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Beitrag von JÜRGEN BISCHOFF und KLAUS WICHER (beide Berufsförderungswerk Hamburg)

Prüfungen für die Büroberufe ein Dutzend Jahre nach der Neuordnung


1. Zur Geschichte des Verordnungstextes

Als der Verordnungsgeber Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts die Ausbildung für die Büroberufe auf neue Beine stellte, waren Viele mit dem neuen Werk durchaus zufrieden. Selbst die Aussagen auf den sonst heftig widerstreitenden Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbänken in den paritätisch besetzten Gremien priesen die neuen Verordnungen als beispielhaft für alles das, was man sich noch vorgenommen hatte.
Nun sollten auch andere kaufmännische Berufsausbildungen modernisiert werden. Der formale Verordnungsweg stellte dem Vorhaben aber vielfältige Hürden entgegen. Das wurde u. A. an der damals schon in die Jahre gekommenen Verordnung für die Industriekaufleute deutlich, die noch mehr als 10 Jahre für die Berufsausbildung herhalten sollte. Andererseits haben die Versicherungskaufleute in derselben Zeit schon die 2. Neuordnungsrunde erlebt.

Wenden wir uns wieder den Büroberufen zu. Was war eigentlich das so gepriesene Neue der Ausbildungsverordnungen?

Zum einen wurde durch eine inhaltlich und methodisch anspruchsvolle Ausbildungsverordnung das Berufsbild gegenüber anderen kaufmännischen Berufen aufgewertet. Das traf insbesondere auf die neue Ausbildung "Kaufmann/-frau für Bürokommunikation" zu, die ? in der Folge nur langsam und bis heute nicht mit endgültigem Erfolg - den Ruf loswurde, die Nachfolge der "Bürogehilfin" angetreten zu haben.
Bedeutender ist wohl, dass hier nicht die Spartenkaufleute zuerst in das Rampenlicht der berufspädagogischen Diskussion gestellt wurden, sondern die kaufmännischen Generalisten, und, bis heute nachwirkend, es wurde der Begriff der kaufmännischen Sockelqualifikationen geprägt, die den beiden Büroberufen (Bürokaufmann / Bürokauffrau und Kaufmann / Kauffrau für Bürokommunikation) gemeinsam seien. Heute kann man hinzufügen, dass es eine Vielzahl kaufmännischer, aber auch überfachlicher Bereiche gibt, die zum Ausbildungsinhalt aller Kaufleute gehören.

Damit könnten sich die Ausbildungsgänge inhaltlich immer weiter annähern. Es ist aber auch eine Tendenz zur Differenzierung der Ausbildungsabschlüsse festzustellen, die leider häufig mit der Diskussion um kürzere Ausbildungszeiten und eine hierarchische Abstufung neuer Ausbildungsberufe verbunden ist.

2. Neue Anforderungen an kaufmännische Arbeitsplätze

In der Diskussion um die neuen Ausbildungsberufe wurde man in den 90er Jahren nicht müde, die Veränderungen an den Arbeitsplätzen ins Feld zu führen. Damit waren immer die damals noch jungen elektronischen Datenverarbeitungs- und Kommunikationsmittel gemeint, und zwar im Zusammenhang mit den damit verbundenen Veränderungen in der Arbeitsorganisation. Der Taylorismus, der einst den Wohlstand durch die industrielle Massenproduktion begründet hatte, kam ins Gerede - Zusammenlegung taylorisierter Arbeitsvollzüge wurde zur Forderung der Unternehmensberater, und endlich konnten die Berufspädagogen und Arbeitspsychologen über Erfolge ihrer langjährigen Initiativen zur Verringerung der Entfremdung in den Arbeitsprozessen berichten. Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertreter zogen in der Formulierung der neuen Berufsanforderungen nun auch an demselben Strick und zitierten in seltener Einmütigkeit die Schlüsselqualifikationen eines Herrn MERTENS, der bereits 20 Jahre zuvor das Überfachliche der unterschiedlichen Professionen hervorgehoben hatte (vgl. MERTENS 1974).

Neben den Schlüsselqualifikationen hat die Diskussion zwei zentrale Begriffe hervorgebracht, die bis heute Bestand haben. So wird nicht nur im Zusammenhang mit den Büroberufen vom Leitbild PC-gestützter Sachbearbeitung gesprochen. Die Rechner haben inzwischen wohl in allen Arbeitsbereichen erhebliche Veränderungen der Arbeitsorganisation, aber auch komplexer Arbeitsinhalte hervorgebracht, und zwar in einer Größenordnung, die dazu geführt hat, dass nur wenige Berufstätigkeiten noch in der Form ausgeübt werden können, die vor 20 Jahren üblich war. Das ist das eigentlich Neue, denn in den Jahrzehnten, man ist versucht Jahrhunderte zu sagen, zuvor waren die Veränderungen in vergleichbaren Zeiteinheiten sehr gering. Wer einmal seinen Beruf erlernt hatte, konnte ihn ohne große Veränderungssprünge bis an das Ende seiner Erwerbsfähigkeit ausführen.

Der zweite Begriff ist der der beruflichen Handlungsfähigkeit. Diese soll der/die Auszubildende in der Abschlussprüfung nachweisen. So steht es in allen Ausbildungsverordnungen, spätestens seit der Neuordnung der Büroberufe (Im Verordnungswesen waren allerdings in diesem Sinn die Metall- und Elektroberufe von 1987 Vorreiter.).

Ein kurzer Satz und ein unverdächtiges Wort führen seitdem zu heftigen Diskussionen insbesondere im Prüfungswesen.

"Die in der Rechtsverordnung genannten Fähigkeiten und Kenntnisse sollen so vermittelt werden, dass der Auszubildende zur Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit im Sinne des § 1 Abs. 2 des Berufsbildungsgesetzes befähigt wird, die insbesondere selbständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren einschließt. Diese Befähigung ist auch in den Prüfungen nachzuweisen" (§ 4 Abs. 2 Ausbildungsverordnung).
Von Fachleuten, und das sind insbesondere die Personalverantwortlichen in den Unternehmen, wird immer wieder betont, dass man jetzt auf dem richtigen Weg sei. Nicht mehr die Fachsystematik der Wissenschaft und der Fächerkanon der Berufsschulen sollen die Ausbildung bestimmen, sondern typische berufliche Handlungen. So kann besser als bisher Kompetenz für die selbständige berufliche Handlungsfähigkeit in der Ausbildung erreicht werden.

Die Kompetenz setzt sich zusammen aus individuellen Erfahrungen, Fähigkeiten, Fertigkeiten, Qualifikationen und sonstigen Dispositionen. Nur, um den Begriff handhabbarer zu machen werden häufig die drei Bereiche der Fach-, Sozial- und Personalkompetenz differenziert betrachtet. Das ist sicherlich dann sinnvoll, wenn man sich curricularen Fragestellungen nähern will, die eine Antwort darauf sucht, wie Berufsschulunterricht in Zukunft organisiert und gestaltet werden soll.

3. Die zentrale Kategorie "berufliche Handlungskompetenz"

Der Ausbildungsordnung für Bürokaufleute liegt das Leitbild der computergestützten Sachbearbeitung zugrunde (vgl. STILLER 1995, 70).
Diese Sachbearbeitung, so die Berufsbildungsforscher, erfordert umfassende Handlungskompetenzen, die Vieles aus der Tätigkeit eines selbständigen Kaufmanns enthält. Schon 1993 ermittelte W. Brand im BiBB-Modellversuch "Neue Büroberufe" der Deutschen Angestellten-Akademie: "Die aufgeführten Fähigkeiten lassen erkennen, dass von den Büroangestellten erwartet wird, selbständig zu arbeiten, ihren Arbeitsbereich zu organisieren und kompetent mit anderen zu kommunizieren." (BRAND 1995, 42) Einen Überblick über das Modell von Handlungskompetenz bietet die folgende Grafik aus dem Praxishandbuch des BiBB "Handlungsorientierte Abschlussprüfung für Versicherungskaufleute". Aufgrund seiner allgemeinen Form hat es für alle kaufmännischen Berufe Bedeutung.

Seit das Leitziel der beruflichen Handlungsfähigkeit unstrittig ist, bildet die Arbeit an einer Didaktik, die diese optimal fördern oder gar erst hervorbringen kann, einen Schwerpunkt in der Forschung der Berufpädagogen. Und es scheint vernünftig zu sein, dass man sich an frühere Arbeitsergebnisse z. B. von Arbeits- und Berufswissenschaftlern anlehnt, die ein Handlungsmodell entworfen haben. So hat HACKER bereits 1973 (Hacker stellt der Planung die "selbständige Zielstellung" voran, andere Autoren differenzieren die Phasen der vollständigen Handlung entsprechend ihrem Erkenntnisinteresse.) eine vollständige Handlung beschrieben, die in den o. g. Zusammenhängen üblicherweise mit der Trias "Planen, Durchführen und Kontrollieren" zitiert wird.
In der konkreten Ausbildungssituation wird nun Vieles zum Verhängnis, was man sich in den vorausgegangenen Jahrzehnten insbesondere mit der Lehrerausbildung (über "programmiertes Lernen" oder die Professionalisierung der Belehrung mittels Zerstückelung der komplexen Wirklichkeit in Fein- und Feinstlernziele), aber auch mit der Einrichtung von Lehrwerkstätten und Lernbüros eingebrockt hatte. Von der Lernhaltigkeit betrieblicher Aufgaben, von arbeitplatznaher Qualifizierung ist inzwischen in den ausbildenden Betrieben die Rede. Sogar die "Beistelllehre" der Handwerker darf wieder als Qualitätsmerkmal der Ausbildungsorganisation genannt werden. Insgesamt geht es darum, dass berufliche Handlungsfähigkeit nur am Arbeitsplatz entstehen kann und nicht in einem "Schonraum", der eingerichtet wurde, damit der Lehrling nichts kaputt macht und den Betriebsablauf nicht stört.

Wer in Zukunft für unbekannte und ungeplante Problemstellungen kreativ eigene sinnvolle Lösungen entwerfen können soll, muss dieses in seiner Ausbildung auch üben können. Für kaufmännische Auszubildende gilt jetzt deshalb, dass sie nicht mehr nur noch die Routine perfektionierter Sachbearbeitung kennen lernen, die implizierte, dass z. B. Kunden, die andere Sachbereiche des Unternehmens ansprachen, an den zuständigen Sachbearbeiter weitergeleitet wurden. Heute werden Fallbearbeiter oder Kundenbetreuer gebraucht, die den komplexen Angebotsbereich ihres Arbeitgebers vertreten und bei dieser Aufgabe auch den Beschaffungsbereich und letztlich die Rentabilität des Unternehmens beachten.
Wenn sich nun die betriebliche Ausbildung auf die neue Situation einstellen musste, dann galt dieses ebenso für die Berufsschulen, die in der dualen Partnerschaft der Berufsausbildung den Bereich beisteuern, der die Hauptvorbereitung auf die Ausbildungsabschlussprüfung leistet. Während traditionell die Fächer mit ihren jeweiligen Landes-Lehrplänen das Unterrichtsgeschehen strukturierten, das entsprechend der Lehrerausbildung an der wissenschaftlichen Fachsystematik ausgerichtet war, sollte auch die Schule in Zukunft unter dem Leitziel "berufliche Handlungsfähigkeit" ihren Beitrag zu dem komplexen Kompetenzgefüge so beisteuern, dass die Ausgebildeten an den neuen Arbeitsplätzen funktionsübergreifend, selbstbewusst, kreativ und kundenorientiert handeln können. Das aber bedeutete einen Paradigmenwechsel für die Lehrer, und damit einhergehend für die Lehrerausbildung.

4. Der Verordnungstext und die Ausbildungsanforderungen

Die Verordnung gibt konsequenterweise der beruflichen Handlungskompetenz (§ 4 Abs. 2. Ausbildungsordnung) eine zentrale Bedeutung und führt weiter aus, damit sei gemeint, dass zur Ausübung einer qualifizierten beruflichen Tätigkeit befähigt werden soll, die selbständiges Planen, Durchführen und Kontrollieren einschließt.
Um dies zu erreichen, müssen von den Auszubildenden notwendigerweise Praxisaufgaben oder zumindest praxisorientierte Aufgaben, wie sie der Verordnungsgeber fordert, bearbeitet und gelöst werden. Dabei sollen die Auszubildenden flexibel verwendbares Handlungs- und Erfahrungswissen, aber auch Handlungsschemata erwerben (vgl. KLARMANN/ LEWANDOWSKI 2000, 63). Darüber hinaus wird gefordert, dass schon in der Ausbildung die Grundlage für selbständiges Lernen und Arbeiten und "... die Basis für ein lebenslanges eigenverantwortliches Lernen gelegt (werden soll)" (ebd.).
Wolfgang SEYD entwickelte dazu die folgende Argumentationskette:

- "Bürokaufleute ... müssen über berufliche Handlungskompetenz verfügen, die ihnen selbständige Planung, Durchführung und Kontrolle ermöglicht.
- Die Fähigkeit zur selbständigen Planung, Durchführung und Kontrolle erwirbt man nicht in fremdgesteuerten Lernprozessen. Berufliche Handlungskompetenz bedarf selbstgeplanter, selbstinitiierter, selbstgesteuerter, selbstkontrollierter und selbstevaluierter Lernprozesse.
- In dieser Weise selbstorganisierte Lernprozesse sind nur möglich, wenn Gestaltungsräume offeriert werden. (Hierzu gehören:)
- Aktivitätsspielraum
- Dispositionsspielraum
- Interaktionsspielraum
- Entscheidungsspielraum.
- Zudem müssen die Lerngegenstände Authentizität und Realitätsgehalt aufweisen." (SEYD 1995, 43)

Diese hier beschrieben Ausbildungsanforderungen werden in aktuelleren Anforderungsbeschreibungen für die Ausbildung von Michael REINHOLD noch verstärkt, indem er verdeutlicht, die Arbeitsaufgabe soll…

- einen herausfordernden Charakter beinhalten
- unterschiedliche Alternativen ermöglichen
- keine "richtigen" oder "falschen" Lösungen (im Sinne einer Lernzielkontrolle) zulassen
- bei verschiedenen Aufgabenstellungen durch Zeichnungen, (Belege, die Verfasser) und Fotos weitere Anforderungen ermöglichen (vgl. REINHOLD 2002, 48).

Ziel der Ausbildung ist somit der Aufbau von Handlungsdispositionen zur Bewältigung unterschiedlicher, auch bisher nicht bekannter und komplexer Arbeitsaufgaben in Betrieben unterschiedlicher Branchen (Anmerkung der Verfasser: Da der Ausbildungsberuf "Bürokaufmann/Bürokauffrau" als Querschnittsberuf konzipiert ist, müssen Kompetenzen erworben werden, die es ermöglichen, in Betrieben unterschiedlicher Brachen tätig zu werden.).

5. Die Abschlussprüfung vor dem Hintergrund des Verordnungstextes

Diese Anforderungen an eine zeitgemäße, arbeitsplatzorientierte Ausbildung wurden durch eine angepasste, fortschrittliche Prüfungsorganisation ergänzt. Neu und erstmalig für die Prüfung in einem kaufmännischen Beruf war die gleichgewichtige Aufteilung in einen schriftlichen und einen praktischen Prüfungsteil.

Geprüft werden sollen die Fachkompetenz, die Sozial- und Methodenkompetenz sowie die Planungs- oder Problemlösungskompetenz einschließlich der Fähigkeiten zur Entscheidungsfindung und Entscheidungsbegründung und der Befähigung zur Kontrolle von Sachverhalten (Eine umfassende Darstellung von Schlüsselqualifikationen findet sich in: HOFMEISTER/ REETZ/ WICHER 2002, 163ff.).

Die schriftliche Prüfung orientiert sich allerdings noch an dem herkömmlichen Fächerprinzip (Wissenschaftssystematik) und nicht an beruflichen Handlungsfeldern oder den daraus abgeleiteten Lernfeldern. Damit können interdependente Beziehungen, wie sie in Unternehmen üblicherweise vorkommen, beispielsweise die Auswirkungen eines Einkaufs auf das betriebliche Rechnungswesen, in der schriftlichen Prüfung kaum abgebildet werden. Fast schon skurril mutet an, dass der Bereich Lagerwirtschaft in "Bürowirtschaft" und der Ein- und Verkauf in "Wirtschafts- und Sozialkunde" getrennt geprüft werden müssen, obgleich diese Bereiche in der betrieblichen Wirklichkeit untrennbar miteinander verwoben sind.

Dennoch ist schon für die Zwischenprüfung der Bürokaufleute (§ 7 Verordnungstext) der Einsatz praxisorientierter Fälle und Aufgaben vorgeschrieben. Für die Abschlussprüfung wird diese Anforderung in § 8 des Verordnungstextes nochmals deutlich für jedes Prüfungsfach wiederholt.

Kaum noch bestreitbar ist, dass, " wenn zum selbständigen Planen, Durchführen und Kontrollieren befähigt werden soll, (.) es nahe liegt, dies auch an "echten" komplexeren Aufgabenstellungen zu entwickeln." (BIBB 1996, 81)
Aus den berufsbildenden Schulen und den Universitäten sind dazu Anforderungen an eine zeitgerechte Ausbildung formuliert worden, die sich auf die Gestaltung geeigneter Prüfungsaufgaben auswirken müssen.
Michael Reinhold weist deshalb mit Nachdruck darauf hin, dass keine Aufgabenstellungen zugelassen sind, die bloße Richtig- oder Falschlösungen enthalten. Dies sei nur dann erfüllt, "wenn die Aufgabenstellung nicht im Sinne einer Lernzielkontrolle formuliert wird und keine Elemente enthält, die auf eine "Wissensabfrage" hinauslaufen." (REINHOLD 2002, 48)

Da der Verordnungsgeber diese umfassende Handlungskompetenz in der Ausbildungsordnung ausdrücklich vorgesehen hat (vgl. STILLER 1995, 69), ist es geboten, dass gerade diese in der Abschlussprüfung auch zum Tragen kommt. Im Kern geht es also darum, dass ein in der Ausbildung erworbenes Handlungswissen und, wenn möglich, auch das erworbene Erfahrungswissen geprüft werden.
Eine Entscheidung dafür, dass dies nur Hauptanliegen der praktischen Prüfung sein soll, sieht die Verordnung nicht vor. Die Vorgabe gilt also für beide Prüfungsteile.

"Der kompetente Mitarbeiter zeichnet sich jedoch insbesondere dadurch aus, dass er auch neuartige Situationen bewältigen kann. Zu beidem benötigt er fundiertes Sachwissen. Damit kommen alle drei Ebenen des Schaubildes (siehe Abschnitt 3., die Verfasser) in der Abschlussprüfung zum Tragen. Sie sollten jedoch nicht voneinander losgelöst geprüft werden - das wäre ein bloßes Abfragen von Wissen -, sondern durch komplexe Aufgaben, (...). Es handelt sich dabei entweder um Standardsituationen oder um unvertraute Situationen, die zwar typischerweise vorkommen, jedoch ein tieferes Nachdenken über die Bearbeitung des Vorgangs erfordern." (BIBB 1997, 1)

Da erst die Verknüpfung von Einzelkompetenzen die berufliche Handlungsfähigkeit ermöglicht, ist es erforderlich, komplexere (Anmerkung der Verfasser: Komplex ist nicht mit schwierig zu verwechseln. Komplexe Aufgaben können schwierig oder einfach sein. Ideen für solche Aufgabenstellungen in: BISCHOFF 1998, 9ff.), offene Aufgabenstellungen zu formulieren, damit die berufliche Handlungsfähigkeit auch wirklich zum Prüfungsgegenstand wird. Dann wird es auch möglich, die Informationsverarbeitungskompetenz und die Sprachkompetenz zu überprüfen (vgl. BIBB 1997, 1ff.).

6. Eine positive Entwicklung im norddeutschen Leitkammersystem

Die Neuordnung der Büroberufe hatte nicht gleich den durchschlagenden Erfolg. Nach einer kurzen Phase der Verunsicherung bei den Ausbildungs- und Prüfungsbeteiligten konsolidierten sich die Prüfungsausschüsse mit zumeist den schon bekannten "alten" Prüferinnen und Prüfern und selbst die Fachbücher für die Berufsschulen enthielten unter dem Etikett "handlungsorientiert" dieselben Erklärungen und Aufgaben, manchmal mit einer vorangestellten Situationsbeschreibung angereichert. Selbst die z. T. gut organisierten Seminare zur Prüferschulung erreichten nur einen Teil der in Prüfungsausschüssen Tätigen und konnten sich auch nur auf den Teil "Prüfungsgespräch" der praktischen Prüfung beziehen, denn die Aufgaben der schriftlichen Prüfung und des praktischen Prüfungsteils "Informationsverarbeitung" obliegen in der Regel zentralen Aufgabenerstellungsausschüssen (wie der zu Recht viel gescholtenen AkA) oder zumindest immer demselben Ausschuss der jeweiligen IHK (in Hamburg dem so genannten 01er Ausschuss). Das Prüfungsgespräch macht bei den Bürokaufleuten zudem gerade einmal ein Drittel der Gesamtnote aus bei den Kaufleuten für Bürokommunikation lediglich ein Sechstel.

Wenn aber Wesentliches geändert werden sollte, musste man die schriftlichen Prüfungsfächer (und die Informationsverarbeitung), die oftmals von den Lehrerinnen und Lehrern der Berufsschulen dominiert wurden (Sie formulierten die Aufgaben und bearbeiteten die Lösungen zumeist als Erstkorrektoren) auf neue Beine stellen. Es gilt also in erster Linie die Aufgabenersteller für die Intentionen der neuen Verordnungen zu sensibilisieren und für die Umsetzung derselben zu qualifizieren. Das wurde von den zuständigen IHKn sehr unterschiedlich geregelt. Auch in den Gewerkschaften bewegt sich dieser Bereich noch zu oft in den Anfängen.
Überhaupt entwickelte sich auch in den norddeutschen IHK-Bezirken zunächst eine unterschiedliche Aufgabenerstellungspraxis. Regional für ihren Kammerbezirk bzw. ein Bundesland erstellten die Kammerbezirke Berlin, Bremen, Flensburg, Hamburg und Kiel ihre eigenen Aufgaben, während im Bezirk Lübeck Aufgaben der AkA eingesetzt wurden.

Unter der Zielsetzung, die Aufgabenqualität zu verbessern, und dabei die Kostenseite zu beachten, schlossen sich die Industrie- und Handelskammern dieser Bezirke 1995/96 zum "Leitkammersystem" zusammen. Man wollte Möglichkeiten erproben, die es erlaubten, im norddeutschen Raum nach einheitlichen Aufgaben zu prüfen und dennoch die regionalen Besonderheiten berücksichtigen zu können.

Die Organisation obliegt einen Koordinierungskreis aus Vertretern/-innen der IHKn, des DGB (in der Gründungsphase auch der DAG) und der Schulen.
Für sechs kaufmännische Berufsbilder wurden überregionale Fachausschüsse errichtet. Diese haben die Aufgabe, die schriftlichen Prüfungen vorzubereiten und zu beschließen, die dann im gesamten Verbund eingesetzt werden.
Jedes beteiligte Bundesland entsendet je drei Vertreter der Arbeitgeber-, Arbeitnehmer- und Lehrerbank in den Fachausschuss, der damit paritätisch besetzt ist. Um die Prüfungsorganisation auf mehrere Schultern zu verteilen, wurden die jeweiligen Berufsbilder "Leitkammern" zugeordnet. Für den Ausbildungsberuf "Bürokaufmann/Bürokauffrau" ist die IHK zu Berlin zuständig, für die Kaufleute für Bürokommunikation die IHK-Flensburg.

In Hamburg hatte sich sehr bald nach der Neuordnung der Büroberufe ein Konzept mit so genannten Musterbetrieben durchgesetzt, über die Identifikation, Authentizität und Realitätsgehalt hergestellt werden. Die Aufgabenstellungen werden dabei in das Konstrukt der virtuellen Unternehmungen "Franz Meyer" (Großhandlung) und "Heinrich KG" (industrieller Produktionsbetrieb) eingebunden, die die Prüfungskandidaten/?innen im Rahmen des Berufsschulunterrichts kennen lernen.

Die Aufgaben orientierten sich exemplarisch an der betrieblichen Praxis, an den Musterbetrieben, berücksichtigten die Anforderungen an einen Querschnittsberuf und sind u. a. durch Belege aus der Praxis realitätsnah gestaltet (vgl. dazu WICHER 1994). Sehr frühzeitig wurden Vertreter/-innen aus Hamburger Ausbildungsbetrieben intensiv an der Erstellung der Prüfungsaufgaben beteiligt, damit ein hoher Praxisbezug gewährleistet werden konnte.
Der damals in der Handelskammer Hamburg für Berufsbildung zuständige Geschäftsführer Reinhard Wolf konnte deshalb 1994 mit Berechtigung verkünden: " Die Durchführung von Prüfungen, die dem Anspruch der Neuordnungen genügen, d. h. auch die Handlungskompetenz zu erfassen, ist möglich und in Hamburg in den beiden ersten Prüfungsterminen auch weitgehend gelungen." (WOLF 1995, 99)
In modifizierter Form hat der Fachausschuss "Bürokaufmann/Bürokauffrau" später dieses in Hamburg entwickelte System in das "Leitkammersystem" übernommen.

Da die Aufgabenausschüsse der beteiligten Kammerbezirke sehr unterschiedliche Entwicklungen in den Leitkammerausschuss mitgebracht hatten und zunächst auch an ihren Ansätzen festhielten, kam dieser Kompromiss allerdings erst nach langen, zum Teil zähen Verhandlungen zustande. Dieses Problem sei hier erwähnt, weil es zeigt, dass zentralisierte Prüfungen entgegen einer weit verbreiteten Meinung nicht automatisch besser sind als die regional erstellten. Die Einigungen erfolgten oftmals auf dem kleinsten noch zu findenden Nenner, also keineswegs immer im Interesse einer verbesserten Aufgaben- und Prüfungspraxis. Im Rahmen der Vereinbarungen zur Erstellung der Prüfungsaufgaben für Bürokaufleute wurde der Kern der neuen, verbesserten Prüfung erhalten.
Anders als zuvor im Zuständigkeitsbereich der Handelskammer Hamburg wurde dem Fachausschuss jetzt vom Koordinierungskreis vorgegeben, dass in jedem Prüfungsfach bis zu einem Drittel gebundene Aufgaben vorgesehen sein sollten. Diese Vorgabe folgte rein ökonomischen Erwägungen (das formale Argument betraf allerdings schwerpunktmäßig die Intention, die Korrekturarbeiten erleichtern zu wollen).
Auf der Grundlage der gefundenen Kompromisse arbeitet der Fachausschuss mittlerweile ohne große Reibungsverluste. Innovationsinitiativen haben es allerdings immer noch wegen auseinander liegender Interessenlagen relativ schwer, und es dauert teilweise lange, bis Teile der vorgeschlagenen Verbesserungen umgesetzt werden können.

Als Handlungsgrundlage hat der Fachausschuss aus Ausbildungsrahmenplan und Rahmenlehrplan für jedes Prüfungsfach eine Synopse erarbeitet. Diese Unterlagen sind in den Kammerbezirken verteilt worden und sorgen für Transparenz in der Arbeit des Fachausschusses.
Jeder Prüfungsdurchgang wird durch die "Kammern" und die "Leitkammer" evaluiert. Der Fachausschuss berät deren Ergebnisse.

7. Prüfungen sind die normative Kraft der faktischen Ausbildung

Der fachliche Diskurs ist grundsätzlich unverzichtbar, insbesondere bei der Einführung von Neuerungen. Im Vorwege der Umsetzung der 1991 formulierten neuen Ausbildungsanforderungen war es deshalb unabdingbar, dass sich sowohl die Ausbilderinnen/Ausbilder in den Unternehmen als auch Lehrerinnen/Lehrer und selbstverständlich auch die Prüferinnen und Prüfer mit den Zielsetzungen des Verordnungsgebers auseinandersetzten.
Dazu fanden Kongresse, Tagungen und Schulungsseminare in größerer Zahl statt, und es war nicht leicht, die Beteiligten für die veränderte Didaktik zu begeistern. Insbesondere die Prüferinnen und Prüfer schienen vielerorts mit der Trias "Planen, Durchführen und Kontrollieren" in einer praxis- und problembezogenen Handlungssituation an Grenzen zu gelangen. Die Mehrzahl von ihnen war allerdings "nur" für den Teil zuständig, der "Prüfungsgespräch" heißt, also einen Teil der praktischen Prüfung.
Viel problematischer war und ist, dass bei der Erstellung geeigneter Prüfungsaufgaben, mit Ausnahme des Fachausschusses "Bürokaufmann / Bürokauffrau" im norddeutschen Leitkammersystem für die schriftliche Prüfung wenig Neues hinzukam. Das in den Verordnungstexten angelegten Antwort-Auswahl-Verfahren wurde insbesondere bei der Erstellung überregionaler Aufgaben gern angewandt. Es begründet den schlechten Ruf der AkA-Aufgaben und schreibt ihn fort. Für die Multiple-Choice-Aufgaben wird gern das Argument der Objektivität angeführt. Tatsache ist aber, dass sie weder im Sinne der Ausbildungsverordnung noch in testtheoretischen Sinn valide sind, denn mit ihnen lässt sich berufliche Handlungsfähigkeit nicht ermitteln. Dennoch nimmt ihr Anteil wieder zu, einzig und allein aus Kostenerwägungen und damit die Ergebnisse schnell zur Verfügung stehen.
Damit haben es Auszubildende wie schon immer schwer, sich parallel auf zwei zum Teil gegensätzliche Ziele vorzubereiten, nämlich auf die anschließende Berufstätigkeit und auf eine am Ausbildungsende abzuleistende Prüfung, deren fachsystematische Inhalte (Berechnen Sie die Gewinnverteilung in der OHG! Wie nennt man einen fälligen Wechsel?) für die Berufstätigkeit größtenteils keinerlei Relevanz haben.

Das Problem ist: Die faktische Prüfung bestimmt große Teile der Ausbildung, insbesondere des Unterrichts in der Berufsschule. Es werden also viele Ressourcen schlichtweg vergeudet. Sehr bedauerlich ist es deshalb, dass selbst die kleinen Erfolgsberichte aus dem "Nordkammerverbund" in Zukunft bedeutungslos werden, weil die Entscheidung, die Aufgabenerstellung für alle Abschlussprüfungen zu zentralisieren und einer einzigen Aufgabenerstellungsinstitution zu übertragen, kaum noch zu verhindern ist. Damit schreitet die Entwertung der Verordnungstexte, die anfänglich nur bei den Büroberufen zu beobachten war, voran. Lange sind schon andere Ausbildungsgänge von der Erosion handlungsorientierter Abschlussprüfungen betroffen, wie z. B. IT-Berufe, Speditions- und Industriekaufleute. Allein die Versicherungswirtschaft scheint sich über die Prüfungsanforderungen weiterhin sämtliche Ressourcen für die Ausbildung sichern zu wollen. Hier ist der Ausgangspunkt der von den Unternehmen in Auftrag gegebene Modellversuch.

Aber die Hoffnung, zu angemessenen Prüfungsformen zu kommen, muss nicht aufgegeben werden. Immerhin sind die Defizite des aktuellen Verfahrens bekannt, und die Ergebnisse einer an den gegenwärtigen schlechten Prüfungen orientierten Ausbildung sprechen für sich. Vielleicht gelingt es sogar, die Diskussion um die duale Ausbildung dafür zu nutzen, diese bewährte Ausbildungsorganisation, um die uns einst andere Länder beneideten, über ein anspruchsvolles Prüfungsverfahren weiter zu stützen.

 

Literatur:

BIBB (Hrsg.) (1996): Versicherungskaufmann, Versicherungskauffrau (Erläuterungen zur Verordnung). Karlsruhe.

BIBB (Hrsg.) (1997): Handlungsorientierte Abschlussprüfung für Versicherungskaufleute - Ein Praxishandbuch für Unternehmen, Berufsschulen und Prüfer von Industrie- und Handelskammern. Karlsruhe.

BISCHOFF, J. (1998): Schlüsselqualifikationen in den neuen Büroberufen - Anforderungen an die Gestaltung von Abschlussprüfungen, in: DEUTSCHE ANGESTELLTEN-GEWERKSCHAFT (Hrsg.): Umweltkompetenz als Schlüsselqualifikation in Ausbildung und Abschlussprüfung, Hamburg, 9ff.

BRAND, W. (1995): Evaluation im Modellversuch "Neue Büroberufe" - Kontrolle oder Förderung? In: PAHL, V. (Hrsg.): Neue Büroberufe - alte Ausbildung? Hamburg, 37ff.

HACKER, W. (1973): Allgemeine Arbeits- und Ingenieurpsychologie. Berlin.

HOFMEISTER, W./ REETZ, L./ WICHER, K. (2002): Innovative Praxis kaufmännischer Berufsbildung. Hamburg.

KLARMANN, J./ LEWANDOWSKI, M. (2000): Handlungsorientierung in der Ausbildung von Bankkaufleuten - Lernortkooperation zwischen Ausbildungsbetrieb und Berufsschule nach der Neuordnung der Ausbildung. In:

STILLER, I./ TRAMM, T. (Hrsg.): Die kaufmännische Berufsbildung in der Diskussion. Bielefeld, 62-78.

MERTENS, D. (1974) Schlüsselqualifikationen. In: FALTIN, G./HERZ, O. (Hrsg.),: Berufsforschung und Hochschuldidaktik: I. Blickpunkt Hochschuldidaktik, H. 32, Hamburg.

REINHOLD, M. (2002): Neue Ansätze in der industriellen Berufsausbildung: Der Modellversuch "Geschäfts- und arbeitsprozessbezogene, dual-kooperative Ausbildung" (GAB), in: Zeitschrift des Bundesinstituts für Berufsbildung, 31. Jg., 44-48.

SEYD, W. (1995): Weiterbildung im Modellversuch "Neue Büroberufe". In: PAWLIK, A. (Hrsg.): Neue Büroberufe - Erfahrungen und Perspektiven, Hamburg, 15ff.

STILLER, I. (1995): Vermittlung beruflicher Handlungskompetenz in den neuen Büroberufen. In: PAHL, V. (Hrsg.): Neue Büroberufe - alte Ausbildung? Hamburg, 69ff.

WICHER, K. (1994): Unternehmensplanspiel "Mobile". In: BEILER, J./ LUMPE, A./ REETZ, L. (Hrsg.): Schlüsselqualifikation, Selbstorganisation, Lernorganisation. Hamburg, 159ff.

WOLF, R. (1995): Erfahrungen in den Abschlussprüfungen nach der Neuordnung. In: PAHL, V. (Hrsg.): Neue Büroberufe - alte Ausbildung? Hamburg, 99ff.