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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS19 - Interkulturalität
Herausgeberinnen: Angelika Puhlmann & Anke Settelmeyer


Titel:
Interkulturalität – Bildungserfolg – Zugehörigkeit. Koordinaten für die Gestaltung von Übergängen in Ausbildung und Beruf – nicht nur – für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.


Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit als Perspektive auf die Ausbildung Jugendlicher mit Migrationshintergrund

Beitrag von Anke SETTELMEYER (Bundesinstitut für Berufsbildung, Bonn)

Abstract

Im Mittelpunkt des Beitrags stehen solche migrationsspezifischen Aspekte, die in der betrieblichen Ausbildung Jugendlicher mit Migrationshintergrund relevant sein können. Auf der Grundlage der Theorie natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit von MECHERIL, die im Überblick dargestellt wird, wird gezeigt, in welcher Weise sowohl Kund/innen und Kolleg/innen als auch Auszubildende mit Migrationshintergrund selbst Migrationsspezifisches in den betrieblichen Kontext hineintragen und wie dies in der Folge zu Wir-Die-Unterscheidungen führt. Auszubildende werden bei entsprechenden Interaktionen als natio-ethno-kulturell Andere adressiert und machen Erfahrungen der Nicht-Zugehörigkeit. Sie verleihen gleichwohl auch ihrer Verbundenheit zum Betrieb und dem Beruf, den sie erlernen, Ausdruck. Ein sich daraus entwickelndes Verständnis dieser Jugendlichen als Mehrfachzugehörige, zu verschiedenen natio-ethno-kulturellen Kontexten, kann Essentialisierungen und einseitige Darstellungen verhindern.

1 Einleitung

Der Übergang von der allgemeinbildenden Schule in die Ausbildung ist für die berufliche Entwicklung Jugendlicher von großer Bedeutung. Für Jugendliche mit Migrationshintergrund stellt dieser Übergang schon immer eine erhebliche Barriere dar (so auch DATENREPORT 2011, BEICHT/ GRANATO 2010, IMDORF 2010, REIßIG/ GAUPP/ HOFMANN-LUN/ LEX 2006). Daher befasst sich die Berufsbildungsforschung seit langem eingehend mit den Schwierigkeiten von Personen mit Migrationshintergrund an dieser Schwelle.

Der Ausbildung Jugendlicher mit Migrationshintergrund wurde dagegen bislang weniger Aufmerksamkeit zuteil (vgl. QUANTE-BRANDT 2008, BISCHOF/ BRUHNS/ KOCH 2008). Diese Phase, insbesondere der betriebliche Teil der Ausbildung, steht im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen. Sie gehen der Frage nach, ob und wenn ja, welche Aspekte der nationalen, ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit im betrieblichen Alltag bedeutsam werden (können). Damit wird der Relevanz dieser Aspekte in einem alltäglichen Kontext nachgegangen. Es geht nicht um offen konflikthafte und problematische Phänomene (LANG 2007, TERTILT 1996). Vielmehr kann man davon ausgehen, dass auch der Betrieb ein Ort ist, an dem sich gesellschaftliche Diskurse über Migration und Integration – zwischen den Beteiligten – niederschlagen können (vgl. MANNITZ 2003 zur Schule).

Die Ausführungen basieren auf Ergebnissen des Forschungsprojekts ‚Handlungskompetenz und Migrationshintergrund‘ des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB), bei dem Auszubildende mit Migrationshintergrund sowie Ausbilderinnen und Ausbilder der Berufe Friseur/Friseurin und Groß- und Außenhandelskaufmann/-frau befragt wurden (siehe http://www.bibb.de/de/wlk30125.htm).

2 Zum Verständnis natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten

Die Grundlage für die Befassung mit Zugehörigkeit stellt der theoretischer Ansatz von Paul MECHERIL (2003) dar. Er hat sich mit der Lebenssituation von Menschen befasst, für die ein Migrationshintergrund „auf der Ebene von Selbstverständnis und Fremdbeschreibung bedeutsam ist“ (ebd. 9) und Kriterien zur Analyse der Interaktionen zwischen Migrant/innen und Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft entwickelt. Diese Kriterien hat er in der Theorie der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit ausgeführt. Da die Bedeutung der Begriffe Nation, Ethnizität und Kultur ineinander verschwimmen und aufeinander verweisen, wählt MECHERIL den Begriff Natio-Ethno-Kulturell (MECHERIL 2010, 14). Die zentrale Kategorie ‚Zugehörigkeit‘ bezeichnet ein Kontinuum, dessen einer Pol durch Gemeinsamkeiten und Übereinstimmungen gekennzeichnet ist, die für alle Beteiligten selbstverständlich und unhinterfragt, fraglos, gelten. Diese gründen in einem diffusen Bild des Gemeinsamen, Normalen und Selbstverständlichen, einem Prototypus, der „den imaginär-realen Raum (schafft), aus dem heraus für legitim gehaltene Unterscheidungsmöglichkeiten wirksam werden“ (MECHERIL 2003, 160). Zugehörigkeit ist jedoch auch durch Zustände der Nicht-Zugehörigkeit gekennzeichnet, in denen Unterschiede zwischen Wir und Nicht-Wir, zwischen uns und den Anderen, die aufgrund damit verbundener Bewertung der Beteiligten relevant werden. Das führt dazu, dass Personen sich in sozialen Kontexten als nicht zugehörig fühlen bzw. von anderen als nicht zugehörig angesehen werden (vgl. (BETSCHEIDER/ HÖRSCH/ SETTELMEYER 2011, 3f).

Personen mit Migrationshintergrund gehören oft nicht allein einem natio-ethno-kulturellen Kontext, sondern vielfach gleichzeitig mehreren dieser Kontexte zu. Dieser Mehrfachbezug, der jenseits der Normalitätsvorstellung der Mehrheitsbevölkerung liegt, macht die Zugehörigkeit dieser Personen fraglich. Gängige Redewendungen, z.B.  „zwischen zwei Stühlen sitzen“ oder „nicht zwei Herren dienen können“ bringen dies zum Ausdruck. Die Zugehörigkeit zu allein einem natio-ethno-kulturellen Kontext wirft dagegen keine entsprechenden Fragen auf und wird von MECHERIL als fraglos bezeichnet.

Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit wird durch die drei Aspekte symbolische Mitgliedschaft, Wirksamkeit und biografisierende Verbundenheit konstituiert.

MECHERIL unterscheidet den ersten Aspekt, symbolische Mitgliedschaft, in formelle und informelle Mitgliedschaft:

  • Formelle Mitgliedschaft wird nach formellen Kriterien erteilt bzw. erworben, die in diskursiven Prozessen ausgehandelt wurden und eine offiziell anerkannte soziale Ordnung begründen. Als Beispiel nennt MECHERIL die Staatsangehörigkeit.
  • Informelle Mitgliedschaft bezeichnet „eine Ebene, die gleichsam unterhalb der formellen Regelungen liegt. Sie ist nicht an explizite Kriterien geknüpft, sondern an „Signale der Unterscheidung“, die „selbst-verständlich“ und unhinterfragt als richtig anerkannt sind. Als Signale der Unterscheidung können zum einen das Aussehen wirken, zum anderen paraphänotypische Äußerungen wie ein Akzent  oder die Art des Sprechens … und Gebärden, aber auch normative Orientierungen. Dass diese selbstverständlich auf eine bestimmte Mitgliedschaft hin interpretiert, ist in dem die Normalitätsvorstellung der Mehrheit umreißenden Verständnis eines Prototypus begründet“ (BETSCHEIDER/ HÖRSCH/ SETTELMEYER 2011, 4). Diese „ermöglicht die selbstverständliche Auslegung etwa geschmacklicher Anzeichen, präferierter Werte oder körperlicher Merkmale als Mitgliedschaftssignale.“ (MECHERIL 2003, 154, 316ff).

Mitgliedschaft zielt jedoch nicht allein auf eine symbolische Unterscheidung, sondern gewinnt im Alltag Relevanz, da bestimmte Formen von Partizipation und Praxis zugestanden bzw. verwehrt werden (ebd., 161). Sie steht daher „immer in einer Beziehung zu Erfahrungen, die durch auf konkrete und generalisierte Andere bezogene Tätigkeiten gewonnen werden“ (ebd., 161): Habituelle Wirksamkeit richtet den Blick auf „soziales Handeln in natio-ethno-kulturellen Kontexten als Ausdruck und Anzeichen fragloser Zugehörigkeit“, aufgrund dessen sich Individuen selbst „als natio-ethno-kulturell wirksam verstehen und vorbringen“ (ebd., 163ff). Es geht somit um die „Resonanz, die ein bestimmtes Verhalten der Beteiligten in Bezug auf natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit - hier im Ausbildungskontext - erzeugt oder eben nicht erzeugt (vgl. BETSCHEIDER/ HÖRSCH/ SETTELMEYER 2011, 5).

„Mit dem Aspekt der biografisierenden Verbundenheit schließlich wird zum Ausdruck gebracht, dass die Lebensgeschichten der Beteiligten bzw. einzelne Stränge ihrer Lebensgeschichte in verschiedenen natio-ethno-kulturellen Kontexten entstanden sind und mit diesem verflochten sind“ (BETSCHEIDER/ HÖRSCH/ SETTELMEYER 2011, 4). Biografisierende Verbundenheit umfasst unterschiedliche Aspekte: kulturelle Bindungen, emotional-affektive Aspekte, wie ein Gemeinschafts- oder Wir-Gefühl, aber auch negative Gefühle sowie kognitiv-praktische Vertrautheit (sich im Alltag in einem Land sicher bewegen können; Umgangsformen kennen) (ebd., 220, 238).

Diese drei Aspekte stellen verschiedene Perspektiven auf den Gegenstand Zugehörigkeit dar. Sie bedingen sich wechselseitig, sind jedoch zugleich auch je eigenständige Phänomene (ebd., 136).

3 Auszubildende mit Migrationshintergrund im betrieblichen Kontext als Andere und als Gleiche

Aus dieser theoretischen Perspektive heraus wird der betriebliche Alltag von Auszubildenden betrachtet und analysiert, in welcher Weise Aspekte natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit im betrieblichen Kontext bedeutsam werden.

3.1 Die Thematisierung von Aspekten natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit durch Kolleg/innen und Kund/innen

Von herausragender Bedeutung für die Wahrnehmung von Auszubildenden mit Migrationshintergrund als Andere sind Merkmale phänotypischer Art, etwa eine dunkle Hautfarbe oder auch ein Aussehen, aufgrund dessen Kund/innen und Kolleg/innen, sie, wie es eine Auszubildende formuliert, als „türkisches Mädchen“ ansehen. Auch andere paraphänotypische Merkmale, z.B. der Name,  ein Akzent, Fehler im Deutschen sowie der Gebrauch einer nicht-deutschen Herkunftssprache oder auch die Art, sich zu kleiden können Grundlage einer Unterscheidung zwischen Wir und Nicht-Wir sein.

Solche Unterscheidungen werden auch an weniger offensichtliche Merkmale geknüpft, z.B. an normative Orientierungen, die einer Andersheit zugerechnet werden. Dies betrifft z.B. das Einhalten religiöser Gebote (vgl. BETHSCHEIDER/ HÖRSCH/ SETTELMEYER 2011, 13; BISCHOFF/ BRUHNS/ KOCH 2008, 27) oder ein respektvolles Verhalten Vorgesetzten und Kolleg/innen gegenüber.

Der Kategorisierung von MECHERIL zufolge werden Auszubildende insbesondere an Mitgliedschaftssignalen  als Andere erkannt. Der Staatsangehörigkeit als Mitgliedschaftskriterium kommt dagegen geringe Relevanz zu (vgl. MANNITZ 2003, 159).

All diese Mitgliedschaftssignale können Kund/innen bzw. Kolleg/innen dazu veranlassen, Gespräche mit den Auszubildenden über migrationsbezogene Themen zu führen:

  • Kolleg/innen stellen Fragen zur persönlichen Lebenssituation der Auszubildenden und deren kultureller Begründung. Eine Auszubildende aus Sri Lanka, die jung geheiratet hat, wird z.B. gefragt, ob dieses Verhalten dort üblich sei.
  • Kund/innen gehen auf das (vermeintliche) Herkunftsland der Auszubildenden ein: Sie erzählen von eigenen Erlebnissen z.B. von einem Urlaubsaufenthalt dort oder fragen nach kulturellen Gepflogenheiten des Landes, z.B. nach der Möglichkeit von Frauen, dort berufstätig sein zu können.
  • Sie greifen stereotype Vorstellungen auf und fragen nach deren Relevanz für die Auszubildenden selbst: Eine Auszubildende iranischer Herkunft wird z.B. gefragt, ob ihre Eltern auch streng seien, sie einen Freund haben dürfe und zukünftig auch ein Kopftuch tragen müsse.
  • Sie gehen auf integrationspolitische Themen ein, indem sie sich  z.B. nach den Rückkehrabsichten der Jugendlichen und Schwierigkeiten beim Erlernen der deutschen Sprache erkundigen – selbst dann, wenn die Auszubildenden keinerlei Anlass dafür bieten.
  • Kund/innen und Kolleg/innen äußern zudem Diskriminierungen und Rassismen, z.B. über „die Russen“.

Die Mitgliedschaftssignale, die diese Gespräche auslösen, spielen bei deren inhaltlicher Gestaltung selbst meist keine Rolle mehr. Nur in Ausnahmefällen beschränkt sich das Gespräch darauf: Die dunkle Hautfarbe eines Auszubildenden pakistanischer Herkunft z.B. ist Anlass für und Gegenstand von Witzeleien mit Kolleg/innen z.B. bzgl. der Feststellung, dass er im Urlaub wieder richtig braun geworden sei.

Die Auszubildenden reagieren unterschiedlich auf entsprechende Gesprächsanlässe; dabei spielt u.a. die Art ihrer biografisierenden Verbundenheit eine wichtige Rolle.

Eine Auszubildende türkischer Herkunft, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist, greift die Erzählungen von Kund/innen über deren Urlaub in der Türkei gerne auf, denn sie bereist die Türkei selbst regelmäßig und pflegt Kontakte zu ihrer Verwandtschaft. Diese Gespräche eröffnen ihr die Möglichkeit, von der Türkei zu schwärmen: von der guten Luft, die „einfach der Knaller ist“, dem Meer und dem Essen. Sie kann ihre enge emotionale und soziale Verbundenheit zur Türkei in einer freundlichen und unbelasteten Atmosphäre zum Ausdruck bringen. Die Reaktion einer anderen Auszubildenden, die in geringem Maße mit der Türkei verbunden ist, macht dagegen deren Distanziertheit  deutlich: Sie stellt Gespräche mit Kund/innen über die Türkei in eine Reihe mit Unterhaltungen über populäre Fernsehsendungen oder das aktuelle Wetter.

Ein Auszubildender syrischer Herkunft, der im Schulalter mit seiner Familie aus religiösen Gründen aus seinem Herkunftsland geflohen ist, spricht mit Kund/innen nur über das „Schöne“ von Syrien. Die Kunden sollen sich  wohlfühlen und nicht mit konflikthaften Erfahrungen, wie er sie dort machen musste, belastet werden.

Fragen der Art „Wo kommen Sie her?“ können Auszubildende dazu veranlassen, sich entgegen ihrer biografisierenden Verbundenheit zu verorten: Auf die Frage eines Kunden, ob sie aus dem Iran stamme, nennt eine Auszubildende als Herkunftsland die Türkei. Sie tut dies, obwohl sie an anderer Stelle deutlich macht, dass sie zur Türkei sehr distanziert, mit Deutschland dagegen eng verbunden ist und sich „wie eine Deutsche einfach fühlt“.

Befremdlich sind Fragen nach einer möglichen Rückkehr in ein vermeintliches Heimatland für Auszubildende dann, wenn sie damit wenig verbindet – sie z.B. wenig Kontakte zu Verwandten haben, sich im Alltag dort nicht zurecht finden und eine „Rückkehr“ ohnehin nicht in Betracht ziehen. Gleiches gilt für Fragen nach Schwierigkeiten in der deutschen Sprache bei solchen Auszubildenden, die sehr gut und akzentfrei Deutsch sprechen.

Auszubildende, die mit stereotypen und rassistischen Äußerungen konfrontiert werden, versuchen, diese mit Argumenten zu widerlegen und zu differenzieren. Allerdings zweifeln einige am Erfolg ihrer Anstrengungen und reflektieren damit die Schwierigkeit, solchen Äußerungen wirksam entgegen zu treten.

Den Auszubildenden steht mit der nichtdeutschen Herkunft ein spezifisches Thema für die Konversation mit Kolleg/innen und Kund/innen zur Verfügung, mit dem sie habituell wirksam werden können. Bei diesen „Herkunfts“dialogen handelt es sich zwar um punktuell auftretende und zeitlich begrenzte Episoden, die die Ausübung beruflicher Tätigkeiten - insbesondere im Friseurberuf - häufig als Small talk begleiten. Gleichwohl führen sie den Auszubildenden immer wieder ihre Nicht-Zugehörigkeit zum deutschen Kontext vor Augen; nur selten sind für sie damit positive Zugehörigkeitserfahrungen verbunden. Die Auszubildenden werden in diesen Gesprächen i.d.R. als Andere adressiert und antworten darauf auch als Andere. Sie weisen Fremdidentifikationen häufig nicht zurück, sondern greifen sie weitgehend unwidersprochen auf, bestätigen sie dadurch und tragen selbst zu deren Verfestigung und Bestand bei. Einige Auszubildende sind zudem unsicher, wie sie z.B. die eigene Privatsphäre schützen und die Gespräche auf das von ihnen gewünschte Maß begrenzen können. Ihre biografisierende Verbundenheit zum deutschen Kontext kommt bei diesen Unterhaltungen dagegen i.d.R. nicht zur Sprache. Dass dies gerade im Rahmen der beruflichen Ausbildung geschieht, mittels derer die Auszubildenden gesellschaftlichen Erwartungen an ihre berufliche Integration nachkommen, verdeutlicht die Widersprüchlichkeit und Aussichtslosigkeit ihrer integrativen Bemühungen.

3.2 Aspekte natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit, die Auszubildende in den betrieblichen Kontext einbringen

Neben den Die-Wir-Unterscheidungen, die von Kund/innen aufgegriffen und vernehmbar thematisiert werden, gibt es auch Aspekte natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit, die die Auszubildenden selbst in den betrieblichen Kontext hineintragen.

In seltenen Fällen bringen sie ihre Verbundenheit zum Herkunftskontext zum Ausdruck, z.B. indem sie Kolleg/innen an ihrem Geburtstag typische Speisen anbieten oder –als Ausdruck eines kreativen Umgangs von Zugehörigkeit -  bei Renovierungsarbeiten aus Tapetenresten eine Landkarte mit all den Ländern gestalten, aus denen die beteiligten Kolleg/innen kommen. Diese Äußerungen natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit erzeugten offenbar bei allen Beteiligten eine positive Resonanz.

Das Beherrschen der deutschen Sprache stellt einen für die Ausbildung zentralen Aspekt natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit dar, dem derzeit im allgemein- und berufsbildenden Bereich große Aufmerksamkeit zukommt (vgl. die zahlreichen Aktivitäten von FörMig unter http://www.foermig.uni-hamburg.de; FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG 2010, PÄTZOLD 2010). Einige der befragten Auszubildenden werden anhand von Akzenten bzw. Fehlern im mündlichen Ausdruck, z.B. an ungebräuchlichen Ausdrücken und an den für Zweitsprachlern typischen Artikel- und Genusfehlern (AHRENHOLZ 2010, 21ff) als Andere erkannt. Offenbar sind sich die Auszubildenden dieser Fehler nicht bewusst: Sie gehen im Interview nicht darauf ein und werden, bis auf Ausnahmen, von ihren Ausbilder/innen nicht korrigiert – weder im Mündlichen noch im Schriftlichen, z.B. dem Berichtsheft. Betriebe scheinen deutsche Sprachkenntnisse bislang meist nicht als einen Bestandteil beruflicher Handlungskompetenz anzusehen, der im Zuge der betrieblichen Ausbildung systematisch zu entwickeln ist. Die deutlich gewordenen Fehler scheinen die Kommunikation mit Kund/innen bzw. Kolleg/innen jedoch nicht zu stören und die habituelle Wirksamkeit der Auszubildenden im betrieblichen Alltag einzuschränken.

Einige Auszubildende berichten gleichwohl, dass sie im Laufe der Ausbildung ihre Sprachkompetenz verbessert haben: Sie haben z.B. Fachbegriffe erlernt und soziolinguistische Kompetenz erworben, z.B. den höflichen Umgang mit Kund/-innen.

Einige Auszubildende setzen ihre nichtdeutsche Herkunftssprache als spezifische Kompetenz im Betrieb ein; in einzelnen Fällen wurde sie bereits im Vorstellungsgespräch danach gefragt (vgl. auch WILDUNG/ SCHAURER 2008, 21). Deren Verwendung wird geschätzt, wenn sie den Kontakt zu Kund/innen erleichtert bzw. überhaupt ermöglicht, kann jedoch dann zu Konflikten führen, wenn Anwesende das Gefühl haben, von der Kommunikation ausgeschlossen zu sein oder sogar befürchten, dass schlecht über sie gesprochen wird (vgl. BISCHOFF/ BRUNS/ KOCH 2008, 14). Die herkunftssprachlichen Kenntnisse lassen die Auszubildenden im Betrieb in spezifischer Art wirksam werden.

In einigen Betrieben ist der private Gebrauch der Herkunftssprache verbindlich geregelt, z.B. dürfen im Aufenthaltsraum herkunftssprachlich Telefonate geführt werden. Fehlen solche Absprachen, können Regelungen zufällig und beliebig entstehen: Eine Auszubildende berichtet, wie ihr in der Küche ein Gespräch mit einer Kollegin auf Türkisch untersagt wurde. Sie bewertet diesen Vorfall als „sehr schlimm“, denn er dürfte ihr die Nicht-Zugehörigkeit zum Betrieb deutlich gemacht haben, obwohl sie diesem und der Arbeit sehr verbunden, Kollegen gegenüber hilfsbereit ist und dank eines eigenen Kundenstamms bereits als Auszubildende zum wirtschaftlichen Bestand dieses Friseurbetriebs beiträgt. Die hier zugrunde liegende Begebenheit ereignet sich zwar in einem Randbereich des Betriebs und ist ohne unmittelbaren Bezug zur Ausbildung, betrifft mit der Muttersprache aber einen zentralen Aspekt ihrer natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit (vgl. KRUMM 2009, 235ff).

Über die genannten Aspekte natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit hinaus können  im Betrieb auch normative Orientierungen der Auszubildenden von Bedeutung sein. So gehen die Auszubildenden wiederholt auf das Thema Respekt ein: Einige betonen, wie wichtig ihnen ein respektvoller Umgang nicht nur in der Familie, sondern auch mit ihren Vorgesetzten sowie Kolleg/innen ist. Respekt bilde, so einer der Auszubildenden zum Friseurhandwerk, die Grundlage dafür, miteinander „klar zu kommen“ und „ruhig arbeiten“ zu können. Hierzu gehören auch eine höfliche Ausdrucksweise und ein freundlicher Umgang miteinander. In diesem Fall dürfte diese normative Orientierung zu einer angenehmen Arbeitsatmosphäre im Betrieb beitragen; sie ist Ausdruck habitueller Wirksamkeit. In anderen Fällen dagegen kann eine respektvolle Haltung der habituellen Wirksamkeit der Auszubildenden entgegenstehen. Eine andere Auszubildende führt hinsichtlich der Erziehungsvorstellungen ihrer Eltern aus, dass sie mit ihnen nicht so reden dürfte wie „hier auf der Arbeit oder mit deinen Freunden und auch ihre Meinung nicht sagen durfte.“ Die im Betrieb vorherrschende kommunikative Norm erfordert von ihr jedoch ein gegenteiliges Verhalten: Sie soll „den Mund aufmachen“, sich auch der Vorgesetzten gegenüber offen äußern. Dies widerspricht nicht nur ihren Vorstellungen vom Umgang mit einer zu respektierenden Person, sondern auch ihrem zurückhaltenden Wesen und fällt ihr entsprechend schwer. In diesem Fall trägt die aus familiären Kontexten herrührende Form des Respekts zu Konflikten zwischen Auszubildender und Vorgesetzter bei, die die ohnehin schwierige Ausbildungssituation zusätzlich belasten.

Mit der Orientierung an Respekt können Vorstellungen zu Hierarchie einher gehen. Ein Auszubildender passt die von ihm als maßgeblich angesehenen Größen zur Bestimmung der hierarchischen Position einer Person - Alter und Status - an seine Bedarfe an: Im Betrieb, so führt er aus, zähle stattdessen die Dauer der Betriebszugehörigkeit, die bei ihm  - inkl. eines Praktikums - schon drei Jahre beträgt. Mittels dieser Deutung rechtfertigt er, dass er als Auszubildender bereits sehr selbständig an Kund/innen arbeitet und unter bestimmten Umständen Zuarbeiten für Gesell/innen ablehnt, die selbst erst kürzere Zeit im Betrieb arbeiten. Er schafft mit dieser Neudefinition die Voraussetzung, seine bereits erworbenen Fachkenntnisse im Betrieb einsetzen zu können – ohne sich durch eine an überkommenen Normen orientierende hierarchische Ordnung einschränken zu lassen.

Im Unterschied zu den episodischen Äußerungen von Kund/innen und Kolleg/innen zum (vermeintlichen) Herkunftsland, die – da ausgesprochen – vernehmbar sind, fließen sprachliche Kenntnisse und normative Orientierungen permanent und z.T. unbemerkt und unreflektiert in Interaktionen ein.

Die bisherigen Ausführungen konzentrierten sich auf solche Aspekte, die in der Zugehörigkeit zu einem nichtdeutschen Kontext gründen und im betrieblichen Kontext deutlich wurden. Die Befragten äußern sich jedoch auch zu solchen Themen der Ausbildung, die Auszubildende unabhängig von einen ggf. vorhandenen Migrationshintergrund beschäftigen können: zur Ausbildungsqualität, z.B. zu ihrer Zufriedenheit mit der Ausbildung im Betrieb, den Beziehungen zu ihren Kolleg/innen, zum Aufbau beruflicher Handlungskompetenz und damit einhergehender Herausforderungen insbesondere an ihre personale Kompetenz, z.B. Situationen, in denen sie sich „ins kalte Wasser geworfen“ fühlen, zu Befürchtungen, anstehende Prüfungen nicht zu bestehen sowie zu Entwicklungsprozessen in der Ausbildung, die sie reflektieren.

Diese von den Auszubildenden genannten Themen sind von zentraler Bedeutung für ihre Ausbildung. Es sind Themen, die viele Auszubildende umtreiben – unabhängig von ihren persönlichen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten. Diese Äußerungen sind Ausdruck der Verbundenheit der Auszubildenden zum Betrieb und Beruf und damit zum deutschen Kontext und erweitern den Blick über Aspekte der Zugehörigkeit zu einem nichtdeutschen Kontext hinaus auch auf solche Interaktionen und Tätigkeiten, bei denen die befragten Auszubildenden mehrheitsangehörigen Auszubildenden ähnlich bzw. gleichartig erscheinen. Die Wahrnehmung und Berücksichtigung all der Interaktionen und Tätigkeiten, die den unterschiedlichen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten der Jugendlichen entspringen, begründen ein Verständnis dieser Jugendlichen als Mehrfachzugehörige.

Betrachtet man zusammenfassend die Ergebnisse aus der Perspektive der habituellen Wirksamkeit wird deutlich, dass Auszubildende im betrieblichen Alltag  habituell wirksam werden,  wenn sich spezifische Kenntnisse bzw. Orientierungen „mühelos“ in die Arbeit im Betrieb einpassen und diese in einer Weise mitgestalten, die sie selbst und Kolleg/innen bzw. Kund/innen als positiv erachten. Es wurden jedoch auch Beispiele für habituelle Nicht-Wirksamkeit deutlich, bei denen sie Erfahrungen der Nicht-Zugehörigkeit im Betrieb machen bzw. bei denen normative Orientierungen zu Konflikten in der Ausbildung führen, die deren Fortbestand sogar in Frage stellen können (vgl. BETHSCHEIDER/ HÖRSCH/ SETTELMEYER 2011). Allgemeingültige Aussagen dazu, welche Resonanz einzelne Aspekte natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit erzeugen, können nicht gemacht werden, da derer Wirkungsweise auch von persönlichen und kontextuellen Faktoren abhängt und folglich nur für den Einzelfall zu ermitteln ist. Die Handlungsfähigkeit der Auszubildenden resultiert aus ihrer Mehrfachzugehörigkeit zu verschiedenen natio-ethno-kulturellen Kontexten.

4 Förderung natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit von Auszubildenden mit Migrationshintergrund

Abschließend wird der Frage nachgegangen, welche betrieblichen und persönlichen Bedingungen natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit Auszubildender mit Migrationshintergrund im betrieblichen Kontext befördern. Hierzu wurde eine entsprechende Analyse der Daten durchgeführt.

Von zentraler Bedeutung auf Seiten der Betriebe ist ein „freundlicher Umgang“: Hierzu gehört z.B. ein freundlicher und respektvoller Umgangston sowie die Abwesenheit rassistischer und diskriminierender Äußerungen. Konflikte - seien sie migrationsspezifischer oder anderer Art – werden offen ausgetragen, über Kolleg/innen wird nicht hinter deren Rücken gesprochen. Diese kollegialen Umgangsformen stellen keine Absichtserklärung dar, sondern werden  – falls nötig -  immer wieder eingefordert. Der „freundliche Umgang“ befördert im alltäglichen Miteinander ein gutes Betriebsklima, das durch andere betriebs- und abteilungsweite Unternehmungen zusätzlich gefördert wird. Auf den engen Zusammenhang zwischen Zusammenarbeit in interkulturell zusammengesetzten Belegschaften und Betriebsklima weisen auch BISCHOFF, BRUHNS und KOCH (2008, 11) hin.

Von großer Bedeutung ist zudem ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Auszubildender/Auszubildendem und Ausbildenden. Die Ausbilder/innen nehmen über die fachliche Betreuung hinaus auch wahr, so ein Auszubildender, „wenn es dir schlecht geht“ und sind in solchen Situationen ansprechbar (vgl. (EBBINGHAUS/ KREWERTH/ LOTER 2010, 25). Dabei ist es unerheblich, ob es sich um betriebliche oder private Probleme, ggf. migrationsspezifischen Ursprungs, handelt. Von einem vertrauensvollen Verhältnis dürften solche Auszubildende in besonderem Maße profitieren, die  im Rahmen der betrieblichen Ausbildung ihnen von Kindheit an vertraute Umgangsformen und Überzeugungen verändern sollen: z.B. – wie oben geschildert – ihre Zurückhaltung Kund/innen und Kolleg/innen gegenüber zugunsten eines offeneren Umgangs aufgeben wollen bzw. sollen.

Dass der Betrieb eine für die Ausbildung verantwortliche Person mit den dafür erforderlichen zeitlichen Ressourcen einsetzt, stellt eine strukturelle Voraussetzung für das Gelingen von Ausbildung dar und ist Ausdruck der Bedeutung, die der Betrieb der Ausbildung zumisst.

Die Auszubildenden werden mit ihren Schwächen und Stärken gesehen. Ihre berufliche Handlungskompetenz wird systematisch und umfassend mittels unterschiedlicher Methoden und in einem fehlerfreundlichen Klima entwickelt. Den Auszubildenden werden Leistungen abverlangt, deren Erreichen sie zufrieden und stolz macht, denn es ist „das Beste was du erreichen konntest“, wie ein Auszubildender mitteilt.  Schwierigkeiten der Auszubildenden, z.B. Unsicherheiten bei der Übernahme neuer Aufgaben oder bzgl. der höflichen Ansprache von Kund/innen, werden wahrgenommen und eine entsprechende Unterstützung angeboten. Der Betrieb steht spezifischen Kompetenzen der Auszubildenden mit Migrationshintergrund, z.B. der Herkunftssprache, aufgeschlossen gegenüber und schätzt deren Einsatz für betriebliche Zwecke Wert. Er regelt darüber hinaus auch den privaten Gebrauch dieser Sprachen, z.B. bzgl. der Anlässe und Räume, bei bzw. in denen sie verwendet werden dürfen und trägt somit deren Bedeutung für die betreffende Person, aber auch möglichen Vorbehalten von Kolleg/innen und Kund/innen Rechnung.

Die Auszubildenden äußern großes Interesse an dem Beruf, der ihren persönlichen Vorlieben und Neigungen entspricht und sind entsprechend motiviert, berufliche Handlungskompetenz zu erwerben. Migrationsspezifische Aspekte können  die Lernmotivation ggf. zusätzlich erhöhen (vgl. BEHRENSEN/ WESTPHAL 2009, 69).

Entsprechend sorgfältig haben sie den Ausbildungsbetrieb ausgesucht, z.B. dort zunächst ein Praktikum abgeleistet. Bei der Wahl des Betriebs achteten sie u.a. auf den freundlichen Umgang der Kolleg/innen untereinander. Sie sind mit der Ausbildung im Betrieb zufrieden, nutzen die betrieblichen Lernangebote und schätzen ihre Ausbilder/innen. Sie sind dem Betrieb verbunden, was durch die Verwendung des Pronomens ‚Wir‘ in ihren Äußerungen deutlich wird, das - je nach Zusammenhang - die Gruppe der Auszubildenden, Kolleginnen und Kollegen oder den Betrieb insgesamt bezeichnet.

Die Auszubildenden bestimmen weitgehend die Art und Weise, in der ihre nicht-deutsche Zugehörigkeit im beruflichen Kontext thematisiert wird: Sie begrenzen, worüber gesprochen wird (persönliche Erfahrungen z.B. werden verschwiegen) und mit wem sie darüber sprechen (z.B. nur mit vertrauten Kolleg/innen). Voraussetzung dafür ist, dass sie mittels Reflexion ihrer mehrfachen natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten Klarheit sowohl hinsichtlich ihrer eigenen Verbundenheiten als auch hinsichtlich ihres Umgangs  damit Dritten gegenüber gewonnen haben. Nicht zuletzt verfügen sie auch über die dafür erforderlichen kommunikativen Strategien, die eine solche Interaktion erfordert..

Aufgrund des Focus‘ der Untersuchung auf Migrationsspezifisches hätte man erwarten können, dass die Analyse der Bedingungen, die natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit von Auszubildenden mit Migrationshintergrund befördern, insbesondere migrationsspezifische Aspekte hervorbringen. Sie führt jedoch zu solchen Faktoren, die für ein Gelingen der betrieblichen Ausbildung im Allgemeinen von Bedeutung sind. Migrationsbezogenes wird dabei nicht ignoriert, isoliert betrachtet oder herausgehoben, sondern als eine Facette im Zusammenhang mit diesen zentralen Aspekten wie selbstverständlich mitgedacht, beachtet und berücksichtigt: Rassistische Äußerungen werden im Rahmen eines freundlichen Umgangs nicht geduldet, muttersprachliche Kompetenz als Teil der Potenziale eines Auszubildenden, sprachliche Defizite als eine Schwierigkeit, die es zu beheben gilt, angesehen. Es herrscht ein sachlicher und unaufgeregter Umgang mit Aspekten natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit. Ein solcher Bezug ist folgerichtig, da er Zugehörigkeit ausdrückt: eine Art des Einbezogenseins, durch die sie in angemessener Weise in allgemeineren Themen aufgehoben sind und beachtet werden. In den Betrieben, in denen sich Auszubildende migrantischer Herkunft zugehörig fühlen und als zugehörig angesehen werden, wird Migrationsspezifisches als zum Ausbildungsalltag gehörend angesehen und behandelt.

Allein die Förderung eines selbstbestimmten und souveränen Umgangs der Auszubildenden mit ihren natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten scheint nicht als betriebliche Aufgabe wahrgenommen zu werden und bleibt in der Darstellung ohne weiteren Bezug.

5 Abschließende Bemerkungen

Mittels der Perspektive natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit konnte die Bedeutung (para)phänotypischer Merkmale, sprachlicher Aspekte und normativer Orientierungen im  betrieblichen Ausbildungsalltag deutlich gemacht werden. Damit wurden für die Phase der Ausbildung solche Aspekte eingehend beschrieben, die in der Berufsbildungsforschung bislang wenig beachtet werden. An sie können im betrieblichen Kontext Wir-Die-Unterscheidungen geknüpft werden, die es den Auszubildenden gelegentlich ermöglichen, ihre Verbundenheit zu einem nichtdeutschen Kontext  in positiver Art deutlich zu machen bzw. spezifische Kompetenzen einzusetzen. Häufig sind für sie damit jedoch Erfahrungen der Nicht-Zugehörigkeit zum betrieblichen bzw. deutschen Kontext verbunden. In welcher Weise  Aspekte natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit die Handlungsfähigkeit der Auszubildenden im Betrieb beeinflussen – sie steigern oder, im Gegenteil, beeinträchtigen -, muss im Einzelfall betrachtet werden.

Die gewählte Perspektive betrachtet die befragten Auszubildenden nicht als Personen nur einer natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit, z.B. als Personen türkischer oder russischer Herkunft, sondern versteht sie als Mehrfachzugehörige. Er erweitert damit den Blick auf Verbundenheiten zu verschiedenen nationalen, ethnischen und kulturellen Kontexten und beachtet ihre jeweils individuellen Gewichtungen und unterschiedlichen Verständnisse (z.B. die Differenzierung in „richtige“ und „andere Türken“, Türkin sein/aus der Türkei kommend). Auf diese Weise werden Essentialisierungen, die Auszubildende mit Migrationshintergrund ausschließlich als Andere betrachten und zu einer ggf. einseitigen und unvollständigen Betrachtungsweise dieser Personen führen, vermieden. MECHERILs theoretische Perspektive trägt damit einem reflexiven sozialwissenschaftlichen Zugang zu Ethnizität Rechnung, der „weder die Fähigkeit von Individuen, sich gegenüber ihrer Herkunftskultur zu individuieren, abstrakt formuliert, noch eine selbstverständliche Zugehörigkeit, eine quasi-natürliche kulturelle Identität unterstellt“ (BOMMES/ SCHERR 1991, in FILSINGER 2010, 14). Durch die Reflexion von Aspekten der symbolischen Mitgliedschaft und der biografisierenden Verbundenheiten auf die Handlungsfähigkeit der Auszubildenden wird die Relevanz dieser Aspekte im Handlungsfeld Betrieb deutlich. Das Verständnis Auszubildender mit Migrationshintergrund als Mehrfachzugehörige weiter zu entwickeln stellt eine zentrale Herausforderung für die Praxis und Forschung der Berufsbildung zu Migrantinnen und Migranten dar.

Literatur

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Zitieren dieses Beitrages

SETTELMEYER, A. (2011): Natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit als Perspektive auf die Ausbildung Jugendlicher mit Migrationshintergrund. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Workshop 19, hrsg. v. PUHLMANN, A./ SETTELMEYER, A., 1-13. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ws19/settelmeyer_ws19-ht2011.pdf (26-09-2011).



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