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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
FT 11 Berufliche Förderpädagogik

Aktuelle Debatten, Analysen und Herausforderungen zur beruflichen Benachteiligtenförderung

  


Abstract

Die Fachtagung „Berufliche Förderpädagogik“ mit ihrem Schwerpunkt Benachteiligtenförderung hat sich inzwischen auf den Hochschultagen Berufliche Bildung etabliert. In Nürnberg nahmen ca. 60 Personen an der Fachtagung teil. In unserem Beitrag strukturieren wir die Vorträge und Diskussionen, und gegen kurze Hinweise zu den wiedergegebenen Artikeln. Zugleich will unser Text auf Basis der Gesamteindrücke eine aktuelle Standortbestimmung der Situation benachteiligter Jugendlicher im „Übergangssystem“ geben.

1.  Vorbemerkung

Berufliche Benachteiligtenförderung ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten zu einer gesellschaftlichen Daueraufgabe geworden. Allerdings zeigt sich die bisherige Geschichte dieses Bereichs als eine inkohärente Abfolge verschiedenster Modellversuche, Sofortprogramme, Initiativen usw. Auch aktuelle Diskurse, empirische Fakten und Ansätze, die das bestehende Benachteiligtensystem weiterentwickeln wollen, kennen nur Partialantworten, seien es z. B. die im Rahmen des BQF-Programms des BMBF eingeführten „Entwicklungsplattformen“ oder die durch den „SCHAVAN-Kreis“ des BMBF (Arbeitsgruppe „Übergangsmanagement“) angeregten Innovationsvorschläge. Vor diesem komplexen bildungspolitischen Hintergrund konzentrierte sich die Fachtagung „ Berufliche Förderpädagogik“ auf den Hochschultagen Berufliche Bildung in Nürnberg auf drei Fragenkomplexe:

1. Bildungssoziologie: Können die vorhandenen Teilstücke des Übergangssystems noch gesellschaftliche Integration leisten? Mit diesem systemischen Blick wollten wir aktuelle Tendenzen in der Förderpraxis ausloten und Forschungsergebnisse zur Benachteiligtenförderung diskutieren.

2. Jugendpädagogik: Gelingt es noch, die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Jugendlichen in Berufsvorbereitung, Ausbildung und Berufsschule zu erkennen und wissenschaftlich zu durchdringen? Mit diesem personalen Blick sollte den Eigenaktivitäten und Selbst-Bewegungen der Subjekte im Übergangssystem nachgespürt werden.

3. Bildungstheorie: Ist das bisherige pädagogische Konzept der Benachteiligtenförderung noch zeitgemäß? Oder bedarf es angesichts der aktuellen Entwicklungen neuer Perspektiven? Mit diesem bildungstheoretischen Blick sollte der berufspädagogische Diskurs in der Benachteiligtenpädagogik erweitert werden.

Mit unserem Beitrag wollen wir die Debatten der Fachtagung rekonstruieren und zugleich die folgenden drei Aufsätze von DIETMAR HEISLER, MARTIN KOCH und EVA QUANTE-BRANDT/ THEDA GRABOW in den Tagungsdiskurs einbetten.

2.  Ein vertiefter Blick in das „Übergangssystem“

Die drängende Bedarfssituation ist durch das Konsortium Bildungsberichtserstattung zutreffend charakterisiert worden. Bei dem Übergangssystem mit seiner Steigerung der Neuzugänge von rund 341.000 im Jahr 1995 auf rund 488.000 im Jahr 2004 handele es sich um „die möglicherweise folgenreichste und auch problematischste Strukturverschiebung“ im deutschen Bildungswesen“ (Konsortium 2006, S. 80). Die Expansion des Übergangssystems sei eine „ernsthafte bildungspolitische Herausforderung“ (a.a.O., S. 82). Diese Herausforderung zielt auch auf die Benachteiligtenförderung, auf das real vorhandene Gesamt-System (vor-) beruflicher Förderung für benachteiligte Jugendliche, das vertieft wissenschaftlich durchdrungen werden muss.

Ausgehend von einer breit angelegten Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) berichtete BIRGIT REISSIG über Wege benachteiligter Jugendlicher nach der Schule und skizzierte dabei erste Anforderungen für ein regionales Übergangsmanagement. Dieses sei aus mehreren Gründen geboten. Zuallererst muss bedacht sein, dass die politischen Folgen von Ausbildungs- und Arbeitslosigkeit vor allem Kommunen treffen. Hier sitzen aber auch die Fachleute, die die unmittelbare Situation kennen. Angesichts der Tatsache, dass die Zuständigkeiten für benachteiligte Jugendliche in Deutschland auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind (z.B. beim Bund und beim Land) und die Koordination und Kooperation auf lokaler/ regionaler Ebene gefordert ist, sollte diese Eben deutlich gestärkt werden.

Das Forschungsprojekt verfolgt nun die Frage, wie inzwischen die Übergangswege und Übergangsverläufe benachteiligter Jugendlicher aussehen. Die Basiserhebung per Fragebogen bezog sich bundesweit auf 126 Schulen mit verschiedenen Förderstrategien. Ansprechpartner sind 14-17jährige Schülerinnen und Schüler in Abschlussklassen von Haupt- und Gesamtschulen (Hauptschulzweig), also Jugendliche mit schwierigen Startvoraussetzungen für den Übergang Schule – Ausbildung. In Follow-up-Untersuchungen per Telefoninterview (CATI) wurden weitere Daten erhoben. 1.322 Jugendliche nahmen von 2004 bis 2006 an den Befragungen teil. Ergebnisse: Bei den Bildungs- und Ausbildungswegen kommen Hauptschulabsolventinnen und -absolventen zu trotz unterschiedlicher Ausgangsaspirationen und cooling-out-Prozessen (ursprünglich gingen 26% in eine Ausbildung; 26 % gingen ins BVJ und 35% gingen weiter zur Schule) nach gut zweieinhalb Jahren zu über 54 % in eine Ausbildung. Trotz der differenzierten Analyse der verschlungenen Wege der Jugendliche bleibt offen, welche Ausbildungsberufe und welche Formen der Ausbildung (betriebliche, außerbetriebliche, schulische) erreicht wurden.

Eine deutliche Verbesserung des regionalen Übergangsmanagements beginnt in der Schule. Die einzelne Schule ist als Handlungsträger relevant, etwa durch die Gewinnung von Betriebspraktika; dazu sollten vor Ort Betriebe und Einrichtungen als außerschulische Lernorte für Jugendliche gewonnen und Wege in eine Ausbildung eröffnet werden. Ein Case-Management ist nötig; das kontinuierliche Einzelfallbetreuung für benachteiligte Jugendliche anbietet und an den Voraussetzungen und Bedürfnisse der Jugendlichen anknüpft, aber auch die lokalen Angebotsstrukturen kennen und einbaut. Dazu müssen die Schnittstellen des Übergangs in den Blick genommen und besser abgestimmt werden. Kompetenzfeststellungsverfahren bieten die Chance, die Ressourcen benachteiligter Jugendlichen sichtbar zu machen und als Grundlage für die weitere Förderung nutzen. Und schließlich ist an Ausbildungsassistenz zu denken, in der Betriebe unterstützt werden, um sie für Ausbildungsangebote auch für benachteiligte Jugendliche zu gewinnen. Allerdings: Ohne einen politischen Konsens über die Einrichtung und die Ziele eines regionalen Übergangsmanagements und ohne die Schaffung entsprechender Strukturen bleibt Übergangsmanagement loses Stückwerk.

Mit dem Thema: „Abbrüche“ beleuchtet DIETMAR HEISLER wichtige Tendenzen im Übergangssystem. Der Beitrag ist in diesem thematischen Schwerpunkt von bwp@ wiedergegeben.

Im Übergangssystem haben sich neue Segmentationen und Ausdifferenzierungen in den Zielgruppen und den Systemelementen herausgebildet, so kann man mit PETER STRASSER und IVONNE MASCIONI sagen. Ihre exemplarische Analyse ausgewählter Modelle aus vier Bundesländern zeigt eine Entwicklungsdynamik im schulischen Bereich. Allein die quantitative Ausweitung des Übergangssystems hat dazu geführt, dass auch die Schülerzahlen in den Berufsvorbereitungsklassen in den Bundesländern angestiegen sind. Das betrifft die Schulorganisation und den Unterricht an berufsbildenden Schulen. Inzwischen gilt als gesichert, dass sich ca. ein Drittel des Unterrichts an berufsbildenden Schulen allein in Klassen der Berufsvorbereitung abspielt. Neben dieser Ausweitung und Ausdifferenzierung der schulischen Berufsvorbereitung zeigen sich als Tendenzen z. B. eine Dualisierung der schulischen Berufsvorbereitung (also vermehrte Lernortkooperationen) oder auch eine Intensivierung der (externen) Kooperationsarbeit. Auch wird in der schulischen Berufsvorbereitung vermehrt der Ansatz einer Zertifizierung beruflicher Fähigkeiten realisiert (Qualifizierungsbausteine); zudem lässt sich eine verstärkte Betonung der schulischen Abschlüsse beobachten (Hauptschulabschluss, Orientierung an Kerncurricula der Sekundarstufe I in Niedersachsen). Als Grundtendenz arbeiten STRASSSER/ MASCIONI die zunehmende individuelle Förderung heraus: Auch im Berufsvorbereitungsjahr wird vermehrt Wert gelegt auf individuelle Beratung, auf neue Formen der Unterrichtsdifferenzierung oder auf den Einsatz schulformbezogener Materialien. Individuelle Förderung durch ressourcenerschließende Instrumente (Kompetenzdiagnostik) und daran anschließende Fördermethoden werden wichtiger und selbstverständlicher eingesetzt. Am Beispiel des Hessischen Modells EIBE (Programm zur Eingliederung in die Berufs- und Arbeitswelt) lassen sich diese Aussagen konkretisieren: Wichtige Elemente in diesem schulischen Modell sind: Netzwerkarbeit und Übergangskonferenzen, Einsatz individueller Förderplanung verbunden mit Qualifizierungsbausteinen und einer bewusst gestalteten Einbeziehung des sozialen Umfelds durch den Einsatz von Sozialpädagoginnen/en freier Träger im Schulumfeld. Vielfältig stellen sich hieran Fragen, wie die Qualifizierungsbausteine mit individueller Förderplanung und dem hohen betrieblichen Anteil verknüpft werden können.

Für die Entwicklung des Übergangsystems lässt sich hinsichtlich der schulischen Berufsvorbereitung festhalten: Es werden zukünftig höhere Anforderungen in der organisatorischen, personellen und fachdidaktischen Ausgestaltung von Lehr-Lernprozessen aufgrund zunehmender Theoriepraxisverzahnung erforderlich. Der Einbezug unterschiedlicher Lernorte bedingt (sozial)-pädagogische Betreuung bzw. Bildungsbegleitung. Das aber führt unbedingt zu neuen Qualifikationsanforderungen an pädagogische Fachkräfte und Lehrende.

Die Vorträge und Diskussionen zeigten: Übergangsmanagement als Hauptaktivitätsfeld reicht ebenso wenig aus wie die Betonung betrieblicher Praktika als Einstieg in die Arbeitswelt. Wir müssen uns über die Komplexität eines Vorganges verständigen, der sich historisch neu darstellt. Die Ausdifferenzierung des Übergangssystems nimmt zu, Politik und Pädagogik sind ratlos. Auch die „Weinheimer Erklärung“, in die kommunale Expertise und Sachverstand vieler Fachleute eingeflossen ist, rückt lediglich das „Lokale Übergangsmanagement“ in den Mittelpunkt. Die Forderung an die Bildungspolitik zur Gestaltung eines kohärenten Fördersystems bleibt auf der Tagesordnung.

3. Der personale Blick: Was denken und empfinden die Jugendlichen?

Gelingt es, die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Jugendlichen in Berufsvorbereitung, Ausbildung und Berufsschule zu erkennen und wissenschaftlich zu durchdringen? In den letzten 30 Jahren hat sich eine Praxis der Benachteiligtenförderung eingespielt, die den Anforderungen nicht mehr gerecht wird – weder im Blick auf die Entfaltung der Gesellschaft noch im Blick auf die Nachwachsenden. Die Problembeschreibungen aus der Förderpraxis werden von einer Vielzahl von Fachleuten immer wieder bestätigt: Zu beobachten ist ein ständiges Nachbessern auf multiplen Entscheidungsebenen, ohne dass Hilfen zum Navigieren im Übergangssystem erkennbar werden. Es ist keine leichtfertige Vermutung, wenn man konstatiert, dass all dies den Jugendlichen nicht äußerlich bleibt.

Um mit einem personalen Blick den Eigenaktivitäten und Selbstbewegungen der Subjekte im Übergangssystem nachzuspüren, berichtete BRUNO GEFFERT über „Metaphern von Schule“. Sein Forschungsvorhaben beruht auf der Annahme, dass sich soziale Wirklichkeiten in Metaphern kondensieren. Metaphern sind für GEFFERT „kognitive Landkarten“, die Rückschlüsse auf Bewusstsein und Verhalten erlauben. Seine Metapherndefinition geht davon aus, dass eine Redewendung in dem für die Sprechäußerung relevanten Kontext mehr als nur wörtliche Bedeutung hat. Metaphern haben die Kraft, Wirklichkeit zu definieren. Metaphorische Übertragungen aus unseren einfachen und sinnlich wahrnehmbaren Erfahrungseinheiten auf komplexe und abstrakte Begriffe bilden die Basis unseres Denkens und Handelns.

Um das zu konkretisieren hat GEFFERT zur Datengewinnung eine Erhebung und Auswertung von Schüleraufsätzen vorgenommen und durch Gruppendiskussionen ergänzt. Die Aufsätze kamen von Schülern/innen verschiedener beruflichen Schulformen. Die folgenden Modelle von Schule lassen sich aus den Metaphern der Schülerinnen und Schülern gewinnen:

SCHULE IST EINE VERSORGUNGSANSTALT

SCHULE UND LERNEN IST ARBEIT

SCHULE UND UNTERRICHT IST EINE SCHWERE LAST

UNTERRICHT UND LERNEN IST STRESS UND DRUCK

SCHULE UND LERNEN IST EIN WEG, DEN MAN GEHEN MUSS

SCHULE IST REGELN UND ORDNUNG

SCHULE IST SEHEN UND KLÄREN

SCHULE IST KONTAKT UND BEZIEHUNG ZU FREUNDEN (KAMPF)

SCHULE IST DIE WELT/DER RAUM DER LEHRER und fremdbestimmt

PAUSE IST EINE ANDERE WELT.

Nehmen wir das Beispiel der Schule als VERSORGUNGSANSTALT: I n der Schule zu sein heißt, dass andere für mich „sorgen“ müssen, sich für mich „einsetzen“ und mir alles „bei-bringen“ und „geben“. Schule und Unterricht heißt für Schülerinnen und Schüler: Versorgt werden mit Sachen . GEFFERT: In der Versorgungsanstalt Schule werden Sachen verteilt. Hier werden „Sachen“ gelernt, verteilt, man bekommt „Sachen“ vom Lehrer. Es gibt sehr gute und negative „Sachen“ in der Schule, und Lehrer wollen „irgendwelche Sachen“ beibringen. Aus solchen Interpretationen tritt zu Tage, wie äußerlich Jugendlichen die Berufsschule bleibt, wie wenig für sie persönlich wirklich Verbindungen zum schulischen Lernen oder intrinsisches Interesse möglich sind. Zusammenfassend lässt sich daher mit GEFFERT feststellen: Die Metaphorik Benachteiligter betont die Passivität im schulischen Erleben. Für viele Jugendliche ist offenbar Schule eine Versorgung mit „Lernstoff“ und „Sachen“ durch ihre Lehrer. Lernen ist für sie Arbeit, etwa im Sinne des Abarbeitens und der Fliessbandproduktion. Für die Jugendlichen ist die Schule nach Regeln und Ordnungshierarchien organisiert. Oder noch härter: Für junge Menschen erscheint Schule als Last, als ein Weg, den man nun mal gehen muss. Auch hier definieren sich die Schülerinnen und Schüler als passiv. Schule wird – wenn überhaupt – als ein Teilbereich der Beziehungsgestaltung wahrgenommen ( SCHULE IST SEHEN UND KLÄREN), aber nicht als ein Lebens-Raum angeeignet. Die Schule bleibt fremd, „Schule ist eine andere Welt“, „Schule ist kein Teil von mir“.

Während GEFFERT deutlich machen kann, dass Jugendliche sich passiv und distanziert zu den Institutionen verhalten, gilt die Frage von MARTIN KOCH stärker den subjektiven Erlebens- und Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund strukturell-habitueller Bedingungen benachteiligter Jugendlicher. Sein Beitrag ist in diesem thematischen Schwerpunkt von bwpat zu finden.

Wiederum mit einem anderen Zugang hat EVA QUANTE-BRANDT 2004 eine regionale Untersuchung in Bremen mit 413 Befragten des dritten Ausbildungsjahres durchgeführt, mit der Fragestellung, wie sich die Ausbildung im Handwerk aus Sicht von Auszubildenden darstellt. Ihr gemeinsam mit ihrer Kollegin THEDA GRABOW verfasster Beitrag ist ebenfalls in diesem thematischen Schwerpunkt von bwp@ wiedergegeben.

Die drei Vorträge erlaubten einen differenzierten Blick hinter die Kulissen des Jugendalters. In seinen Belegen spannend und überzeugend ist die Ablehnung der Schule in den sprachlichen Äußerungen von Schülern, ebenso spannend die These von den historisch-habituellen Verankerungen in den Verhaltensweisen und Reaktionsformen benachteiligter junger Menschen. Anregend auch die Ergebnisse über die von den Auszubildenden wahrgenommene begrenzte Qualität betrieblicher Ausbildung. Die subjektive Seite der Benachteiligung auszuloten bleibt ein wichtiges Anliegen. Sind junge Menschen dem Förderdschungel des Übergangssystems passiv ausgeliefert? Passen sie einfach nicht in die bestehenden Strukturen? Oder haben sie unentdeckte Gestaltungsressourcen, die aber Pädagogik erkennen und erschließen müsste? Es gilt, neue Theorien und Ansätze einzubauen, es gilt erneut, sich über die Differenzierungen in den Zielgruppen zu verständigen. Vielleicht brauchen (benachteiligte) Jugendliche Anregungen, die möglichst wenig mit Schule zu haben. Entscholarisiertes Lernen muss einher gehen mit der Konfrontation mit ernsthaften Aufgaben. Junge Leute müssen erfahren, dass sie gebraucht werden, dass ihre Kompetenz gefragt ist.

4.  Bildungstheoretische Überlegungen: Eine Vision zum Benachteiligtenbereich

Die berufliche Benachteiligtenförderung steckt derzeit mitten in den aktuellen Debatten zur Modernisierung der Berufsausbildung. Die Diskussionen über Modularisierung (Qualifizierungsbausteine) betreffen sie ebenso wie Thesen vom sich abzeichnenden Fachkräftemangel in der Wirtschaft. Bildungssoziologische Untersuchungen deuten auf eine Ausweitung des Übergangsystems, wenn auch die Verlautbarungen aus der Bildungspolitik Entspannung auf dem Ausbildungsmarkt suggerieren. Durch den Vorschlag von DIETER EULER und ECKARD SEVERING zur Modularisierung in der Berufsausbildung ist insofern Bewegung in die Fachszenen aufgekommen, als Argumente für Modularisierung auch mit der Situation der Benachteiligten verbunden werden. Handelt es sich aber nicht eher um ordnungspolitische Maßnahmen, die an den realen Bedarfen benachteiligter Jugendlicher vorbeizielen?

JOSEF RÜTZEL stellte sich in seinem Beitrag systematisch die Frage nach einer „zeitgemäßen Benachteiligtenbildung“. Ausgehend von Analysen zur aktuellen Berufsbildungssituation (Dominanzverlust des Dualen System; Anstieg des Übergangssystems; veränderte Rolle des „Schulberufssystems“; Veränderungen durch Duale Studiengänge und Bachelor-Studiengänge, etc.) folgert er: Es kommt zu einem Fachkräftemangel und einem Verlust an sozialer Integrationskraft. Die Erosion des Berufs und des Facharbeiterkonzepts hat längst stattgefunden; aber immer noch gibt es eine Trennung zwischen Allgemeinbildung und Berufsbildung. Beobachten lässt sich ein Rückgang des „Lernens durch Tun“ als dominierendes Prinzip der Berufsausbildung in der Wissensgesellschaft. Ebenso erodiert die Regelungs- und Innovationskraft der kooperatistischen Strukturen in der deutschen Berufausbildung, auch bedingt durch europäische Entwicklungen: Europäischer Qualifikationsrahmen (EQF) und Europäisches Leistungspunktesystem (ECVET).

Die Diskussionsvorschläge und Lösungsvarianten zur Weiterentwicklung des deutschen Berufskonzepts sind vielfältig. Im Zentrum steht die Anfrage, ob es gelingt, den Beruf als abstrakte Kategorie, losgelöst von den bisherigen Traditionsbeständen, neu zu formieren und entsprechende gesellschaftliche Organisationsformen zu entwickeln. In der herkömmlichen Form – so die These von RÜTZEL – könnten auch neue Konzepte zu Sackgassen werden, weil sie den Anforderungen der modernen Wissensgesellschaft nicht mehr entsprechen, nicht mehr anschlussfähig an die Biographien sind und zudem eher Selektion fördern als Integration ermöglichen. RÜTZEL plädiert daher – vorsichtig – für den Aufbau von Netzwerken, die angesichts veränderter sozioökonomischer, technologischer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen neben Staat und Markt eine Art „dritter Steuerung“ übernehmen könnten, um Hierarchie- und Marktversagen zu mindern.

Abschließend entwickelt der Vortrag wichtige Forschungsbedarfe für das Forschungsfeld Benachteiligtenforschung. Allein im Blick auf Forschungsorte, -gebiete, -ansätze, -methoden und Bezugstheorien besteht erheblicher Forschungsbedarf. Außerdem fehlen systematische Forschungen/Studien bspw. zu biographischen Verläufen, zum Verbleib, zur Integrationswirkung von Qualifizierungsbausteinen und Praktika, zur Wirkung curricularer Konzepten, zur Kompetenzfeststellung und zur Professionalitätsentwicklung. Dennoch sei ein „Aufbruch zum Umbruch“ nötig. Eine Vision sähe so aus, dass im Bildungssystem jeder und jedem zu jeder Zeit in seiner Biographie Einstiege und Bildungsmöglichkeiten auch mit formal anerkannten, zertifizierten Kompetenzen/Abschlüssen ermöglicht werden sollte. Hierzu wären Qualifikationsrahmen, Modularisierung, Creditsysteme, Zertifizierung, Bildungsstandards, Kompetenz- und Outputorientierung wichtige Elemente. Aber erst wenn es gelingt, die Trennung zwischen Berufs- und Allgemeinbildung und ein verengtes Berufsprinzip (verbunden mit der dualen Ausbildung als „Königsweg“ der Berufsbildung) aufzuheben, könnte – eingebunden in eine „Erneuerung“ der Zuständigkeits-, Kooperations- und Steuerungsstrukturen – eine durchgreifende Perspektive für die Benachteiligtenförderung entstehen.

Der Vortrag konnte neben seinen Klärungen und Bedarfsformulierungen eindringlich klarmachen, dass die Benachteiligtenförderung einer berufsbildungstheoretischen Fundierung bedarf. Angesichts der These einer unzureichenden Steuerung des Übergangssystems und dem Antwortversuch „Netzwerke“ steht die Notwendigkeit der Entwicklung einer Benachteiligtenpädagogik auf der Tagesordnung – Wissenschaft und Praxis sind gefordert!

5.  Zum Abschluss: Fragen und Perspektiven

Die Fachtagung konnte vielfach deutlich machen: Ausgehend von der Situation an Förder- bzw. Hauptschulen bis zur prekarisierten Beschäftigung von Altbewerbern zeigen sich bei einer weiterhin erschreckend hohen Zahl Jugendlicher Tendenzen zur Marginalisierung. Beide großen Bereiche der beruflichen Benachteiligtenförderung, die schulische Berufsvorbereitung und die berufsvorbereitenden Maßnahmen haben sich zudem noch weiter ausdifferenziert. Auch die veränderten Förderpraxen der ARGEn oder der optierenden Kommunen werfen neue Fragen auf.

Eine in der Diskussion gezogene Bilanz der letzten Jahre zeigt, dass die Förderinstrumente zunehmend mehr umgestaltet werden. Beginnend mit dem Neuen Fachkonzept zur Berufsvorbereitung, das die Bundesagentur 2004 eingeführt hat, aber auch durch die vielen BQF-Projekte, ist ein Individualisierungsschub eingetreten, der auf den ersten Blick höchst positiv zu bewerten ist. Durch Eignungs- und Kompetenzfeststellungsverfahren, individualisierte Förderangebote, Coaching und Lernberatung, Qualifizierungsbausteine und Betriebspraktika ist ein Weg eingeschlagen worden, bei dem nicht mehr die einzelne Maßnahme, sondern das Individuum im Mittelpunkt steht. Schlagworte wie „passgenaue Förderung“ und „Fördern und Fordern“ prägen diesen Politikansatz. Dagegen könnte kaum etwas eingewandt werden, wenn sichere und zuverlässige Formate definiert worden wären, in denen die Förderangebote den individuellen Nachfragern garantiert zur Verfügung stehen. Diese „Garantie“ bietet indes nur die Berufsschule. Das BVJ ist ein sicheres Auffangbecken – und nicht zuletzt deswegen ist es so schwer, dieses schulische Angebot wirklich attraktiv zu machen.

Alle anderen Angebote weisen starke Limitierungen auf. Die Förderung nach dem Fachkonzept ist auf 10 – 12 Monate begrenzt, die Einmündung in eine Berufsausbildung im Rahmen der Benachteiligtenförderung ist eine keineswegs einklagbare Entscheidung der Arbeitsagentur. Das gilt auch für das Maßnahmeangebot, das die Agentur über ihre Ausschreibungen realisiert und den Jugendlichen anbieten kann. Vollends unübersichtlich wird die Lage im Bereich der regionalen Maßnahmen, die nach dem SGB II in den einzelnen Regionen angeboten werden. Hier gibt es ein breites Feld an Möglichkeiten, das aber in jeder Region anders gestaltet werden kann. Damit wird aber auch die Ausgestaltung dieses Systems in die Leistungsfähigkeit und das Engagement der regionalen politischen Akteure verlagert. Das bietet viele Gestaltungsspielräume, aber wenig Verbindlichkeiten. Hinzu kommt, dass in vielen Fällen diese Angebote nur noch als Projekte gefördert und als Leistungen ausgeschrieben werden. Damit sind sie zeitlich stark limitiert. Für den einzelnen Träger sind sie nur noch „Gelegenheitsaufträge“. Sie werden unter Konkurrenzbedingungen auf einem Markt angeboten, an dem viele Träger als Anbieter agieren, aber nur wenige, monopolartige Nachfrager existieren. Dementsprechend ist die Maßnahmevergabe einem ständigen Wandel unterworfen, das fachliche Personal wird teilweise unter extrem ungünstigen Bedingungen beschäftigt.

Auch an den Berufsschulen hat sich in Bezug auf die Berufsvorbereitung eine von Bundesland zu Bundesland unterschiedliche Förderstruktur entwickelt. Daraus resultiert insgesamt eine totale Unübersichtlichkeit der Förderlandschaft. Was als „Förderdschungel“ durch die „neue Förderstruktur“ und das Neue Fachkonzept abgestellt werden sollte, ist in weitaus verschärfter Form wieder zurückgekehrt. Die politische Verantwortung ist in die Zufälligkeit von Förderprogrammen und von regionalen Akteuren verlagert worden. Hier herrscht derzeit weder Transparenz noch Verlässlichkeit.

Zu fragen ist, ob sich ein neues Politikfeld (policy) etabliert, in dem die sozialstaatliche Verantwortung des Bundes nur noch formal übernommen wird. Über europäische und nationale Förderprogramme werden zwar projektbezogen immer wieder Mittel bereitgestellt, aber die Ausgestaltung der Förderstruktur wird den Bundesländern, den Regionen und den Trägern überlassen. Zynisch formuliert: Konzeptionslosigkeit wird zum politischen Programm. Politische Zielformulierungen treten an die Stelle von Konzeptionen. Die neuen Bundesprogramme zur Nachqualifizierung und zur Verbesserung des Übergangssystems sind Beispiele dafür. Die Ziele werden vorgegeben, die Konzepte weitgehend von den Institutionen gemacht, die sich um die Teilnahme und die Förderung bewerben.

Damit wird die Qualität des regionalen Übergangssystems und der Förderangebote zunehmend mehr durch sich ständig ändernde Rahmenbedingungen und durch politische Akteure vor Ort bestimmt. Darin liegen Chancen und Risiken. Eine kluge Regionalisierung kann knappe Ressourcen zielsicherer einsetzen. Jedoch kann in Regionen, in denen die starken Akteure fehlen, die Lage schwierig werden. Auszubaden haben das die jungen Menschen, die mangels geeigneter Angebote aus dem Fördersystem herausfallen, die auf singuläre Qualifizierungsbausteine, vielleicht nur noch Arbeitsgelegenheiten („Ein-Euro-Jobs“) verwiesen werden. Ihnen wird die Teilnahme an solchen Angeboten abgefordert, ja abgezwungen, auch wenn damit keinerlei Förderung und erst recht keine Perspektiventwicklung verbunden ist. Außerdem besteht das Risiko, dass die Fördersysteme in den prosperierenden Regionen kraftvoll ausgebaut, in den wirtschaftlichen Problemregionen dagegen zum Erliegen kommen. Die Verantwortung für dieses Scheitern läge dann nicht mehr auf staatlicher Ebene, sondern allein bei den regionalen Akteuren. Vielleicht entsteht hier auch ein neuer Politikstil und ein neuer Ansatz politischer Steuerung. Politisches Handeln wird über Ziele und Zielvereinbarungen definiert, und es werden formale Kontrollinstanzen festlegt (Akkreditierung/Zertifizierung, Förderplanung, Evaluation, extrem detaillierte Kontrolle zugewiesener Mittel, strikte Überwachung der Verwaltungsabläufe). Das scheint politisch zwar höchst progressiv, führt aber, wie alle Akteure einstimmig berichten, zu enormer Bürokratisierung, zu großen wirtschaftlichen Risiken und zu gravierender Arbeitsplatzunsicherheit. Die unmittelbare Verantwortung für Konzepte und Inhalte, auch für eine angemessene und dauerhafte Ausstattung, wird aus dem politischen Raum in die Regionen und die Trägerangebote verlagert. Dringend nötig wären deshalb nicht nur Kontroll-, sondern auch Reflexionsanlässe, in denen die Wirkungen der neuen politischen Steuerung und des neuen „policy-making“ transparent und der kritischen Diskussion zugänglich gemacht werden.

Dass in dem gesamten Prozess sowohl Chancen als auch Risiken liegen, ist immer wieder betont worden. Es kommt darauf an, jene Rahmenbedingungen zu sichern, unter denen die an vielen Orten aufkommenden, beachtlichen Reformaktivitäten dauerhaft weiterentwickelt und stabilisiert werden können. Es wird von großer Bedeutung sein, ob es gelingt, sowohl die schwachen Regionen als auch die förderbedürftigen Individuen vor Marginalisierung und Exklusion nachhaltig zu schützen. Das ist eine politische Aufgabe, die auf allen Ebenen von größter Bedeutung ist – und zu der auch diese Fachtagung einen Beitrag zu leisten versucht hat.

 

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