergang Schule und Beruf in Niedersachsen“ ausgerichtet (vgl. SCHRÖDER/ WESTER/ KAMINSKI/ HILDEBRANDT 2011). Unter anderem wurde in schulformspezifischen Workshops gemäß dem Motto „Das Rad muss nicht neu erfunden werden“ den Lehrkräften die Möglichkeit gegeben, ihre Best Practice Beispiele darzustellen und hinsichtlich der Übertragbarkeit zu diskutieren. Außerdem hat sich eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Mitgliedern der beiden genannten Einrichtungen, Schulen, Schulverwaltung, Fachberatern und Arbeitsagentur gebildet, die an einem Leitfaden zur Berufsorientierung für Niedersachsen arbeiten.
Die zentralen Aussagen der vorangegangen Kapitel sollen noch einmal kurz zusammengefasst werden:
Aus der universitären Perspektive erwachsen aus den praktischen Herausforderungen Forschungsaufgaben, die unterschiedliche Fachdidaktiken, sowie pädagogische, soziologische und psychologische Disziplinen tangieren, was eine interdisziplinäre Herangehensweise nahe legt. Notwendig sind die theoretische Fundierung der Berufswahlreife sowie die Entwicklung valider Erhebungsinstrumente. Einen weiteren Schwerpunkt sollte die schulpädagogische Fundierung der Berufsorientierung darstellen.
Eine nachhaltige Verbesserung der Berufsorientierung bedingt eine Verbesserung entsprechenden Lehrerqualifikation, die in den allgemeinbildenden Schulen nicht hinreichend gesichert ist. Notwendig sind Fort- und Weiterbildungsprogramme, aber auch die verstärkte Integration in die Erstausbildung der Lehrkräfte. Dies betrifft sowohl die affinen Fachdidaktiken als auch allgemeine pädagogische Veranstaltungen.
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