Dieser Beitrag widmet sich der Frage, wie durch Regeln und Rituale entsprechende Lern- Arbeits- und Lebensräume an Produktionsschulen geschaffen und gestaltet werden können. Die Bedeutung und Umsetzung von strukturierenden Regeln sowie gemeinschaftsstiftenden Ritualen werden durch praktische Beispiele aus der Produktionsschule Westmecklenburg verdeutlicht.
An Produktionsschulen in Deutschland sind Arbeiten, Leben und Lernen so organisiert, dass sie den Jugendlichen das Gefühl von Orientierung und Verbindlichkeit, Sicherheit und Geborgenheit vermitteln. Verlässliche und zugleich anregende - und damit positiv besetzte - Lern-, Arbeits- und Lebensräume werden durch verschiedene pädagogische Arrangements an Produktionsschulen geschaffen und pädagogisch gestaltet.
Im Fokus der nachfolgenden Betrachtungen stehen Regeln & Rituale an Produktionsschulen:
Wozu benötigen Produktionsschulen Regeln und Rituale?
Welche nachvollziehbaren Tages- und Wochenstrukturen mit wiederkehrenden orientierenden Punkten (= transparente und geltende Regeln) existieren?
Wie werden die bestehenden Regeln aufgestellt bzw. vereinbart?
Welche Rituale gibt es, und wie können diese (weiter-)entwickelt und tradiert werden?
Welche Bedeutung kommt Regeln und Ritualen bei der Schaffung und Gestaltung von produktionsschulspezifischen Lern-, Arbeits- und Lebensräumen zu?
Zum praktischen Verständnis und zur Illustration des Themas werden Beispiele aus der Produktionsschule Westmecklenburg herangezogen; sie wird einleitend kurz vorgestellt.
Die Produktionsschule Westmecklenburg der All Pütter gGmbH in Greven (Landkreis Parchim) nahm am 1. September 2006 ihren Betrieb auf. Die Produktionsschule unterbreitet als Einrichtung der Jugendberufshilfe Jugendlichen im Alter von 15 bis 20 Jahren Angebote zur sozialen und beruflichen Integration (in Ausbildung / Beschäftigung) in sechs Werkstattbereichen: a) Gartenbau und Landwirtschaft; b) Hauswirtschaft / Vermarktung/ Veredelung; c) Metallverarbeitung; d) Holz; e) Kunststoffverarbeitung und f) Keramik.
Seit dem 1. August 2006 ist die Produktionsschule Westmecklenburg im Landesprogramm „Produktionsschulen in Mecklenburg-Vorpommern“ tätig. Anders als bei den anderen fünf Produktionsschulen in Mecklenburg-Vorpommern hatten die Fachkräfte der Produktionsschule Westmecklenburg - die Werkstattpädagogen, die Produktionsschulleiterin, die Sozialpädagogin sowie eine Verwaltungsfachkraft - eine einmonatige Vorlaufzeit, die ihnen die optimale Vorbereitung eines gemeinsamen „Fahrplans“ ermöglichte und Zeit gab für konzeptionelle und inhaltliche Arbeit - u.a. für Gespräche und Verständigungen über die zukünftige gemeinsame Produktionsschularbeit, zur Schaffung „formaler“ Strukturen sowie auch für (erste) pädagogische Annäherungen an die Gestaltung von adäquaten Lebens-, Lern- und Arbeitsräumen an Produktionsschulen.
Die erste Regel in der Produktionsschulen Westmecklenburg greift bereits vor Eintritt in die Produktionsschule. Jeder Jugendliche, der in die Produktionsschule aufgenommen werden möchte, muss sich schriftlich bewerben. Der Bewerber wird innerhalb von zwei Wochen nach Eingang seiner Bewerbung zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Für dieses Gespräch nehmen sich die Produktionsschulleiterin und die Sozialpädagogin viel Zeit, damit gemeinsam mit dem Jugendlichen und den anwesenden Erziehungsberechtigten oder Familienmitgliedern bzw. Familienpflegern geklärt werden kann, ob eine Aufnahme möglich und der Weg richtig ist. Es wird gemeinsam ausgelotet, welche Werkstatt die geeignete ist. Der Jugendliche wird auch über die Abläufe der Produktionsschule informiert. Wenn im Anschluss an dieses ausführliche Informations- und Verständigungsgespräches der Jugendliche sagt: „Ja, ich möchte in die Produktionsschule“, und seitens der Produktionsschule Zustimmung gegeben wird: „Ja, Sie können bei uns in die Produktionsschule aufgenommen werden“, dann kommt es zur Aufnahme in die Produktionsschule Westmecklenburg.
Mit diesem Verfahren wird die Freiwilligkeit der Mitarbeit in der Produktionsschule deutlich gemacht. Der Produktionsschüler hat dann nicht mehr den Druck des „Ich-musste-ja-hier-her-kommen“. Das ist für das Erreichen der gestellten Ziele eine wesentliche Voraussetzung und erleichtert die tägliche Arbeit für alle Beteiligten. Die schriftliche Bewerbung - und die damit verbundenen und eingegangenen Konsequenzen - sind auch ein wichtiges Erinnerungselement im Produktionsschulalltag.
Der höfliche und rücksichtsvolle Umgang mit- und untereinander ist die Grundregel, die an allen Produktionsschulen aufgestellt und vorgelebt wird. So zeigen die „alten“ Produktionsschüler den „neuen“, dass ein „Grüßen“ innerhalb des Produktionsschulteams eine Normalität ist – auch die Gäste, die auf das Gelände bzw. in die Gebäude der Produktionsschule kommen, werden selbstverständlich begrüßt. Hier lernen die „Neuen“ sehr schnell, dass es selbstverständlich ist, dass auf Gäste der Produktionsschule zugegangen werden soll, dass sie begrüßt werden und dass ihnen auch ggf. Hilfe angeboten wird. Das Prinzip des „Voneinander-Lernens“ findet hier auch im sozialen Lernen statt, was auf diesem Wege direkter und überzeugender vonstatten geht – anders als dies durch die „alten Erwachsenen mit ihren ewigen Benimmregeln“ geschieht. Auf diese Grundregel baut sich der ganze Ablauf, der gesamte Alltag auf.
Der höfliche Umgang mit- bzw. untereinander ist fester Bestandteil der Hausordnungen aller Produktionsschulen; an den meisten Produktionsschulen wird diese grundlegende Regel zusätzlich in die „Produktionsschulvereinbarungen“, die zwischen dem Jugendlichen und der Produktionsschule getroffen werden, aufgenommen.
„Produktionsschulvereinbarungen“ und Hausordnungen - schriftlich und verbindlich – legen als Regelwerk einer Produktionsschule die Tages- sowie die Wochenstruktur fest. Die Regeln der Produktionsschule sind in der Produktionsschulvereinbarung fixiert, die jeder Produktionsschüler beim Eintritt in die Produktionsschule unterzeichnen muss.
Eine feste Regel der Produktionsschule Westmecklenburg, die bereits im Vorstellungsgespräch mit den Jugendlichen besprochen wird, ist, dass sich die Werkstätten untereinander bei der Produktion unterstützen. So werden im Sommer, wenn die komplette Gärtnereiwerkstatt in den Urlaub geht, die Pflanzen von den anderen Werkstätten (die später in den Urlaub gehen) gepflegt, gehegt, Obst und Gemüse geerntet. Das ist aber nur möglich, wenn diese Regel mit Ritualen verbunden wird. So gehen die anderen Werkstattteams - schon bevor sie die Vertretung übernehmen - in die Gärtnerei und arbeiten gemeinsam mit den Gärtnern, um die werkstattspezifischen Abläufe und Produkte kennen zu lernen, aber auch um den Spaß und die Gemeinsamkeit zu erleben.
In allen Werkstätten verfügen mindestens zwei bis drei Jugendliche über ein Gesundheitszeugnis, um in der Küche mitarbeiten zu dürfen. Damit ist gewährleistet, dass bei Bedarf oder in Krankheitsfällen in der Küche geholfen werden kann. Diese geregelte Unterstützung hat den bemerkenswerten Nebeneffekt, dass die Jugendlichen aus anderen Werkstätten nach ihrem Einsatz in der Küche feststellen: „Nie wieder werde ich über das Essen meckern – die haben ja hier so schwere und viel Arbeit“. Neben der Kritik „aus den eigenen Reihen“ wird hier der Effekt gestärkt, dass die Arbeit, die Leistung und die Ergebnisse anderer Werkstätten selbst erlebt, hautnah akzeptiert, besser verstanden und an andere weitergegeben werden. Es wird damit aber auch erlebbar gemacht, dass jeder unterstützen kann und jeder „wichtig“ ist, um die tägliche Leistung zu erbringen. Das stärkt nicht nur das eigene Wertgefühl, sondern bringt Achtung und Wertschätzung anderer mit sich. Diese Regel der „rotierenden Werkstattvertretung“ weckt und stärkt nicht nur das Verständnis für Arbeiten und Abläufe in den anderen Werkstätten, sondern auch das werkstattübergreifende „Wir-Gefühl“.
Eine weitere Regel der Produktionsschule Westmecklenburg besteht darin, dass sich die Jugendlichen für eine Werkstatt zu entscheiden haben. Um das „Durchhalten“, die Kontinuität zu trainieren, sollen die Jugendlichen nicht permanent zwischen den Werkstätten wechseln. Diese Festlegung ist insbesondere auch für die betriebsnahe Produktion (Herstellen von Produkten mit Lieferterminen) wichtig. Natürlich kann ein Jugendlicher auch andere Berufsbereiche kennen lernen. Dies geschieht in erster Linie durch die gegenseitige Hilfe der Werkstätten (vgl. Regel der „rotierenden Werkstatt-Vertretung“ der Produktionsschule Westmecklenburg). In Einzelfällen und bei Bedarf ist natürlich auch ein Wechsel der Werkstatt möglich. Aber dies ist immer eine Teamentscheidung. Das bedeutet, dass diese Regel zwar verbindlich ist, jedoch nach Absprache und Entscheidung im Team – Ausnahmen möglich sind.
Regelungen, die vor allem die Fachkräfte der Produktionsschule betreffen, sind Vereinbarungen für tägliche, wöchentliche bzw. monatliche Dienstberatungen.
An der Produktionsschule Westmecklenburg wird beispielsweise jeden Morgen, vor Arbeitsbeginn der Jugendlichen, eine Mitarbeiterrunde (von 20 bis 25 Minuten) durchgeführt, die dem Erfahrungs- und Informationsaustausch dient. Hier können viele Fragen, Probleme, Termine etc. zeitnah und nachhaltig geklärt werden. Damit hat der Mitarbeiter aber auch die Möglichkeit, im Team gemeinsam offene Themen oder Produktionsschüler-zentrierte Fragen und Probleme zu klären. Ergänzend zu den morgendlichen Besprechungen findet jeden Mittwoch eine wöchentliche Dienstberatung (nach Arbeitsschluss der Produktionsschüler) statt .
Produktionsschüler in Mecklenburg-Vorpommern erhalten ein geringes und z. T. leistungsabhängiges Schulentgelt. Im Nachtrag zur Schulvereinbarung – „Taschengeldvereinbarung“ – der Produktionsschule Westmecklenburg wird schriftlich vereinbart, dass der Jugendliche für „die Arbeitstätigkeiten und die Anwesenheit ein leistungsabhängiges Taschengeld von täglich 5,00 Euro“ erhält. Dieses teilt sich in 3,00 € Taschengeld und 2,00 € für einen Mittagsimbiss auf. Ebenfalls wird klar geregelt, dass das Taschengeld von 3,00 Euro am Freitag rückwirkend für die Woche gezahlt und der Empfang durch Unterschrift quittiert wird. Die Zahlung entfällt vollständig bei: Nichterscheinen (auch Krankheit), unerlaubtem Entfernen sowie nicht vorhandener Arbeitsbekleidung bzw. Arbeitsschutzbekleidung. Eine gekürzte Auszahlung des „Taschengeldes“ erfolgt bei: Zuspätkommen, mangelnder Arbeitsleistung bzw. Nichteinhalten der Pausenzeiten (nach individueller Einschätzung durch den Werkstattpädagogen). Die Auszahlung des Taschengeldes erfolgt nach „den Kriterien der Schulvereinbarung und denen, die zusätzlich im Gruppengremium festgelegt wurden“, d.h. die Festlegung erfolgt auf der Grundlage verbindlicher Kriterien aus Schul- bzw. Taschengeldvereinbarung und nach alleiniger Entscheidung in den Werkstätten. Dieses leistungsabhängige Entgelt wird für jeden Einzelnen von der Gruppe festgelegt und besprochen. Letztendlich liegt die endgültige Entscheidung in den Händen des jeweiligen Werkstattpädagogen und kann auch nicht von der Produktionsschulleitung oder der sozialpädagogischen Fachkraft verändert werden.
Die unterschiedlichen Beispiele aus der Produktionsschule Westmecklenburg verdeutlichen, dass für jeden verbindliche Regeln das gemeinsame Lernen, Arbeiten und Leben an Produktionsschulen (überhaupt erst) ermöglichen und erleichtern. Sie schaffen eine klare Orientierung - nicht nur für die Jugendlichen. Regeln sind ebenso eine Entlastung im Sinne von klarer Organisation und Strukturierung betrieblicher Abläufe wie auch der gesamten Arbeits- und Lernprozesse in den Werkstätten sowie an Produktionsschulen insgesamt. Regeln vermitteln Klarheit und die nicht zu unterschätzende Sicherheit im Alltag.
Aspekte der Entlastung, Sicherheit, Klarheit und Verbindlichkeit sind durch ein „Regelwerk“ / Ordnungssystem realisierbar. Wichtig ist hierbei, dass die Regeln bzw. das Regelwerk einer Gruppe, einer Gemeinschaft, eines Werkstattteams bzw. einer Produktionsschule für alle Beteiligten verständlich, transparent und verbindlich sind. Die Jugendlichen selbst fordern Regeln und Grenzsetzungen ein, sie benötigen klare Strukturen zur Orientierung und für ein gelingendes Miteinander.
Regeln werden eher befolgt, wenn Grenzüberschreitungen oder Verletzungen von Regeln Konsequenzen haben. Konsequenzen – als Reaktion auf eine Handlung – sollten allen Beteiligten vor der Grenzüberschreitung bewusst sein und bewusst gemacht werden. Konsequentes Handeln sollte die Antwort auf eine Regelverletzung sein, aber auch die Belohung für vereinbartes Handeln.
Wichtig dabei ist, dass Entscheidungen für alle gelten und nicht unterschiedlich gehandhabt werden. Gleichwohl muss bei Regelverstößen auch individuell reagiert werden, wie die Praxis an den Produktionsschulen Westmecklenburg und Wolgast zeigt. Dabei wird der Regelverstoß genau beleuchtet und hinterfragt, warum es dazu gekommen ist und welche Einflüsse gegeben waren. Es erfolgt eine Teamentscheidung, hinter der alle - Mitarbeiter und Produktionsschüler - stehen und auch gemeinsam diese Entscheidung vertreten und durchsetzen.
Regeln können nur wirksam werden, wenn alle Beteiligten diese verinnerlichen, erleben und sie freiwillig umsetzen.
Mit Blick auf die Regeln und das Regelwerk muss beachtet werden, dass aufgestellte oder idealer Weise gemeinsam erarbeitete Regeln nicht für die Ewigkeit festgelegt sind. Eine Regel, deren „Verfallsdatum“ abgelaufen ist, weil sie nicht mehr altersgemäß oder situationsgerecht erscheint, muss, kann und soll durchaus von Jugendlichen in Frage gestellt werden können. Hier besteht für die Fachkräfte an Produktionsschulen die Schwierigkeit, die Balance zwischen notwendiger Grenzsetzung und Bevormundung oder gar Entmündigung der Jugendlichen, zwischen Wertschätzung für Eigensinn und konsequentem Handeln bei Regelverstößen herzustellen. Zu diesem Zweck sind eine regelmäßige Reflexion der pädagogischen Fachkräfte über das bestehende Regelwerk und ein - mit allen Beteiligten an einer Produktionsschule - gemeinsamer Kommunikations- und Austauschprozess unabdingbar. Wichtige Grundvoraussetzung ist dabei eine entwickelte Kommunikationskultur und angstfreie Atmosphäre.
Aus den ersten Bewerbungen für die Produktionsschule Westmecklenburg wurden 23 Jugendliche ausgewählt, die gemeinsam mit den Fachkräften der neu gegründeten Produktionsschule den offiziellen Betrieb aufnahmen. Zu der Eröffnungsveranstaltung am 1.9.2006 wurden die neuen Produktionsschüler, ihre Erziehungsberechtigten, Geschwister und auch Freunde eingeladen. In der Begrüßungsrede der Produktionsschulleiterin wurden alle Anwesenden herzlich begrüßt und vor allem die Jugendlichen auf ihre Zeit an der neuen Produktionsschule Westmecklenburg mit dem Aufruf „auch Ihr seid Gründungsmitglieder“ eingestimmt.
Am Montag, dem 4.9.2006, ging es dann für alle „Gründungsmitglieder“ richtig los: Die Jugendlichen haben - gemeinsam mit ihren Werkstattpädagogen - ihre Werkstätten und Arbeitsplätze eingerichtet. Dazu gehörte auch das gemeinsame Herrichten und Gestalten der Arbeits- und Sozialräume sowie das Aufstellen der Maschinen. So hatten die Jugendlichen die Gelegenheit, von Beginn an dabei zu sein und mitzugestalten. Sie wurden in die realitätsnahe Gestaltung des Werkstattalltags mit einbezogen und erlebten sich so neu. Und sie erfuhren auf diesem Wege sehr schnell, Verantwortung zu übernehmen (wie z.B. die Lagerverwaltung, Einkauf etc.), entsprechend den betrieblichen Anforderungen. Neben dem symbolischen Schulterschluss („auch Ihr seid Gründungsmitglieder“) wurden die ersten Teilnehmer der Produktionsschule Westmecklenburg tatsächlich mit einbezogen. Dies ermöglichte ihnen ein schnelles Ankommen und die Verortung in „ihrer“ Werkstatt bzw. „ihrer“ Produktionsschule.
Natürlich konnte diese Anfangsinszenierung der gemeinsamen Einrichtung und Gestaltung der Arbeitsräume nicht bei den nachfolgenden Produktionsschülern durchgeführt werden, jedoch entwickelten sich feste Ankommensrituale für die neuen Produktionsschüler, wie beispielsweise die Übernahme von Patenschaften durch einzelne Jugendliche für das neue Mitglied des Werkstattteams oder die Vorstellungsrunde der „Neuen“ während der gemeinsamen Mahlzeit.
An der Produktionsschule Westmecklenburg sind folgende Rituale anzutreffen:
Begrüßungsrituale am Morgen; Verabschiedungsrituale am Ende des Tages;
die tägliche Morgenbesprechung der jeweiligen Werkstattteams zur Strukturierung und Verständigung über anstehende Arbeits- und Lernaufgaben, aber auch als Raum für informelle Gespräche oder „Gruppen-Erzählungen“ (gemeint sind hiermit die Erzählungen über vergangene oder anstehende Ereignisse und Erlebnisse der entsprechenden Gruppe): „In der Keramikwerkstatt der Produktionsschule Westmecklenburg in Greven, haben wir z.B. am Montag den Morgenkreis, vor Arbeitsbeginn. Dabei hat jeder Jugendliche die Möglichkeit vom Wochenende mit seinem Erlebten in der Gruppe darüber zu sprechen, was gut war, was schlecht war oder gar auch damit verbundene Sorgen, Probleme und auch Freude zu äußern. Das wird von den Jugendlichen sehr gerne angenommen und ist verbunden mit einer Tasse Tee oder Kaffee zu einem guten Ritual in der Werkstatt geworden“ (Werkstattleiter der Keramik-Werkstatt).
die tägliche Morgenbesprechung kann ebenso in großer Produktionsschul-Runde stattfinden (wie an der Produktionsschule Wolgast) und bietet Raum für die Strukturierung und Verständigung über anstehende Arbeits- und Lernaufgaben, aber auch allgemeine Informationen der Produktionsschule, politische Themen sowie teilnehmerrelevante Ansagen;
die tägliche Tagesreflexion zum Abschluss des Tages über das geschaffte Tageswerk („das haben wir geschafft“!) und über Stimmungen, besondere Ereignisse, Störungen, aber auch Ausblick auf den kommenden Tag;
gemeinsame Aktivitäten außerhalb des Arbeits- und Lernalltages: Sportfest, Weihnachtsfeier, Exkursionen und Bildungsfahrten etc.;
Geburtstagsrituale (Gratulationen, Lieder, von der Küche gebackener Kuchen etc.);
die gemeinsame Auslieferung von Produkten beim Kunden; eine aktive Beteiligung durch „Schauproduktion“, Verkauf von Produkten und Dienstleistungsangeboten während Veranstaltungen der Produktionsschule, des Trägers, der Kommune oder der Region (beispielsweise wird der „Tag der offenen Tür“ mit dem Parkfest der Gemeinde verbunden).
die regelmäßige Arbeit mit und von den Gruppensprechern. Dieses Forum wird dazu genutzt, um über den Alltag mitzubestimmen, Regeln gemeinsam zu besprechen und festzulegen. Hier werden „Meckerecken“ von den Jugendlichen ausgewertet. Dabei kommt es auch zur internen Klärung von Problemen, ohne dass die Pädagogen sich einschalten. Dieses Ritual wird stark nachgefragt und eingefordert.
feierliche Verabschiedung der Jugendlichen in die Ausbildung, Arbeit etc.;
gemeinsames Arbeiten mit / in anderen Werkstätten zur Vorbereitung der „rotierenden Werkstattvertretung“;
im Zusammenhang mit der Taschengeldregelung entstandene werkstatt- bzw. produktionsschulspezifische Rituale, die die Auszahlungsmodalitäten betreffen, wie:
nach Beendigung der Wochenarbeit erfolgt die Auszahlung des Taschengelds
mit der Auszahlung wird über die Ergebnisse der Woche in der Werkstatt gesprochen: was war gut, an welcher Stelle wird noch Hilfe oder Unterstützung benötigt, wer hilft in der Folgewoche einem anderen Produktionsschüler, welche Aufgaben (Produktion, Auslieferung, Einkauf, Krankenbesuch o.ä.) stehen in der Folgewoche an? Dabei wird das wöchentliche Anerkennungs- und Motivationsgeld (= Taschengeld) der einzelnen Jugendlichen ausgezahlt.
die gemeinsamen Mahlzeiten – der Freitagsbrunch bzw. das tägliche Mittagessen (von Montag bis Donnerstag). Der tägliche gemeinsame Mittagstisch entwickelte sich an beiden Produktionsschulen zu einem Ritual, bei dem der Stolz auf die Gemeinsamkeit und die Zugehörigkeit spürbar sind; jeden Freitag findet ein gemeinsames verlängertes Frühstück (all die anderen Tage wird zusammen mit der Schulleitung und den Werkstattpädagogen gemeinsam Mittag gegessen) statt. Im Anschluss daran, werden in den Werkstätten Restarbeiten erledigt und die Werkstatt wird gereinigt. Zum Feierabend treffen sich alle Jugendlichen in der Werkstatt, um die vergangene Woche zu reflektieren und die kommende Woche zu besprechen.
Vertrauen, Sicherheit, Geborgenheit gehören zu den fundamentalen menschlichen Grundbedürfnissen – menschliche Grundwerte, die bei einem Teil der Produktionsschüler nur in Fragmenten und Relikten (oder manchmal gar nicht) vorhanden, vermittelt, erlebt und erlernt wurden.
Gefühle von Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit können über ganz individuelle Bindungen und Beziehungen an Räume, Einzelpersonen oder / und Gruppen, persönliche oder / und gemeinschaftliche Erfahrungen und Ereignisse erzeugt werden. Rituale an Produktionsschulen können diese Gefühle befördern und verstärken und somit neue Erfahrungs- und Erlebnisräume sowie das Gefühl von Zugehörigkeit für die Jugendlichen (aber auch für das Fachpersonal) schaffen.
Rituale sind stetig wiederholbare Handlungen, ein Tun, in gleicher äußerer Form, zur gleichen Zeit oder bei ähnlichen Umständen. Durch den gemeinschaftlichen Vollzug besitzen viele Rituale einheitsstiftenden und einbindenden Charakter, ermöglichen die Zuordnung bzw. Abgrenzung von / zu sozialen Gruppen und können somit den Gruppenzusammenhalt fördern. Gemeinschaftsverbindende, identitätsstiftende Gruppenrituale müssen auf nachvollziehbare, für die Mitglieder dieser Gemeinschaft de-chiffrierbare Symbole und Abläufe zurückgreifen. Rituale dürfen nicht zu automatisierten Handlungsabläufen „verkommen“; sie sind dann sinnentleert und können nicht angenommen werden. Rituale und Traditionen können nicht einfach „installiert“ und „verordnet“ werden.
Arbeiten, Leben und Lernen sind an Produktionsschulen so organisiert, dass den Jugendlichen das Gefühl der Sicherheit und Orientierung vermittelt und somit verlässliche und individuell tragfähige Grundlagen für ein neues persönliches Engagement angeboten werden. Eine Produktionsschule als pädagogischer Lebens-, Lern- und Arbeitsraum muss auch eine besondere Atmosphäre , spezifische Interaktions- und Kommunikationsstrukturen, eine veränderte Pädagogen-Rolle, geltende Regeln sowie Tages- und Wochenstrukturen mit wiederkehrenden orientierenden Punkten (Tages- und Wochenreflexion) sowie bestimmte gemeinschaftsstiftende Rituale und Traditionen anbieten.
Es gilt, schriftlich und verbindlich „Produktionsschulvereinbarungen“ und Hausordnungen im Sinne eines Regelwerks einer Produktionsschule festzulegen. Wichtig ist hierbei, dass die Regeln bzw. das Regelwerk einer Gruppe, einer Gemeinschaft, eines Werkstattteams bzw. einer Produktionsschule für alle Beteiligten verständlich, transparent und verbindlich sind. Um Jugendlichen „Ordnung“ - im Sinne von Strukturierung ihres Tages, ihres Alltags, ihres Lebens und ihrer Tagesstruktur zu vermitteln - bedarf es nachvollziehbare Tages- und Wochenstrukturen mit wiederkehrenden orientierenden Punkten. Regeln erleichtern den Produktionsschulalltag und vermitteln Klarheit, die nicht zu unterschätzende Sicherheit im Alltag sowie Verbindlichkeit.
Produktionsschule kann sich durch gemeinschaftsstiftende Rituale und Traditionen strukturieren. Es bieten sich z. B. an: Begrüßungsrituale am Morgen, Verabschiedungsrituale am Ende des Tages, gemeinsame Aktivitäten außerhalb des Arbeits- und Lernalltages (Sportfest, Weihnachtsfeier, Exkursionen etc.), die Auszahlung des Produktionsschulgeldes und besonders die gemeinsamen Mahlzeiten. Produktionsschulen sollten den Jugendlichen durch Rituale das Gefühl von Vertrauen, Sicherheit und Geborgenheit verschaffen, indem sie durch persönliche oder / und gemeinschaftliche Erfahrungen und Ereignisse spezifische Bindungen an Räume und Beziehungen zu Einzelpersonen oder/ und Gruppen erzeugen. Rituale an Produktionsschulen können diese Gefühle befördern und verstärken und somit neue Erfahrungs- und Erlebnisräume sowie das Gefühl von Zugehörigkeit für die Jugendlichen (aber auch für das Fachpersonal) schaffen.
Produktionsschule ist mehr als Arbeiten und Lernen, mehr als die Verknüpfung von Produktions- und Lernprozessen: Produktionsschule ist ein Arbeits-, Lern- und Lebensort.