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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
WS 09 Selbstgesteuertes Lernen

Selbst gesteuertes Lernen als gehaltvolle und breit etablierte Lernform ermöglichen

 

Abstract

Was sind die Voraussetzungen, für die Realisierung von selbst gesteuertem Lernen als gehaltvoller und breit etablierter Lernform an beruflichen Schulen?

Vor dem Hintergrund der Erfahrungs- und Datenbasis aus zwei Modellversuchen mit beruflichen Schulen in Hessen ( LunA, Selbstverantwortung Plus ) versuchen die Autoren Antworten zu geben. Dabei werden die Entwicklungen von vier Variablen interpretiert und zueinander in Beziehung gesetzt. Es sind dies das Rollenverständnis der Lehrkräfte, die Organisationsentwicklung der Schulen, die Bedeutung des rechtlichen Rahmens und der Stellenwert der Unterrichtsinhalte. Die Ausführungen zeigen deutlich, dass zwischen diesen Variablen Interdependenzen bestehen, die zu berücksichtigen sind, wenn selbst gesteuertes Lernen gehaltvoll und breit an beruflichen Schulen etabliert werden soll.

1.  Hintergrund

Die Einführung von selbst gesteuertem Lernen und damit einer neuen Lehr-Lernkultur an Schulen wird durch eine Vielzahl von Projekten bundesweit angegangen. So verfolgt auch das BLK-Modellversuchsprogramm Selbst gesteuertes und kooperatives Lernen in der beruflichen Erstausbildung (skola) „… als Leitziel den Anspruch, an didaktischen Konzepten zur Förderung des selbst gesteuerten und kooperativen Lernens auf den verschiedenen Ebenen der beruflichen Erstausbildung anzuknüpfen.“ ( www.blk-skola.de )

Das Skola-Projekt LunA (Lernen und nachhaltige berufliche Ausbildung) in Hamburg und Hessen arbeitet vor diesem Hintergrund daran, geeignete unterrichtliche Praxen zu entwickeln und in den Schulen zu etablieren. Außerdem werden in den beteiligten Studienseminaren die Ausbildungskonzepte so weiterentwickelt, dass Junglehrer mit diesem didaktischen Ansatz und seinem Lehrerbild vertraut sind. ( http://www.blk-luna.de/ ) Nachstehend wird nur auf die Unterrichtsentwicklung – begrenzt noch auf Hessen – Bezug genommen.

Bezugspunkte sind dabei vier kaufmännische Modellversuchsschulen und eine assoziierte Berufsschule, in denen jeweils in einem ersten großen Schritt für verschiedene Berufsschulklassen angestrebt wurde, angemessene Formen selbst gesteuerten Lernens zu identifizieren und eine dazu dann passende Lehr-Lern-Kultur zu etablieren. In einem zweiten Schritt war vorgesehen, als tragfähig eingeschätzte Interpretationen selbst gesteuerten Lernens und die zugehörigen Praxen schulintern auf weitere Lerngruppen zu übertragen und Erfahrungen gegebenenfalls auch anderen Schulen anzubieten.

Das hessische LunA-Projekt wird hier nachstehend zusammen mit einem zweiten Projekt in Hessen, dem Modellprojekt Selbstverantwortung Plus ( www.selbstverantwortungplus.de ) diskutiert. Da zwischen beiden Projekten sachliche Nähen bestehen bzw. entstanden sind, hat das den Vorteil, dass unsere Einschätzungen sich auf eine breitere Erfahrungs- und Datenbasis stützen können und differenzierter ausfallen.

In dem Modellprojekt Selbstverantwortung Plus erproben im Bottom-Up-Verfahren weitere 17 berufliche Schulen neue Wege der Qualitätsentwicklung, die wichtige Impulse für die Entwicklung aller Schulen und Regionen in Hessen geben sollen. Das Modellprojekt verfolgt als globales Ziel, neue Modelle für Unterricht und Schule zu entwickeln.

Der ganzheitliche Reformprozess erfolgt im Rahmen schulischer Projekte, die sogenannten Handlungsfeldern (HF) zugeordnet werden. Diese helfen, den Gesamtprozess zu operationalisieren. Die Projektschulen sind verpflichtet, alle sechs Handlungsfelder durch Auflage und Durchführung von schulischen Projekten zu bearbeiten. Die Handlungsfelder sind: Qualitätssicherung (HF1), Qualitätsentwicklung (HF2), Organisationsstruktur (HF3), Personalgewinnung & Personalentwicklung (HF4), Finanzen (HF5), Regionales Bildungsangebot & Bildungsnetzwerk (HF6). Im HF1 ‚Qualitätsentwicklung' spielen Modelle und Konzepte zur Einführung von selbst gesteuertem Lernen und individueller Förderung eine zentrale Rolle. Das Ziel in diesem Handlungsfeld lautet: "Der Unterricht ist geprägt durch Lehr- und Lernarrangements, die weitgehend selbst organisiertes und lebenslanges Lernen ermöglichen. Die verschiedenen Schülergruppen werden durch organisatorische und spezielle unterrichtliche Maßnahmen individuell gefördert." Die wissenschaftliche Begleitung berät und unterstützt die Teilprojektleitung bei dem Erreichen dieses Zieles.

Beide Projekte werden von Wissenschaftlern der Universität Kassel begleitet. Die räumliche Nähe aber auch Übereinstimmungen in der schulischen Projektarbeit haben auf der Projektebene zu Austausch, Kooperation und gegenseitiger Unterstützung geführt, die Implikationen auf unsere wissenschaftliche Diskussion über die Gelingensbedingungen für die nachhaltige Implementierung einer neuen Lehr-Lernkultur an den Projektschulen haben.

2.  Vier Thesen

Obwohl sich beide Projekte in den Herangehensweisen, Arbeitsaufträgen und thematischen Schwerpunktsetzungen unterscheiden, sind wir übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, dass selbst gesteuertes Lernen als gehaltvolle und breit etablierte Lernform nur möglich ist mit

•  einer veränderten Rollenauffassung der Lehrkräfte

•  einer veränderten Organisation von Schule

•  veränderten gesetzlichen Rahmenbedingungen

•  einem veränderten Zugriff auf Inhalte

Zwischen diesen vier „Stellgrößen“ des Entwicklungsprozesses gibt es eine Reihe von Beziehungen – am intensivsten vermutlich zwischen dem Rollenverständnis der Lehrkräfte und der „Organisationsveränderung“ der Schule. Dabei gibt es keine klare Kausalitätskette mit einem bestimmten Anfang und einem klaren, davon abhängigen Ende, sondern es zeigen sich eher Wechselwirkungen und zirkuläre Prozesse. Aus lediglich pragmatischen Gründen und ohne kausalen Hintersinn beginnt die Darstellung der Projekterfahrungen bei dem Rollenverständnis.

Die folgenden Einschätzungen beruhen auf Erfahrungsbeispielen aus der Arbeit als Wissenschaftliche Begleitung des Modellversuchs LunA und den Ergebnissen der formativen Begleitung der Projektschulen und hier insbesondere jenen der 1. Zwischenevaluation des Modellprojekts Selbstverantwortung Plus (CLEMENT/ MARTIN 2008).

Diese wurde in Form einer Prozessevaluation vom 21. Mai bis 08. Juli 2007 als Online-Befragung durchgeführt. 480 Lehrkräfte nahmen an dieser zweiten Online-Befragung teil. Das entspricht zum Befragungszeitpunkt ca. 35% aller Lehrkräfte mit mindestens einer halben Stelle an den 17 Projektschulen. Unterstützt werden diese Ergebnisse durch die Schwerpunkte der Diskussionen der Ergebnisse der ersten Online-Befragung aus dem Jahre 2006 im Rahmen von Feedbackveranstaltungen an 12 der 17 Schulen. Die Gesamtergebnisse der Online-Befragungen und Feedbackveranstaltungen, die über den hier betrachteten Ausschnitt Selbst gesteuertes Lernen als neuer Lehr-Lernkultur hinausgehen, sind im Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitung (CLEMENT/ MARTIN 2008) nachzulesen.

2.1  Selbst gesteuertes Lernen erfordert ein verändertes Rollenverständnis der Lehrkräfte

Um selbst gesteuerte Lernprozesse in Gang setzen zu können, übernehmen Lehrende zunehmend die Rollen von Beobachtern und Beratern (KONRAD/ TRAUB 1999, 45). Ihre Arbeit verlagert sich zunehmend aus dem Unterricht heraus in die Vorbereitungsphase, in der sie mehr organisatorische Vorarbeiten zur Individualisierung des Unterrichts leisten müssen. Bei den Lehrkräften der Projektschulen im Modellprojekt Selbstverantwortung Plus ist ein Trend zu einem derart veränderten Rollenverständnis zu erkennen. Zwar sehen sich 64,7% der Befragten in erster Linie als Wissensvermittler für ihre Schüler. Aber 77% sind für ihre Schüler auch Berater in sozialen Fragen. Dass sie die Rolle des Beraters und Beobachters im Unterricht zunehmend übernehmen, geben 68,3% der Befragten an. Für 75,4% stellt die organisatorische Vorbereitung des Unterrichts einen zunehmend wichtiger werdenden Teil ihrer Arbeit dar. Das für selbst gesteuerte Lernprozesse nach KONRAD und TRAUB (1999) notwendige Rollenverständnis scheint sich bei vielen der Befragten derzeit zu entwickeln und erleichtert die Einführung einer auf selbst gesteuertem Lernen basierenden neuen Lehr-Lernkultur, in der die individuelle Förderung von Schülerinnen und Schülern zum Leitprinzip wird.

Die Projektarbeit fördert die Zusammenarbeit an der Schule, geben 67,3% der Befragten an. Diesem Aspekt wird von den Befragten, das wissen wir aus der Online-Befragung 2006, eine sehr große Bedeutung (95,9%) beigemessen. Dies kann als Wunsch für mehr kollegiale Zusammenarbeit gewertet werden. Er hat seine Ursachen in der Veränderung des Selbstverständnisses der Lehrkräfte, die durch sich wandelnde Aufgabenstellungen und Strukturen bewirkt wird.

Die bisherigen Erfahrungen mit kollegialer Teamarbeit sind dabei nach Angaben der Befragten überwiegend positiv (80,3%). Drei Viertel (75,7%) meinen, dass ihre Schularbeit mittelfristig nur im Team zu leisten ist. Aufgrund dieser Angaben lässt sich mittelfristig ein erhöhter Bedarf an zeitlichen Ressourcen für Teamarbeit und deren Planung vermuten.

Die Auflage von Projekten in dem Bereich ‚Unterrichtsorganisation' sowie der Austausch von Erfahrungen und der Transfer von Beispielen gelungener Praxis können helfen, diesen Bedarf zu befriedigen.

Allerdings sind an die Selbstkonzepte der Lehrkräfte auch besondere qualitative Erwartungen zu richten, wenn das Konzept des selbst gesteuerten Lernens, das in Unterrichten verfolgt wird, selbst ganz bestimmten Ansprüchen genügen soll. Obwohl selbst gesteuertes Lernen substanziell viele Abstufungen zulässt und didaktisch insofern keine Entweder-Oder- Konstellation besteht, fordert jede anspruchsvolle Hinwendung zum selbst gesteuerten Lernen die Lehrkraft in ihrem Selbstkonzept sehr grundlegend heraus: Lernangebote sind andersartig zu konzipieren und zu kommunizieren, Aushandlungsprozesse zwischen den Lehrkräften und Schülern verändern sich thematisch und gewinnen an Bedeutung, Verantwortungen verteilen sich neu, Handlungspläne sind darauf abzustellen usw.

Dass die Selbstkonzeptentwicklung vor diesem Hintergrund gegenwärtig nicht ganz unproblematisch verläuft, soll nachher eingehender unter dem Punkt diskutiert werden, der sich mit der Methodenfixierung beschäftigt, die den Reformprozess bislang dominiert.

Wenn Lehrkräfte einzeln oder in Gruppen diesen grundlegenden Wandel wollen und einleiten, bedarf das zudem einer weitsichtigen organisatorischen Unterstützung und planerischen Fortschreibung, wenn diese Initiativen nicht marginal, temporär und an Einzelne gebunden bleiben sollen. Das soll nun näher betrachtet werden.

2.2  Selbst gesteuertes Lernen erfordert eine veränderte Organisation von Schule

In etwas idealtypischer Betrachtung kann man im Rahmen von Modellversuchen zwei sehr unterschiedliche Entwicklungsmuster ausmachen, die sich vor allem aus Organisationsdifferenzen erklären lassen. Eigentlich jede Schule hat nämlich schon in der Projektausgangslage eine ganze Reihe von Lehrkräften, deren Selbstkonzept selbst gesteuertes Lernen intendieren oder zumindest ermöglichen würde. Diese Lehrkräfte interessieren sich durchaus für Modellversuche, wie die hier vorgestellten, und schaffen es offenbar auch aus eigener Kraft, informelle Vorklärungen untereinander über Ziele und Formen und Kooperationsmöglichkeiten für selbst gesteuerte Unterrichte herbeizuführen.

Was aus dieser Ausgangsenergie und den eingebrachten Kompetenzen wird, hängt nach unseren Wahrnehmungen ganz wesentlich davon ab, wie die Schulleitung damit umgeht und in welcher Weise die Innovationsbereitschaft bei einem Teil des Kollegiums mit den in der Schule insgesamt bestehenden Vorstellungen zur Organisationsentwicklung von Anbeginn systematisch verknüpft wird.

Für den Fall, dass die Schulleitung gegenüber diesen Versuchen der meist kleineren Lehrergruppe, neuere Lehr- und Lernformen zu entwickeln und zu erproben, eine deutlich distanziert-abwartende Haltung einnimmt, das Experiment quasi eher nur duldet und zunächst einmal nur einige Grundvoraussetzungen dafür schafft, um abzuwarten, ob dort Wichtiges passiert, kommt das einer sich selbst erfüllenden Prognose über das Scheitern des Versuchs gleich.

Einerseits wird sich bei dieser Haltung der Schulleitung für das Versuchsteam der Lehrkräfte schnell zeigen, dass etliche Voraussetzungen ungenügend sind und in der vorgefundenen Form für die Lehrkräfte unvertretbar hohe subjektive Belastungen nach sich ziehen. Eine Veränderung der Voraussetzungen wird von der Schulleitung dann aber meist lediglich wenig verbindlich für einen etwas unbestimmt gelassenen künftigen Zeitraum in Aussicht gestellt, was dann sehr an der Substanz der Lehrergruppe zehrt. Außerdem zeigt sich nicht selten, dass selbst die zunächst gewährten Grundvoraussetzungen – etwa der Einsatz aller Lehrkräfte eines Teams in ganz bestimmten Lerngruppen – nicht über mehrere Schulhalbjahre gültig bleiben. All das erhöht für das Versuchsteam der Lehrkräfte die Schwierigkeiten, einen eigenen gemeinsamen Stil für die Unterrichte und überzeugende Formen der Lehr-Lernpraxis zu entwickeln.

Zum anderen macht die Schulleitung in vielen Fällen nicht deutlich, welche Ergebnisse von der Versuchsgruppe vorgelegt werden müssten, damit sie ihre abwartend-duldende Haltung aufgibt und die begonnenen Unterrichtsentwicklungen aktiv fördert. Häufig scheint es so, dass auch hier auf eine Entwicklung spekuliert wird, die der Schulleitung die Erarbeitung eines eigenen Entwicklungskonzepts abnimmt, indem sie abwartet, ob die Arbeit der Versuchsgruppe für weitere Kollegen der Schule so attraktiv geworden ist, dass sie selbst um eine Beteiligung und Mitwirkung bzw. um de Einrichtung einer Transfergruppe nachsuchen. Die Schulleitung bindet ihre Erfolgseinschätzungen dann also daran, dass die Entwicklung ohne große Beiträge von ihr zum Selbstläufer wird. Nun ist es gerade diese Haltung der Schulleitung, die diese Entwicklung völlig unwahrscheinlich macht, denn sie enthält ja die unausgesprochene Botschaft, dass sie hier nicht investiert, nicht offen Farbe bekennt und indifferent bis gleichgültig bleibt, nicht zuverlässig ist, Engagement nicht belohnt und aktiv fördert. Das wird nicht als Einladung und Ermutigung interpretiert und stärkt eher jene, die schon immer der Meinung waren, (diese) Neuerungen seien Unsinn. Die Mitglieder der Versuchsgruppe laufen demgegenüber Gefahr, stigmatisiert zu werden.

Es wird deutlich, dass Bemühungen, für Unterrichte neue Lernformen und Praxen zu entwickeln und in größerem Stil in der Schule zu etablieren, überhaupt nur eine Perspektive haben, wenn sie eng mit Konzepten dazu passender Organisationsentwicklung verknüpft sind. Dort, wo Schulleitungen das zum Ausgangspunkt ihrer Entscheidungen über Neuerungen machen, verlaufen die Prozesse tatsächlich deutlich anders. Sofern die Schulleitung sich den Ideen einer Experimentalgruppe öffnet, macht sie sich hier im nächsten Schritt zum Vordenker der Prozesse – insbesondere von der organisatorischen Seite her. Sie wird das „kalkulierte“ Experiment in einen stimmigen Entwicklungsplan einbetten, Entwicklungsschritte und -ziele mit den Akteuren festlegen, Zeitfenster und Erfolgskriterien definieren, Rahmenbedingungen benennen und sichern, Fortbildungs- und Unterstützungsbedarf ermitteln usw. Und sie wird Überlegungen anstellen und Konzepte erarbeiten, wie sie den Kreis der an der Schaffung neuer Lernformen beteiligten Lehrkräfte und Lerngruppen laufend aktiv ausweiten kann, wie sie das kommunizieren muss und fördern kann, wie sie dafür den Rückhalt innerhalb des Kollegiums gewinnt, wie sie Hemmschwellen verringern und Transfer erleichtern kann. Diese Schulleitungen nutzen Expertise, Engagement und Motivation der Lehrkräfte, weil sie wissen, dass jeder „organisatorisch“ gedachte Reformversuch, der nicht zugleich an die Reformideen und Energien der Lehrkräfte rückgebunden ist, ins Leere läuft.

Im Modellversuch LunA z.B. lassen sich Entwicklungsdifferenzen bei verschiedenen Versuchsgruppen ausmachen und ein nicht unerheblicher Teil dieser Differenzen lässt sich u.E. tatsächlich als Folge organisatorischer Differenzen „erklären“. Da umgekehrt gilt, dass die Etablierung und Ausweitung von selbst gesteuerten Lernformen nicht gelingt, wenn sie einfach aufgrund einer Entscheidung der Leitung über die künftige Schul- und Unterrichtsentwicklung von oben angeordnet wird, sie vielmehr einer eigenständigen Motiviertheit von Lehrkräften und Schülern bedarf, stehen Unterrichts- und Organisationsentwicklung in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis: es gelingt beides oder nichts von beidem.

Worauf sich die Aufmerksamkeit der Schulleitung richten könnte, wenn sie den Implikationszusammenhang von Unterrichts-, Organisations- und Personalentwicklung durchschaut und beherzigt, zeigen recht gut die nachstehend in Auszügen wiedergegebenen Erhebungsdaten aus dem Projekt Selbstverantwortung Plus .

Seit der ersten Online-Befragung im Jahre 2006 wusste die wissenschaftliche Begleitung des Modellprojekts Selbstverantwortung Plus , dass das Hauptinteresse an der Mitarbeit im Reformprozess bei den Lehrkräften im Handlungsfeld Qualitätsentwicklung liegt. Dies wurde auch in den Feedbackveranstaltungen mit den Schulen deutlich: Das Thema Motivation in der Unterrichtsentwicklung gehörte zu den drei am häufigsten diskutierten Themen in diesen Veranstaltungen. Da in diesem Bereich als Reaktion auf den o.g. Befund zusätzliche Projektmittel flossen und sich hier auch der quantitative Schwerpunkt der Projektarbeit heraus gebildet hatte, wollte man von Seiten der Projektleitung und des Teilprojektleitungsteams des Handlungsfeldes nun auch von den Lehrkräften wissen, welche Handlungsspielräume sie benötigen, um das Handlungsfeldziel zu erreichen. Das Ziel lautet: „Der Unterricht ist geprägt durch Lehr- und Lernarrangements, die weitgehend selbst organisiertes und lebenslanges Lernen ermöglichen. Die verschiedenen Schülergruppen werden durch organisatorische und spezielle unterrichtliche Maßnahmen individuell gefördert.“

Auf die entsprechende Frage, ob die Lehrkräfte zusätzliche schulische Handlungsspielräume benötigen, um dieses Ziel an ihrer Schule zu erreichen, antworteten 64% der Befragten mit ja und 36% mit nein.

Schulen benötigen nach Angaben der Befragten mehr zeitliche, personelle und materielle Ressourcen. Zeitliche Ressourcen werden u.a. wegen dem zeitlichen Aufwand für die Einführungsphase von selbst gesteuerten Lernformen, Doppelbesetzung im Unterricht, Teambesprechungen und Förderunterricht begründet. Weitere personelle Ressourcen in Form von Lehrkräften, Assistenzkräften und sozialpädagogischen Kräften sollen den zunehmenden zeitlichen Aufwand für Einzelbetreuung abdecken helfen. Hier ist u. E. auch an eine zunehmend professionsorientierte Arbeitsteilung zu denken. Für die Führung einer Bibliothek oder einer Schulcafeteria sind entsprechend ausgebildete und erfahrene Fachkräfte den Lehrkräften vorzuziehen. Neben dem fachlichen Aspekt hat das auch eine höhere Effektivität durch das Lehrerkollegium: Vorhandene pädagogische Kapazitäten werden auf das Unterrichtsgeschehen konzentriert, die den Unterricht unterstützenden Arbeitsbereiche werden kostengünstiger und fachlich besser durch Expertinnen und Experten erledigt.

Darüber hinaus wird von den Befragten Fortbildungsbedarf angegeben; dies insbesondere in den Bereichen Medien- und Methodenkompetenz sowie Didaktik. Hier ist sicher zu stellen, dass es neben der Aneignung neuer Techniken auch zu einem veränderten Zugriff auf Inhalte kommt. Dieser geht einher mit einem modernen, d.h. auf wissenschaftlichen Ergebnissen der Lernforschung basierenden Verständnis von Lernprozessen und einem dementsprechend veränderten Rollenverständnis der Lehrkräfte. Mit einem tradierten Rollenverständnis und ebensolchem fachlichen Zugang kann nur ein Austausch von Methoden erreicht werden, der allein für sich genommen keine neue Lehr-Lernkultur bewirken wird. (vgl. 2.2 und 2.4.)

Als materielle Voraussetzungen für den Ausbau von selbst organisierten Lernformen wurde die Anschaffung von neuen Lernmaterialien, der Umbau von Klassenräumen sowie die Einrichtung von Einzel- und Computerarbeitsplätzen, Internetzugängen und Bibliotheken genannt. Auch Arbeitsplätze für die Lehrkräfte an den Schulen werden bei einem veränderten Arbeitszeitmodell notwendig. Besprechungsräume für Teamsitzungen müssen ebenfalls ausreichend vorhanden sein. Dies stellt Schulen mit vorhandenem Platzmangel vor ein erhebliches Problem: Da die Schulträger in der Finanzierungsverantwortung für die materielle Ausstattung der Schulen stehen, müssen Schulen und das Modellprojekt für den zunehmenden Platzbedarf vor dem Hintergrund angespannter öffentlicher Finanzen argumentieren. Diese auf eine neue Lehr-Lern-Kultur basierende Argumentation wird so angelegt sein müssen, dass sie von in kommunalen Verwaltungsstrukturen tätigen Entscheidungsträgern nachvollzogen und akzeptiert werden kann. Die Argumente müssen den Entscheidungsträgern an die Hand gegeben werden, damit diese in den Auseinandersetzungen um die knappen kommunalen Finanzen erfolgreich sein können.

Die bestehende Stundenplanung im 45- bzw. 90-Minutenrhythmus behindert offene Unterrichtskonzepte. Eine veränderte Stundenplangestaltung und Organisation von Unterricht wird notwendig. Hierzu gehören insbesondere Zeitfenster für Teamarbeit in der Stundenplanung, damit Teamarbeit kontinuierlich stattfinden kann. Die Teams sollten langfristig zusammenarbeiten und ihre Ressourcen selbstverantwortlich verwalten. Ein Klassenraumprinzip kann helfen, den Wechsel von Klassen oder von Lehrkräften zu vermeiden und damit die permanente Bereitstellung von Materialien ermöglichen.

2.3  Selbst gesteuertes Lernen erfordert veränderte gesetzliche Rahmenbedingungen

Wenn man die schulischen Rahmenbedingungen für die nachhaltige Einführung von selbst gesteuertem Lernen als dominanter Lehr-Lernform thematisiert, kommt man schnell zu Fragen an die gesetzlichen Rahmenbedingungen von Schule, die von der Einzelschule nicht verändert werden können. Neben weiteren schulischen Erfolgsbedingungen wurde daher in dem Online-Fragebogen auch nach rechtlichen Begrenzungen, die aufgehoben werden müssten, um das o.g. Ziel im HF ‚Qualitätsentwicklung' zu erreichen, gefragt. Die Angaben der Befragten auf diese ebenfalls offen zu beantwortende Frage machen deutlich, dass sie auch hier Veränderungen für notwendig erachten, um den eingeschlagenen Weg erfolgreich weiter zu gehen.

Der Vorschlag, dass Lehrpläne ‚abgespeckt' werden müssten, um den Vermittlungsdruck von Wissen zugunsten der Förderung von Kompetenzerwerb abzubauen, stellt keine schulrechtliche, sondern eine schulfachliche Frage dar. Es handelt sich bei den Lehrplänen, jedoch um verbindliche Vorgaben, die oft noch einen starken wissensbasierten Anteil aufweisen. Entsprechend wissensbasierte Prüfungen schränken die Bereitschaft der Lehrkräfte beträchtlich ein, neue, selbst gesteuertes Lernen fördernde Unterrichtsarrangements zu entwickeln und zu erproben.

Die permanente Aufsichtspflicht während des Unterrichts über alle Schülerinnen und Schüler behindert eine Individualisierung des Unterrichts und das Aufteilen von Lerngruppen auf mehrere Lernorte (Räume) und sollte angepasst werden, so viele Befragte. Um Lernorte variieren zu können, sei daher die Prüfung und ggfs. Änderung der gesetzlichen Regelungen bzgl. der Aufsichtspflicht von Lehrkräften über ihre Schüler notwendig. Die Verordnung über die Aufsicht über Schülerinnen und Schüler (vgl. HESSISCHES SCHULRECHT 1985) regelt die Aufsichtspflicht der Lehrkräfte. Die Verteilung einer Klasse auf verschiedene Räume innerhalb einer beruflichen Schule ist jedoch kein Problem, denn dort besagt §2, Absatz 3: „Ab Klasse/Jahrgangsstufe 9 kann sich, sofern nicht besondere Gefährdungen zu erwarten sind, die Aufsicht auf allgemeine Verhaltensanordnungen und deren gelegentliche Überprüfung beschränken.“ (HESSISCHES SCHULRECHT 1985, 1) Auch können Lehrkräfte in besonderen Fällen die Aufsichtsführung, nicht die Verantwortung für selbige, an zuverlässige Schülerinnen und Schüler sowie andere Personen, z. B. Assistenzkräfte, delegieren. Die Aufteilung von Klassen auf mehrere Räum innerhalb der Schule ist in der Verordnung ab Klasse 9 also vorgesehen. Auch CLEMENT und HAHN (2007) kommen in dem Bestreben selbst gesteuertes Lernen durch die Arbeit mit Lernvereinbarungen verstärkt anzubahnen zu dem Schluss: „Unter rechtlichen Gesichtspunkten sollte es Ihnen (den Lehrkräften als Adressaten des Handbuches, Anm. Verfasser) demnach möglich sein, Verantwortung an die Schülerinnen und Schüler abzugeben, ohne das sie Ihre Aufsichtspflicht verletzten.“ In einer Fußnote verweisen die Autorinnen jedoch auf jenen Punkt, der vielen Berufsschullehrkräften Probleme machen dürfte und der in §2, Absatz 3, Satz 2 postuliert ist: Eine Aufsicht ist stets erforderlich beim Unterricht in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern! In Anlage 1 der Verordnung wird in Absatz 4 Näheres geregelt und u.a. festgestellt, dass eine Lehrkraft in naturwissenschaftlichen und technischen Fächern die Schülerinnen und Schüler niemals sich selbst überlassen darf. Insbesondere wird nochmals klargestellt: „Da in den oberen Schuljahrgängen die Experimentier- und Werkstattarbeit besondere Gefahrenquellen enthält, ist der Lehrer in diesem Unterricht niemals der Aussichtspflicht entbunden und kann die Aufsichtsführung auch nicht delegieren.“ (HESSISCHES SCHULRECHT 1985, 4) Liegen keine besonderen Gefährdungen vor, kann in Einzelfällen die Lehrkraft Schülerinnen und Schüler auch ohne unmittelbare Aufsicht experimentieren lassen. Unklar bleibt, wie zwischen ernsthaften Gefährdungen und im Sinne des Ausbildungsfortschritts kalkulierbare Risiken unterschieden werden, die dem Ausbildungsstand und Alter der Schülerinnen und Schüler angemessen erscheinen. Die Verordnung fordert nämlich in §2, Absatz 2 auch: „Die Aufsicht hat die Erziehung zur Selbstständigkeit der Schüler zu berücksichtigen und ist dem Alter und der Entwicklung der Schüler, sowie der jeweiligen Situation anzupassen.“ (HESSISCHES SCHULRECHT 1985, 1)

Wir fassen zusammen: Die Aufsichtspflicht von Lehrkräften steht der Aufteilung von Lerngruppen in allgemeinbildenden und theoretischem Fachunterricht innerhalb der beruflichen Schulen nicht entgegen. Anders ist dies bei den naturwissenschaftlichen und berufspraktischen Fächern. Dass volljährige Schülerinnen und Schüler außerhalb der Schule Lernorte aufsuchen, ist durch deren schriftliche Einverständniserklärung möglich. Da die Bestimmungen für berufsbildende Schulen in der Verordnung nicht gesondert aufgeführt sind und es darüber hinaus auch Sonderregelungen für Fachschulen sowie vergleichbare Berufsausbildungsgänge gibt, ist es schwierig für die einzelne Lehrkraft die Aufsichtspflicht in den zunehmend unterschiedlichen und unüberschaubarer Lernarrangements in den verschiedenen Schulformen einer berufsbildenden Schule zu klären. Soll aber selbst gesteuertes Lernen auf breiter Front nachhaltig eingeführt werden, ist es notwendig, den schulischen Akteuren Handlungssicherheit im veränderten Schulalltag zu bieten.

Ein weiterer Schwerpunkt bei den Angaben der Befragten war die Anwesenheitspflicht für Lehrkräfte an der Schule. Diese könnte, so wurde vorgeschlagen, über das Unterrichtsdeputat hinaus erhöht werden, Arbeitszeitkonten gäben die Möglichkeit, Belastungsspitzen auszugleichen. Derartige Regelungen wären aus dienstrechtlicher Sicht wohl auch in Hessen möglich, wie das Beispiel in Hamburg zeigt. Allerdings ist hier zu vermuten, dass sich die Gewerkschaften in einer solchen Diskussion nicht von den Argumenten für eine veränderte Lehr-Lernkultur, sondern vom Status quo in Hessen leiten lassen würden und der ist geprägt um die Auseinandersetzung um den 2004 erfolgten Ausstieg der Landesregierung aus dem Arbeitgeberverband Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) . Vor diesem Hintergrund sind entsprechende Veränderungen ohne eine hinreichende konzeptionelle Vereinbarung über Schule und deren Unterrichtsform zwischen Hessischen Kultusministerium und den Gewerkschaften in der derzeitigen Situation in Hessen unwahrscheinlich. Ohne Arbeitszeitmodell gibt es aber auch keine materiellen und räumlichen Veränderungen an den Schulen, um Teamarbeit und Unterrichtsvorbereitung an der Schule entsprechend den Erfordernissen einer neuen Lehr-Lernkultur zu leisten. In dem derzeitigen Arbeitsmuster, in dem Unterricht und dessen Vorbereitung zu Hause als Kerngeschäft angesehen werden, wird Teamarbeit in der unterrichtsfreien Zeit an der Schule im Wesentlichen als Mehrarbeit erlebt. Die Bereitschaft dürfte begrenzt sein, diese auf Dauer aus eigenen Ressourcen ohne formale Anerkennung zu leisten.

Weiterhin wird von den Befragten vorgeschlagen, die Verordnung über die Festsetzung von Klassengrößen abzuschaffen und die Festsetzung der Klassengröße in die Verantwortung der Schulen zu geben. Da die Verordnung über die Gruppengröße auch die Datenbasis für die Lehrerzuweisung schafft, kann es eine Abweichung nur im Rahmen der jeweiligen (vgl. HESSISCHES KULTUSMINISTERIUM 2008) Lehrerzuweisung geben. Da die entsprechende Verordnung über die Festlegung der Anzahl und der Größe der Klassen, Gruppen und Kurse in allen Schulformen auch dazu dient, in ganz Hessen vergleichbare Lernbedingungen zu sichern, kann diesem Vorschlag sicherlich nicht ohne weiteres gefolgt werden.

Aus den Angaben der Befragten und uns vorliegenden Rückmeldungen von juristischer Seite des Hessischen Kultusministeriums (vgl. den kommenden Selbstverantwortung Plus Newsletter über diese Thematik: HESSISCHES KULTUSMINISTERIUM 2008) wird deutlich, dass es auf den ersten Blick schwierig erscheint, zu beurteilen, welche Rechtsnormen kompatibel für selbst gesteuerte Lernformen sind und welche angepasst werden müssten. Es gälte für einige Rechtsnormen zu klären, welcher veränderten Auslegung bzw. Akzentuierung sie bedürfen. Für andere wäre der entsprechende Anpassungsbedarf von Praktikern den Juristen des Ministeriums mitzuteilen, damit diese Vorschläge zur Anpassung oder Aufhebung dieser Rechtsnormen unterbreiten könnten.

Letztendlich wird deutlich, dass eine Überprüfung unserer These dringend geboten ist, um für die Akteure an den Schulen Rechtssicherheit herzustellen und die vom Unterricht ausgehenden Reformprozesse nicht zu Insellösungen einiger Lehrkräfte in einigen Klassen verkommen zu lassen, da eine breite Übernahme der Reformkonzepte durch die Lehrkräfte nur aufgrund bestehender Rechtssicherheit möglich sein wird.

2.4  Selbst gesteuertes Lernen erfordert einen veränderten Zugriff auf Inhalte

Besonders auffällig bei vielen Versuchen, selbst gesteuertes Lernen in Unterrichten zu etablieren, ist eine starke Gleichsetzung von selbst gesteuertem Lernen mit der Verwendung ganz bestimmter methodischer Vorgaben für Schüler und Lehrende. Sowohl in der zum Teil extremen methodischen Rigidität, der Auftragsgebundenheit der Schüler wie Lehrer, als auch in der Vernachlässigung der Reflexion über das Inhaltliche des Unterrichts sehen wir ein Problem, das geeignet scheint, viele der mit dem Plädoyer für selbst gesteuerte Unterrichte verbundenen Ziele und Ansprüche deutlich zu verfehlen.

Der Hintergrund, ein verändertes Lehren und Lernen von Inhalten vorzuschlagen, hat sich aus der Kritik an den Ergebnissen „traditionellen“ Unterrichts ergeben: die entproblematisierten Gegenstandsbehandlungen, die aus abbilddidaktischen Reduktionen geschöpft scheinen, in eigene Schein-Plausibilisierungen verpackt werden und entweder gänzlich unverbunden einander additiv folgen oder in eine Abfolge klassifikatorischer Informationsdarbietung gepresst werden, haben zwei erhebliche Schwächen.

Zum einen erschwert dieser Umgang mit den Gegenständen es den Schülern, die in den Gegenständen verborgenen Zusammenhänge zu erkennen ( Verstehen ), die neuen Informationen als sinn- und gehaltvoll zu erleben und mit früher gelerntem Wissen zu verknüpfen ( Sinn, Elaboration ), Gelerntes tragfähig auf (situativ wechselnde) außerschulische Konstellationen zu beziehen ( Literacy, Kompetenz ) und auf das Gelernte über Prüfungstermine hinaus langfristig bei Reflexionen und Handlungen aktiv zurückzugreifen ( Nachhaltigkeit ).

Zum anderen bedeutet ein Umgang mit Gegenständen, bei dem Informationen nicht oder nur schlecht in vorgängige kognitive Strukturen integrierbar sind und ein Lernen ausgeschlossen scheint, bei dem Bedeutungen oder Weltverständnis gewonnen werden, dass die Schüler auf eine lediglich memorierende Lernstrategie festgelegt werden, und dass dafür eine Instruktionsform gefunden werden muss, die den Schülern die zu memorierenden Informationen „übersichtlich“ zuführt und die szenisch für die Lehrkraft gut handhabbar ist. In der Vergangenheit hat sich dazu etwas herausgebildet, das wir euphemistisch „fragend-entwickelnden Unterricht“ nennen, obwohl Schüler nichts entwickeln, und das für die beruflichen Schulen zur dominanten Inszenierungsform geworden ist.

Obwohl nun ganz offensichtlich ein Implikationszusammenhang zwischen der szenischen Seite von Unterricht und den stofflichen Routen durch die Lerngegenstände besteht, beschränken sich in den Reformversuchen viele Änderungen darauf, lediglich die szenische Seite zu verändern. Dabei mag manchmal die Erwartung eine Rolle spielen, dass die szenische Veränderung Änderungen in der Stoffbehandlung naturwüchsig nach sich zieht.

Das ist aber keineswegs der Fall. Nehmen wir z.B. die tradierte Art der Behandlung der Rechtsformen von Unternehmen in kaufmännischen Unterrichten, die ein Musterbeispiel für eine klassifikatorische Informationsorganisation zu sein pflegt: Verschiedene Rechtsformen werden nebeneinandergestellt und zu fünf, sechs Spiegelstrichen (zu z.B. Haftung, Kapitaleinlage, Gewinnverteilung) werden die jeweils charakteristischen Kurzinformationen gegeben. Was gewinnen Lehrer und Schüler inhaltlich, wenn die Lehrkraft in ihrem Verständnis von selbst gesteuertem Lernen den Schülern nun den Auftrag erteilt, eine simulierte Entscheidung zu einem fingierten Unternehmen zu treffen, nämlich für ein ausgedachtes Unternehmen eine „passende“ Rechtsform zu bestimmen, und dazu in Gruppen im Internet zu recherchieren, um Informationen zu bekommen?

Nun ist es nicht nur so, dass die Schüler, wenn sie denn überhaupt motiviert sind, im Internet fast ausschließlich auch nur wieder auf Seiten stoßen (beziehungsweise solche erfahrungsgemäß auswählen), die klassifikatorisch aufgebaut sind, so dass in der Sache kaum etwas gewonnen ist. Der Auftrag selbst verhindert, auf den Gegenstand der Rechtsformen differenzierter zu schauen. Warum gibt es überhaupt Rechtsformen, wie sähe eine Welt ohne sie aus? Welche Probleme sollen sie lösen? Warum haben Haushalte keine? Warum gibt es verschiedene Formen, warum aber nur eine begrenzte Auswahl? Warum werden sie so rigide normiert? Wer macht ihr Design? Wie verknüpft sich die Normierung der Rechtsformen mit organisationstheoretischen Überlegungen? Warum dominieren empirisch bestimmte Rechtsformen, wie korreliert das mit Betriebsgrößen, Branchen usw.?

Wer möchte, dass Schüler den Gegenstand überhaupt verstehend einordnen können, muss offensichtlich ganz andere Problemstellungen aufwerfen, als sie der schein-problematisierende Auftrag, eine Rechtsform auszuwählen, enthält. Und wenn man die Wahrscheinlichkeit erhöhen möchte, dass Schüler die Beschäftigung mit dem Problem als sinnhaft empfinden und die Frage wie die Antworten kognitiv integrieren können, dann wird man die Schüler an der Entwicklung von Problemstellungen beteiligen.

Mit den Überlegungen, geeignete Problemstellungen und Lehr-Lernarrangements zu entwickeln und unterrichtlich einzuführen sowie dabei die Partizipationschancen der Lernenden im Auge zu behalten, beschäftigt sich die Aufgabendidaktik (vgl. GERDSMEIER 2004, GERDSMEIER/ KÖLLER 2006, 2008). Selbst gesteuertes Lernen wird hier besonders unter dem Gesichtspunkt reflektiert, für die jeweilige Lerngruppe realistische Zugewinne an Weltverständnis, Literacy, Kompetenz, Sinnerfahrung und Nachhaltigkeit zu erzielen. Und abgeleitet aus diesen regulierenden Vorstellungen erfolgen dann Entscheidungen darüber, welche Lernstrategien die Lerner präferieren und beherrschen sollten, welche metastrategische Kompetenz sie benötigen, welche affektiven Konzepte gefördert werden sollten und wie man die Lerner in ihrem Ressourcenmanagement unterstützen könnte.

Unsere These ist daher, dass Umstellungen von Unterricht auf verstärkt selbst gesteuertes Lernen nur dann zu inhaltlichen Qualitätsverbesserungen führen, wenn diese Umstellung aufgabendidaktisch reflektiert und unterfüttert ist.

Wenn man selbst gesteuertes Lernen demgegenüber eher als bloße Option auffasst, insbesondere die methodische Seite von Unterricht zu verändern, dann muss man prüfen, welche Verbesserungen das bringen kann. In der Praxis zeigen sich u.E. vor allem drei mögliche Effekte.

Erstens kann die höhere methodische Bewusstheit zur Folge haben, dass Unterricht und Anforderungen auch für die Lerner transparenter werden. Das mag ihre Zufriedenheit erhöhen und könnte dadurch die Steuerung des unterrichtlichen Rahmens für die Lehrkraft erleichtern.

Zweitens kann versucht werden – ganz im Sinne konventionellen Methodentrainings, das von inhaltlichen Ansprüchen befreit bleibt – bestimmte Arbeits-, Kooperations- und Präsentationsweisen zu schulen. Inwieweit das in einer Ablösung vom Inhaltlichen sinnvoll und für Schüler motivierend ist, soll hier nicht diskutiert werden.

Drittens kann die Verfeinerung im Methodischen darauf gerichtet sein, Ineffektivitäten in der Anwendung bisheriger Lehr- und Lernkonzepte auszubügeln. So lässt sich z.B. das SOL-Konzept (HEROLD 2008) verstehen, das zwar den fragend-entwickelnden Lehrstil aus den Unterrichten verbannt, sich aber darauf zu konzentrieren scheint, das Lernen von inhaltlich Vorstrukturiertem zu verbessern, das von Schülern wie Lehrern hinzunehmen ist und dessen Aneignung nur noch durch Rückgriff auf Memorierstrategien möglich scheint. Es werden unter der Kennzeichnung, es gehe um selbst gesteuertes Lernen, methodisch sehr rigide Auftrags- und Verlaufsstrukturen etabliert, die letztlich die Memorierstrategien effektiver machen, weil in dem Arrangement von jedem Lerner verlangt wird, dass er die Informationen vier-, fünfmal nacheinander „in die Hand nimmt“ und dabei jeweils einen anderen Auftrag abarbeitet.

Aus der Sicht der Modellversuche, über die hier berichtet wird, ist das keine anzustrebende Option. Warum diese Tendenz, selbst gesteuertes Lernen weitgehend mit Methodenwechsel gleichzusetzen, gegenwärtig aber so verbreitet ist und sich in den Selbstkonzepten der Lehrkräfte einnistet, ist nicht ganz einfach zu erklären und ist nicht genau genug untersucht. Sie scheint sich aus verschiedenen Quellen zu speisen, die mal mit der Macht der Tradierung bei den stofflichen Routen zu tun haben könnte und mit der begrenzten Fähigkeit der Lehrkräfte, bestimmte Teile des Fachlichen kritisch und souverän zu hinterfragen, die mal aus den nach wie vor fast reflexartigen Positionierungen vieler Lehrender zu den Kammerprüfungen resultieren könnten und schließlich auch Ausdruck dafür sein können, dass die Organisationsentwicklungen an den Schulen noch nicht weit genug getrieben sein könnten und es den Lehrenden zudem an Zeit fehlt, in der Sache wirklich innovativ zu sein.

3.  Fazit und Ausblick

Für das Modellprojekt Selbstverantwortung Plus kann festgehalten werden, dass ‚Selbstverantwortung Plus' in seiner Gesamtheit als Innovation inzwischen an den Schulen angekommen ist und dort Dinge in Bewegung gesetzt hat, denn ein Viertel der Befragten gibt an, dass sich ihr Verhältnis zu anderen Lehrkräften und/oder der Schulleitung durch das Projekt verändert hat. Die Diskussionen im Rahmen der Feedback-Veranstaltungen an den Schulen machten deutlich, dass drei Themen den Lehrkräften besonders wichtig sind:

Die kollegiale Zusammenarbeit an den Schulen, die Veränderungen der Anforderungen an Lehrkräfte und die damit verbundene Suche nach einem neuen Selbstverständnis sowie die kontinuierliche Entwicklung der Unterrichtsarbeit (CLEMENT/ MARTIN 2008).

Selbstverantwortung Plus führt damit an den Schulen zu Veränderungen gewohnter Abläufe, Beziehungen und Strukturen. Um die Akzeptanz bei den beteiligten Lehrkräften weiter zu steigern und die Nachhaltigkeit der Innovationen zu befördern, sind „weitere Projekte insbesondere dann zu fördern, wenn sie einen deutlichen Bezug zu Unterrichtsentwicklung haben bzw. solche organisatorischen Bedingungen bearbeiten, die einen deutlichen Bezug zur Qualitätsverbesserung von Unterricht aufweisen.“ (CLEMENT/ MARTIN 2008, 47) Darüber hinaus sieht die Wissenschaftliche Begleitung dringenden Handlungsbedarf in der organisatorischen und ressourciellen Unterstützung von Teamarbeit, z. B. durch das Festlegen fester Teamzeiten und -räume. Dabei ist insbesondere auf die Transparenz - im Sinne von Nachvollziehbarkeit - der Entscheidungen zu achten (ebenda).

Von Seiten der am Modellprojekt Selbstverantwortung Plus beteiligten Schulen und deren Lehrkräfte ist die Bereitschaft, sich auf eine veränderte Lehr-Lernkultur einzulassen, auf breiter Basis gegeben. Diese Bereitschaft zu nutzen und in Selbstwirksamkeit statt Enttäuschung münden zu lassen, erfordert außerhalb der Einzelschule unterstützende rechtliche und ressourcielle Rahmenbedingungen, die von Bildungsverwaltung und Gesetzgeber noch gewährt werden müssen, um selbst gesteuertes Lernen als gehaltvolle und breit etablierte Lernform zu ermöglichen.

Die grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber veränderten Unterrichtskulturen bedarf aber – das zeigen beide Projekte – weiterer Kultivierungen, die sich insbesondere darauf richten müssen zu verhindern, dass selbst gesteuertes Lernen lediglich als ein Wechsel in den Methoden aufgefasst wird. Die Weiterentwicklung der Selbstkonzepte auch in der Hinsicht, dass die Ansprüche die Verbesserung des Inhaltlichen der Unterrichtsangebote einbeziehen, wird sich wohl als ein schwieriges Stück auf dem Weg erweisen. Gerade wegen der engen Verzahnung, die de facto zwischen Selbstkonzept-, Unterrichts- und Organisationsentwicklung besteht, ist es von entscheidender Bedeutung, ob Schulleitungen und Lehrkräfte gemeinsam Wege finden, Entwicklungskonzepte zu entwerfen, zu kommunizieren und zu etablieren, von der die inhaltliche Seite der Unterrichte profitiert.

Es zeigt sich, dass die vier angesprochen Bereiche – Rollenverständnis, Schulentwicklung, Rechtsnormen und inhaltlicher Gehalt – in einem engen Wechselverhältnis stehen. Eine veränderte Lernkultur ist in einer Schule ohne organisatorische Unterstützung und Entwicklungsplanung nicht realisierbar wie Organisationsentwicklungen ohne kompatible Parallelentwicklungen bei Lehrkräften und Unterrichten leer bleiben. Diese Bemühungen bedürfen sinnvollerweise einiger Änderungen im rechtlichen Rahmen und einer stärkeren Beachtung der inhaltlichen Seite von Unterricht, wenn die Reformen nicht im Methodischen stecken bleiben sollen.

 

Literatur

CLEMENT, U./ MARTIN, C. (2008): Wege in die Selbstverantwortung – formative Begleitung des Modellprojekts „Selbstverantwortung plus“ - 1. Zwischenevaluation 2007. Koordinierungsstelle des Modellprojekts „Selbstverantwortung plus“ (KOBE), Hessisches Kultusministerium (Hrsg.).

GERDSMEIER, G. (2004): Lernaufgaben für ein selbstgesteuertes Lernen im Wirtschaftsunterricht. Online: http://www.sowi-onlinejournal.de/2004-2/lernaufgaben_gerdsmeier.htm (20-07-2008).

GERDSMEIER, G./ KÖLLER, CH. (2006): Nachhaltiges Lernen, selbst gesteuertes Lernen und Aushandlungsprozesse. Online: http://www.uni-kassel.de/fb1/bwp/gerdsm/forschung/Luna_Nachhaltiges_Lernen.pdf (20-07-2008).

GERDSMEIER, G./ KÖLLER, CH. (2008): Lernaufgaben – Vielfalt und Typisierung. Online: http://www.blk-luna.de/box_download.php?nr=219&sid (20-07-2008).

HEROLD, M. (2008): SOL. Selbst organisiertes Lernen. Ein Systemansatz zur Gestaltung von Lernumgebungen. Transferzentrum für Neurowissenschaften und Lernen (ZNL), Ulm.

HESSISCHES KULTUSMINISTERIUM (2008): noch unveröffentlichter Newsletter Nr. 9, Modellprojekt Selbstverantwortung plus.

KONRAD, K./ TRAUB, S. (1999). Selbstgesteuertes Lernen in Theorie und Praxis. München.

 

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