wbv   Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.

 

 

 

Beitrag von KARIN BÜCHTER und FRANZ GRAMLINGER (beide Universität Hamburg)

Meistens kommt es anders als man denkt -
Oder: Zur Diskrepanz von Anspruch und Realität berufsschulischer Reformen aus mikropolitischer Sicht



1. Einleitung

Die Anforderungen, die derzeit an Berufsschulen gestellt werden, sind beträchtlich: Umstrukturierung zu Kompetenzzentren, regionale Vernetzung, (Teil-)Autonomisierung, Einführung von Lehrerarbeitszeitmodellen, Intensivierung der IT-Qualifizierung, Reaktion auf die Forderungen, die aus den Pisa-Ergebnissen resultieren, curriculare Modernisierungen, Einführung von Lernfeldern, Benachteiligtenförderung trotz wirtschaftlichen Drucks, Umsetzung ökologischer Leitbilder im Unterricht, Lernortkooperation, Lehrerfortbildung und so weiter. An normativen Konzepten und Programmatiken zur Initiierung und Optimierung von solchen Reformen, wie sie von Berufsbildungspolitikern, schulnahen und betrieblichen Praktikern sowie der akademischen Zunft der Berufs- und Wirtschaftspädagogik formuliert werden, mangelt es nicht - ebenso wenig an Defizitbeschreibungen des gegenwärtigen berufsschulischen Zustandes. Reformvorschläge, Kritik an der Unzulänglichkeit und Hinweise auf die Verbesserungsbedürftigkeit ihrer Arbeit, Krisenszenarien und Marginalisierungsprognosen sind der Berufsschule nicht fremd. Diese begleiten sie seit ihrer Konsolidierung in den 1920er Jahren (vgl. STRATMANN/SCHLÖSSER 1990; KIPP 2003). Das gilt auch für die Kritiken an nur unzureichenden Realisierungen von pädagogischen Innovationsvorschlägen.

Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik nimmt die Diskrepanz zwischen ihren normativen Konzeptionen und deren faktischen Umsetzungen durchaus zur Notiz, was aktuell in unterschiedlichen Beiträgen wie dem von Dieter EULER (1996), "Denn sie tun nicht, was sie wissen" oder dem von Ute CLEMENT (2002) über "Lernfelder im ‚richtigen Leben'" ihren Niederschlag findet. Dennoch obsiegt die Vorstellung davon, dass es einen "prinzipiell positiven Zusammenhang zwischen der Güte des Konzepts und der Art der gewählten Implementationsstrategie einerseits und den Erfolgsaussichten der Intervention andererseits" (REINISCH 2003, 8) gibt, vor der Frage nach den Gründen für die fehlende Anschlussfähigkeiten und Passgenauigkeiten selbst von noch so gut durchdachten und filigran ausgearbeiteten Handlungsempfehlungen zur Reformierung von Berufsschularbeit.
Was hat das alles mit dem Jubilar Willi BRAND zu tun?

In unseren Jahren am Hamburger Institut für Berufs- und Wirtschaftspädagogik (IBW) haben wir Willi BRAND als jemanden kennen gelernt, dem es weniger darum geht, vorschnell mit Handlungsempfehlungen und Programmatiken aufzuwarten, sondern zunächst nach dem Ausschau zu halten, was die Praxis bereits von sich aus schon leistet und wo hier Anknüpfungspunkte liegen, an die dann Reformvorschläge anschließen können. Ihm geht es auch immer um die Frage, warum etwas nicht funktioniert, wenn es nicht funktioniert und ob nicht das, was unverhofft doch funktioniert, nicht vielleicht sogar besser ist, als jene Konzepte, die vorschreiben, wie etwas funktionieren sollte. Weil wir Willi BRAND also als einen Kollegen wahrnehmen, der auch die Perspektive von unten einnimmt und versucht von hier aus die Dinge zu verstehen, bietet es sich an, in dieser Festschrift einen Ansatz vorzustellen, der beansprucht, organisationale Prozesse aus der Bodensicht zu analysieren.

2. Der intraorganisationale Blick in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik

Vorher holen wir ein wenig aus, um zu verdeutlichen, dass in der Berufs- und Wirtschaftspädagogik aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf organisationale Abläufe, das Handeln und die Strategien von Organisationsmitgliedern im Zuge von Umstrukturierungen fokussiert wird. REINISCH (2003, 7) weist in seiner kritischen Auseinandersetzung mit der aktuellen Lernfelddebatte darauf hin, dass "ein entsprechendes Forschungsprogramm [...] dazu führen [könnte], dass wir besser als bisher verstehen, warum didaktische Innovationen scheitern. Dies wurde nicht nur der Befriedigung unserer wissenschaftlichen Neugier dienen, sondern wir könnten auf diesem Wege zu Erkenntnissen gelangen, die es ermöglichen würden, bei der Planung der Intentionen, Anlagen und Implementation zukünftiger curricularer Reformvorhaben wahrscheinlich auftretende Probleme bereits zu berücksichtigen, um so das Risiko des Scheiterns zwar nicht auszuschließen, aber doch deutlich zu mindern" (ebd.). In eine solche Richtung gehen die Überlegungen von KUZMANOVIC (2003, 1) zur Analyse von Implementationsprozessen von Lernfeldern in Berufschulen, die explizit auf den mikropolitischen Ansatz rekurriert, auf dessen Grundlage am ehesten Fragen, wie: "woran liegt es nun, dass Anspruch und Wirklichkeit derart auseinander klaffen? Was macht die Implementation von neuen Konzepten [...] so schwierig?" (ebd.), nachgegangen werden könnte.

Um also Innovationsprozesse in Berufsschulen rekonstruieren und den Ursachen, warum Reformvorschläge nicht, teilweise oder anders umgesetzt werden als geplant, auf den Grund gehen zu können, bedarf es eines intensiven Blicks in das organisationale Geschehen (vgl. BÜCHTER/GRAMLINGER 2003). In der berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion spielt seit den 1970er Jahren vor allem die Frage der interorganisationalen Prozesse, beispielsweise in Form von Lernortkooperationen im Dualen System der Berufsausbildung oder in Form von Berufsbildungsnetzwerken, eine zunehmend bedeutende Rolle. Aber auch die Auseinandersetzung mit intraorganisationalen Prozessen wurde nicht gänzlich vernachlässigt. Thematisiert werden Fragen nach dem Akteurshandeln in Berufsschulen beispielsweise dort, wo es um Führung, Leitung und Autonomie von Berufsschulen geht (DUBS 1994; LISOP 1998; HASENBANK 2001), um Schulinnovations- (CAPAUL 2002) oder Schulentwicklungsprozesse (GERDS/LUND 2002; PHILIPP/ROLFF 1999; KLIPPERT 2000), um Organisationsentwicklung und Wissensmanagement an beruflichen Schulen (HUISINGA/LISOP 1999; BERCHTOLD/TRUMMER 2002; DILGER/KREMER 2002) oder um Teamarbeit im Kontext von Lernfeldern.

In den meisten thematisch so ausgerichteten Arbeiten wird auf die Notwendigkeit oder Realität von strukturellen Umbrüchen in Berufsschulen verwiesen und gezeigt, dass mit den organisationsstrukturellen und rechtlichen Veränderungen neue Anforderungen und Aufgaben an die in den Schulen Tätigen einhergehen, dass sach- und wissensbezogene Ressourcen neu verteilt werden oder werden sollen und dass sich Veränderungen und Verlagerungen von Kooperationsbeziehungen vollziehen oder notwendig werden, beispielsweise weil "Verbindungen, Anknüpfungen zu Praxisfeldern aber auch zu Fachdisziplinen herzustellen [sind], die wiederum dynamisch und immer wieder neu zu erschließen sind" (DILGER/ KREMER 2002, 149). Daneben gibt es Arbeiten, die die komplexen und widersprüchlichen Wahrnehmungen, Einstellung und Verhaltensweisen von Lehrern an beruflichen Schulen im Zuge von Strukturveränderungen thematisieren, beispielsweise um zu einer ordnenden Typologie zu gelangen. So kommt PÄTZOLD (1997) zu einer Typologie von Verständnissen von Akteuren im Kontext der Lernortkooperation (pragmatisch-formal, pragmatisch-utilitaristisch, didaktisch-methodisch, bildungstheoretisch) und KREMER/SLOANE (2001) gelangen zu der Differenzierung von vier Lehrerverhaltens-Typen (Sachbearbeiter, abwartend verwaltend, abwartend gestaltend, Trendsetter), die bei der Implementation von Lernfeldern deutlich geworden sind. Dies sind Beispiele dafür, "dass es ‚die' berufsbildende Schule nicht gibt und die Organisation ‚berufsbildende Schule' als sehr unterschiedlich eingeschätzt" (DILGER/KREMER 2002, 149) werden kann, dass es den Lehrer und das Reformverständnis nicht gibt. Was in solchen und ähnlichen Beiträgen zudem angesprochen wird, ist die Tatsache, dass der Alltag der Organisation Berufsschule nicht nach Plan verläuft, dass die dort Handelnden zwar an überindividuelle Ordnungen gebunden sind, die sie aber umgehen oder gar modifizieren können, dass selbst das Abweichende komplex und heterogen ist, dass es nie nur eine Sicht auf die Dinge gibt und dass nie gänzlich eliminierbare Mehrdeutigkeiten und Interpretationsspielräume in Programmatiken eine Grundlage für Eigensinn, Distanz, Konflikt beim Handeln in Organisationen sein können, die aber nicht per se kontraproduktiv sein müssen, sondern ebenso bestandswahrende Funktionen erfüllen können.

Die Frage, um die es hier geht, ist, ob formale Strukturanalysen und die Konfrontation ihrer Befunde mit normativen Standards letztlich nicht dazu führen, dass die berufsschulische, überaus komplexe Alltagsnormalität notorisch unterbelichtet und unterschätzt wird. Dabei ist diese berufsschulische Alltagskomplexität, die ihren Ausdruck beispielsweise nicht nur in strukturellen Eigenarten von Schulen, in unterschiedlichen Kulturen in Kollegien, in variierenden Relevanzzuweisungen externer Anforderungen, in heterogenen Wahrnehmungen, Einstellungen und Verhaltensweisen von Lehrern in Bezug auf ihr Aufgabenfeld findet, innerhalb der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zumal der letzten Jahre auf keinen Fall gänzlich vernachlässigt worden, aber ohne dass die informalen mikropolitischen Inter-Aktionen der Mitglieder, ihre "Spielchen", Taktiken, Strategien, Seilschaften, Resistenzen, ihre Genese und praktische Relevanz explizit zum eigentlichen Zentrum von Untersuchungen gemacht worden wären.
Die Untersuchung von formalen und sichtbaren Abläufen, die Beschreibung der Funktionen von Akteuren als Rollenträgern ebenso wie Konzepte zur Optimierung von Kooperationsbeziehungen und -prozessen stellen eine unentbehrliche, aber eben nur eine Seite des Problems dar. In ihrem inhaltlichen und praktischen Ertrag bleiben solche Unterfangen solange begrenzt, wie sie die mikropolitische Substanz, das Agieren auf der Hinterbühne, das Entscheiden über und Verhandeln und Umsetzen von Programmatiken und Reformen (unsichtbar) nicht thematisieren.

3. Politikhaltigkeit von berufsschulischen Organisationen

Der mikropolitische Ansatz, wie er in Deutschland besonders seit den 1980er Jahren entwickelt und rezipiert wird, hat seinen Anstoß aus einer zumindest doppelten Kritik an der Organisationstheorie bekommen. Die eine Kritik richtete sich gegen die organisationale Rationalität, wie sie in bürokratietheoretischen Ansätzen unterstellt wird. Organisationen seien keine monolithischen Einheiten und an die Stelle nur bürokratischer Entscheidungen träten Aushandlungsprozesse. Die andere Kritik richtete sich gegen die Wachstumsmodelle der Organisationstheorie, nach denen organisationale Ereignisse quasi als Folgen naturwüchsiger immanenter Triebkräfte gedeutet würden. Die mikropolitiktheoretische Kritik an beiden - sich gegenüber liegenden - Denkansätzen lief in dem Vorwurf der weitgehenden Abstraktion von der Politikhaltigkeit organisationaler Prozesse, von eigensinnigem Akteurshandeln, den Grenzen und Möglichkeiten seiner Durchsetzungen in Organisationen, von mehr oder minder konflikthaften Beziehungen, von interessengesteuerten Interaktionen und von ressourcenabhängigen offensichtlichen oder latenten Strategien, die die Mitglieder in Organisationen verfolgen, zusammen. Der mikropolitische Ansatz beansprucht einen theoretischen Zugriff auf Organisationen, der auf die Prozesse von Akteurshandeln und die politische Substanz von Organisationen fokussiert. Er begreift Organisationen als begrenzt rational steuerbare Gefüge "interessengeleiteter Interventionen, Aushandlungen, Konflikte mit jeweils nur temporären Problemlösungen" (TÜRK 1989, 122). Mit "Politik" ist hier also nicht die offizielle staatliche oder institutionelle, sichtbare und programmatische Politik, sondern die inoffizielle, unauffällige und ungeplante gemeint. Mit Ulrich BECK (1993, 162) könnte sie auch als "Subpolitik" umschrieben werden.

Als Begriff tauchte Mikropolitik erstmals bei Tom BURNS auf. Er hat Organisationen als soziale Systeme gefasst, in denen Menschen eigene Interessen verfolgen, miteinander wetteifern und zu diesem Zweck miteinander in Konkurrenz treten oder Koalitionen bilden. Dieses Verhalten nannte er politisch, das dadurch provoziert werde, dass neue Ressourcen materieller oder personeller Art auftauchen. Für BURNS war "micropolitics" ein "mechanism of institutional change" (BURNS 1962, 257). In Deutschland setzte sich erstmals ausführlich Horst BOSETZKY (1972/1980) mit dem Mikropolitikbegriff auseinander. Er versteht unter Mikropolitik "die Bemühungen, die systemeigenen materiellen und menschlichen Ressourcen zur Erreichung persönlicher Ziele, insbesondere des Aufstiegs im System selbst und in anderen Systemen, zu verwenden sowie zur Sicherung und Verbesserung der eigenen Existenzbedingungen" (BOSETZKY 1980, 154). Inzwischen haben sich eine Reihe als mikropolitisch verstehender Ansätze ausdifferenziert. Insbesondere Willi KÜPPER und Günther ORTMANN (1986; 1988), Klaus TÜRK (1989) und Oswald NEUBERGER (1995) haben in den letzten Jahren das Konzept der Mikropolitik weiter entwickelt und in die organisationstheoretische Diskussion eingebunden. Bezogen auf die Frage nach schulinternen Umstrukturierungen bietet die mikropolitische Betrachtungsweise den Vorteil, dass sie "Schule weniger als monolithische Organisation, in der sich alle Aktivitäten [...] an der Allgemeinen Bildungs- und Lehraufgabe orientieren, sondern als Feld, in dem verschiedene Handelnde die unterschiedlichsten Interessen verfolgen, die z. T. miteinander im Widerstreit stehen" (ALTRICHTER/POSCH 1996, 1).

Die mikropolitische Perspektive hat vor allem dann aufschlüsselnde Kraft, wenn Neuerungen eingeführt werden, herkömmliche Strukturen und Routinen aufgebrochen und in Frage gestellt werden, wenn unterschiedliche Personen ihre Meinungen zur Geltung bringen und ihre Vorstellungen umsetzen, Veränderungen mit beeinflussen, Kooperationsbeziehungen und Koalitionen bilden und Strategien entwickeln, um ihre Interessen durchzusetzen: Schulleiter, Abteilungsleiter, Lehrer, Schüler, Eltern, die Verwaltung, die Universitäten.

4. Grundannahmen und Kategorien des Mikropolitikansatzes

Im Folgenden werden bezogen auf die Frage nach Kooperationen in Berufsschulen die wesentlichen Grundannahmen und Zentralkategorien des Mikropolitikansatzes vorgestellt: "Quasi-Ordnung", "begrenzte Rationalität", "Macht, Ressourcen und Spiele".

4.1 Quasi-Ordnungen und die Labilität von Organisationen

Eine der zentralen Grundannahmen ist die der Dialektik von Struktur und Handlung, von Ordnung und Unberechenbarkeit. Danach folgt die Konstitution von Organisationen und die Implementation von Innovationen in beruflichen Schulen einerseits bestimmten vorab formulierten Vorgaben oder Leitlinien (wie im Kontext der Umstrukturierung von Berufsschulen zu Kompetenzzentren oder der Implementation von Lernfeldern), andererseits können diese Leitlinien durch Prozesse der Kooperation und Kommunikation, die im Zuge von Veränderungsprozessen in Organisationen stattfinden, modifiziert bzw. reformuliert werden.

Das heißt, der mikropolitische Ansatz negiert Strukturen in Organisationen bzw. Vorschriften und Regeln zunächst nicht und löst nicht das ganze organisationale Geschehen als permanent zu Verhandelndes oder Verhandeltes auf. Dass Organisationen Bestand haben, gegen Veränderungen geradezu resistent sein können, aber auch, dass in Organisationen trotz enger Vorgaben von außen, quasi an diesen vorbei, Neuerungen eingeführt werden, deutet aus mikropolitischer Sicht darauf hin, dass Strukturen, im Sinne von Ordnungen und Regelungen, nicht gleichbedeutend sind mit Zwang, sondern dass diese auch Handeln ermöglichen können. Dieses wurde in der Mikropolitiktheorie insbesondere unter Rekurs auf das GIDDENS'sche Theorem der "Dualität der Struktur" (GIDDENS 1988) postuliert.

Zum einen gibt es strukturbildende Fakten wie Schulgesetze, Rahmenlehrpläne, Stundenpläne, Dienstvorschriften, hausinterne Regelungen und eine Reihe weiterer selbst etablierter organisationsinterner Vorgaben, die an die Organisationsmitglieder Anforderungen stellen. Zwar lassen auch deren Auslegungen genügend Handlungsspielräume offen, aber nicht in dem Ausmaß, dass Beliebigkeit möglich wäre - diese wird nicht zuletzt durch unterschiedliche Sanktionen, die durch die Ignoranz von Ordnungen hervorgerufen werden, begrenzt. Dennoch lassen die formalen Bestimmungen so viel Raum, dass die Handelnden in schulischen Organisationen für bestimmte Handlungskonstellationen und Problemstellungen einen eigenen Ordnungsrahmen etablieren, der "Formen der sachlichen und sozialen Beherrschung in einem ziemlich genau abgegrenzten Geltungsbereich [...] [reflektiert] und [...] aus einem Ensemble von Prämissen, Regeln und Normativen [besteht]" (BRACZYK 1997, 552f.). Sätze von Schulleitern oder Lehrern wie, "bei uns ist das so", "diese Schule versteht sich als...", "wir haben ein Team, und in diesem gilt", "wir haben festgestellt, das geht am besten, wenn wir uns öfters treffen...", weisen auf schulspezifische Ordnungsrahmen hin. Solche Ordnungsrahmen ermöglichen bei Neuerungen eine Verständigung über Aufgaben und Ziele, tragen auch dazu bei, dass Wissen über Sachverhalte vorausgesetzt werden kann, zeigen Entscheidenden und Handelnden bestimmte Richtungen auf, können es auf der anderen Seite aber auch erschweren, auf andere Möglichkeiten von Handeln und Handlungskonstellationen auszuweichen. Ordnungsrahmen bergen also auch das Risiko, sich darin niederzulassen, das hieße dann unter Umständen etwa, dass nur so viel wie nötig und so wenig wie möglich kommuniziert und kooperiert wird. Hierdurch könnte die für Reformen notwendige Dynamik eingedämmt werden. Ordnungsrahmen können dann noch insofern einen legitimatorischen Wert haben, als mit ihnen Unterlassungen begründet werden: So können sachlogisch formulierte Sätze, wie: "wir verstehen uns hier nicht als..." oder "wir haben das schon ein paar Mal versucht, das kommt hier nicht an...", "das lassen wir, das gibt nur Ärger...", "so etwas geht hier nicht...", Verweigerungen der Arbeit entschuldigen.

Aber auch in solchen Fällen gibt es unterschiedliche Optionen, in Organisationen mit Ordnungen und Regeln umzugehen. Sie sind keine "objektiven Faktizitäten", keine dem Handelnden völlig fremd gegenüber stehenden Gerüste, sondern indem sie ihren Wert nur und erst durch das Erfahrungswissen und das Handeln der Akteure erhalten, sind sie eng mit dem Handeln verwoben. Insofern Strukturen, Ordnungen und Handeln quasi dialektisch miteinander verbunden sind, haben erstere keinen reinen Zwangscharakter.
Dass Ordnungen und Vorgaben in das Handeln der Organisationsmitglieder und der kooperierenden Akteure eingeschrieben sind, wie eine Laufzeile sich durch den Vorgang des Entscheidens bzw. der Wahl von Handlungen in Kooperationen zieht, dass diese aber vorläufig keine reale, materielle Existenz haben, sondern nur - wie GIDDENS meint - virtuelle und sich erst in "Erinnerungsspuren" (wie etwas gemacht werden muss) und sozialen Praktiken konkretisieren, öffnet den Blick dafür, Strukturen und Vorgaben nicht als verdinglicht zu betrachten. "Struktur ist den Individuen nicht ‚äußerlich': in Form von Erinnerungsspuren und als in sozialen Praktiken verwirklicht, ist sie in gewissem Sinn ihren Aktivitäten eher ‚innwendig' als ein [...] außerhalb dieser Aktivitäten existierendes Phänomen" (GIDDENS 1988, 77).

Die Kritik an der GIDDENS'schen Theorie richtet sich in erster Linie gegen die vermeintliche Überhöhung von Handlungsmöglichkeiten in Organisationen (vgl. NEUBERGER 1995, 300), andererseits öffnen die Überlegungen den Blick dafür, dass formale Vorgaben und explizite Vorschriften nicht die einzigen Handlungsregulative in Organisationen sind.

4.2 Begrenzte Rationalität und die Unberechenbarkeit im Organisationshandeln

Die begrenzte Rationalität in Organisationen - eine Zentralkategorie der Mikropolitik, bei der an SIMONS Konzept der "bounded rationality" (SIMON 1945) gedacht ist - führt unweigerlich dazu, dass Situationen und Anforderungen komplex und mehrdeutig sind. Sie resultiert daraus, dass Ziele und Anforderungen nicht eindeutig definiert werden (können), die Organisationsmitglieder nicht alle Handlungsoptionen und möglichen Folgen überblicken und weniger danach handeln, wie die Dinge "sind", als danach wie sie wahrgenommen werden. Die Mitglieder in Organisationen bzw. die Akteure von Reformvorhaben nehmen stets "unterschiedliche Perspektiven auf das Geschehen ein [...] und [haben] sehr unterschiedliche ‚Weltausschnitte' der Organisationswelt vor Augen" und nehmen die Dinge so wahr, "wie sie sie wahrnehmen wollen" (ORTMANN 1989, 3f.). Insofern das Ganze nicht eindeutig ist, einzelne Organisationsmitglieder mit unterschiedlichen Lösungen für unterschiedlich wahrgenommene Probleme aufwarten, eine Vielzahl an unterschiedlichen Rationalitäten aufeinander treffen können, die nicht immer harmonieren, besteht ständig ein zumindest latentes Konfliktrisiko und die Gefahr der Destruiertheit ebenso wie die Chance der Neukonstruktion bzw. Erweiterung von Anforderungen und Zielen in Innovationsprozessen. Die gefundenen Lösungen sind stets prekär und häufig temporär.

In verschiedenen sequenziellen, parallelen, offensichtlichen oder für andere nicht sichtbaren "bargainings" werden Ziele und Aufgaben neu gefunden oder bestätigt. Einen entscheidenden Impuls für die Theorie der Mikropolitik stellte das so genannte "Mülleimer-Modell" (COHEN/MARCH/OLSEN 1972) oder der organisationstheoretische Ansatz der "organisierten Anarchie" dar. Grundannahme ist, dass Handeln in Organisationen nicht auf präzisierte Ziele gerichtet ist, dass weder Einigkeit im Hinblick auf das Problem noch auf die anzuvisierende Lösung und einzusetzenden Mittel besteht. "Um die Prozesse in Organisationen zu verstehen, kann man eine Entscheidungsgelegenheit als einen Mülleimer sehen, in den die Teilnehmer verschiedene Arten von Problemen und Lösungen [...] kippen. Das Mülleimergemisch in einem einzelnen Eimer hängt ab von der Mischung verfügbarer Eimer, von der Art des gegenwärtig produzierten Mülls und von der Geschwindigkeit, mit der Müll gesammelt und vom Ort des Geschehens entfernt wird" (ebd., 2). DUBS ist der Auffassung, dass "dieses Modell die schulische Realität treffend [beschreibt]" (1994, 149). Zu fragen ist jedoch mit HASENBANK (2001), ob mit diesem Modell die (bürokratischen) Strukturen und schulintern geschaffenen Ordnungen nicht verharmlost werden und Handeln in Schulen mit "Unvernunft" zusammenfällt.

Der mikropolitische Ansatz hingegen geht nicht von einer demontierten Rationalität aus, sondern begreift sie immer nur als begrenzt. Das bedeutet, dass nicht alles chaotisch und unvernünftig verläuft, der Akzent liegt vielmehr auf Mehrdeutigkeit, die zu Aushandlungen auffordert. In der Organisationstheorie, auch jenseits mikropolitischer Ansätze, kursieren unterschiedliche Formulierungen für Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten in Organisationen. Amatai ETZIONI spricht von dem "organisationale[n] Dilemma" (zit. n. SCOTT 1986, 186) und meint damit "[...] die zwar reduzierbaren, aber nicht eliminierbaren unvermeidlichen Spannungen zwischen organisationalen Erfordernissen und persönlichen Bedürfnissen, zwischen Rationalität und Nicht-Rationalität, zwischen Disziplin und Autonomie, zwischen formellen und informellen Beziehungen". ZÜNDORF/GRUNT (1982) brachten den Begriff von "pluralistischen" Organisationen ins Spiel. "Das pluralistische Modell betrachtet Organisationen als komplexe und heterogene Gebilde, deren relevante Differenzierungsachse nicht nur organisatorisch, sondern darüber hinaus auch gesellschaftlich, kulturell und politisch bedingt sind und sich daher der völligen internen Kontrolle und (Um-)Gestaltung durch Führungsgremien entziehen" (ebd., 22), von einem "Netzwerk unterschiedlicher Koalitionen", einer zweiten "locker gewebte[n] Realitätsschicht über der "dicht gewebten Schicht formaler Organisationsstruktur" (ebd.).

Grenzen der Rationalität und pluralistische Organisationen schränken auch die Wirksamkeit von Konzepten des "Wissensmanagements", die bei der Unterstützung von Innovationsprozessen wirksam sein sollen, ein. Denn auch hierbei verfügen die Mitglieder, die Wissen "managen", bewahren und verteilen sollen, über unterschiedliche Ausschnitte dieses Wissens. Es treffen unterschiedliche Wahrnehmungen und subjektive Relevanzen aufeinander. Was beispielsweise nach oben, nach unten, nach außen weiter gegeben wird, lässt sich nur begrenzt steuern und ist in erster Linie Ergebnis von dem, was die einzelnen "mitbekommen" haben sowie von interessengeleiteten Deutungs- und Selektionsprozessen, die für andere nicht immer transparent sind und auch nicht vollständig transparent gemacht werden können. Wissen wird selten unverzerrt weitergegeben, die Wissenszirkulation verläuft nicht ohne Gerinnsel in den Leitungen, ohne unnötige Umwege, ohne dass zwischendurch etwas verloren geht oder Neues, manchmal nicht Gewünschtes hinzu kommt: "Jede Wissensweitergabe bringt Streuverluste; zudem müssen die Informationen rechtzeitig im Entscheidungszentrum anlangen, aufbereitet sein (komplexitätsreduziert, vereinfacht, verfälscht?), damit sie weiterverarbeitet werden können. Solange eine Person einen Sendekanal belegt, kann eine andere ihre Informationen nicht weitergeben - und oft werden Kanäle mit Redundanz überlastet" (NEUBERGER 1995, 174). Bedeutsam für den Prozess von Wissenszirkulation ist nicht nur die potenzielle Gefahr von Wissensverlust und -streuung, sondern auch die Tatsache, dass die Akteure "affektiv vernetzt oder gar verstrickt [sind]. Die Qualität der konkreten sozialen Beziehungen spielt eine erhebliche Rolle bei der Frage, ob und welche Informationen wie weitergeleitet und interpretiert werden" (ebd.).

4.3 Macht, Ressourcen und Spiele - der Rohstoff in Organisationen

Der prinzipiell prekäre Zustand von Strukturen bzw. Ordnungen und die begrenzte Rationalität des Handelns in Organisationen führt aus mikropolitischer Sicht zu der Annahme, dass Handeln nicht einfach der Einsicht in die Notwendigkeit und der Anerkennung von Sachzwängen folgt. M.a.W. nicht einfache Sachaspekte sind Anstöße für Innovationen, sondern Machtinteressen der Organisationsmitglieder beeinflussen und steuern Kommunikations- und Kooperationsprozesse maßgeblich mit. Dabei wird Macht nicht als etwas grundlegend Negatives, als etwas Auszuschaltendes begriffen, sondern als ein alltägliches Element in menschlichen Beziehungen und sozialen Systemen. Macht, nach GIDDENS, ist "Ermöglichung" und "Restriktion" zugleich: "Macht als solche ist kein Hindernis für Freiheit und Emanzipation, sondern deren Medium - freilicht wäre es töricht, den ihr eigenen Zwangscharakter zu ignorieren" (GIDDENS 1988, 230).

Besonders die Auseinandersetzung von CROZIER/FRIEDBERG (1979) mit "Macht in Organisationen" galt der mikropolitischen Theoriebildung als Referenzliteratur. Für sie ist Macht ein alltäglicher Bestandteil in sozialen Prozessen, eine "vitale, nicht aus der Welt zu schaffende Tatsache, von der unser Denken ausgehen muss" (CROZIER/ FRIEDBERG 1979, 276). Macht bedeutet für sie eine Voraussetzung für Handeln, Interessendurchsetzung und Wahrung von Subjektivität in Organisationen: "Macht zum Verschwinden bringen heißt im Grunde nichts anderes, als die Autonomie der Akteure aus der Welt zu schaffen" (ebd., 18). Insofern muss "jede ernstzunehmende Analyse kollektiven Handelns [...] Macht in das Zentrum ihrer Überlegungen stellen, denn kollektives Handeln ist im Grunde nichts anderes als alltägliche Politik. Macht ist ihr ‚Rohstoff'" (ebd., 14).

Eine Organisation sei "letzten Endes nichts anderes als ein Gebilde von Konflikten und ihre Funktionsweisen das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen kontingenten, vielfältigen und divergierenden Rationalitäten relativ freier Akteure, die die zu ihrer Verfügung stehenden Machtquellen nutzen" (ebd., 56f.). Der Prozess der Implementation von Reformkonzepten in der Organisation Berufsschule wäre demzufolge zumindest latent konflikthaft, von mehr oder minder vagen Zielbestimmungen, zu verhandelnden Aufgaben, temporären Lösungen, deren Akteure daran interessiert sind, ihre Machtquellen zu vergrößern, Machtressourcen zu sichern und anzuhäufen, bestimmt.

CROZIER/FRIEDBERG (1979, 50) haben vier große Machtquellen unterschieden (siehe auch Abbildung 1):

a) die Beherrschung eines spezifischen Sachwissens,
b) Beziehungen zwischen der Organisation und ihrer Umwelt,
c) Kontrolle von Informationen und Kommunikationskanälen und
d) Kenntnisse der vorhandenen organisatorischen Regeln.

Das Verfügen über Machtquellen in kooperativen Beziehungen und Prozessen kann als wesentliche Voraussetzung dafür gelten, eine (neue) Zielrichtung von Organisationen und Leitbildern einzuschlagen oder zu blockieren.


Abb. 1: Die vier wesentlichen Machtquellen nach CROZIER/FRIEDBERG (1979)

Die zur Nutzung von Machtquellen relevanten autoritativen und materiellen Ressourcen (vgl. GIDDENS 1988, 316) sind innerhalb einer Organisation und je nach Konstellation auch in Reformprozessen unterschiedlich verteilt. Über autoritative bzw. formale Ressourcen verfügen in schulischen Organisationen Inhaber diensthöherer Positionen (Schul- und Abteilungsleiter), die in Entscheidungsprozessen von hoher Bedeutung sind. "Formelle Positionen in der Organisation haben Vorteile bei der Situationskontrolle, weil ihnen gleichzeitig mit der Position auch meist ein Spielraum bei der Gestaltung von Verfahren zugestanden wird. Beispielsweise obliegt Direktoren üblicherweise die Sitzungsleitung von Lehrerkonferenzen. Allein durch die Wortwahl der Formulierung von Anträgen, durch die Wahl des Zeitpunktes von Abstimmungen oder durch die Delegierung von Aufgaben und Arbeitsgruppen, durch Besetzungsvorschläge für Positionen und Arbeitsgruppen bieten sich wichtige Einflussmöglichkeiten" (ALTRICHTER/SALZGEBER 1996, 105).

Aber auch jene, die über wichtige Kontakte nach außen oder über bestimmte, für die Innovationsfähigkeit der Organisation unentbehrliche Kenntnisse verfügen, die kaum ein anderes Organisationsmitglied besitzt, haben entscheidende Machtressourcen. Diese können ihre Ressourcen dann sogar dazu nutzen, zu definieren, was als legitimes Problem gilt. "In manchen Fällen kann die Definitionsmacht über die Themen der öffentlichen Diskussion bis zu einer Art kultureller Hegemonie einer Teilgruppe über die Denkformen und -inhalte der Organisation führen" (TÜRK 1989, 140). Mikropolitik in Organisationen wird dann zu einem strategischen Spiel.

In der mikropolitiktheoretischen Auseinandersetzung hat die Spielmetapher eine entscheidende Bedeutung. NEUBERGER (1995) setzt sogar Spiel und Mikropolitik synonym (vgl. 82), betont aber explizit, dass er damit den Ernst des organisationalen Geschehens nicht überspielen will (ebd., 81). Mit der Spielmetapher ist gesagt, dass es Spielräume des Handelns, erfundene und verhandelte Regeln gibt. Das Spielen in Organisationen bedeutet nicht das rücksichtslose Gegeneinander von Egoisten. Die individualisierende Sichtweise würde eine Organisation in Anarchie und Fragmentierung zerfallen lassen. Das Spielen in Organisationen setzt soziale Arrangements - "mikropolitische Kooperationen" - voraus, damit werden Handelnde in ihren Kontexten gesehen. Für CROZIER/FRIEDBERG (1979) ist das Spiel der Integrationsmodus, der Kitt in Organisationen. Spiele können fair, ungerecht, asymmetrisch etc. sein. Mauscheleien, Flirt, sich durch Ressourcen unentbehrlich machen, mit Dingen nicht herausrücken, Ergebnisse "frisieren", Verleumdung, Tratsch, Informationsfluss kontrollieren und beeinflussen, Bluffen, Bummeln, etc. können Taktiken in den verschiedenen Spielen sein. So kann das bewusst inszenierte Zu-Spät-Kommen zu wichtigen Treffen der Kooperationsmitglieder ein Versuch sein, die mangelnde Relevanz der Sitzung zu demonstrieren; der Gruppe den Rücken zukehren und Sätze wie "ich sag jetzt gar nichts mehr" sollen andere zum Hofieren auffordern und dazu, ihre Solidarität kund zu tun.

ORTMANN differenziert zwischen Routine- und Innovationsspielen (vgl. ORTMANN 1989, 6). Routinespiele wie das erwähnte ständige Zu-Spät-Kommen einer einzelnen Person oder das unentwegte Tuscheln zweier Kollegen auf einer Sitzung, das chronische Verweigern einer Sekretärin, beim Tippen die Formatvorlage zu nutzen, mögen an den Organisationsstrukturen substantiell zunächst nicht viel ändern; dies geschieht dann, wenn Innovationsspiele gespielt werden: "Der mikropolitische Witz der Innovationsspiele liegt nun darin, dass ihr Inhalt gerade darin besteht, die Routinespiele zu verändern und zu reorganisieren, mit dem prekären Effekt, dass dieses zarte Gewebe der Routinespiele zerstört oder doch zumindest gefährdet wird" (ebd., 7). Innovationsspiele können aus inszenierten oder informellen Beziehungen resultieren, neue erfordern, andere fallen lassen. Wie erfolgreich Innovationsspiele sind, hängt von den sie tragenden Handlungskonstellationen ab. In denen es - wenn das Spiel offensichtlich ist - nicht unwesentlich um die Frage geht, ob die Innovation die eigenen Machtressourcen gefährdet oder erweitert.
ALTRICHTER/SALZGEBER (1996) sehen als Anlässe für schulische Innovationsspiele "alle Veränderungen der Definition der Organisation, ihrer Regeln und Ressourcen, die die Handlungsmöglichkeiten der Organisationsmitglieder verändern. Die Abwehr oder Durchsetzung von Innovationen, die von den grand social dramas (wie z.B. die Zusammenlegung von zwei Schulen) bis hin zu geringfügigen alltäglichen Episoden (wie z.B. die Zuteilung eines Platzes im Konferenzzimmer an eine junge Lehrerin) reichen können, können eine Bedrohung der einmal etablierten sozialen Ordnung sein, zu verstärkten Abstimmungs- (d.h. sowohl Abwehr- als auch Chancennutzungs-)Aktivitäten führen und so Strukturen und Macht in Organisationen sichtbar machen" (114f.).

5. Methodischer Ausblick

Der mikropolitischen Ansatz zur Analyse von intraorganisationalen Prozessen hat sich erst dann bewährt, wenn die zentralen Kategorien bezogen auf zu untersuchende praktische Fälle konkret ausdifferenziert werden, wenn ein mit dem Ansatz kompatibles empirisch-methodisches Instrumentarium entwickelt und angewandt worden ist. Das führt aber zunächst zu der Frage, wie sich dieser Ansatz methodisch umsetzen lässt, welche Fragen, Voraussetzungen und Forschungsprozesse reflektiert werden müssen. Die Übersetzung dieser Theorie in eine empirische Prozessanalyse erweist sich als hochkomplex, insbesondere wenn man es mit NEUBERGER hält: "Ich verwende Mikropolitik im Sinne einer Betrachtungsweise, die die unterschwellige Feinstruktur in den politischen (Inter-)Aktionen der Akteure aufzudecken versucht" (NEUBEGER 1995, 15). Mikropolitische Prozessanalysen in Organisationen, die alles überziehende (perforierte) Decke der Struktur, die Identifizierung und Rekonstruktion der Akteure, ihrer Interessen, ihrer Ressourcen, ihrer Strategien und Taktiken und nicht zuletzt die nicht-intendierten Nebenwirkungen und praktischen Folgen lassen sich nur qualitativ (z.B. anhand von qualitativer Fallanalysen und Prozessbegleitungen, von teilnehmender Beobachtung, Interviews und Gruppendiskussionen) erforschen - und zwar ohne Defizitorientierung und normative Ansprüche.
In Anlehnung an BOGUMIL/KIßLER (2003) lassen sich folgende Fragen auflisten, die für empirische mikropolitische Organisationsanalysen - unabhängig von konkret zu untersuchenden spezifischen Prozessen - forschungsleitend sind:

1. Wer gehört zu den Akteuren im Veränderungsprozess? Wer ist Agierender oder Betroffener, wer sind Spieler, Ersatzspieler und Zuschauer?
2. Welche Strategien verfolgen die Akteure und die Betroffenen? Welche Interessen haben sie jeweils, über welche Machtressourcen verfügen sie?
3. In welchen Phasen des Veränderungsprozesses (Regelsetzung, Regelinterpretation, Regelumsetzung) agieren die verschiedenen Akteure und was bedeutet dies für ihre Durchsetzungsfähigkeit und damit für den Spielstand?
Schließlich geht es dann auch um die Ergebnisse, d.h. um die Frage, in welcher Weise mikropolitische Prozesse den Reformanspruch umgesetzt, redefiniert und modifiziert haben und wo Brüche, Weichenstellungen, Barrikaden oder auch Antriebe in Prozessen berufsschulischer Veränderungen sind.

 

Literatur:

ALTRICHTER, Herbert/POSCH, Peter (Hrsg.) (1996): Mikropolitik der Schulentwicklung. Förderliche und hemmende Bedingungen für Innovationen in der Schule. Innsbruck.

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