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Mehr als ein Editorial:
DEN MENSCHEN VERPFLICHTET
Dimensionen berufs- und wirtschaftspädagogischer
Reflexion
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Wenn man den Adressaten dieser Festschrift vor einem Jahr
gefragt hätte, mit welcher Wahrscheinlichkeit er annehmen
würde, eine solche gewidmet zu bekommen, hätte er
wohl mit dem Kopf geschüttelt und gesagt: Die Wahrscheinlichkeit
ist 0. Warum aber sollten wir ihm, gerade ihm, nicht eine
Festschrift widmen? Drei Gründe hätte es für
den Verzicht gegeben: Er "hätte sie nicht verdient",
Festschriften sind "out", er würde sie nicht
wollen.
Nun gibt es keinen objektiven Maßstab für die Verdienste
eines Hochschullehrers. Er ist Wissenschaftler und Lehrer
zugleich; dass er seinen Part in der Selbstverwaltung mit
zu tragen hat, versteht sich ohnehin. Bei der Gelegenheit
sei erwähnt, dass wir dem gegenwärtigen Geschäftsführenden
Direktor des Instituts für Berufs- und Wirtschaftspädagogik
diese Festschrift widmen. Wissenschaftler werden oft an der
Fülle ihrer Veröffentlichungen und an der Reputation
der jeweiligen Fachblätter gemessen. Die Bibliografie
ist vergleichsweise schmal; sie mag so um die 20-30 Bücher
und Aufsätze umfassen. Aber WILLI BRAND hat nicht für
seine Qualifikation geschrieben, er war mit 34 Jahren Professor
an der Universität Hamburg geworden und hatte damit sein
Berufsziel erreicht. WILLI BRAND hat geschrieben, wenn ihm
eine Botschaft wichtig und diese so ausgereift war, dass es
ihm sinnvoll erschien, sie anderen mitzuteilen. Er hat sich
Aufsätze nie leicht gemacht. Immer musste er sorgfältig
recherchieren, die Argumente wägen, die Aussagen prüfen.
Die Formulierungen flossen ihm nicht aus der Tastatur, sie
waren das Produkt intensiven Nachdenkens und Abwägens.
Dabei sind sie nicht spröde ausgefallen, sondern klar
und präzise: Stringent in der Gedankenführung, nüchtern
in der Sprache, oft nicht ohne eine Spur Humor - und alles
"auf den Punkt gebracht".
WILLI BRAND hat sich dem didaktischen Konzept der Handlungsorientierung
verschrieben. Das war schon in der Dissertation angelegt,
das durchzog das von ihm geleitete Forschungsprojekt "Neue
Büroberufe" (1991 - 1995), das war didaktischer
Kern des Forschungs- und Entwicklungsprojektes wie des anschließenden
Transferprojektes "Ganzheitliche berufliche Rehabilitation:
Handlungsorientierte Gestaltung von Lernsituationen in Berufsförderungswerken"
(1996 - 2002). Das ist auch sein Credo für die Lehrveranstaltungen
an der Universität Hamburg: Handlungsorientiert müssen
sie sein. Studierende sollen nicht etwas erzählt bekommen,
was sie fleißig notieren und nachvollziehen können;
sie sollen aktiv an der Gestaltung von Lernsituationen teilhaben,
an der Universität wie im Berufsschulunterricht. WILLI
BRAND hat maßgeblich dazu beigetragen, ein Konzept von
"Handlungsorientierung" zu entwerfen, das pragmatisch
für die Gestaltung derartiger Lernsituationen nicht nur
an Berufsförderungswerken, nicht nur an Einrichtungen
zur beruflichen Rehabilitation behinderter Menschen, sondern
umfassend an Berufsbildungseinrichtungen eingesetzt werden
kann. Dieses Konzept, dieses Credo, diese Authentizität
prädestinieren ihn auch für sein Faible, als Botschafter
der Wirtschaftspädagogik in Staaten des Nahen und Fernen
Ostens zu wirken.
Festschriften sind eine Würdigung der gemeinten Person.
Sie sind nicht aus der Mode gekommen. Sie werden es auch nicht,
solange es Schüler, Mitstreiter und Freunde gibt, die
mit einer eigenen Leistung die Leistung eines Menschen würdigen
wollen, der ihnen etwas bedeutet. Der Leser wird in dieser
Festschrift viele Beiträge finden, die direkt an das
Lebenswerk WILLI BRANDs anknüpfen und zum Ausdruck bringen,
was sie von ihm gelernt, mit ihm gestaltet und manchmal auch
durchlitten haben. Dass diese Festschrift auch die Leistungsfähigkeit
und Kollegialität des Instituts für Berufs- und
Wirtschaftspädagogik an der Universität Hamburg
spiegelt, sei nicht verschwiegen; WILLI BRAND wird sich gerade
darüber besonders freuen. Zu seinen liebenswürdigen
Eigenschaften gehört die Bescheidenheit. Er wäre
der Letzte, der von seinen Kollegen und Freunden erwartet
hätte, ihm eine Festschrift zu widmen. Vielleicht hat
gerade das uns bewogen, es zu tun.
Der Titel dieser Festschrift, "Den Menschen verpflichtet",
steht nicht nur für das soziale Engagement Willi Brands,
sondern auch für seine Botschaft in Forschung, Lehre
und Hochschulpolitik. Unter diesem Titel haben seine Freunde
und Kollegen Beiträge zu verschiedenen Themenfeldern,
die den Interessen- und Arbeitsschwerpunkten von WILLI BRAND
entsprechen, und die die Breite und zugleich den inneren Zusammenhang
seines Oeuvres erkennen lassen, geschrieben und zeigen damit
- deshalb der Untertitel dieser Festschrift - "Dimensionen
berufs- und wirtschaftspädagogischer Reflexion"
auf.
Den ersten Teil, Berufsbildung und Berufsbildungspolitik,
beginnt Günter KUTSCHA mit einem Beitrag über integriertes
Lernen aus bildungstheoretischer und bildungspolitischer Perspektive.
Sein Ziel ist es, im problemgeschichtlichen Rekurs eine Systematisierung
von Differenzen integrierten Lernens zu entfalten. Zentraler
Bezugspunkt des Aufsatzes von Stephan STOMPOROWSKI und Martin
KIPP über ideengeschichtliche Aspekte der Produktionsschulentwicklung
ist die Staatsexamensarbeit von WILLI BRAND aus dem Jahre
1969. Weniger um institutionenübergreifende Berufsbildungspolitik,
sondern vielmehr um berufsschulische Binnenpolitik geht es
in dem Aufsatz von Karin BÜCHTER und Franz GRAMLINGER,
die das Konzept der Mikropolitik als einen theoretischen Ansatz
zur Analyse organisationaler Prozesse im Kontext von Implementationen
berufsschulischer Reformen vorschlagen. Martin Henning MEIER
und Günther SPRETH geht es darum, Kriterien für
die Beschreibung beruflicher Bildungssysteme im nationalen
und internationalen Kontext zu diskutieren.
Das Themenfeld Curriculare Modernisierung und neue Technologien
wird von Tade TRAMM und Lothar REETZ eingeleitet. Aus curricularer
Perspektive setzen sich die Autoren kritisch mit Begründungen
und Zielen bildungspolitischer Forderungen nach lebenslangem
Lernen auseinander und fragen unter anderem nach dem Verhältnis
von allgemeinem und beruflichem Lernen und von Berufsausbildung
und Weiterbildung. E-Learning ist der Gegenstand des Beitrags
von Gerhard ZIMMER. Er diskutiert das Thema: Lerninhalte für
das E-Learning unter den drei Aspekten Didaktik, inhaltliche
Aufbereitung und pädagogische Infrastruktur. Karin REBMANN
und Walter TENFELDE gehen am Beispiel eines internetgestützten
Hochschulseminars der Frage nach dem "hochschuldidaktischen
Mehrwert" von E-Learning nach. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung
von Jens SIEMON steht die Modellbildung als zentrales Handlungsfeld,
wie sie mit den aktuellen Rahmenlehrplänen der IT-Berufe
vorgeschlagen wird. Thomas VOLLMER beleuchtet die Entwicklung
des Berufsbildungsziels Befähigung zur Mitgestaltung
des technologischen Wandels für produktionstechnische
Berufe. Diesen Teil abschließend skizziert Sandra STEINEMANN
auf der Grundlage von ersten Ergebnissen des BLK- Modellversuchs
CULIK unter anderem eine Strategie zur Umsetzung des Lernfeldkonzepts.
Den inhaltlichen Block Didaktische Überlegungen und
Konzepte eröffnet Fritz KATH mit dem Thema: Lernstrategien
sind keine Unterrichtsstrategien. Hierbei steht die Taxonomie
der Lernstrategien nach Gagné im Vordergrund. Sabine
BAABE-MEIJER befasst sich mit den Differenzen von Berufsfelddidaktik,
Berufsfeldwissenschaft und Bereichsdidaktik Bau-Holz-Farbe
vor dem Hintergrund der Neuordnung des Maler- und Lackiererberufs.
Heinrich MEYER stellt in seinem Beitrag zielgruppenbezogene
Überlegungen zu einem handlungsorientierten didaktischen
Konzept für ein Schülerbuch der Volkswirtschaftslehre
für die Berufsfachschule an. Um eine Rückschau auf
die Entwicklung von Prüfungen für die Büroberufe
seit ihrer Neuordnung Anfang der 1990er Jahre geht es den
Autoren Jürgen BISCHOFF und Klaus WICHER.
Der letzte Teil widmet sich dem Themengebiet Berufliche
Rehabilitation und Weiterbildung. Zunächst betrachtet
Wolfgang SEYD auf der Basis von Erkenntnissen aus zwei Forschungs-
und Entwicklungsprojekten, die er gemeinsam mit WILLI BRAND
durchgeführt hat, die Situation der Rehabilitationseinrichtungen,
ihre Entwicklungschancen und -voraussetzungen. Daran anschließend
fragt Klaus STRUVE aus dem Blickwinkel der Verbesserung von
"Berufs- und Lebensperspektiven Behinderter" nach
Interessen, Motiven und Handlungsmöglichkeiten im Schnittbereich
von Behinderten- und Berufspädagogik. Einen Problemaufriss
über Stellenwert und Perspektiven der Berufsförderungswerke
nach Inkrafttreten des Neunten Buches des Sozialgesetzbuches
(SGB IX) liefert Ulrich WITTWER in seinem Beitrag. Dieser
Themenblock schließt mit dem Aufsatz von Reiner EGGERER,
Arbeit ist Lebensinhalt, in dem der Autor für eine neue
Sichtweise von Arbeit vor dem Hintergrund veränderter
Arbeitsmarktbedingungen plädiert.
Nicht nur die freundschaftliche und kollegiale Verbundenheit,
sondern auch die unterschiedlichen inhaltlichen Ausrichtungen
und Blickwinkel der einzelnen Beiträge haben zum Gelingen
dieser Festschrift beigetragen. An dieser Stelle möchten
wir uns herzlich bei den Autorinnen und Autoren bedanken.
Dass wir dem Jubilar seine Festschrift als erste Ausgabe eines
neuen Formats von bwp@ - als "Profil 1" - präsentieren,
passt in besonderer Weise zu ihm, der für technische
Entwicklungen immer aufgeschlossen war und ist. Vor und nach
seinem 60. Geburtstag!
PROFIL 1 ist - zumindest unseres Wissens nach und in "unserer
Zunft" - eine Novität: Die erste digitale Festschrift
für einen Berufs- und Wirtschaftspädagogen, die
wir ihm zwar nicht in gebundener Form überreichen, die
ihn aber in virtueller Form überall hin begleiten kann,
wo es einen Online-Zugang zum Internet gibt; und wenn das
einmal nicht der Fall sein sollte, dann hat er PROFIL 1 auch
auf einer CD ("der" bwp@ Profil 1 CD) - seinen Laptop
hat WILLI BRAND ja ohnehin immer dabei. Wir hätten schwer
einen Adressaten finden können, zu dem PROFIL 1 besser
gepasst hätte als zu WILLI BRAND - das macht diese Ausgabe
und die Arbeit daran gleich noch einmal so schön!
So lässt sich denn zusammenfassend feststellen, dass
WILLI BRAND diese Festschrift (mehr als) verdient hat, wir
mit dieser Aktion eine nach wie vor sinnvolle akademische
Tradition pflegen, auch davon ausgehen können, dass der
Jubilar diese Gemeinschaftsaktivität nicht schmähen
wird. Zudem wollen wir die Nebeneffekte einer derartigen Aufsatzsammlung
nicht aus den Augen verlieren: Das Institut für Berufs-
und Wirtschaftspädagogik stellt sich dar, wir bieten
einen aktuellen Einblick in derzeit relevante Forschungsthemen
und didaktische Fragestellungen, und nicht zuletzt haben wir
viel Freude an der Erstellung gehabt, was wir auch von den
angesprochenen Autoren sagen können, denn die waren allesamt
spontan entschieden, sich zu beteiligen.
Alles Gute wünschen und herzliche Glückwünsche
überbringen, lieber WILLI, stellvertretend für alle
Mitautoren
Karin Büchter,
Franz Gramlinger,
Wolfgang Seyd und
Tade Tramm
Hamburg, den 29.09.03
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