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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
FT 09 Pflege

Selbstgesteuertes Lernen mit Neuen Medien – Pflege(aus)bildung zwischen Persönlichkeitsbildung und Bildungstechnologie

 

Abstract

Die zunehmende Etablierung eines E-Learning in Prozesse der Pflegebildung ist primär vor dem Hintergrund übergreifender europa- bzw. bundespolitischer Interessen zu verstehen. Sie legitimiert sich auf einer politischen Makroebene als Teil einer Gesamtstrategie zur Aufwertung des ‚Standortes Europa' bzw. des ‚Standortes Deutschland' im globalisierten Wettbewerb, auf einer institutionellen Mesoebene als strategischer Faktor einer ‚lernenden Organisation' sowie auf einer personenbezogenen Mikroebene als Instrument zur Realisierung eines ‚lebenslangen Lernens' und einer ‚Bildung für alle'. Diese Schlagworte werden allesamt auch für weitere Dimensionen eines selbstgesteuerten Lernens in Anschlag gebracht. Erkennbar wird damit, dass eine Diskussion um die Relevanz von E-Learning in der Pflege bzw. um die Bedeutung eines selbstgesteuerten Lernens die rahmenden politischen und ökonomischen Interessen und Motive nicht zu vernachlässigen hat. Eine inhaltliche Debatte hat dagegen zunächst fachwissenschaftliche und fachdidaktische Aspekte zu berücksichtigen. Als Referenzpunkt pflegerischer Bildungsprozesse gilt heute eine spezifische Logik des personenbezogenen Pflegehandelns, die ihre situative Orientierung in der Verschränkung eines wissenschaftlich reflektierten Regelwissens mit Prozessen eines kontextgebundenen hermeneutischen Fallverstehens sucht, das in auffällig hohem Maße in körperlich-leiblichen Bezügen zu begründen ist. Vor diesem komplexen Hintergrund werden im vorliegenden Beitrag Fragen der ‚fachdidaktischen Abstinenz', der ‚Entsinnlichung der (Lern)Erfahrung' sowie der ‚Verdrängung pflegerelevanter Wissensformen' durch Ansätze eines E-Learning in der Pflegebildung diskutiert.

1.  E-Learning

Dass E-Learning seit einigen Jahren in aller Munde ist, lässt sich auf den ersten Blick durch die scheinbar zufällige Konstellation von Möglichkeiten einer modernen Kommunikations- und Informationstechnologie und den Einfluss neuerer lehr- lerntheoretischer Erkenntnisse erklären. Schon beim zweiten Blick fällt einerseits auf, dass sich diese Konstellation in der Kompatibilität der theoretischen Grundlagen dieser Aspekte auflöst, andererseits jedoch ein dritter Aspekt an Bedeutung gewinnt: die politisch-ökonomischen Interessenlagen einer globalisierten Wirtschaft und Gesellschaft bilden das zentrale Movens der jüngsten Innovationen einer modernen Bildungstechnologie. Zur Illustration dieser These verhilft ein Ausschnitt aus dem Halbzeitbericht einer Kommission der Europäischen Gemeinschaften mit dem wohlklingenden Titel ‚Gedanken zur Bildung von morgen', in dem es heißt: „Auf dem Europäischen Rat vom März 2000 in Lissabon setzten sich die Staats- und Regierungschefs das ehrgeizige Ziel, Europa innerhalb von zehn Jahren ‚ zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum in der Welt zu machen – einem Wirtschaftsraum, der fähig ist, ein dauerhaftes Wirtschaftswachstum mit mehr und besseren Arbeitsplätzen und einem größeren sozialen Zusammenhalt zu erzielen ' . Ferner setzten sie nachdrücklich die Bildung ganz oben auf die Tagesordnung und riefen dazu auf, Bildungs- und Ausbildungssysteme so anzupassen, dass sie dieser Herausforderung gerecht werden.“ (KOMMISSION DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN 2003, Hervorhebungen im Original) Insbesondere wird in diesem Zusammenhang darauf verwiesen, dass sich Europas Bildungs- und Ausbildungssysteme auf den Bedarf einer wissensbasierten Wirtschaft einstellen müssen, und daher die Förderung neuer Grundfertigkeiten, insbesondere im Bereich der Informationstechnologien voranzutreiben ist. Entsprechende Aktionspläne (Programm ‚ eEurope 2005 ', Programm ‚eLearning 2004-2006' u. a. m.) schlagen sich in einer Vielzahl von Projekten zur Beförderung von E-Learning-Aktivitäten im Bereich der allgemeinen und der beruflichen Bildung nieder, die in ihrer Gesamtheit eine der größten Investitionen in das Bildungswesen der Nachkriegsgeschichte darstellen. Die europäische Gesamtstrategie umfasst, dies sei jedoch nur am Rande erwähnt, weitere pflegerelevante Aspekte: Denn neben der Etablierung des E-Learning wird die systematische Implementierung von E-Government und E-Health finanzkräftig vorangetrieben (vgl. z.B. EU 2004). Die Etablierung von E-Learning in Prozesse der Pflegebildung ist damit als Teil einer politischen Gesamtstrategie zu verstehen, durch Integration von Informations- und Kommunikationstechnologien in das Bildungswesen den ‚Standort Europa' bzw. den ‚Standort Deutschland' im globalisierten Wettbewerb attraktiver zu machen.

MANDL/ WINKLER (2003) beschreiben E-Learning als ein „Lernen mit Hilfe elektronischer Medien“. Der Begriff an sich bleibt unscharf (vgl. DIECHANZ/ ERNST 2001), bezeichnet derzeit jedoch zumeist Lernprozesse, die in einer internetgestützten Lernumgebung initiiert werden (vgl. ebd.). EULER/ SEUFERT/ WILBERS (2006) konkretisieren im Kontext der Berufsbildung, dass dazu insbesondere unterschiedliche Varianten von E-Medien genutzt werden (etwa filmisch-authentische Fallsituationen, Lehrclips oder Präsentationsfolien mit Animationselementen) sowie Telekommunikationsnetze Verwendung finden. Grundsätzlich kann dies mit verschiedensten Intentionen bzw. Zielperspektiven geschehen. So steht etwa in pädagogischer Perspektive der effektive Aufbau beruflicher Handlungskompetenz, in institutionelle Perspektive die Kooperation von Lehrpersonen und Lernorten der Berufsbildung oder in ökonomischer Perspektive die Reduzierung von Bildungsaufwendungen im Vordergrund (vgl. ebd.).

In übergeordneter Perspektive ergeben sich daraus strategische Vorteile des E-Learning auf drei Ebenen: Auf einer politischen Makroebene ist E-Learning als Teil einer Gesamtstrategie zur Aufwertung des ‚Standortes Europa' im globalisierten Wettbewerb zu bestimmen, auf einer institutionelle Mesoebene gilt E-Learning als strategischer Faktor einer ‚Lernende Organisation' und auf einer personenbezogene Mikroebene dient e-Learning als ein zweckmäßiges Instrument für einen besseren Zugang zum ‚lebenslangen Lernen' und zur ‚Bildung für alle'.

Vor dem Hintergrund der besonderen Erwartungen an Verfahren des E-Learning lassen sich rückblickend verschiedene Phasen der Etablierung in Prozesse der beruflichen Bildung bestimmen: Die Phase des ‚E-Learning-Hype' in den 1990er Jahren ist durch überhöhte Erwartungen im Bildungswesen gekennzeichnet. E-Learning ermöglicht demnach z.B. die Flexible Organisation des Lernprozesses , eine Individualisierung des Lernens, die Präsentation von Plastischen und authentischen Lerninhalten, eine erhöhte Aktualität der Inhalte, die Freisetzung von Kreativität, die breite Berücksichtigung von Informationsquellen, Unterstützung bei administrativen Aufgaben , sowie den Erwerb von Medienkompetenz. Nachdem sich, etwa vor dem Hintergrund enttäuschter Erfahrungen in Bezug auf die Nachhaltigkeit der finanzkräftig unterstützten Projekte die Erwartungen an E-Learning in der Folgezeit relativierten, wird in einer Phase der Konsolidierung nach sinnvollen Einsatzmöglichkeiten des E-Learning gesucht um schließlich in der Phase des ‚Blended Learning' den Gedanken des vollständig virtualisierten Lernens zu verabschieden. Blended Learning bezeichnet dabei „Lehr-/Lernkonzepte, die eine didaktisch sinnvolle Verknüpfung von ‚traditionellem Klassenzimmerlernen' und virtuellem bzw. Online-Lernen auf der Basis neuer Informations- und Kommunikationsmedien anstreben.“ (SEUFERT/ MAYR 2002, 23)

2.  E-Learning in der Pflegebildung

Nun basieren die jüngst vorgestellten Ansätze eines mediengestützten Lernens in der Pflegeausbildung – zu denken ist hier etwa an das Projekt ‚Meducare' im Berliner Raum (vgl. BERGJAN 2006, BERGJAN/ BEIER 2005), das Projekt ‚E-Learning-Assistant' der FH Bielefeld (vgl. NAUERTH PFEFFERLE 2008, NAUERTH/ PFEFFERLE 2007), den Ansatz von ‚CareOL' der Stiftung Careum (vgl. HEINER/ WILLEMS 2007) oder auch die multimedial gestützte Fallmethode mit Hilfe des Lernsystems ‚Soon-Trainer' der Fachhochschule Freiburg (vgl. SAILER/ SEITZ/ TRAUE 2008) – im Wesentlichen basieren alle diese Ansätze auf eben jenen grundlegenden Annahmen eines selbstgesteuerten Lernens, das mit Ansätzen des Blended Learnings zu unterstützen ist.

Um die Relevanz dieser Ansätze zu diskutieren, muss jedoch zunächst gefragt werden, um welche Bildungs- und Lernprozesse es in der Pflegebildung im Allgemeinen und der Pflege aus bildung im Besonderen geht? KEUCHEL (2007, 14) zählt jüngst zum Auftrag einer Pflegeausbildung neben der Vermittlung eines pflegerischen „Arbeitsprozesswissens“, in dessen Mittelpunkt spätestens mit den Reformen der rahmenden Gesetzgebung die berufliche Handlungskompetenz steht, auch die Reflexion „gesellschaftlicher und systemischer Entwicklungen der Berufs- und Arbeitswelt“ sowie insbesondere die Förderung der Persönlichkeitsentwicklung des Einzelnen. Schließlich gilt ihr die Emanzipation der Pflege von Fremdbestimmung zugleich als Bedingung und als Ziel einer gelungenen Bildungsarbeit in der Pflege. Die spezifische Logik des personenbezogenen Handelns – mittlerweile vielfach als doppelte Handlungslogik eines wissenschaftlich reflektierten Regelwissens und eines der individuell-situativen Orientierung verpflichteten hermeneutischen Fallverstehens diskutiert, und in pflegepädagogischen Bezügen etwa als „Dialektik des pflegerischen Gestaltungsbegriffs“ (ebd., 16) beschrieben, findet ihren für das pflegerische Handeln typischen Ausdruck darin, dass sie sich auf einem auffällig hohen körperlich-leiblichen Bezug zu begründen scheint (vgl. HÜLSKEN-GIESLER 2008). Auch wenn sich in pflegepädagogischer (und ggf. auch professionspolitischer) Perspektive eine Annäherung an berufsübergreifende Bildungsdimensionen empfiehlt, muss dieses spezifisch Pflegerische im Kern eines bildungstheoretischen Begründungsrahmens Berücksichtigung finden.

Vor diesem Hintergrund erscheint es notwendig, die wenigen Ansätze eines E-Learning in der Pflege, die sich der öffentlichen Diskussion stellen, zumindest in dreierlei Perspektive kritisch zu diskutieren: Dabei geht es um Aspekte der fachdidaktischen Abstinenz , der Entsinnlichung der Erfahrung , sowie der Verdrängung pflegerelevanter Wissensformen.

2.1  Fachdidaktische Abstinenz

In der allgemeinen E-Learning-Debatte wird immer wieder betont, dass die Wirkung neuer Medien nicht von den Medien selbst ausgeht, sondern vom jeweils zugrunde liegenden didaktischen Konzept (vgl. z.B. KERRES 2003). Den Computer, wie heute noch üblich, lediglich als Werkzeug bzw. „Lerntool“ (KOPP/ MANDL 2006, 87) zu deklarieren, steht hier für die altbekannte und bei jeder technischen Innovation ins Feld geführte These der Neutralität der Technik (vgl. für die Pflege HÜLSKEN-GIESLER 2007a, 2007b). Entsprechend gilt der didaktisch begründete Einsatz von computergestützten Medien bzw. einer internetgestützten Kommunikation als Herausforderung an Entwicklung und Gestaltung multimedialer Lernumgebungen. Dabei wird bislang aber wesentlich auf allgemeine Anforderungen an eine didaktische Gestaltung der Lernumgebung abgehoben, wie sie sich etwa in der Berücksichtigung der jeweils spezifischen Rahmenbedingungen einer Bildungsinstitution zeigen. Angespielt wird hier etwa auf kulturelle-, organisatorisch-administrative-, technische oder ökonomische Dimension (vgl. EULER/ SEUFERT/ WILBERS 2006).

Eine Debatte um die Relevanz pflegedidaktischer Reflexionen für Prozesse und Konzepte des E-Learning hätte jedoch darüber hinaus die im Kontext der Modernisierung der Pflege(aus)bildung geforderte „pädagogische Selbstverständnisdebatte über den grundlegenden Bildungsauftrag der Pflegeschulen sowie die fachwissenschaftliche Auseinandersetzung über innovative Unterrichtsinhalte“ (KEUCHEL/ FALK 2007, 8) zu berücksichtigen.

Die bislang vorliegenden Ansätzen eines E-Learning in der Pflegeausbildung weisen dagegen eine vollständige fachdidaktische Abstinenz auf, die sich insbesondere in einer Schlagseite in Bezug auf ein verwertungsorientiertes „Arbeitsprozesswissen“ und einer Vernachlässigung der Reflexion grundlegender gesellschaftlicher und systemischer Entwicklungen der Berufs- und Arbeitswelt der Pflege äußert (der Ansatz der FH Bielefeld bildet hier eine gewisse Ausnahme). In der Folge reduziert sich die didaktische Arbeit auf eine mikrodidaktische Perspektive, die individuumsbezogene Handlungskompetenzen zum Kern eines modernisierten Bildungsbegriffs stilisiert.

2.2  Entsinnlichung der (Lern)Erfahrung

Wie Alexandra MANZEI (2003) eindrucksvoll am Beispiel der biotechnologischen Medizin und hier speziell im Umfeld der Transplantationsmedizin aufzeigt, realisieren sich disziplinübergreifende bzw. interdisziplinäre Weisen der Problemlösung heute in der systemisch-kybernetischen Modellvorstellung der transklassischen- bzw. autopoietischen Maschine , die die Beschreibung von materiellen und immateriellen Prozessen als algorithmische Schrittfolge zulässt und in diesem Sinne auf Systemintegration und Systemoptimierung abzielt. Im Dunstkreis einer sich professionalisierenden US-amerikanischen Pflege der 1960 bis 1970er Jahre verankert sich diese Modellvorstellung als Pflegeprozess im Kern des pflegerischen Handelns (vgl. HABERMANN/ UYS 2006, HÜLSKEN-GIESLER 2008). In Prozessen der Pflegebildung verankert sich diese Modellvorstellung im Sinne eines selbstgesteuerten Lernprozesses der autopoietischen nicht-trivialen ‚ Maschine Mensch ' (vgl. zusammenfassend etwa LANG/ PÄTZOLD 2006). Ein zentrales Ziel dieser Interpretation besteht darin, Bildungs- und Lernprozess in der Pflege anschlussfähig zu machen für interdisziplinäre Diskurse und Problemlösungsansätze etwa einer kybernetisch-systemisch inspirierten und empirisch legitimierter Neurowissenschaft (vgl. TERHART 1999). Nun mag diese Interpretation von Lernprozessen eine ‚ Modeerscheinung ' sein, folgenlos bleibt sie nicht: die Bildung des gesellschaftlichen Individuums lässt sich nämlich auf diese Weise als algorithmischer Problemlösungsprozess konzipieren, der anhand der kybernetischen Schrittfolge Anamnese , Diagnostik , Intervention , Evaluation abzuarbeiten ist und dessen Ziele bzw. Outcome je nach gesellschaftlichen Bedarfen neu zu bestimmen ist. Die ‚ Modebegriffe ' des selbstgesteuerten, des selbstbestimmten oder selbstorganisierten Lernens entlarven sich in dieser Perspektive als Abkömmlinge einer Hochkonjunktur des Konstruktivismus, die sich weniger durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse, als vielmehr durch so genannte Modernisierungsprozesse, etwa der Individualisierung, der Pluralisierung, der Technisierung, oder Rationalisierung begründen, diese jedoch andererseits wiederum vorantreiben und legitimieren und dabei einen Bildungsbegriff aushöhlen, wie er in seinen gesellschaftskritischen Fundamenten zu einer angemessenen Revision der Pflegeausbildung heute kaum notwendiger sein kann (vgl. für die Pflege ERTL-SCHMUCK 2007).

Eine zweite wesentliche Folgerung der Interpretation des Menschen als autopoietisch lernende Maschine besteht in der unmittelbaren Anschlussfähigkeit an technisch vermittelte Prozesse des E-Learnings, da auch die Computerlogik einer kybernetisch-systemischen Perspektive entspringt.

Was in dieser Interpretation des Lernprozesses jedoch verloren geht, ist der Anteil der Wirklichkeit, der uns, mit DILTHEY gesprochen, einen Widerstand entgegensetzt (vgl. FUCHS 1997). DILTHEY spielt hier auf die elementare Bedeutung der körperlich-leiblichen Erfahrung an, die in ihrer Relevanz für Prozesse der Persönlichkeitsbildung kaum überschätzt werden kann (vgl. KUBITZER 2005). Erst im Körperleib ist der „Schlüssel zum Erlebnis der Realität und der Gegenwart“ (FUCHS 1997, 184) gegeben. Lernprozesse im Kontext des E-Learning sind wesentlich entmaterialisierte und damit entleiblichte Lernprozesse .

Nun könnte man doch, die Einwände lassen sich erahnen, von einer harmonischen Eintracht von virtualisierten Beständen eines Pflegewissens und körperlich-leiblich zu erfahrenden Aspekten der Pflegebildung etwa in Ansätzen des Blended Learning ausgehen.

Die Bedenken begründen sich folgend: „Voraussetzung der virtuellen Welt ist die Entsinnlichung und Virtualisierung der realen, leiblich erfahrenen Welt“, so notiert Thomas FUCHS (1997, 184), ein Prozess, den wir schon lange etwa aus einschlägigen Lehrbüchern der Pflegeausbildung kennen, in denen die sinnliche Erfahrung der Pflegenden zum unverlässlichen Epiphänomen gerät und entsprechende Phänomene wie Schmerz, Ekel oder Trauer lediglich in abstrahierender Beschreibung, nicht jedoch in sinnlich erfahrbarer Weise (etwa Fotos) thematisiert werden.

Ebenso wie in diesen Lehrbüchern geraten im modernen E-Learning die abstrahierenden ‚ Fernsinne ' des Menschen (Sehen und Hören) zum primären Bezugspunkt des Lernprozesses.

PLESSNER (1970) differenziert in Bezug auf die sinnliche Aneignungsweise von Welt zwischen ‚ Nahsinn ' und ‚ Fernsinn ' . Als ‚ Nahsinne ' gelten dabei die sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten durch Geruch, Geschmack, Tastempfinden und Temperaturempfinden. Sie erlauben dem Menschen die „distanzlose Vergegenwärtigung fremder Zustände“ (BERR 1985, 24) und unmittelbare Erfahrung der Grenze des eigenen Körpers zur umgebenden Welt, die Voraussetzung einer direkten emotionalen Betroffenheit ist. Die ‚ Fernsinne ' visuelle Wahrnehmung, auch ‚ Gesichtssinn ' sowie das Gehör) dagegen führen zu einer distanzierten Wahrnehmung. Insbesondere der Sehsinn, schon bei den antiken Griechen der Sinn des Erkennens, bildet sich im historischen Verlauf als dominierendes Organ der abstrahierenden Wahrnehmung des modernen Menschen heraus (vgl. WULF 1984). Anne-Marie BERR (1985, 24) umschreibt pointiert die Folgen: „Das Auge überbrückt die Distanz der Körper, ohne sie ganz aufzuheben. Sie bleiben an ihrem Platz, sie spüren sich nicht, sie bleiben ‚ kalt ' . In dieser, wie Wulf es nennt, ‚ Fernnähe ' liegt die Affinität zum Abstrakten, zur Möglichkeit der Reflexion, aber auch zur Überwachung und Kontrolle. Hierin wiederum lauert eine Gefahr für die Vielfalt und das Zusammenspiel der sinnlichen Wahrnehmung. Die übrigen Sinne werden aus der Erfahrung verdrängt. Zum Schaden der Qualität des Wahrgenommenen, dessen Sinn sich allein im Zusammenspiel der Sinne herstellen kann.“

Die Virtualisierung der Pflege in Verfahren des E-Learning, führt, so die anzuschließende These, zu einer Entsinnlichung der Lernerfahrung (in Bezug auf die Nutzung aller Sinne) und im Anschluss daran zu einer Verkümmerung und zunehmenden Verdrängung der Bedeutung der ‚ Nahsinne ' in der Pflege. In der Folge ist zwar eine zunehmend reflektierte Auseinandersetzung mit pflegerelevanten existenziellen Phänomenen des Leidens, der Trauer, des Schmerzes, des Ekels oder des Todes zu erwarten, einer unmittelbaren körperlich-leiblichen Affiziertheit als Voraussetzung eines situativen Fallbezugs werden die Pflegenden dagegen systematisch entwöhnt. Die entsprechende pflegerische Intervention ist folgerichtig eher einer allgemeingültigen Regeln folgenden Technik bzw. Handlungstechnik zugehörig als einer im kontextuellen Geschehen begründeten leiblichen Resonanz.

2.3  Verdrängung pflegerelevanter Wissensformen

Mit SEILER (2003, zit. n. REIMANN 2005) ist Wissen in öffentliches und personales Wissen zu differenzieren. Während öffentliches oder objektiviertes Wissen als verbalisierbares und ggf. formalisierbares Wissen organisiert und geplant in Kontexten eines institutionellen Lernens (etwa des E-Learning) angebahnt werden kann, wird Personales Wissen , bestehend aus den Wissensformen ‚ Handlungswissen ' , ‚ intuitives Wissen ' und ‚ begriffliches Wissen ' durch Formen eines informellen Lernens, also etwa einer beruflichen Erfahrung, erworben. Zu unterstreichen ist in diesem Zusammenhang die prinzipielle Gebundenheit eines personalen Wissens an die körperlich-leibliche Erfahrung sowie die Einbindung dieser Wissensformen in die unmittelbare Lebenspraxis, die immer mit der grundlegenden Problematik der Überführung in ein öffentliches bzw. objektivierbares Wissen einhergeht (für die Pflege HÜLSKEN-GIESLER 2006). Eben diese Problematik führt in der Regel dazu, dass entsprechende Formen eines personalen Wissens nicht verallgemeinerbar sind und daher aus relevanten Professions- und Wissenschaftsdiskursen ausgeblendet werden (vgl. HÜLSKEN-GIESLER 2008). Die in der Folge entstehende Hierarchie von Wissensformen, die einem rational begründbaren, objektivierten Wissen einen Vorrang vor situationsgebundenen Formen eines personalen Wissens einräumen, begünstigen hier die Etablierung von E-Learning-Prozessen, die eben im Wesentlichen auf ein öffentliches Wissen abheben. Dass in der Folge ein personales, körperlich-leiblich gebundenes, situatives Handlungswissen zunehmend an Bedeutung verliert, wurde bereits beklagt.

3. Fazit

Die an dieser Stelle erfolgte Kritik an Verfahren des E-Learning in Kontexten der Pflege(aus)bildung mutet zunächst als eine grundlegende Abfuhr an diese Ansätze an.

Lässt sich der Vorwurf einer fachdidaktischen Abstinenz, wie etwa der Ansatz der Fachhochschule Bielefeld zeigt, durch eine Berücksichtigung entsprechender Reflexionen durchaus entkräften, und damit die Notwendigkeit der reflexiven Auseinandersetzung mit den Bedingungen einer modernisierten Pflegebildung durchaus einlösen, wiegt der Hinweis auf eine Entsinnlichung der Erfahrung und damit einhergehender Entwertungen pflegerelevanter Wissensformen durch Ansätzen des E-Learning schwerer. Der von Regina KEUCHEL (2007, 14) im Kontext einer modernen Pflegeausbildung jüngst geforderte Raum für „Bildungserlebnisse“ soll daher, vor dem Hintergrund der angestellten Argumentationen um die Forderung nach körperlich-leiblich fundierten „Bildungserfahrungen“ anreichern werden.

Mit den derzeitigen Konzeptionen eines E-Learning, so muss das Fazit lauten, wird jedoch eine Praxis der Berufsbildung bereitgestellt, die sich hoch kompatibel zeigt mit den jüngst etwa von BUCHMANN und GREB (2008) beschriebenen tief greifenden Strukturreformen einer sich professionalisierenden Pflege. Diese Entwicklung geht insbesondere mit einer Beförderung kognitiv-rationaler Wissensbestände einher. E-Learning verspricht auf diese Weise der Institution und dem Individuum einen angemessenen Umgang mit den Herausforderungen der Moderne, durch die Möglichkeit der Restrukturierung pflegerischer Wissensbestände in modernisierten Bezügen. Die konstitutive Bedeutung eines körperlich-leiblich fundierten Erfahrungswissens gerät jedoch im Zuge dieser Entwicklung nicht nur ins Hintertreffen, sie droht gänzlich überformt zu werden, denn: „Mit Erfahrungswissen wird den neuen Rationalitäten im Gesundheitswesen kaum mehr begegnet werden können.“ (BUCHMANN/ GREB 2008, 305).

Hier bleibt letztlich nur die Hoffnung auf eine kreative Zusammenarbeit von Pflegewissenschaft, Pflegedidaktik und Pflegeinformatik, um diese Entwicklung, ggf. mit neuen Verfahren des E-Learning, überwinden zu können.

 

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