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 bwp@ Spezial 4 | September 2008
Hochschultage Berufliche Bildung 2008
WS 13 Digitale Medien

Prozess- und Handlungsorientierung als Konstruktionsprinzipien virtueller Lernumgebungen – ein Pilotprojekt



Abstract

Prozess- und Handlungsorientierung bestimmen zunehmend Ziel und Struktur moderner Berufsausbildung – sowohl im kaufmännischen als auch im gewerblichen Bereich. Gerade in der kaufmännischen Ausbildung sind entsprechend konstruierte, virtuelle Lernumgebungen geeignet, die Ausbildung von Prozesskompetenz und beruflicher Handlungskompetenz maßgeblich zu unterstützen. Neben medialer Gestaltungsvielfalt und nahezu permanenter Verfügbarkeit, durch die sich elektronische Medien auszeichnen, sind dafür insbesondere die Möglichkeiten zur strukturierten Abbildung komplexer Realität sowie die „gefahrlose“ und kostengünstige Bereitstellung elektronischer Werkzeuge zur Planung und Steuerung von Geschäftsprozessen verantwortlich. Das IG-Metall-Pilotprojekt AutoAzubi kann als erster Versuch der Entwicklung einer konsequent prozess- und handlungsorientierten, virtuellen Lernumgebung für auszubildende Automobilkaufleute angesehen werden. An ihrer Entstehung ist eine ständig wachsende Gruppe aus Branchen- und Bildungsexperten beteiligt. Die im Beitrag vorgestellten Thesen werden mit Lösungsansätzen aus diesem Projekt illustriert.

1.  Einführung

Prozess- und Handlungsorientierung bestimmen zunehmend Ziel und Struktur moderner Berufsausbildung – sowohl im kaufmännischen als auch im gewerblichen Bereich. Beispielhaft sei hier aus der Ausbildungsordnung für Industriekaufleute zitiert, die zum Ziel setzt, „dass der Auszubildende zur Ausübung einer qualifizierten, an Geschäftsprozessen ausgerichteten kaufmännischen Berufstätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 2 des Berufsbildungsgesetzes befähigt wird, die insbesondere selbständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren einschließt.“ Soll also eine virtuelle Lernumgebung zielorientiert in der Berufsausbildung eingesetzt werden, so muss sie sich diesen Vorgaben verpflichtet zeigen. Mehr noch, in diesem Beitrag soll gezeigt werden, dass gerade in der kaufmännischen Ausbildung entsprechend konstruierte, virtuelle Lernumgebungen geeignet sind, die Ausbildung von Prozesskompetenz und beruflicher Handlungskompetenz maßgeblich zu unterstützen. Neben medialer Gestaltungsvielfalt und nahezu permanenter Verfügbarkeit, durch die sich elektronische Medien auszeichnen, sind dafür insbesondere die Möglichkeiten zur strukturierten Abbildung komplexer Realität sowie die „gefahrlose“ und kostengünstige Bereitstellung elektronischer Werkzeuge zur Planung und Steuerung von Geschäftsprozessen verantwortlich.

Das äußere Gerüst einer elektronischen Plattform spiegelt sich in seiner Navigation. In Punkt 2.1 wird die Bedeutung einer prozessorientierten Navigation herausgearbeitet und ein möglicher Konstruktionsansatz vorgestellt. Der Content einer Lernplattform kann grob in Lerninhalte und Lernaufträge differenziert werden. Punkt 2.2 ist der Darstellung einer prozessorientierten Anordnung von kontextbezogenem Berufswissen gewidmet, während Punkt 2.3 die prozessintegrierte Entwicklung von Lernaufträgen thematisiert.

Handlungsorientiertes Lernen zeichnet sich durch eine möglichst weitgehende Konkordanz der Lernhandlungen zu den relevanten Berufshandlungen – sowohl auf materieller, als auch auf psychisch-geistiger Ebene – aus. In Punkt 3.1 zeigen wir, dass dieser Anspruch nur über komplexe Lernszenarien erfüllt werden kann. Mit der Qualität der dadurch ausgelösten Simulationen beruflichen Handelns beschäftigt sich Punkt 3.2. Die Problematik einer adäquaten Qualitässicherung in solchen Lehr-Lern-Settings, bis hin zu den wichtigen Fragen der Lernfortschrittskontrolle und der Bewertung wird in Punkt 4 thematisiert.

Das IG-Metall-Pilotprojekt AutoAzubi kann als erster Ansatz zur Entwicklung einer konsequent prozess- und handlungsorientierten, virtuellen Lernumgebung für auszubildende Automobilkaufleute angesehen werden. An ihrer Entstehung ist eine ständig wachsende Gruppe aus Branchen- und Bildungsexperten beteiligt. Die im Beitrag vorgestellten Thesen werden mit Lösungsansätzen aus diesem Projekt illustriert.

2.  Prozessorientierung als Konstruktionsprinzip

Soll sich eine Plattformarchitektur – oder allgemeiner gesprochen – ein Curriculum an Geschäfts- und Arbeitsprozessen orientieren, so muss deren Struktur und Essenz sichtbar gemacht werden. Das bedeutet konkret zweierlei: Zum einen müssen durch Abstraktion und Standardisierung aus der Vielfalt real möglicher idealtypische, so genannte Referenzprozesse herausgefiltert und auf ihre Lernhaltigkeit hin untersucht werden. Zum Zweiten sind die Referenzprozesse in ihrer Komplexität und in ihren Wechselwirkungen abzubilden. Die so erarbeiteten Prozessmodelle bilden mit ihrer Hierarchie und ihren Elementen das gewünschte Navigationssystem und damit Andockstellen für Wissensinhalte und Lernaufträge.

2.1  Prozessorientierte Navigation

Nahezu alle Lernumgebungen basieren auf einer fachdidaktischen Navigationsstruktur, die durch geeignete Suchfunktionen unterstützt wird. Im schlechtesten Fall hat man es mit einer Sammlung wenig vorstrukturierter, inkonsistenter Module zu tun, die nach Kategorien geordnet sind. Dahinter steckt ein durchaus nachvollziehbares bildungsökonomisches Ziel. Lerninhalte sollen niedrigschwellig erstellbar, leicht zugänglich und wieder verwertbar sein. Nachteil dieser Methode ist die weitgehende Dekontextualisierung der Lerninhalte. Eine Befähigung zu an Geschäfts- und Arbeitsprozessen ausgerichteter Berufstätigkeit kann so keinesfalls erreicht werden. Kommt es doch hier gerade darauf an, die Kontexte zu erfassen, sich in komplexen Strukturen zu orientieren sowie Kenntnisse und Fertigkeiten anwendungsbezogen zu erwerben. Prozesse müssen also bewusst gemacht und dafür zuallererst sichtbar gemacht werden. Dafür hat die vergleichsweise junge Lehre des Business-Process-Managements an der Schnittstelle zwischen Informatik und Betriebswirtschaftslehre eine Reihe von Notationen hervorgebracht, die sich in Abstraktionsgrad, Darstellungstiefe und -breite unterscheiden. Für didaktische Zwecke im Rahmen der Berufsbildung scheinen insbesondere drei Darstellungsarten besonders geeignet:

•  Porter-Diagramme,

•  Flussdiagramme und

•  Ereignisgesteuerte Prozessketten.

Porter-Diagramme werden insbesondere genutzt, um ganze Wertschöpfungsketten oder Prozesslandkarten in einer groben „Draufsicht“ des Gesamtmanagements zu illustrieren. Diese Darstellungsart geht auf Michael Porter zurück (PORTER 1986, 60).

Am weitesten verbreitet in didaktischen Medien sind Fluss- oder Ablaufdiagramme , die einfache oder geringfügig verzweigte Prozesse als Abfolge von Teilprozessen oder Vorgängen darstellen. Im Vergleich zur Prozesslandkarte kommt hier der Ablaufcharakter mehr in den Fokus. Sie dienen vorwiegend der Prozessbeschreibung.

Auf der operativen Ebene ist die Prozesssteuerung verortet. Hier geht es darum, aufzuzeigen, wie in Abhängigkeit vom Eintreten bestimmter Ereignisse Handlungen angestoßen oder (automatische) Vorgänge ausgelöst werden bzw. welche Inputs und Outputs jeweils erwartet werden. In der Wirtschaftsinformatik und Wirtschaftsdidaktik breit etabliert sind Ereignisgesteuerte Prozessketten (EPK) , die auf A. W. Scheer zurückgehen (SCHEER 1998, 52).

Alle diese Darstellungen lassen sich sehr gut als grafische Navigationselemente verwenden. Für eine bessere Orientierung über die jeweilige hierarchische Ebene eignet sich eine entsprechende Prozesspyramiden-Grafik, die ihrerseits ebenfalls Navigationsfunktionen übernimmt. Die folgenden Grafiken zeigen die Umsetzung dieses Systems einer prozessorientierten Navigation in der Lernumgebung AutoAzubi .

Die Prozesslandkarte nimmt eine Gliederung in die drei Prozessgruppen: Kern-, Support- und Führungsprozesse vor. Die Flash-Grafik ist als Image-Map mit Hover-Effekten über alle Prozesspfeile gestaltet. Sie bietet eine Gesamtübersicht und den Einstieg zur nächsten Prozessebene.

In Ablaufdiagrammen wird üblicherweise eine horizontale Anordnung der Flusspfeile gewählt. Aus Platzgründen haben wir uns auf der Plattform AutoAzubi für eine vertikale Darstellung entschieden. Die Verlinkung zur nächsttieferen Prozessebene erfolgt über die Kombination aus Bild und Grafik (Prozesspfeil). Zu parallelen Prozessen oder zur obersten Ebene kann über die Prozesspyramide oder das Menü navigiert werden.

Elemente von EPKs sind Ereignisse (rote Sechsecke), Funktionen (grüne Vierecke), Operatoren (graue Symbole) und Verbindungspfeile. Ereignisse und Funktionen dienen hier als Schaltflächen, um den Abruf weiterer Informationen, wie Definitionen, Statistiken, Umfeldinformationen, Controllingdaten und Supportquellen zu ermöglichen. Die EPKs werden auf der Lernplattform AutoAzubi als Pop-Ups eingeblendet. Dadurch bleiben die Navigationsmöglichkeiten der Plattform unverändert zugänglich. Grundidee hinter dieser Konstruktion ist, den parallelen Zugriff auf Lernaufträge und das EPK-gestützte Wissensmanagementsystem zu ermöglichen. Diese zwei Features bilden somit die vierte – parallel nutzbare – Plattformebene.

Für die gesamte Plattform gilt das Prinzip der multioptionalen Navigation. Alle Navigationstools (Menü, Icons, grafische Elemente im Hauptfenster) sind dynamisch angelegt. Sie passen sich dem jeweils abgerufenen Seiteninhalt an und erleichtern damit die intuitive Navigation.

Das permanente Bewegen in Prozessen führt idealerweise zu einer Konditionierung, also einer Gewöhnung an diese Sichtweise und damit zu einer selbstverständlichen Orientierung in den Prozessen. Prozesse sind damit nicht Beiwerk, Ergänzung, sondern grundlegend strukturgebend für den gesamten didaktischen Content.

2.2  Prozessorientiertes Wissensmanagement

Prozessorientierte Navigation zieht zwangsläufig eine prozessorientierte Anordnung des Contents nach sich. Das ist ein formaler Aspekt. Prozessorientiertes Wissensmanagement trifft damit auf gute Voraussetzungen, geht aber über die bloße Platzierung von Wissensinhalten hinaus. Um dem Anspruch eines Wissensmanagements gerecht zu werden, muss eine Lernumgebung alle Phasen individueller und kooperativer Lernprozesse unterstützen:

•  den Wissenserwerb im Prozess der Arbeit,

•  die individuelle und kooperative Lernprozesssteuerung,

•  die Prozessreflektion,

•  die Kommunikation und den Austausch im Rahmen von Prozessstrukturen.

Für alle diese Anforderungen müssen dynamische Werkzeuge bereitgestellt werden. Ihre Anbindung an die wieder erkennbaren Prozessstrukturen erleichtert das intuitive Auffinden im Prozess des Handelns. Dynamisch heißt, sie müssen erweiterbar und individualisierbar sein. D. h. jeder Nutzer bzw. jede Nutzergruppe hat die Möglichkeit, Inhalte anzupassen und zu erweitern sowie Informationen, Dokumente oder Medien auszutauschen. Idealerweise sollten die Prozessstrukturen selbst ebenfalls individualisierbar und erweiterbar sein. Dafür wäre die Einbindung eines Prozessmanagementwerkzeugs in die Plattform nötig.

Qualitätsentscheidend für ein Wissensmanagementsystem sind Schnelligkeit und Treffgenauigkeit beim Auffinden und Ablegen von Informationen. Auch wenn eine Prozessstruktur das intuitive Auffinden unterstützt, kann es doch Probleme beim Auffinden spezieller Sachthemen geben. Hier sollten ergänzende Auffindungsoptionen, wie eine Volltextsuche, ein ergänzendes alphabetisches Lexikon sowie eine alle Möglichkeiten ausschöpfende Verlinkung zwischen prozessorientiertem Content und Lexikoneinträgen, angeboten werden. Im direkten Vergleich zwischen fachsystematischem und prozessorientiertem Wissensmanagement weist letzteres sicherlich eine höhere Redundanz auf. Das muss jedoch kein Nachteil sein und kann auch durch die bereits erwähnten Verlinkungen reduziert werden.

Ein Großteil der beschriebenen Features ist auch im Projekt AutoAzubi umgesetzt oder zumindest angelegt. So besitzen alle Prozesselemente der EPKs editierbare Infofenster zum Abrufen und Bearbeiten von Informationen. Weitere Werkzeuge, wie Lerntagebuch, Wiki und Foren sind mit geeigneten Prozessebenen verknüpft und können ebenfalls für das Wissensmanagement verwendet werden.

2.3  Prozessbezug von Lernaufträgen

Prozessorientierung in Struktur, Navigation und Contentanordnung bedingt konsequenterweise auch einen Prozessbezug bei der Gestaltung und Platzierung von Lernaufträgen. Gestalterisch-inhaltlich tun sich dabei keine Schwierigkeiten auf, eher bietet ein solches Herangehen systematische Unterstützung bei der Entwicklung interessanter, komplexer Lernaufträge. So wird AutoAzubi in der Endausbaustufe über ca. 120 vorgefertigte komplexe Lernaufträge verfügen, die sämtliche Referenzprozesse des Modellbetriebs abdecken. Damit sind sie „von Natur aus“ kontextgebunden und nah an betrieblicher Realität und beruflichen Arbeitsaufgaben.

Auf die Frage nach dem Lernweg gibt eine Prozessstruktur jedoch keine schlüssige Antwort. Wo sind Anfang und Ende, in welcher Reihenfolge sollen Lernaufträge bearbeitet werden? Eine Lernumgebung für die berufliche Ausbildung sollte vor allem das Lernen in den dualen Lernorten in Übereinstimmung mit den Ordnungsinstrumenten – Ausbildungsordnung für das Lernen im Betrieb und Rahmenlehrplan für den Lernort Schule – in geeigneter Weise unterstützen. Das heißt nicht, die Prozessorientierung fallen zu lassen, sondern in das „Prozessgebäude“ zusätzliche Querstreben oder Korridore einzubauen.

Soll eine Lernumgebung nicht nur punktuell, sondern umfassend dem Erwerb berufsrelevanter Fertigkeiten und Kenntnisse dienen, so erfordert das einen vielschichtigen Entwicklungsansatz. Im Folgenden soll unsere Vorgehensweise im Projekt AutoAzubi dies exemplarisch illustrieren.

2.3.1  Das AutoAzubi-Curriculum für den Lernort Betrieb

2.3.1.1 Sachlich-zeitliche Gliederungsmatrix der Lernanforderungen

Der Beruf Automobilkaufmann/ -frau gehört zu den modernen, flexibel gestalteten Berufen. So gibt der Ausbildungsrahmenplan mit seiner sachlichen Gliederung differenzierte, das Berufsbild bestimmende Kompetenzbeschreibungen vor, während die zeitliche Gliederung der Zeitrahmenmethode folgt. In insgesamt 11 Zeitrahmen (drei im ersten und je vier im zweiten und dritten Ausbildungsjahr) werden die zu erwerbenden Fertigkeiten und Kenntnisse zu in sich stimmigen, in zeitlicher Anordnung und Dauer jedoch flexibel handhabbaren Blöcken, gruppiert. Kreuzt man die beiden Gliederungen in einer Matrix, so wird sichtbar, welche Positionen mit welchem Gewicht welchem Zeitrahmen zugeordnet sind.

2.3.1.2 Zuordnung von Referenzprozessen

In einem ersten Entwicklungsschritt wurde der so präparierte Ausbildungsrahmenplan Punkt für Punkt daraufhin analysiert, welcher Prozess / Teilprozess Möglichkeiten zum Erwerb der beschriebenen Fertigkeiten und Kenntnisse bietet – oder anders gefragt – wo sie benötigt werden bzw. in der Praxis zum Einsatz kommen. Die Matrix wird also um geeignete Prozesse ergänzt. Aus Platzgründen lassen wir in der folgenden Tabelle die Ausformulierungen der Fertigkeiten und Kenntnisse weg und beschränken uns auf die Nummerierung. Ferner wird die Zuordnung zu den Zeitrahmen temporär ausgeblendet und die Anzahl der Optionen auf zwei reduziert. Wir haben mit maximal fünf Optionen gearbeitet.

2.3.1.3 Perspektivwechsel auf Prozesse und Redundanzabbau

Anschließend wurde die so erweiterte Matrix transponiert, prozessorientiert umsortiert und nach Möglichkeit vereinfacht, sodass erkennbar wurde, zu welchen Prozessen komplexe Lernaufträge zu erarbeiten sind und welchen Kompetenzerwerb sie sicherstellen müssen. Die Zuordnung zu Ausbildungsjahren bzw. Zeitrahmen ergibt sich dabei automatisch. Dadurch, dass im vorangegangenen Schritt mit bis zu fünf Optionen gearbeitet wurde, gab es einen Gestaltungsspielraum, um die Anzahl der notwendigen Lernaufträge zu begrenzen und Redundanzen bei den Kompetenzpositionen abzubauen.

2.3.1.4 Lernaufträge konzipieren und entwickeln

Für die eigentliche Konzeption und Entwicklung der Lernaufträge sind mit den bisherigen Ausarbeitungen Anforderungsprofil und prozessualer Kontext vorgegeben. Nun sind Kreativität und Fleiß bei der Erarbeitung von Problemsituationen, Aufgabenstellungen und Begleitdokumenten gefragt. In Punkt 3 wird auf einen komplexen Lernauftrag ausführlicher Bezug genommen.

2.3.1.5  Betriebliche Lernwege planen

Für betriebliche Lernziele, sofern sie sich an der Ausbildungsordnung orientieren, bietet die so konstruierte Lernumgebung hervorragende Planungsmöglichkeiten. Schließlich basieren die Lernaufträge auf Anforderungen, die aus dem originären Berufsbild abgeleitet wurden. Eine entsprechende interne Kennzeichnung und Zuordnung der Lernaufträge zum jeweiligen Zeitrahmen ermöglicht über ein so genanntes „Planungstool“ angepasste Lernkataloge zusammenzustellen und kontrolliert abzuarbeiten.

2.3.2  Das AutoAzubi-Curriculum für den Lernort Berufsschule

Nun noch ein Blick auf die schulischen Lernziele. Hier haben wir uns an den Lernfeldern des Rahmenlehrplans der KMK orientiert, jedoch ohne einen neuen Analyse- und Entwicklungsprozess aufzumachen. Aufgesetzt wird auf den bereits im vorangegangenen Prozess konzipierten Lernaufträgen. Jeder Lernauftrag wird daraufhin überprüft und eingeordnet, in welchem Lernfeld er gewinnbringend eingesetzt werden kann und entsprechend markiert. Damit kann das Planungstool aus dem Fundus der vorhandenen Lernaufträge Lernkataloge für die einzelnen Lernfelder empfehlen.

Gerade berufsschulische Lehr-Lern-Settings sind besonders prädestiniert, im Rahmen der Lernumgebung eigene Lernaufträge zu entwickeln und einzustellen. Die Autorentools der Plattform sichern die dafür nötigen Voraussetzungen.

3.  Handlungsorientierung als Konstruktionsprinzip

Berufliches Handeln vollzieht sich immer in komplexen Umgebungen. Eine Lernumgebung, die den Erwerb beruflicher Handlungskompetenz fördern soll, muss eine solche komplexe Umgebung in virtuelle Realität übersetzen und somit reales oder simulatives – aber realitätsadäquates – Handeln ermöglichen. Wird der Umgebungsbezug nicht konsequent umgesetzt, so reduzieren sich die Lernoptionen auf einen reinen Wissenserwerb oder das Training kleinschrittiger, isolierter Handlungsabfolgen. Von einem Kompetenzerwerb im o. g. Sinne kann dann keine Rede mehr sein. Der Begriff virtuelle Realität soll hier in einem weiteren Sinne gebraucht werden, als das gewöhnlich der Fall ist. Keineswegs geht es darum, alle Aspekte einer betrieblichen Realität zu virtualisieren. Der Schwerpunkt sollte auf den Systemen und Werkzeugen liegen, zu denen der Zugang in der Realität aus den verschiedensten Gründen erschwert ist oder die die Realität in geeigneter Weise strukturieren. Für Piloten kann das ein Flugsimulator sein, für Kaufleute ein integriertes Unternehmenssteuerungssystem. In einem weiteren Schritt ist dann zu fragen, wie der Lernerfolg im Rahmen einer solchen Umgebung adäquat beurteilt werden kann.

3.1  Handlungspotenzial komplexer Lernszenarien

Für die weiteren Überlegungen wollen wir drei Ebenen in komplexe berufliche Handlungsumgebungen einziehen:

•  die Mikroebene : die materiellen Voraussetzungen und sozialen Beziehungen in einem Team, einer Arbeitsgruppe, an einem Arbeitsplatz,

•  die Mesoebene : die Gesamtheit der Anforderungen und Rahmenbedingungen im sozio-ökonomischen System Betrieb und darüber hinaus in der eigenen Wertschöpfungskette sowie

•  die Makroebene : die Volkswirtschaft als Ganzes sowie ihre Einbindung in weltwirtschaftliche Systeme.

Hinzu kommt der Fluss der Zeit. Jede berufliche Handlungssituation existiert nicht nur im gegebenen Moment, sondern hat eine Geschichte, eine Historie .

Auf alle diese Ebenen sind komplexe Lernszenarien angewiesen, wie an einem Beispiel gezeigt werden soll. Darüber hinaus erscheint es notwendig, genauer zu fragen, was eine Handlung ausmacht. Vielfach wird beklagt, dass sich Lernen auf rein geistige / rationale Handlungen reduziert und die komplementären Aspekte des physisch-sensorischen bzw. psychisch-emotionalen zu wenig Beachtung finden. Schließlich sollte auch eine Lernhandlung immer vollständig sein, also nicht nur das Tun an sich umfassen, sondern auch das vorangehende Planen und das nachfolgenden Reflektieren und Beurteilen mit einschließen.

Beispielhaft soll nun der komplexe Lernauftrag der Plattform AutoAzubi „Mehrmarkenstrategie des Autohauses in den Branchentrend einordnen“ nach den vorgenannten Aspekten analysiert werden. (Er ist zu Demonstrationszwecken aktuell unter http://autoazubi.oxme.de/lms/?mod=lms_lernauftrag&pg= f&p=us&tp=sz&la=1 nach Anmeldung als „Gast“ frei zugänglich. Ein indirekter Zugang ist jederzeit über die Projekthomepage http://autoazubi.de möglich.)

Dieses Beispiel zeigt, dass komplexe Lernszenarien in virtuellen Lernumgebungen ein beeindruckendes Potenzial an beruflich relevanten Handlungsoptionen – auf allen Ebenen beruflicher Handlungsumgebungen und in allen Handlungsaspekten – aufweisen.

3.2  Werkzeuggestützte Simulation beruflicher Handlungen

Simulationen sind ein probates Mittel in den verschiedensten Lernarrangements. Sie sind zum einen unverzichtbar, um Zugangsbeschränkungen zu überwinden und zum Anderen, um Handlungsrisiken zu mindern. Diese zwei Kriterien entscheiden auch über den Umfang der Simulation. Bei einer Vollsimulation sind alle Prozesselemente nachempfunden – vom Input (Material, Daten, Informationen) über die Handlungsumgebung selbst (Arbeitsmittel, Werkzeuge, soziales Umfeld) bis zum Output (Produkte, Leistungen, Dokumentationen). Teilsimulationen dagegen binden Elemente der realen Arbeitsprozesse mit ein. Darüber hinaus bieten Simulationsumgebungen die Möglichkeit, die Lernhaltigkeit von Handlungssituationen durch ein didaktisches Design der Zeitablaufs- und Auftragssteuerung anzureichern. Die Einsatzschwerpunkte differieren verständlicherweise von Fall zu Fall. Zur Illustration seien zwei simulationsbasierte Lernarrangements gegenüber gestellt.

Die Lernumgebung AutoAzubi bietet eine nahezu vollständige Simulation kaufmännischen Handelns im Kfz-Betrieb. Das Modellunternehmen Autohaus PLESS verfügt über einen umfassenden Datenkranz, die Plattform bietet Prozessinformationen und angepasste Lernaufträge. Mit dem DMS WERBAS steht ein zentrales kaufmännisches „Werkzeug“ zur Verfügung, das durch Koppelung mit anderen Systemen (FiBu, Teiledaten …) vervollständigt werden kann. Die Ergebnisse des Handelns lassen sich auf verschiedenste Weise dokumentieren. Im „praxisfernen“ Lernort Schule kann auf diese vollständige Simulation zurückgegriffen werden. Im Lernort Betrieb macht auch eine teilweise Simulation (z. B. nur des eingesetzten Arbeitsmittels) Sinn. In keinem Fall ist es didaktisch sinnvoll, Handlungsaspekte in eine Simulation einzubinden, die in der Praxis ohne Beschränkungen zugänglich sind und die keinerlei Handlungsrisiken bergen, wie z. B. die Möblierung eines gewöhnlichen Büros. Der Schwerpunkt sollte auf den berufskritischen Handlungsaspekten liegen, also der Beherrschung des Flugzeugs beim Piloten oder dem kompetenten Umgang mit zentralen IT-Steuerungssystemen bei Kaufleuten.

4.  Lernerfolgskontrolle in prozess- und handlungsorientierten Lernumgebungen

Computergestützte Lernerfolgskontrollen – im engeren Sinne Prüfungen – werden gewöhnlich mit einer weitgehend standardisierten und automatisierten Auswertung von Lernerleistungen assoziiert. Sie versprechen damit eine substanzielle Verminderung des Bewertungsaufwands, erfordern jedoch einen (einmalig) höheren Aufwand bei der Gestaltung eines adäquaten Kontroll- bzw. Prüfungssettings. Es liegt auf der Hand, dass ein solches Setting geeignet ist, Bestimmungen des Kenntnisstands oder Messungen abstrakt-intellektueller Fähigkeiten vorzunehmen, wohingegen es kaum Ansatzpunkte liefert, um den Lernerfolg beim Erwerb komplexer Kompetenzen zu beurteilen. Will man also die Prinzipien der Prozess- und Handlungsorientierung nicht durch ein auf automatische Auswertbarkeit gerichtetes Kontrollsetting unterhöhlen, bedarf es eines erweiterten Kontrollbegriffs. Die automatische Dokumentation des Computers ist zu ergänzen um eine Eigendokumentation des Lerners – nicht nur der Lernergebnisse sondern auch des Lernprozesses. Und die standardisierte Auswertung, die durchaus ihren Platz in bestimmten Bewertungsfeldern hat, muss durch Selbstbeurteilungen der Lerner sowie durch Fremdbeurteilungen von Tutoren in allen anderen Bewertungsfeldern vervollständigt werden. Der Begriff des Lernerfolgs wird damit nicht nur weiter, sondern auch unschärfer und natürlich individueller. Um ein Abgleiten in Willkür oder Beliebigkeit zu vermeiden, müssen Vorgaben zu Turnus, Umfang sowie Qualität der Dokumentationen und Beurteilungen gemacht werden.

Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die Lösungsansätze zur Lernerfolgsmessung im Rahmen der Lernumgebung AutoAzubi .

Die Gruppenfeatures sind noch in der Entwicklung, alle anderen bereits umgesetzt.

5.  Schlussbemerkungen

Die Orientierung der kaufmännischen Berufsbildung auf berufliches Handeln in Geschäftsprozessen ist keineswegs eine vorübergehende Modeerscheinung. Sie ist vielfach betriebswirtschaftlich, arbeitsorganisatorisch aber auch lernpsychologisch begründet. Die Umsetzung von Prozess- und Handlungsorientierung stößt jedoch in den Lernorten auf die verschiedensten Widerstände. Besonders hartnäckige Probleme zeigen sich im Bereich der Bildungsmedien und des Prüfungsgeschehens. Hier erweisen sich proklamierte Prozess- und Handlungsorientierung häufig als nachträglich aufgeklebte Etiketten, die den persitierenden Charakter einer Vermittlung bzw. Abfrage von weitgehend isoliertem Fachwissen nur notdürftig kaschieren.

Mit dem Projekt AutoAzubi wurde das Ziel verfolgt, eine breit einsetzbare, konsequent prozess- und handlungsorientierte Lernumgebung für einen konkreten Branchenberuf zu kreieren. Uns ist bewusst, dass dies nur ein erster Schritt sein kann. Vergleichbare, in der Fläche zugängliche mediale Systeme müssen auch für andere Branchen und Berufe geschaffen werden. Eine viel versprechende Entwicklung für die kaufmännische vollzeitschulische Berufsbildung wird gerade mit dem Projekt erp4school auf den Weg gebracht (SCHOLZ/ BÖHME 2007), das ebenfalls auf den Hochschultagen im Rahmen der Fachtagung „Wirtschaft und Verwaltung“ vorgestellt wurde.

Die Arbeit an AutoAzubi hat gezeigt, dass ein solches komplexes Entwicklungsprojekt einen langen Atem und die ständige Bereitschaft zur Lösung völlig neuer Probleme und Fragestellungen verlangt, dass dies jedoch auf einer unsicheren Ressourcenbasis extrem schwierig ist. Es geht also in Zukunft auch darum, tragfähige Finanzierungs- und Geschäftsmodelle für diese neuen Lernwelten zu erschließen.

 

Literatur

ARNOLD, P./ KILIAN, L./ THILLOSEN, A./ ZIMMER, G. (2004): E-Learning – Handbuch für Hochschulen und Bildungszentren – Didaktik, Organisation, Qualität. Nürnberg.

GERDSMEIER, G. (2004): Lernaufgaben für ein selbstgesteuertes Lernen im Wirtschaftsunterricht. In: Journal of Social Science Education, Ausgabe 2-2004.
Online: http://www.jsse.org/2004-2/lernaufgaben_gerdsmeier.htm (02-07-2008)

GROSSMANN, N./ KROGOLL, T./ MEISTER, V. (2005): Ausbilden mit Lernaufgaben – Prozessorientierung in den industriellen Elektroberufen, Band 1. Konstanz.

MEISTER, V. (2007): Entwicklung einer prozessorientierten elektronischen Lernumgebung für die Ausbildung zum/ zur Automobilkaufmann/ -frau. In: EHRKE, M./ MEISTER, V. (Hrsg.): Prozessorientierung in der Berufsbildung. Neue Leitbilder – Neue Praxisprojekte. Frankfurt a. M., 25-36.

PORTER, M. E. (1986): Wettbewerbsvorteile. Frankfurt a. M.

PREISS, P. (2005): Modellierung eines Datenkranzes für eine controllingorientierte Kostenrechnung. Vortrag auf dem Workshop "Prozessorientiertes Lernen in virtuellen Unternehmen unter Einsatz von ERP-Software" in Magdeburg am 13. September. Online: http://www.wipaed.wiso.uni-goettingen.de/~ppreiss/schriften/modellierung.ppt (02-07-2008)

SCHEER, A.-W. (1998): Wirtschaftsinformatik. Berlin, Heidelberg, New York.

SCHOLZ, J./ BÖHME, W. (2007): Prozessorientierung und ERP-Integration – Modellunternehmen für die kaufmännische Berufsfachschule. In: EHRKE, M./ MEISTER, V. (Hrsg.): Prozessorientierung in der Berufsbildung. Neue Leitbilder – Neue Praxisprojekte. Frankfurt a. M., 61-70.

TRAMM, T. (2002): Kaufmännische Berufsbildung zwischen Prozess- und Systemorientierung. In: TRAMM, T. (Hrsg.): Perspektiven der kaufmännischen Berufsbildung. Entwicklungen im Spannungsfeld globalen Denkens und lokalen Handelns. Bielefeld, 22-35.

 

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