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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
FT 12 Berufliche Rehabilitation

Anforderungen an die Qualität beruflicher Erstausbildung bei jungen Menschen mit psychischen und Mehrfachstörungen

 

Abstract

Durch die Vielfalt psychischer Störungen, die junge Menschen vor Beginn und während der Durchführung ihrer Erstausbildung aufweisen, werden an die Träger dieser Ausbildung hohe Anforderungen an ihre Qualität gestellt. Besonders die starken Schwankungen in der persönlichen Stabilität, der Leistungsfähigkeit und der Symptomintensität führen bei dieser Klientel zu einem durchwegs erhöhten Risiko für Abbrüche von Ausbildungen. Die notwendige Qualität für gelingende Maßnahmen im Bereich der beruflichen Rehabilitation kann nur durch entsprechend intensive Rahmenbedingungen und durch die Vernetzung der verschiedenen beteiligten Ausbildungsbereiche gewährleistet werden („Hilfen aus einer Hand“). Häufig sehen sich die Ausbildungsträger mit dem Vorliegen komorbider Störungen konfrontiert. Erfolgreich kann die berufliche Rehabilitation in diesen Fällen nur dann sein, wenn sie der Komplexität und Differenziertheit psychischer Störungen gerecht wird.

Die Berufsbildungswerke bieten für die Ausbildung dieser äußerst kritischen Klientel ganzheitliche und fachlich hochqualifizierte Maßnahmen. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen des B.B.W. St. Franziskus Abensberg werden die Erfordernisse für eine Erstausbildung junger Menschen mit psychischen und Mehrfachstörungen erörtert.

1.  Die Erstausbildung junger Menschen mit psychischen und Mehrfachstörungen im Rahmen eines Berufsbildungswerkes

Kernstück des B.B.W. St. Franziskus Abensberg ist das Berufsbildungswerk, das seit den 70er Jahren junge Menschen mit einer Behinderung für eine berufliche Ausbildung vorbereitet, bzw. die Erstausbildung leistet. Im Jahr 2008 befinden sich etwa 200 junge Menschen in der beruflichen Diagnostik oder werden auf eine Ausbildung vorbereitet. Gut 300 junge Menschen im Alter von 16 bis max. 30 Jahren werden im Berufsbildungswerk ausgebildet. Möglich ist dies in 13 Berufsfeldern mit 38 möglichen Berufsabschlüssen vor der Handwerkskammer oder der Industrie- und Handelskammer. Zum B.B.W. St. Franziskus Abensberg gehören eine integrierte Förderberufsschule und ein differenzierter Internatsbereich.

Während zunächst vor allem lernbehinderte junge Menschen ausgebildet wurden, beschäftigte sich die Einrichtung seit Anfang der 90er Jahre vertieft mit Rehabilitanden, die eine psychische Störung in den Ausbildungsprozess mit einbringen. Seit dem Ende der 90er Jahre hat sich am B.B.W. eine starke Jugendhilfeabteilung (immer in Verbindung mit der beruflichen Fragestellung) entwickelt. Neu ist die Zusammenarbeit mit der bayerischen Justiz in Form der einzigen Untersuchungshaftvermeidung für Jugendliche in Bayern. Damit hat sich das B.B.W. St. Franziskus Abensberg inzwischen für drei Rehabilitandengruppen nachhaltig qualifiziert: Ausgebildet werden junge Menschen

•  mit einer kognitiven Einschränkung (Lernbehinderung)

•  mit einer psychischen Störung

•  mit massiven Verhaltensauffälligkeiten (Gewalt/Delinquenz)

Häufig treffen die Mitarbeiter des B.B.W.s inzwischen im Rahmen der besonderen stationären Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation auf Kombinationen dieser Problemgruppen. Auf diesem Hintergrund basiert auch der folgende Beitrag.

2.  Einige theoretische Aspekte

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat inzwischen ihre ICD, ihre Klassifikation von Erkrankungen (derzeit in der 10. Version) durch die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit) ergänzt. Grundlage für dieses System ist ein modernes Modell von Behinderung unter den Gesichtspunkten der Funktionen, der Ressourcen und der Teilhabe. Im SGB IX „Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen“ wird dieser Ansatz den gesetzlichen Regelungen zugrunde gelegt.

1977 haben ZUBIN und SPRING ein Entstehungsmodell für die Schizophrenie entwickelt, das heute als allgemeines Modell für die Entstehung vieler psychischer Störungen verwandt wird. (Vergl. ZUBIN J./SPRING B. 1977 ) Bekannt wurde es unter dem Begriff „Vulnerabilitäts- oder Diathese-Stress-Modell“ (hier in ergänzter Form dargestellt):

Abb.2:  Das Diathese-Stress-Modell

(Für ein bessere Auflöung Linksklick auf die Abbildung)

 

Nach diesem Modell bricht eine Störung dann aus, wenn mehrere Faktoren zusammenwirken. Eine diathetische Prädisposition (z.B. Erbfaktoren, prä-, peri- und postnatale Traumata) erzeugt zusammen mit einer psychosozialen Prädisposition (z.B. chronische Belastungen in der frühen Kindheit) eine Verletzlichkeit oder Anfälligkeit (Vulnerabilität) für die Entwicklung einer Störung. Belastung und Stress führen zum Ausbruch der Störung; der aktuelle Lebenskontext beeinflusst im Sinn von Risiko- und Schutzfaktoren, wie sich der Störungsverlauf entwickelt.

Psychische Störungen nehmen ganz unterschiedliche Verläufe. Als Beispiel sei genannt: Autismus (eigentlich eine tiefgreifende Entwicklungsstörung) behindert Menschen ein Leben lang, generell ist eine Heilung nicht möglich. Das Hyperkinetische Syndrom weist häufig einen stark altersabhängigen Verlauf auf. Psychotische Erkrankungen können einen stark phasenweisen Verlauf haben. Angst- und Anpassungsstörungen können passager behindern.

Berufsbildungswerke haben zusätzlich zu berücksichtigen, dass sie mit jungen Menschen arbeiten. Hier mischen sich häufig psychische Störungen mit Entwicklungsrückständen und Adoleszentenkrisen zu einem undurchschaubaren Durcheinander, das sich in einem höchst dynamischen Prozess befindet. Aus diesem Wissen heraus wird auch der pädagogische und rehabilitative Optimismus getragen: Auf der Grundlage des Erlebens, dass die Adoleszenz ein Durchgangsstadium darstellt, eine Übergangszeit der Verunsicherung und Labilität, in der psychische Problematiken aufblühen und mit ihrer ganzen Macht beeindrucken, kann die Arbeit mit der Hoffnung geleistet werden, dass sich die Störungen später häufig abschwächen und in ruhigeren Formen manifestieren.

Abb.3: Psychische Störung und Lebensalter

(Für ein bessere Auflöung Linksklick auf die Abbildung)

3.  Das Konzept der Störungsgruppen im B.B.W. St. Franziskus Abensberg

Um die Vielfalt psychischer Störungen für die alltägliche Arbeit in den Griff zu bekommen, unterscheidet das B.B.W. St. Franziskus Abensberg rein auf pragmatischer Ebene insgesamt 15 Störungsgruppen. In diesen Störungsgruppen sind die häufigsten Beeinträchtigungen und Behinderungen gebündelt, die junge Rehabilitanden in den Ausbildungsprozess der Einrichtung mitbringen. Folgende 15 Gruppen werden unterschieden:

•  Abhängigkeit/Sucht

•  ADS/ADHS

•  Autismus

•  Epilepsie

•  Essstörungen

•  Gewalt/Delinquenz

•  Hirnorganische Störungen

•  Körperbehinderungen

•  Lernbehinderung

•  Missbrauch/Traumatisierung

•  Persönlichkeits-/Verhaltensstörung

•  Psychosen/Neurosen

•  Psychosomatische Erkrankungen

•  Sinnesbehinderungen

•  Soziale Probleme

Von diesen 15 Störungsgruppen betreffen neun Erscheinungsbilder psychischer Störungen (in der Auflistung hervorgehoben), wobei die Zuordnung nicht vollkommen trennscharf erfolgen kann. Die prozentuale Verteilung der Störungsgruppen für das aktuelle Ausbildungsjahr zeigt Abb. 4.

Abb.4: Prozentuale Verteilung der Störungsgruppen im B.B.W. St. Franziskus Abensberg

(Für ein bessere Auflöung Linksklick auf die Abbildung)

Für Abb. 4 sind Mehrfachnennungen möglich und notwendig, da eine erhebliche Anzahl der im B.B.W. St. Franziskus Abensberg ausgebildeten Rehabilitanden (einschl. der BvB-Teilnehmer) die Merkmale mehrerer Störungsgruppen aufweisen. Bei insgesamt 422 Teilnehmern finden sich 735 festgestellte Störungsgruppen im Eingliederungsvorschlag oder in den beigefügten ärztlichen Berichten. Abb. 5 zeigt, dass die Mehrzahl der Rehabilitanden durch mehr als eine Störung beeinträchtigt wird.

Abb.5: Anzahl der feststellbaren Störungsgruppen pro Teilnehmer im B.B. W. St. Franziskus Abensberg

(Für ein bessere Auflöung Linksklick auf die Abbildung)

Eine differenzierte Untersuchung der Eingliederungsvorschläge für eine Stichprobe von Rehabilitanden des B.B.W. St. Franziskus Abensberg ergab, dass die Eingliederungsvorschläge die Problematik der Rehabilitanden nicht immer vollständig abbilden. Hier wird eine besondere Problematik der psychischen Störungen sichtbar: Sie zeigen sich häufig nicht unmittelbar, sondern müssen in der Begegnung, der Beziehung, dem Zusammenleben mit dem jungen Menschen wahrgenommen und erschlossen werden. Gerade komplexe Zustandsbilder sind in ihrer Vielfalt und Vielschichtigkeit in den Eingliederungsvorschlägen häufig nicht vollständig beschrieben.

4.  Die Störungsgruppe „Psychosen und Neurosen“

Am Beispiel der Störungsgruppe Psychosen und Neurosen sollen zunächst einmal die spezifischen Probleme der davon betroffenen jungen Menschen für die Ausbildung beschrieben werden. Davon abgeleitet wird das komplexe Gefüge notwendiger Interventionen und der vorzuhaltenden Ressourcen dargestellt.

Psychotische Erkrankungen und neurotische Störungen können als Prototypen der psychischen Beeinträchtigungen angesehen werden. Natürlich ist klar, dass junge Menschen mit einer psychotischen Erkrankung im akuten Stadium nicht ausbildungsfähig sind. Hier wird die berufliche Rehabilitation vor allem auf Residualzustände (häufig charakterisiert durch: Konzentrationsstörung, Kontaktschwäche, Vitalitätseinbuße, affektive Nivellierung.) treffen. Sie wird allerdings auch immer wieder mit der Situation umgehen müssen, dass die Psychose erneut aufflackert und entsprechende Maßnahmen, z.B. eine Unterbrechung der Ausbildung und eine stationäre Behandlung in der Psychiatrie, notwendig macht. Neurosen (Depressionen, Angststörungen, Zwänge) können durchaus in ihrer manifesten Form während einer Ausbildung bestehen und sind mit entsprechender Unterstützung auch zu handhaben.

Das B.B.W. St. Franziskus Abensberg ordnet folgende ICD-10 Diagnosen der Störungsgruppe „Psychosen und Neurosen“ zu:

•  Schizophrene, schizotype und wahnhafte Störungen (F20 – F29 ICD-10) (hier insbesondere Paranoide Schizophrenie (F20.0), Hebephrene Schizophrenie (F20.1), Undifferenzierte Schizophrenie (F20.3), Postschizophrene Depression (F20.4), Schizoaffektive Störungen (F25). )

•  Affektive Störungen (F30-39) (Manie (F30), Bipolare affektive Störung (F31), Depressive Episoden (F32), Rezidivierende depressive Störungen (F33), Anhaltende affektive Störungen (F34).)

•  Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen (F40-48) (Phobische Störungen (F40), Soziale Phobien (F40.1), Spezifische (isolierte) Phobien (F40.2), Panikstörung (F41), Generalisierte Angststörung (F41.1), Zwangsstörung (F42), Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F43), Akute Belastungsreaktion (F43.0), Posttraumatische Belastungsstörung (F43.1), Anpassungsstörungen (F43.2), Dissoziative Störungen (F44), Somatoforme Störungen (F45), Somatisierungs­störung (F45.0), Andere neurotische Störungen (F48). )

 

Entsprechend der Vielfalt dieser Störungsgruppe wird die berufliche Rehabilitation bei den betroffenen Klienten mit einer großen Anzahl von Problemen in der Ausbildung konfrontiert:

•  zentrales Problem ist die Instabilität der psychischen Gesamtverfassung ; Phasen mit relativer Stabilität werden immer wieder unterbrochen durch Krisen und Zeiten großer Irritierbarkeit

•  in Anforderungssituationen besteht häufig eine chronisch oder phasenweise verminderte psychische Belastbarkeit und fehlende Stressresistenz

•  es besteht ein Mangel an Flexibilität und eine verminderte Fähigkeit sich umstellen zu können

•  Beeinträchtigung durch die Symptomatik des Residualzustands : Antriebsminderung, psychomotorische Verlangsamung, Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen und damit verbunden eine Einschränkung der Lernfähigkeit, sozialer Rückzug …

•  inadäquate Selbsteinschätzung und Wahrnehmungsverzerrungen bis hin zu krisenhaft sich entwickelnden Wahnsystemen

•  erhöhte Erregbarkeit bei alltäglichen und ausbildungsbezogenen Problemsituationen

•  verminderte Kritik-, Konflikt- und Teamfähigkeit mit der Folge aggressiver Zuspitzungen oder vermehrter Flucht- und Ausweichtendenzen

•  selbstverletzende Verhaltensweisen, Suizidandeutungen, -ankündigungen und Suizidversuche

•  ausbildungs- und personenbezogene Ängste und Phobien bis hin zu Panikattacken

•  zum Teil deutlich erhöhte krankheitsbedingte Fehlzeiten und daraus resultierende Lücken im schulischen und ausbildungsbezogenen Kenntnisstand (Sekundärsymptomatik)

•  mangelnde Akzeptanz der psychischen Grunderkrankung durch den Klienten oder seine Familienangehörigen, verbunden mit einer Noncompliance in Bezug auf ärztliche (und pädagogische) Empfehlungen und Verordnungen

•  Gefahr der krisenhaften Zuspitzung der Symptomatik bei ausbildungsbezogenen Leistungs- und Prüfungsanforderungen sowie in sensiblen Phasen des Maßnahmeverlaufes (Beginn, Praktikum, Ende …)

•  Rückzugs- und Ausweichverhalten, Somatisierungstendenzen, fehlangepasste und überkompensierende Symptombewältigungstechniken (Alkohol, Drogen, Ignorieren von Vorbotensymptomen, …)

•  sekundärer Krankheitsgewinn

Für die berufliche Rehabilitation besteht bei dieser breitgefächerten Klientengruppe besonders die Problematik des Spagats zwischen störungsspezifischer Anpassung an die Bedürfnisse des Klienten und einer realitätsbezogenen Anforderungsstruktur (gemäß dem Ausbildungsauftrag). Für eine erfolgreiche Gestaltung des Ausbildungsprozesses haben sich folgende besondere Interventionsformen bewährt:

•  Nach Erfahrungen des B.B.W. St. Franziskus Abensberg ist es nicht möglich, alle Rehabilitanden bei externen Psychiatern und Psychotherapeuten adäquat behandeln zu lassen. Viele der jungen Menschen sind nicht bereit oder in der Lage die dafür notwendige Konstanz und Mitarbeit aufzubringen. Von daher braucht ein Berufsbildungswerk, das sich erfolgreich mit dieser Rehabilitandengruppe beschäftigen will, erheblich hauseigene psychotherapeutische Ressourcen und Kompetenzen . Häufig muss bei diesen Klienten die Therapiebereitschaft erst aufgebaut werden, die Zusammenarbeit wächst aus dem Alltag im Berufsbildungswerk.

•  Psychoedukative Gruppenangebote : Bei einer großen Anzahl dieser Störungsbilder können spezifische Psychoeduaktionsgruppen erfolgreich eingesetzt werden. Die jungen Klienten sollen zu Fachleuten ihrer eigenen Störung werden. Sie sollen lernen ihre Erkrankung zu verstehen und mit den Einschränkungen konstruktiv umzugehen. Da die individuellen Verläufe dieser Störungsgruppe oft phasischen Schwankungen unterworfen sind, ist es für die jungen Menschen besonders wichtig, frühe Anzeichen für einen erneuten Schub wahrzunehmen und damit präventiv umzugehen.

•  Eine Vielzahl von professionellen Unterstützungsleistungen müssen verfügbar sein: Verschiedene Formen des Entspannungstrainings, Gruppen zur Persönlichkeitsförderung und -entwicklung, Selbstbehauptungstraining, Sozialtraining, Qi Gong, …

•  Eine besondere Bedeutung kommt der schnellen und effektiven Krisenintervention zu. Manchmal zeichnen sich krisenhafte Entwicklungen über Tage und Wochen ab und man kann ihnen damit mehr oder weniger geplant begegnen; manchmal eskaliert die Situation jedoch ohne Vorwarnung und braucht eine sofortige Intervention. Das B.B.W. St. Franziskus Abensberg hat die Krisenintervention direkt beim psychologischen Fachdienst angesiedelt und hält entsprechende personelle Ressourcen bereit. Erst wenn diese erste Anlaufinstanz nicht verfügbar ist, werden andere MitarbeiterInnen aktiviert.

•  Junge Menschen mit einer neurotischen oder psychotischen Störung sind phasenweise während der beruflichen Rehabilitation oder nach einem stationären Klinikaufenthalt nur vermindert psychisch und physisch belastbar. Zeitweise muss die Möglichkeit bestehen, sie aus der Ausbildungsgruppe herauszunehmen und sie in Beschäftigungsangeboten erst wieder zu stabilisieren (einzeln oder in Gruppen). Verkürzte Arbeitstage mit anschließendem Betreuungsangebot sind Aufgabe der Krankenstation, die die Möglichkeit der individuellen Entlastung und zuverlässige Pflege bietet. Eine zeitlich befristete Arbeitsplatzbegleitung durch einen zusätzlichen Mitarbeiter kann ebenso notwendig sein, wie auf den Einzelnen abgestimmte und angepasste Arbeitspläne .

•  Alle Mitarbeiter (gerade auch die Ausbilder) müssen mit dieser Klientengruppe vertraut sein. Es muss ihnen bewusst sein, wie sehr sie durch ihr Verhalten (z.B. überhöhte Anforderungen) die Störung beeinflussen und Krisen auslösen, aber auch zur Stabilisierung beitragen können; und sie dürfen sich nicht durch eine Krisendrohung einschüchtern lassen. Permanente Fortbildung, Reflexion des eigenen Handelns und Nachschulung ist unabdingbar.

•  Viele dieser Rehabilitanden erhalten eine medikamentöse Behandlung mit neuroleptischen oder antidepressiven Arzneimitteln. Neben der Langzeitmedikation werden auch Bedarfsmedikamente (z.B. Diazepan, Tavor) verabreicht. Dies erfordert eine sichere Kompetenz der Krankenstation und der einzelnen Mitarbeiter im Umgang mit diesen Medikamenten; ein herausforderndes Lernfeld für Pädagogen und Ausbilder, da die Fehlerquote dafür auf nahe Null gesenkt werden muss.

•  Die krisenhaften Zuspitzungen dieser Klientengruppe machen immer wieder stationäre Klinikaufenthalte notwendig. Deshalb spielt die Zusammenarbeit mit externen Ärzten und Kliniken eine wichtige Rolle. Das Gesundheitssystem ist in die Rehabilitation dieser jungen Menschen erheblich eingebunden: Diagnosen müssen überprüft und präzisiert werden, Medikamente werden erprobt, evaluiert und eingestellt, Krisen werden stationär bewältigt, ambulante Psychotherapie wird geleistet, Beratung und Supervision wird in Anspruch genommen, Fortbildung für die Einrichtung wird angefordert. Immer wieder wird erfahrbar, wie wichtig das sich gegenseitige Kennen und das gewachsene Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Einrichtung für die erfolgreiche Gestaltung des individuellen Rehabilitationsprozesses ist. Die gegenseitige vorbehaltlose Information besitzt eine enorme Bedeutung.

•  Darüber hinaus muss eine Einrichtung, die sich mit dieser Rehabilitandengruppe vermehrt beschäftigt, in ein vielfältiges regionales psychosoziales Netzwerk e ingebunden sein.

Insgesamt ist die Ausbildung junger Menschen mit neurotischen oder psychotischen Störungsbildern höchst anspruchsvoll. Das Wissen für den adäquaten Umgang mit diesen jungen Menschen muss in einer Einrichtung wachsen. Sowohl die Strukturen müssen sich entsprechend entwickeln, wie auch die Kompetenz der Mitarbeiter im täglichen Umgang mit diesen jungen Menschen aufgebaut werden muss. Trotzdem gilt: Der Weg ist hier besonders erfolgversprechend, denn junge Menschen stabilisieren sich durch ihre berufliche Identität und über ihr gewachsenes Selbstwertgefühl auf der Grundlage einer erfolgreich abgeschlossenen Ausbildung.

5.  Einige übergreifende Prinzipien

In der Ausbildung psychisch gestörter junger Menschen haben sich unabhängig vom einzelnen Störungsbild einige Grundprinzipien bewährt:

5.1  Das Durchmischungsprinzip

Ein zentrales Element für die ganzheitliche Ausbildung und Betreuung junger Menschen mit psychischen oder Mehrfachstörungen ist eine achtende Kultur und die positive Atmosphäre in der Einrichtung. Gefördert werden diese wesentlich durch das sog. „Durchmischungsprinzip“. Das B.B.W. St. Franziskus Abensberg arbeitet mit den verschiedensten störungsgruppen (kognitive Einschränkungen, psychische Auffälligkeiten, delinquente Verhaltensweisen), achtet aber sorgsam darauf, dass keine dieser Gruppen ein Übergewicht erhält. Beispielsweise wurde für die Gruppe der delinquenten Jugendlichen festgelegt, dass ihr Anteil an den Gesamtplätzen nicht mehr als 20 % ausmacht um keine von Aggressionen und Impulshandlungen geprägte Atmosphäre zu erzeugen. Insgesamt werden am B.B.W. St. Franziskus Abensberg keine störungshomogene Lebens- und Ausbildungsgruppen gebildet, sondern die verschiedenen Störungsgruppen innerhalb der einzelnen Gruppierungen integriert. Es wird nach der Überzeugung gehandelt, dass junge Menschen intensiv voneinander lernen können – ja vermutlich bereitwilliger von dem Altersgleichen lernen, der schon eine Stufe weiter auf seinem Entwicklungsweg ist, als vom Meister oder der Erzieherin, die nicht mehr der gleichen Generation angehören.

5.2 Das System der Unterstützungsleistungen

Mit Hilfe der Unterstützungsleistungen hat das B.B.W. St. Franziskus Abensberg ein differenziertes System notwendiger und nachgewiesen hilfreicher Interventionsformen für die einzelnen Störungsgruppen aufgebaut. Unterstützungsleistungen (USLs) sind von der individuellen Problematik des Klienten ausgehende diagnosegeleitete Fördermaßnahmen, die sich von der Grundversorgung (Regelleistung) – also allen Maßnahmen und Prozessen, die dem Klienten standardmäßig zukommen – abheben. Unterstützungsleistungen sind definierte pädagogische Tätigkeitsfelder, zielgerichtet geplant und über einen längeren Zeitraum angelegt. Sie werden dokumentiert und evaluiert.

Als Unterstützungsleistungen für den Leistungsbereich sind derzeit anerkannt:

•  Lernen lernen

•  Unterstützung zur Fachtheorie

•  Prüfungsbegleitung

•  Förderung Sozialkunde

•  Förderung kognitiver Grundfertigkeiten

•  Allgemeine Deutschförderung

•  Legasthenietraining (schreiben, lesen)

•  Förderung Deutsch als Fremdsprache

•  Förderung Englisch

•  Allgemeine Rechenförderung

•  Fachbezogene Rechenförderung

Neben diesen leistungsbezogenen Unterstützungsleistungen wurden eine Vielzahl weiterer Interventionsformen über alle Lebensbereiche der Rehabilitanden entwickelt, die regelmäßig im Alltag zum Einsatz kommen. Unterstützungsleistungen werden sowohl im Eins-zu-Eins-Kontakt wie auch im Gruppen-Setting erbracht. Bei ungefähr 400 Rehabilitanden in der Berufsvorbereitung und in der Ausbildung werden jährlich mehr als 600 Leistungen beantragt und durchgeführt. Für jede dieser USLs braucht es einen „sachlichen Grund“, der in einem pädagogischen Planungsgespräch festgestellt werden muss und in dem Verfahren und Ziel der USL festgelegt werden. Gespräche, die den pädagogischen Prozess steuern, Freizeitmaßnahmen und -gruppen und Krisenintervention sind keine Unterstützungsleistungen.

Wenn man sich die Vielzahl der derzeit zulässigen Unterstützungsleistungen im B.B.W. St. Franziskus Abensberg ansieht, wird schnell klar, dass es nicht möglich ist für jede dieser Leistungen einen Fachdienst bereit zu halten. Ebenso wenig ist es möglich diese Unterstützungsleistungen von außen einzukaufen. Von daher lebt dieses System davon, dass sich MitarbeiterInnen über ihre „Kerntätigkeit“ hinaus engagieren, weiterbilden und zeitliche Ressourcen für die Durchführung der USLs frei schaufeln.

5.3  Von der Regel zur Richtlinie

Im Rahmen ihrer individuellen (oft komplexen) Problematik und ihren häufig sehr eigenen Ressourcen brauchen die Klienten eine verständnisvolle, flexible und differenzierte Anleitung und Begleitung durch die Institution und durch die Mitarbeiter des Reha-Teams. Um trotzdem eine einheitliche Linie gewährleisten zu können bedarf es einen erhöhten Aufwand an Kommunikation und Abstimmung.

Eine erfolgreiche Arbeit mit dieser vielgestaltigen Rehabilitandengruppe ist auf der Grundlage eines starren, kleingliedrigen und verbindlichen Regelsystems nicht möglich. Starre Strukturen führen häufig zur Eskalation von Konflikten und zu vermeidbaren Abbrüchen. Auf der Grundlage der Erfahrungen im B.B.W. St. Franziskus Abensberg ist es wesentlich besser Leitlinien für den Rehabilitations- und Entwicklungsprozess zu formulieren, die als Richtschnur für das Verhalten von Rehabilitanden und Mitarbeitern gleichermaßen dienen können.

6. Wissensmanagement und Personalentwicklung

Das B.B.W. St. Franziskus Abensberg beschäftigt sich seit Anfang der 90er Jahre verstärkt mit der Rehabilitation psychisch behinderter junger Menschen. Unter der Leitung des langjährigen Gesamtleiters Dr. Peter Schopf machte sich die Einrichtung der Katholischen Jugendfürsorge Regensburg auf den mühsamen Weg Erfahrungen mit den unterschiedlichsten Störungsgruppen zu sammeln. Inzwischen verfügt das Berufsbildungswerk über fundierte Erfahrungen und ein differenziertes Wissen zu diesem Personenkreis. Da dieses Wissen – wie in der sozialen Arbeit häufig der Fall – vor allem an Personen gebunden vorhanden ist, musste das B.B.W. St. Franziskus Abensberg parallel zu seiner Entwicklung Wege finden, dieses Wissen zu sichern und weiter zu entwickeln. Instrumente dafür sind die sog. „Qualitätszirkel“ und ein EDV-gestütztes „Wissens- und Kommunikationssystem“.

Für jede der oben genannten Störungsgruppen existiert ein Qualitätszirkel, der aus drei bis sechs MitarbeiterInnen besteht. Diese MitarbeiterInnen haben sich auf Grund ihrer Erfahrungen und externer Weiterbildungen zu Fachleuten für diese Störungsgruppe entwickelt. Sie bilden die Keimzelle für die Weitergabe der Informationen, für interne Schulungen, für Coachingprozesse wenn Probleme mit dieser Störungsgruppe auftreten, für den Erwerb neuen Wissens, für Unterstützungsleistungen, die auf diese Störungsgruppe bezogen sind, usw. Die Qualitätszirkel setzen sich aus MitarbeiterInnen der verschiedenen Abteilungen zusammen – fördern damit die interne Kommunikation – und dienen als Wissens- und Erfahrungsmultiplikatoren innerhalb der Einrichtung.

WIKO ist das EDV-gestützte Wissens- und Kommunikationssystem im B.B.W. St. Franziskus Abensberg. Jeder Mitarbeiter hat auf dieses System problemlos Zugriff. Neben allgemeinen Informationen, wird dort das langjährig erworbene und aktuelle Wissen über die einzelnen Störungsgruppen verwaltet und ständig durch die Qualitätszirkel aktualisiert.

Abb.6:  Beispiel aus dem Wissen- und Kommunikationssystem

(Für ein bessere Auflöung Linksklick auf die Abbildung)

Literatur

DEUTSCHES INSTITUT FÜR MEDIZINISCHE DOKUMENTATION UND INFORMATION (2005): Internationale Klassifikation der Funktionsfähikgeit, Behinderung und Gesundheit. Neu-Isenburg. MMI.

ZUBIN, J. & SPRING, B. (1977): Vulnerability: A new view of schizophrenia. In Journal of Abnormal Psychology, 86, 103-126.

 

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