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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS04 - Produktionsschulen
Herausgeberin: Cortina Gentner


Titel:
Übergänge in der Berufsbildung nachhaltig gestalten durch Produktionsschulen


Das Hamburger Produktionsschulprogramm: Produktionsschulen in freier Trägerschaft im System der schulischen Berufsvorbereitung

Beitrag von Cortina GENTNER (Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg)

Abstract

Die Hamburger Produktionsschullandschaft hat, bundesweit betrachtet, eine Sonderstellung. Die Freie und Hansestadt Hamburg ist das einzige Bundesland, in dem Produktionsschulen auf der Basis eines Parlamentsbeschlusses eingerichtet wurden und werden. Daraus ergeben sich entsprechende organisatorische, rechtliche und finanzielle Verortungen der Produktionsschulen im System des reformierten Hamburger Übergangssystems und damit auch Gestaltungsoptionen. Mit dem systematischen Aufbau einer Produktionsschullandschaft und der geplanten dauerhaften rechtlichen und finanziellen Konsolidierung in Hamburg erwächst schließlich auch die Möglichkeit, den schillernden Begriff „Produktionsschule“ zu präzisieren und exekutiv „handhabbar“ zu machen. Dabei gilt es vor allem auch, die Produktionsschulen als Feld der Berufs(bildungs)forschung zu „entdecken“, zu beforschen und aktiv mitzugestalten.

1 Hamburg beschreitet neue Wege

Der Übergang von der Schule in Ausbildung und Beruf muss verbessert werden, insbesondere für Risikoschüler und -schülerinnen. So lautete eine der wesentlichen bildungspolitischen Aussagen des Koalitionsvertrags zwischen der CDU und der GAL in der Freien und Hansestadt Hamburg vom 17. April 2008. Diese Kernforderung inkludierte auch den Umsetzungsbeschluss, wonach „neue Produktionsschulen in freier Trägerschaft... in jedem Bezirk einen Standort... insgesamt bis zu 500 Plätze“ aufgebaut und unterstützt werden sollen.[1] Zum anderen sah die schwarz-grüne Regierung in Hamburg eine Neugestaltung der Berufsvorbereitung sowie der teilqualifizierenden Berufsfachschule „unter Berücksichtigung von Prinzipien der Produktionsschule“ vor (vgl. Vertrag zwischen der CDU und der GAL 2008, 12).

Anknüpfend an diese Koalitionsvereinbarungen, beschloss die Hamburger Bürgerschaft am 24. Juni 2009 die Einrichtung und Finanzierung von Produktionsschulen in Hamburg:

Der Senat strebt die stufenweise Einrichtung neuer Produktionsschulen in freier Trägerschaft in allen Bezirken mit insgesamt bis zu 500 Plätzen an. [...] sollen diese Einrichtungen des Übergangs zwischen Schule und Beruf in einem marktnahen Produktions- und Arbeitsprozess Lernumgebungen anbieten, die es Schulabgängern, die eine allgemeinbildende Schule ohne Abschluss verlassen haben und der Schulpflicht unterliegen, ermöglichen, den Weg in Ausbildung und Beschäftigung zu finden.“ (Drucksache der Bürgerschaft 19/2928, 1).

1.1 Organisatorische, rechtliche und finanzielle Verortung der Hamburger Produktionsschulen

Die Hamburger Produktionsschulen sind keine Schulen im Sinne des Hamburger Schulgesetztes, sondern Einrichtungen, die von Bildungsträgern in freier Trägerschaft betrieben werden. Gleichwohl sind die Hamburger Produktionsschulen Bestandteil der Schulstruktur (im Übergangssystem Schule – Beruf) und werden entsprechend über den Bildungshaushalt der Freien und Hansestadt Hamburg gesichert und finanziert. Für die laufenden Betriebskosten einer Produktionsschule wird ein Jahreskostensatz je Produktionsschüler in Höhe von 7.800 Euro veranschlagt (Festbetragsfinanzierung) - analog zu den Kosten der schulischen Berufsvorbereitung. In der Aufbau- und Etablierungsphase und zum Ausgleich der anfänglich geringer anzusetzenden Einnahmen aus den Auftragsarbeiten wurde der monatlichen Kostensatz von 650 Euro (ein Zwölftel von 7.800 Euro) pro Produktionsschüler im ersten Betriebsjahr auf 750 Euro und im zweiten Betriebsjahr auf 700 Euro aufgestockt. Bezüglich des monatlichen Kostensatzes tritt zum 1. August 2011 überdies eine Änderung in Kraft: Mit den geplanten Maßnahmen zur Umsetzung der Reform der beruflichen Bildung in Hamburg, insbesondere den Umstrukturierungen der schulischen Berufsvorbereitung in dualisierter Form, gehen Veränderungen der Bedarfsgrundlage einher, die Auswirkungen auf die Finanzierung der Produktionsschulen in freier Trägerschaft haben: „Die der Finanzierung der Produktionsschulen zugrunde liegenden Teilnehmermonatskostensätze steigen dadurch von 650 um 100 auf 750 Euro“ (Drucksache der Bürgerschaft 19/8472, 5).

In der Bürgerschafts-Drucksache 19/2829 werden Produktionsschulen als ein die Erfüllung der Schulpflicht an Berufsvorbereitungsschulen ersetzendes Angebot für Jugendliche eingeordnet. Das Hamburger Schulgesetz lässt eine entsprechende Befreiungsmöglichkeit vom Schulbesuch zu (§ 39 Abs. 2 HmbSG).

Hamburger Produktionsschulen wenden sich an Jugendliche mit Migrationshintergrund und andere sozial benachteiligte Jugendliche mit einem erhöhten individuellen Förderbedarf, bei denen zu erwarten ist, dass sie das übliche schulische Übergangssystem entweder erst nach Warteschleifen oder nicht ausreichend qualifiziert für die Aufnahme einer Berufsausbildung oder einer Beschäftigung verlassen werden und dass sie die Produktionsschule den entsprechenden schulischen Angeboten der Berufsvorbereitung vorziehen.

Die Freie und Hansestadt Hamburg hat, bundesweit betrachtet, eine Sonderstellung. Sie ist das einzige Bundesland, in dem Produktionsschulen auf der Basis eines Parlamentsbeschlusses eingerichtet wurden und werden. Darüber hinaus sind – bundesweit - nur in Hamburg die Produktionsschulen Bestandteil der Schulstruktur (im Übergangssystem) und werden entsprechend über den Bildungshaushalt gesichert finanziert.

1.2 Umsetzung

Das Thema Produktionsschule ist so neu nicht in Hamburg. Vor über zehn Jahren, im September 1999, wurde die Produktionsschule Altona in Anwesenheit der damaligen Schulsenatorin Rosemarie Raab zusammen mit der Bildungspolitischen Sprecherin der GAL, Christa Goetsch, offiziell eröffnet. Damit wurde die erste Produktionsschule in Hamburg eingeweiht – als eine Alternative zur traditionellen Berufsvorbereitung.

Der Startschuss für weitere Produktionsschulen – in freier Trägerschaft – erfolgte im Jahr 2009 durch die schwarz-grünen Koalitionsvereinbarungen und mit der Drucksache der Bürgerschaft 19/2928. Zur stufenweisen Umsetzung des Programms hatte die Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg im Rahmen eines ersten Interessenbekundungsverfahrens, auf das 21 Träger der freien Jugendhilfe reagierten, die Trägerschaft für vier neue Produktionsschulen mit Startbeginn zum September 2009 ausgelobt. Diese vier Produktionsschulen haben auftragsgemäß zum 1. September 2009 planmäßig ihren Betrieb aufgenommen: In Bergedorf-Zentrum bietet die „Sprungbrett Dienstleistungen gGmbH“ 48 Plätze an, im Bezirk Mitte (Billstedt-Horn) hat „Beschäftigung und Bildung e.V.“ 50 Plätze eingerichtet, im Bezirk Nord (Barmbek) die „Stiftung Berufliche Bildung“ 50 Plätze und im Bezirk Wandsbek (Steilshoop) die „Alraune gGmbH“ 50 Plätze. In der Produktionsschule „Stylz prod. Produktionsschule Steilshoop“ ist der Aufbau und Betrieb einer Skaterhalle mit Eventmanagement, Gastronomie geplant. In der Produktionsschule „Maritime Welten“ in Barmbek werden Paddel, Boards und andere Sportgeräte hergestellt oder Stand-up-Paddler konstruiert, hergestellt und vertrieben.

Die Produktionsschulen in Altona, Barmbek, Bergedorf, Billstedt-Horn und Steilshoop bekamen ein Jahr darauf zum 1. September 2010 Verstärkung. Nach einem zweiten Interessenbekundungsverfahren im Dezember 2009, an dem sich 14 Träger der Jugendhilfe beteiligten, erhielten drei Träger den Zuschlag. Im Bezirk Eimsbüttel hat die „movego GmbH“ mit 50 Plätzen, die „Jugendbildung Hamburg“ im Bezirk Harburg mit 50 Plätzen sowie die „BI Beruf und Integration Elbinseln“ mit 40 Plätzen im Bezirk Wilhelmsburg ihren Betrieb aufgenommen. Geplant sind an diesen Produktionsschulstandorten verschiedene weitere Produktideen: An der Eimsbütteler Produktionsschule sollen historische Eisenbahnwaggons restauriert werden. Die Harburger Produktionsschule „World of Energy“ bietet Beratung und Installation rund um das Thema regenerative Energien an. Die „MANUFAKTUR Produktionsschule Wilhelmsburg“ stellt Produkte aus Holz und Metall her und vertreibt u.a. diese in einem eigenen Ladengeschäft

Mit der zweiten Ausbaustufe der Hamburger Produktionsschullandschaft werden inzwischen an Hamburger Produktionsschulen insgesamt 367 Plätzen angeboten. In jedem der sieben Hamburger Bezirke arbeitet nun eine Produktionsschule; im Bezirk Hamburg-Mitte sogar zwei.

Nach dem Bruch der schwarz-grünen Koalition im Dezember 2010 und dem, mit den Ergebnissen der Neuwahlen im Mai 2011 erfolgten, Politikwechsel ist der weitere Ausbau der Hamburger Produktionsschullandschaft (vorerst?) gestoppt. Die weitere Entwicklung ist derzeit nicht einschätzbar. Im Arbeitsprogramm des Senats, das der Festlegung zentraler Ziele des Senats und der Steuerung der Behörden dient, ist das Thema „Produktionsschulen“ derzeit nicht (mehr) auf der Agenda.

1.3 Produktionsschulen im reformierten Hamburger Übergangssystem

In der Drucksache der Bürgerschaft 19/2928 werden die Hamburger Produktionsschulen als wichtiger Baustein im Rahmen der Hamburger Bildungsreform im Schwerpunktbereich „Reform des Übergangssystems Schule – Beruf“ beschrieben. Dies wurde durch die Beschlüsse der Bürgerschaft zur Umsetzung der Reform der beruflichen Bildung in Hamburg (vgl. Drucksache der Bürgerschaft 19/8472) aufgenommen und damit nochmals deutlich unterstrichen.

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Abb. 1:   Produktionsschulen als integraler Bestandteil der (schulischen) Berufsvorbereitung in Hamburg

Produktionsschulen bilden in Hamburg – neben der neu zu strukturierenden Berufsvorbereitung [ab Schuljahr 2011/ 2012 flächendeckend als „Ausbildungsvorbereitung dual (AV dual)“] – eine Säule des neustrukturierten Übergangssystems. Als integraler Bestandteil des Übergangssystem Schule – Beruf stellen die Produktionsschulen eine Alternative zur Ausbildungsvorbereitung an berufsbildenden Schulen dar.

2 Hamburger Produktionsschulen: Merkmale

Verbindliche Arbeitsgrundlage für den Aufbau und die Umsetzung der Hamburger Produktionsschulen bilden die bereits erwähnten Beschlüsse der Bürgerschaft sowie die „Grundzüge für Produktionsschulen in Hamburg“ vom 15. Oktober 2009 (unter www.ichblickdurch.de öffentlich zugänglich und downloadbar).

Grundsätzlich stimmen die Merkmale und Qualitätskriterien der Hamburger Produktionsschulen mit den im Jahr 2007 verabschiedeten „Produktionsschulprinzipien“ des Bundesverbandes Produktionsschulen e.V. überein – es gibt jedoch „Hamburger Besonderheiten“:

  • Hamburger Produktionsschulen sind vorrangig ein ausbildungs- und berufsvorbereitendes Bildungs-, Beratungs- und Betreuungsangebot, das ausschließlich von freien Bildungsträgern durchgeführt wird.
  • Eine Produktionsschule in Hamburg hält ein Angebot in der Größe von 40 bis 50 Plätzen vor; die Produktionsschule Altona bietet 58 Plätze an.
  • Produziert wird in i.d.R. in mindestens 3 Berufsfeldern (mit Bezug zum Hamburger Ausbildungs- und Arbeitsmarkt).
  • Durch Kooperationen mit den allgemeinbildenden Schulen (insbesondere den Stadtteilschulen) und den Beruflichen Schulen sind Produktionsschulen fester Bestandteil sozialräumlicher Bildungsstrukturen.
  • Ziele der Produktionsschulen sind: Stabilisierung, Förderung der beruflichen Handlungsfähigkeit und schließlich Übergang in eine Berufsausbildung, berufliche Tätigkeit oder Weiterqualifizierung der Produktionsschülerinnen und -schüler.
  • Auch wenn der Wort- bzw. Begriffsbestandteil „Schule“ zu entsprechenden Assoziationen führt: Hamburger Produktionsschulen entsprechen ihrer Grundkonzeption und ihrem Grundanliegen nach ausdrücklich nicht dem „schulförmigen“ Lernen – sie strukturieren ihren Arbeits- und Lernalltag in betriebsähnlichen Strukturen.
  • Die berufsbezogene Qualifizierung steht im Vordergrund (zertifiziert durch Qualifizierungsbausteine, Schweißerpass, Gabelstaplerschein, Kassenschein, Maschinenscheine, u.a.); die Vorbereitung auf die Prüfungen des externen Hauptschulabschlusses sind möglich, aber nicht primäres Ziel.
  • Produktionsschulen sind ein die Erfüllung der Schulpflicht an Berufsvorbereitungsschulen ersetzendes Angebot für Jugendliche mit und ohne Hauptschulabschluss, die schulpflichtig, aber noch nicht ausbildungsreif sind.
  • Produktionsschulen können darüber hinaus Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe 1, insbesondere Jugendlichen mit schulverweigernden Tendenzen, für einen begrenzten Zeitraum von maximal drei Monaten ein alternatives pädagogisches Umfeld anbieten, um sie in einer anderen Lernumgebung durch praktisches Tun neu zu orientieren, sozial zu stabilisieren, wieder systematisch an das Lernen heranzuführen und für den weiteren Besuch der Regelschule zu motivieren. Dieses „Auszeit“-Modell in Produktionsschulen gilt zunächst bis zum 31. Juli 2012.[2]
  • Zur Unterstützung und Begleitung der Hamburger Produktionsschullandschaft „ist die Einbeziehung zivilgesellschaftlichen Engagements im Rahmen eines Entwicklungsbeirats vorgesehen“ (vgl. Drucksache der Bürgerschaft 19/2928, 3).
  • In der Behörde für Schule und Berufsbildung der Freien und Hansestadt Hamburg ist eine Fachaufsicht zur Begleitung, Beratung und fachlichen Steuerung der Hamburger Produktionsschulen eingerichtet worden.

3 Produktionsschulen in Hamburg: Ausblick

Für die weitere Entwicklung eines durch den politischen Willen gesetzten und engagiert umgesetzten „Produktionsschulprogramms“ in der Freien und Hansestadt Hamburg stehen derzeit neben der (weiteren) Aufbauphase insbesondere Prozesse der Konsolidierung und Verstetigung an.

Vor allem wird es in der Umsetzung und in der praktischen Arbeit darum gehen (müssen), die Standards zu etablieren, um die Produktionsschulen in Hamburg zu einer Erfolgsmarke (= Qualitätsmarke) zu entwickeln und zu etablieren. Ein erster Schritt ist die regelmäßige Bilanzierung der internen und externen Aufbau- und Verstetigungsprozesse und die Verständigung auf „Hamburger Qualitätsstandards“. Die „Hamburger Qualitätsstandards“ vom Oktober 2010 nehmen die kurz- und mittelfristig anstehenden Entwicklungsaufgaben in den Blick, wie: Verstärkung der Produkt- und Marktorientierung der Produktionsschulen; Ausrichtung zur Beruflichkeit: Die Entwicklung und der Erwerb sozialer, personaler und weiterer ausbildungsrelevanter/ berufsbezogener Kompetenzen in den Arbeits- und Lernbereichen in produktionsnahen, betriebsähnlichen Zusammenhängen als primäres Ziel von Hamburger Produktionsschulen; systematische Kompetenzfeststellung, Kompetenzentwicklung und -dokumentation; gezielte und systematische Übergangsgestaltung (Praktika, Kooperation mit Betrieben) sowie Entwicklung einer einheitlichen Produktionsschulbescheinigung (Produktionsschulzeugnis).

Auf diese Weise werden Produktionsschulen als verbindliche Partner im regionalen Bildungs-, Sozial- und Wirtschaftraum wahrgenommen und können sich (nur) so zum integralen und nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil im neuen Hamburger Übergangssystem positionieren.

Richtungsweisend kann das stabilisierte und erfolgreich wirkende Angebot der Hamburger Produktionsschulen für die Gestaltung der Bildungslandschaften in den anderen Ländern anregen und Umsetzungshinweise für die Gestaltungsverantwortlichen (in) der Legislative und Exekutive gleichermaßen (an)bieten.

Die Hamburger Produktionsschulen haben aber nur dann eine echte Chance sich als eigenständige Bildungsform zu etablieren, wenn sie weiterhin auf solide rechtliche und finanzielle Rahmenbedingungen aufbauen können. Wie die gesamtdeutsche Produktionsschul-Bewegung ist auch die Verstetigung des Hamburger Produktionsschulprogramms entscheidend vom allgemeinen gesellschafts- und sozialpolitischen „Klima“ abhängig.

Hier lassen sich auch „europäische Pfade und Traditionen“ der Produktionsschule (siehe u.a. KIPP 2008) einbinden. So kann etwa mit Blick auf die in Dänemark (vgl. GREMAUD/ HOUGAARD 2010) seit dem vorangegangenen Jahrhundert im Jahr 1985 gesetzlich etablierte Produktionsschullandschaft und den Erfahrungen der in Hamburg wegweisend initiierten Produktionsschulen als staatlich veranstalte (berufsvorbereitende) Angebote für Schulpflichtige eine Bildungseinrichtung gestaltet werden, die als selbstverständliches und emanzipiertes Regelangebot vor allem die im regionalen Übergangsmanagement zu lösenden Herausforderungen zu bewältigen in der Lage ist.

4 Produktionsschulen in Hamburg: Relevanz für die Berufsbildungs(forschung)

Mit dem systematischen Aufbau einer Produktionsschullandschaft und der geplanten dauerhaften rechtlichen und finanziellen Konsolidierung in Hamburg erwächst schließlich die Möglichkeit, den schillernden Begriff „Produktionsschule“ auszugestalten und zu präzisieren. Für die deutsche Produktionsschulszene, die bisher (noch) relativ unübersichtlich und von einer Verschiedenartigkeit der Konzepte, dahinter stehenden (Träger)Philosophien und einer Vielfalt der Bezeichnungen gekennzeichnet ist, bedeutet dies die Chance einer klaren Selbsteinordnung und Verortung in der deutschen Bildungslandschaft.

Ebenso bietet sich auch für die (Berufsbildungs-)Forschung mit dem systematischen Aufbau von Einrichtungen in Deutschland, die die Verknüpfung von Arbeits- und Produktionsprozessen für die Qualifizierung von (benachteiligten) Jugendlichen pädagogisch nutzen, eine wichtige und lohnende Herausforderung.

Obgleich Produktionsschulen - als Einrichtungen der arbeitsorientierten und beruflichen Bildung, in denen Arbeiten und Lernen kombiniert werden - ideengeschichtlich wie auch realgeschichtlich eine berufspädagogische Domäne darstellen, führen sie aktuell als Arbeits- und Forschungsfelder der Berufspädagogik bzw. Berufsbildungsforschung eher ein Schattendasein. Wenn Berufsbildungsforschung aber den Anspruch erhebt, dass „es (...) um die Abbildung resp. Rekonstruktion der Berufsbildung“ geht [Erg.d.A.] und hierbei (...) „politisch-administrative, organisatorisch-managementliche und didaktische Strukturen und Prozesse beruflicher Bildung“ (SLOANE 1997, 12) in den Fokus genommen werden sollen, dann kann dieser Bereich der vorberuflichen und beruflichen Bildung nicht (weiter) ausgeblendet bleiben.

Die dringend notwendigen Grundlagenforschungen zum (berufs-)pädagogischen Konstrukt Produktionsschule weisen große Schnittmengen zu klassischen Forschungsfeldern der Berufsbildungsforschung auf – am Beispiel der politisch-administrativen, organisatorischen und pädagogischen Rahmungen der Hamburger Produktionsschullandschaft lassen sich beispielsweise folgende Forschungsfelder skizzieren:

a.   Berufsbildungssystem und Berufsbildungspolitik

Wie kann das Spannungsfeld zwischen Politik (politischer Wille) und Pädagogik (Umsetzungsebene) beschrieben und ggf. auf andere Bundesländer übertragen werden?

Wie können die Hamburger Produktionsschulen im System der (schulischen und außerschulischen) Berufsvorbereitung verbindlich verortet werden?

Wie erfolgt die Umsetzung der bildungspolitischen Setzung in Hamburg ins Meso- bzw. Mikrosystem (Schule/ Betrieb bzw. Lernplatz/ Arbeitsplatz)?

Produktionsschule als „Prototyp“ eines gebündelten, systematischen Angebots im Übergangssystem („Längsschnittangebot“) und als integraler Bestandteil des Bildungssystems?

Produktionsschule ist in Deutschland weder Ausbildungs- noch Beschäftigungssystem: Eigentlich müssten Produktionsschulen systematisch als eigenständiges System zwischen dem Wirtschaftssystem und dem Bildungssystem institutionell zu platzieren sein bzw. (dort) entsprechend platziert, profiliert und systematisiert werden (vgl. KELL 2008).

Berufliche Förderpädagogik/ Berufliche Bildung Benachteiligter und Zielgruppe: Ist das Kriterium der „Unversorgtheit im Bildungswesen und/oder auf dem Arbeitsmarkt“ nicht zielführender (anders als das unscharfe Selektionskriterium „Ausbildungsreife“, das weder als Begriff noch als Sachverhalt tauglich und belastbar ist)?

Produktionsschule als pädagogisches Konzept der Verbindung von Arbeits- und Lernprozessen sollte nicht nur als alternatives Angebot für benachteiligte Jugendliche betrachtet werden.

Produktionsschule als pädagogisches Konzept der Verbindung von Arbeits- und Lernprozessen ermöglicht Kompetenzerwerb und -entwicklung; dies wird zertifiziert - beispielweise durch erfolgreich absolvierte Qualifizierungsbausteine (bzw. Ausbildungsbausteine) und berufsbezogene Teilqualifikationen (von anerkannten Ausbildungsberufen), in Kombination mit Anerkennung weiterer nicht formal und informell erworbenen Kompetenzen. Wäre dies ein denkbarer flexibler Weg in die Ausbildung?

Selektions- und Exklusionsprozesse werden durch die Berufsbildung in Deutschland tendenziell eher verstärkt als kompensiert („Integrationslücke“); bietet das pädagogische Konzept Produktionsschule hier alternative Handlungs- und Gestaltungsoptionen?

Qualität und Nachhaltigkeit von Bildungsprozessen entsteht nicht durch kurzfristige Outputs oder Outcomes, sondern durch nachhaltige Einbettung und systematische Verzahnung in die und mit der regionale(n) Bildungslandschaft.

Und nicht zuletzt gehören auch Wirkungs- und Wirksamkeitsanalysen, die u.a. danach fragen bzw. erkunden, warum und wie „Produktionsschulen wirken“, auf die Agenda eines möglichst geschlossenen oder entsprechend konzertierten Forschungsprogramms. Neben Kosten-Nutzen- und Kosten-Kosten-Vergleichen, die eher ökonomischen Fragestellungen verpflichtet sind, steht dringend auch die grundlegende (insoweit eher politikwissenschaftlich orientierte) Beforschung nach Strategien und Umsetzungsmöglichkeiten an, um Produktionsschulen im bundesdeutschen (und föderalen) System der Bildungslandschaft zu profilieren und zu institutionalisieren.

b.   Organisation und Organisationsentwicklung in der beruflichen Bildung

Produktionsschule als komplementäre Form der schulischen Berufsvorbereitung durch Lernen und Arbeiten in betriebsähnlichen Strukturen ist Schule und Betrieb gleichermaßen. Um die Vorzüge des pädagogischen Konzeptes wirklich nutzen zu können, muss Produktionsschule sich entscheiden, ob sie „originäre Produktionsschule“ oder „verlängerte Hauptschule“ ist. Dies hat Relevanz für die Strukturen von Bildungseinrichtungen und ihre Entwicklungsprozesse.

Kann Produktionsschule als der „Prototyp“ für gelingende Lernortkooperation (verbindliche und systematische Zusammenarbeit von allgemeinbildenden und beruflichen Schulen und Produktionsschulen, aber auch mit regionalen Betrieben) auf andere Bildungsbereiche (allgemeinbildende sowie berufsbildende Schulen) übertragen werden? Welche Spezifiken sind zu berücksichtigen – welche Modifikationen wären ggf. vorzunehmen?

Wie müssen Bildungsorganisationen gestaltet werden, um Arbeits- und Lernprozesse zu verbinden sowie weitere konstituierende Merkmale von Produktionsschulen in Deutschland umzusetzen?

c.   Berufliches Lehren und Lernen

Steuerung der Lehr-Lern-Prozesse im Rahmen der Produktion: Wie muss ein spezifisches Produktionsschul-Curriculum entwickelt und gestaltet werden?

Lernforschung: Wie laufen Lernen und Lernprozesse im Prozess der Arbeit ab? Wie kann die Produktion als Mittel und Ziel von systematischen pädagogischen Prozessen gestaltet werden (Wiederholbarkeit von Erfolgen)?

Wie müssen Arbeits- und Lernprozesse gestaltet werden., damit sie individuelle Kompetenz- und Identitätsentwicklung ermöglichen? Wie müssen Lern- und Arbeitsaufgaben gestaltet sein, damit sie kompetenzförderlich sind (Erfassung von Lernpotenzialen, individualisierte Lehr-Lern-Arrangements etc.)?

Über welche Selbstlernkompetenzen verfügen die Lernenden? Wie können Kompetenzen, die - beispielsweise durch das „Novizen-Experten-Prinzip“ an Produktionsschulen - im Kontext fachlich-berufsorientierenden Lernens selbst angeeignet wurden, nachhaltig entwickelt werden? Wie müssen fachlich-inhaltliche Anforderungskontexte, in dessen Rahmen zunächst einmal gelernt und erfahren werden kann, wie komplexe Strukturen aufeinander bezogen sind und welches Prozedere bei der Lösung fachlicher Probleme möglich und erfolgreich ist, gestaltet sein? Wie müssen Lernräume strukturiert sein, um Kompetenzen entwickeln zu können, die die Jugendlichen tatsächlich auch in die Lage versetzen, ihre Lernprozesse selbstständig zu planen und Selbstlernkompetenz zu entwickeln?

Wie kann die Lernerfolgsmessung und -bewertung der Kompetenzentwicklung in den Werkstatt- und Dienstleistungsbereichen systematisiert und institutionalisiert werden? Können dann Produktionsschulen einen eigenen, anerkannten Abschluss vergeben, der Grundlagen der beruflichen Handlungskompetenz bescheinigt (Zeugnis, Zertifikat)?

Einbeziehung und Anerkennung von nicht formal und informell erworbenen Kompetenzen setzen den Kompetenzansatz sowie eine adäquate, systematische Kompetenzfeststellung voraus. Welche Rolle kommt informellen Lernprozessen für die individuelle Kompetenzentwicklung zu? Wie können formelle und informelle Lernprozesse in Produktionsschulen genutzt und sinnvoll verknüpft werden?

Vorberufliche und berufliche Sozialisationsprozesse: Wie können im „pädagogischen Schonraum“ Produktionsschule, die betriebsähnlich arbeitet, Anforderungen der Arbeits- und Berufswelt, aber auch soziale und kulturelle Muster, Codes und Regeln vermittelt werden?

Wie muss die pädagogische Kultur an Produktionsschulen entwickelt und gestaltet werden, damit Identitäts- und Kompetenzentwicklungsprozesse sowie berufliche Sozialisationsprozesse unterstützt werden und somit die school-to-work-transition für alle jungen Menschen gelingen kann?

Die Produktionsschule kann als „Prototyp“ für die konsequente Verbindung von Praxis und Theorie, von Arbeiten und Lernen, angesehen werden. Mit dem pädagogischen Konzept der Produktionsschule können berufliche Bildungs- und Qualifizierungsprozesse gelingen, müssen aber entsprechend gestaltet werden.

Die hier nur skizzenhaft und auszugsweise vorgestellten Forschungsfelder und Forschungsthemen der Berufs(bildungs)forschung verweisen auf ein hohen Forschungsbedarf in einem bis dato unbeachteten Feld, das es mit dem systematischen Aufbau einer Produktionsschullandschaft und der geplanten dauerhaften rechtlichen und finanziellen Konsolidierung in Hamburg zu bearbeiten gilt. Die Gestaltung von berufsqualifizierenden Bildungs- und Lernprozessen an Produktionsschulen ist jedoch nur mit einem interdisziplinären Ansatz erforsch- und gestaltbar: Insbesondere aus den Erziehungswissenschaften (reformpädagogische Ansätze, Sonder- und Sozialpädagogik), der Psychologie und den Neurowissenschaften (Lern-, Kognitions- und Entwicklungstheorien, Sozial- und Entwicklungspsychologie), der Soziologie (Bildungssoziologie, Arbeits- und Organisationssoziologie, Berufs- und Lebenslaufsoziologie, Sozialisationstheorien), den Kulturwissenschaften (Zeichen- und Symboltheorien, ethnologische Forschungsmethoden ) sowie der Anthropologie (Menschenbild) und – last but not least - den Politikwissenschaften (Untersuchung und Evaluation der Akteure, der Politikarenen, der Politikformulierung und Programmumsetzung – „Policy-Ansatz“) müssen relevante Theorien und aktuelle Forschungsergebnisse, aber auch Forschungsmethoden einbezogen werden. Mit dem Forschungsfeldern und -methoden der Berufsbildungsforschung allein können auf die anstehenden Fragen keine Antworten gefunden sowie der Transfer zur beruflichen Praxis in den Produktionsschulen hergestellt werden.

Literatur

DEUTSCHER BUNDESTAG: Plenarprotokoll 16/157, 16485-16498.

BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG (2009): Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft. Haushaltsplan 2009/2010 Einzelplan 3.1 Behörde für Schule und Berufsbildung Titel 3200.685.39 „Außerschulische Berufsvorbereitung“ – Einrichtung neuer Produktionsschulen in freier Trägerschaft, Drucksache 19/2928, 28.04.2009. Hamburg.

BÜRGERSCHAFT DER FREIEN UND HANSESTADT HAMBURG (2011): Mitteilung des Senats an die Bürgerschaft. Maßnahmen zur Umsetzung der Reform der beruflichen Bildung in Hamburg, Drucksache19/8472, 18.01.2011. Hamburg.

GREMAUD, A./ HOUGAARD, T. (2010): Produktionsschulen in Dänemark: Gesetzgebung, Finanzierung und Zielsetzungen. In: BOJANOWSKI, A./ GENTNER, C./ MEIER, J./ MUTSCHALL, M. (Hrsg.): Europäisches Kolloquium Produktionsschule. European Colloqium on Productions schools. Tagungsband 1. Treffen am 24. Juni 20100 in Berlin. Conference proceedings of the event on 24 June 2009 in Berlin. Münster, 30-46.

HAMBURGISCHES SCHULGESETZ (HmbSG) vom 16. April 1997 (HmbGVBl. S. 97), zuletzt geändert am 21. September 2010 (HmbGVBl. S. 551). Hamburg.

KELL, A. (2008): Systemische Umwelt deutscher Produktionsschulen. In: GENTNER, C./ BOJANOWSKI, A./ WERGIN, C. (Hrsg.): Kurs finden. Junge Menschen auf dem Weg ins Leben: Produktionsschulen in Mecklenburg-Vorpommern. Münster, 189-204.

KIPP, M. (2008): Produktionsschule – zur aktuellen Wirksamkeit einer alteuropäisch-pädagogischen Idee in Deutschland. In: GENTNER, C./ BOJANOWSKI, A./ WERGIN, C. (Hrsg.): Kurs finden. Junge Menschen auf dem Weg ins Leben: Produktionsschulen in Mecklenburg-Vorpommern. Münster, 173-188.

SLOANE, P. (1997): Berufsbildungsforschung im Kontext von Modellversuchen und ihre Orientierungsleistung für die Praxis – Versuch einer Bilanzierung und Perspektiven. In: NICKOLAUS, R./ ZÖLLER, A. (Hrsg.): Perspektiven der Berufsbildungsforschung. Orientierungsleistung für die Praxis. Bundesinstitut für Berufsbildung. Bielefeld, 11-60.

Vertrag über die Zusammenarbeit in der 19. Wahlperiode der Hamburgischen Bürgerschaft zwischen der Christlich Demokratischen Union, Landesverband Hamburg und Bündnis 90/Die Grünen, Landesverband Hamburg, GAL. 17. April 2008, Hamburg.



[1]  Damit wurde die bereits von den Bündnisgrünen auf Bundesebene formulierte Initiative aufgegriffen, wie sie von bildungspolitischen Expertinnen von BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN (PRISKA HINZ, CHRISTA SAGER) bereits seit langem gefordert und auch wieder anlässlich der - fast schon routiniert ablaufenden, hier aber insoweit auch neue Akzente setzenden - Aussprache im Bundestag zum Bildungsbericht (Deutscher Bundestag - Plenarprotokoll 16/157, 16485-16498) formuliert wurde und die ausdrücklich Produktionsschulen als zukunftsweisende Antwort auf die (Bildungs-)Herausforderungen benennt (ebd., 16493).

[2]  Grundlage für das „Auszeit“-Modell bilden die „Rahmenvereinbarung zwischen dem Amt für Bildung und dem Amt für Weiterbildung der Freien und Hansestadt Hamburg über den zeitlich befristeten Verbleib von Schülerinnen und Schülern allgemein bildender Schulen in Produktionsschulen“ vom 31.1.2011 sowie der „Durchführungsvermerk: ‚Auszeit’-Modell für einen zeitlich befristeten Verbleib von Schülerinnen und Schülern allgemein bildender Schulen in Produktionsschulen“, ebenfalls vom 31.1.2011.


Zitieren dieses Beitrages

GENTNER, C. (2011): Das Hamburger Produktionsschulprogramm: Produktionsschulen in freier Trägerschaft im System der schulischen Berufsvorbereitung. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 04, hrsg. v. GENTNER, C., 1-12. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws04/gentner_ws04-ht2011.pdf (26-09-2011).



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http://www.hochschultage-2011.de/