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Integriertes Lernen - eine bildungstheoretische und
bildungspolitische Herausforderung
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"Manche von Euch reformieren Schulen,
andere verändern Kirchen,
wieder andere Staaten.
Wenn Ihr jedoch nicht zugleich alles reformiert,
was damit zusammenhängt,
vor allem aber jeder sich selbst,
kommen wir nicht weiter."
Jan Amos COMENIUS,
in: "Allgemeine Beratung über die Verbesserung
der menschlichen Angelegenheiten" (1646)
1. Integriertes Lernen - Kontextuierung des Problems
Weltweit wird über die Reform der bestehenden Bildungssysteme
diskutiert. Es geht um grundlegende Modernisierungsmaßnahmen
im Hinblick auf die Herausforderungen der "Welt im Umbruch".
Schon immer war das Leben Änderungen unterworfen, und immer
wieder musste das Verhältnis zwischen den Generationen neu
bedacht, mussten die Erziehungseinrichtungen kritisch überprüft
und mussten Curricula und Lernkonzepte revidiert werden. Doch die
Veränderungsprozesse der Gegenwart unterscheiden sich in wesentlichen
Punkten vom Wandel früherer Zeiten. Das gilt sowohl für
die Dynamik der Veränderungsprozesse als auch für deren
Komplexität in Wechselwirkung mit den globalen gesellschaftlichen,
ökonomischen und technologischen Veränderungen.
Verantwortliches Handeln unter den Bedingungen moderner Lebensverhältnisse
bedeutet, fähig zu sein, Probleme spezieller Handlungsfelder
sowohl fachkompetent als auch in Kenntnis fachübergreifender
Handlungsfolgen reflektieren und in Kooperation mit anderen Menschen
praktisch lösen zu können. Damit verbunden ist der Anspruch
integrierten Lernens.
Integriertes Lernen wurde in der Bundesrepublik Deutschland in erster
Linie als ordnungspolitisches Problem diskutiert. Unter dem Einfluss
der Empfehlungen des DEUTSCHEN BILDUNGSRATS (1970; 1974) und herausgefordert
durch Modellversuche wie den des Kollegschulversuchs in Nordrhein-Westfalen
(KULTUSMINISTER DES LANDES NORDRHEINWESTFALEN 1972) ging es dabei
vorrangig um die Verbindung von allgemeiner und beruflicher Bildung.
Die damit verbundenen pädagogischen Zielsetzungen fielen sehr
schnell einem "ordnungspolitischen Reduktionismus" zum
Opfer (vgl. KUTSCHA 1996). Paradoxerweise war es die Verknüpfung
mit der Forderung nach Chancengleichheit, die dazu führte,
das Ziel integrierten Lernens durch die Forderung nach Gleichwertigkeit
und Doppelqualifizierung zu substituieren. Im Vordergrund standen
nunmehr ordnungspolitische Auseinandersetzungen über die Anerkennung
von Abschlüssen und die curriculare Gestaltung von Bildungsgängen.
Die Frage nach der pädagogischen Qualität integrierten
Lernens und den Bezügen zu den Lernerfahrungen der einzelnen
Schüler und Schülerinnen blieben dabei weitgehend vernachlässigt
(vgl. KUTSCHA 2003).
Die Beendigung des Kollegschulversuchs und die Überführung
in das neue Regelsystem des Berufskollegs in Nordrhein-Westfalen
unter Beibehaltung einer davon getrennten gymnasialen Oberstufe
entspricht der in Deutschland vorherrschenden Modernisierungsstrategie
"getrennt, aber gleichwertig". Über das tertium comparationis,
an dem die Gleichwertigkeit unterschiedlicher allgemeiner und beruflicher
Bildungsgänge wenn nicht gemessen, so doch abgewogen werden
könnte, wird kaum noch ein Wort verloren.
Diese Entwicklung zeichnete sich bereits innerhalb des Kollegschulversuchs
ab. Die Kollegschuldidaktik musste im Interesse der bundesweiten
Anerkennung von Kollegschulabschlüssen die curricularen Anforderungen
des Regelsystems berücksichtigen, zum Beispiel bei doppelqualifizierenden
Abschlüssen die KMK-Rahmenvorgaben für die gymnasiale
Oberstufe auf der einen Seite und für die beruflichen Schulen
auf der anderen. Integriertes Lernen unter dem Anspruch von Wissenschaftsorientierung
und Kritik "im Medium des Berufs" ließ sich weitgehend
nur an den von Abschlusserfordernissen freigehaltenen Randzonen
des Schulalltags entfalten. Von Beginn an setzte sich bei der Umsetzung
des Kollegschulkonzepts in die Praxis des Modellversuchs die Strategie
der "Gleichwertigkeit" getrennter Schulsysteme durch.
Der Kollegschulversuch konzentrierte sich als so genanntes "Ausbaumodell"
auf die beruflichen Schulen. Davon institutionell und curricular
unabhängig pflegte das Gymnasium seine "Kontinuität
im Wandel" als karriereförderlicher "Königsweg"
zum Hochschulstudium (ARBEITSGRUPPE BILDUNGSBERICHT AM MAX-PLANCK-INSTITUT
FÜR BILDUNGSFORSCHUNG 1994, 483 ff.).
Doch was ist überhaupt "integriertes Lernen"? Und
wodurch unterscheidet sich das Integrationskonzept von Gleichwertigkeit
und Doppelqualifizierung? Der folgende Beitrag zielt auf Differenzen
ab, und zwar mit dem Rücken in die Zukunft: um im problemgeschichtlichen
Rekurs systematische Perspektiven entfalten zu können.
2. Problemgeschichtlicher Zugriff: Schlag nach bei Comenius! -
Integriertes Lernen und die Ordnung der Dinge
Die Institutionalisierung des Bildungswesens und dessen Verselbständigung
als eigenständiges Sozialsystem spezifischer Prägung ist
eine typische Erscheinung der modernen, funktional ausdifferenzierten
Gesellschaft. Sie ist spezialisiert auf die soziale Integration
der heranwachsenden Generation durch Vermittlung und Verteilung
pädagogisch kodifizierten Wissens. Von Beginn an stellt sich
mit der öffentlichen Verschulung gesellschaftlicher Erziehungsprozesse
die Frage nach der Ordnung des zu vermittelnden Wissens als Bezugsproblem
integrierten Lernens. Dies ist das zentrale Thema der Großen
Didaktik (1657) des Johann Amos COMENIUS. Das Paradigma des Ordo-Prinzips
und die daraus abgeleiteten Prinzipien integrierten Lernens ist
die Uhr, jene Maschine, die von allen technischen Systemen, die
damals bekannt waren, am präzisesten funktionierte. Welche
Kraft bewirkt ein solches technisches Wunderwerk? Was ist daraus
abzuleiten für die Gestaltung des schulischen Unterrichts?
Hier die Analogie des COMENIUS:
"... Keine andere (Kraft, G.K.) als die offenkundige, hier
alles beherrschende Ordnung. D.h. die Kraft der richtigen Anordnung
aller zusammenwirkenden Teile, richtig in Zahl, Maß und Ordnung,
deren jedes seine vorgeschriebene Aufgabe hat und auf diese Aufgabe
gerichtete Mittel und zu diesen Mitteln gehörige Verhaltensweisen.
Überall finden sich die richtigen Größenverhältnisse
der einzelnen Teile zum Ganzen und der nötige Zusammenhang
eines jeden mit seinem Arbeitspartner, und es herrschen gegenseitig
verpflichtende Gesetze über die Vermittlung und Wechselwirkung
der Kraft. So entwickelt sich alles mit größerer Genauigkeit
ab als in einem lebendigen, vom eigenen Geist geleiteten Körper.
Wenn nun aber darin etwas auseinanderfällt, zerbricht, sich
spaltet, erschlafft oder sich verbiegt, und wenn es sich dabei um
ein noch so kleines Rädchen, die kleinste Achse oder das feinste
Teilchen handelt, so bleibt alles stehen oder weicht von seinem
Wege ab. So augenfällig geht daraus hervor, daß von der
Ordnung einzig und allein alles abhängt ... Laßt uns
also im Namen des Höchsten versuchen, einen Typus (conformatio)
von Schulen zu begründen, der einer kunstreich angefertigten,
mit vielfacher Pracht gezierten Uhr genau entspricht"
(COMENIUS 1657, Ausgabe 1966, 77).
Kaum anschaulicher als am Text der Großen Didaktik lässt
sich demonstrieren, welche Faszination der Ordnungs- und mit ihm
der Integrationsgedanke bei den theoretischen Wegbereitern des modernen
Unterrichtswesens ausübte. Der Primat der "rechten Ordnung"
(rerum ordo) als Bezugspunkt integrierten Lernens steht im engen
Zusammenhang mit dem kühnen Anspruch, alle alles zu lehren.
Bildungsgeschichtlich ist dieses Erziehungsprogramm einzuordnen
in die seit der Renaissance eingeleiteten Modernisierungsbestrebungen,
deren unbestrittenes Kennzeichen die Verselbständigung schulisch
organisierter Erziehungseinrichtungen gegenüber den vorher
primär in der Lebenswelt "mitlaufenden" Erziehungsprozessen
ist (TENORTH 1988, 30 ff.).
In Deutschland beginnt seit Mitte des 17. Jahrhunderts - vorerst
nur in einzelnen Feudalstaaten - die Einführung der allgemeinen
Schulpflicht. COMENIUS nimmt diese Entwicklung mit der Forderung
vorweg: Die gesamte Jugend beiderlei Geschlechts muss den Schulen
anvertraut werden. Aber wie sollen Massen von Kindern in der Stadt
und auf dem Lande unterrichtet werden, wenn die infrastrukturellen
Voraussetzungen des öffentlichen Schulwesens noch kaum entwickelt
sind, es an personellen und sächlichen Ressourcen mangelt,
ja, wenn ein öffentlicher Basiskonsens bezüglich der Notwendigkeit
einer allgemeinen Schulpflicht noch gar nicht hergestellt ist? Der
damals als revolutionär angesehene Lösungsvorschlag des
COMENIUS ist bekannt: Integrierte Einheitsschule.
Die Organisation der Schule "für alle" setzt bei
COMENIUS voraus, Unterricht als kollektiven Lernprozess auf eine
gemeinsame didaktische Ordnung beziehen zu können. Einheitsschule
als Organisationsform sozialer Integration und "rechte Ordnung"
als Prinzip integrierten Lernens sind bei COMENIUS auf ein Integrationsprinzip
höherer Ordnung verwiesen: auf die von Gott geschaffene Ordnung
des Makrokosmos, die im Mikrokosmos der schulischen Ordnung ihre
Entsprechung zu finden habe. Grundlage des Ordnungs- und Integrationsgedankens
ist bei COMENIUS die christliche Pansophie (vgl. SCHALLER 1957).
Auf ihr basiert der pädagogische Optimismus, alle alles lehren
zu können. Denn ein solcher Anspruch konnte nur Sinn machen
unter der Annahme, dass es möglich sei, jenseits unproduktiver
Vielwisserei durch "rechte Ordnung" des Lernens jeden
Menschen an der "Allweisheit" Gottes teilhaben zu lassen
(Imago-Dei-Lehre).
Dass der Tscheche Jan Amos KOMENSKÝ in der Geschichte des
Bildungsdenkens in Deutschland bis heute aktuell und speziell für
die Integrationsproblematik relevant geblieben ist, hängt vor
allem damit zusammen, dass sein Allgemeinbildungskonzept geistlich-christliche
Motive eng mit weltlichen Zwecken verbindet (FLITNER 1966, 44 ff.).
Und zwar auf eine Weise, die höchst moderne Züge trägt.
Das weltliche Motiv der Volksbildung reduziert sich bei COMENIUS
nicht mehr - wie bei den Vorläufern der Elementarschule - auf
die bloß technisch-mechanische Vermittlung einfacher Kenntnisse
und Fertigkeiten des Rechnens, Lesens und Schreibens. Leitziel der
Volksbildung ist für COMENIUS kein geringeres, als die wissenschaftliche
oder gelehrte Bildung allen Menschen zugänglich zu machen.
'Bildung' bedeutet 'integriertes Lernen'. Es führe dahin, so
COMENIUS, dass auch die "Handwerker, die Bauern, die Sackträger
und schließlich gar Weibsbilder Gelehrte werden" (COMENIUS,
Ausgabe 1966, 58). Läuft das geistliche Motiv darauf hinaus,
dass alle Menschen in gleicher Weise Gottes Ebenbilder seien, so
ist das weltliche geprägt von der Idee, dass jeder Mensch ein
Philosoph und Gelehrter zu sein habe. Damit ist nicht ein spezieller
Berufsstand und schon gar nicht der in sich versponnene, weltfremde
Eigenbrödler gemeint. Das Modell des Philosophen oder Gelehrten
steht für die Universalisierung des Bildungsprinzips unter
dem Anspruch, dass jeder, auch der "einfache Mensch",
nunmehr zu einem denkenden, aufgeklärten und für seinen
Lebenskreis "philosophisch" geschulten Bürger zu
erziehen sei.
Lässt man die zeitbedingten und weltanschaulichen Komponenten
im Werk des COMENIUS beiseite, so zeichnen sich die Umrisse einer
Theorie integrierten Lernens ab, die sich seither wie ein roter
Faden durch die Geschichte modernen europäischen Bildungsdenkens
ziehen. Bildung als integriertes Lernen erhält eine universelle
Dimension. Sie basiert auf folgenden Prinzipien (vgl. MOLLENHAUER
1983, 53 ff.):
- Wenn Gleichheit unter den Menschen sinnvoll angestrebt werden
soll, dann muss jedes Kind das "Ganze" lernen, unabhängig
davon, in welcher sozialen Lage es sich befindet und welche Lebens-
und Beschäftigungschancen die Gesellschaft für es bereithält.
- Die Vielfalt dessen, was die Gesamtheit der sinnlich wahrnehmbaren
Tatsachen ausmacht, ist so verwirrend groß, dass die Welt
dem Kinde von Anfang an in der rechten Ordnung repräsentiert
werden muss.
- Ordnung bedeutet, dass nichts Einzelnes als Einzelheit, sondern
jedes Einzelding, jede einzelne Handlung in ihrem Zusammenhang mit
anderen Dingen und Handlungen dargestellt wird. Anders formuliert:
Jeder einzelne Sachverhalt muss dem Kinde so zur Darstellung kommen,
dass das Einzelne in seiner Beziehung zum Ganzen deutlich wird.
- Die Ordnung der Dinge in ihrem Zusammenhang ist dem Kind so zu
vermitteln, dass die den jeweiligen Ordnungszusammenhängen
zugrunde liegenden Ideen und die Sinneswahrnehmungen der Lernenden
miteinander verknüpft werden.
In der weltweit wohl bekanntesten Schrift des COMENIUS, dem "Orbis
sensualium pictus" (1658), hat das hier angedeutete Konzept
integrierten Lernens in der Form eines bebilderten Schulbuchs seinen
konkreten und schulpraktisch verwertbaren Niederschlag gefunden.
Es ist ein kritisches Dokument gegen den Zerfall der Ordnungen zur
Zeit des COMENIUS. Zugleich deutet es darauf hin, dass das, "was
notwendig zu wissen ist" - wie es COMENIUS im "Orbis pictus"
formulierte - sich nicht mehr von selbst als sinnhafte Ordnung aus
der praktischen Erfahrung erschließen lässt. Ordnung
muss durch Lehr-Kunst hergestellt, sie muss in der multimedialen
Verknüpfung von Wort und Bild als Medien der sekundären
Repräsentation einer sinnhaft geordneten Welt in den subjektiven
Lebens- und Lernzusammenhang der Lernenden integriert werden. Das
meint "Bildung" als Formung des Subjekts durch integriertes
3. Systematischer Zugriff: Leitfragen und allgemeine Prinzipien
zum Konzept des integrierten Lernens in Abgrenzung von Gleichwertigkeit
und Doppelqualifikation
3.1 Integriertes Lernen
Integriertes Lernen hat es nicht mit isolierten Lernelementen als
solchen zu tun, sondern im weitesten Sinne mit den Beziehungen zwischen
Elementen und Strukturen des Lernens. Dabei kann es sich um elementare
Formen der Vernetzung einzelner Lerninhalte zu Strukturen eines
höheren Ordnungsniveaus handeln oder um komplexe Verbindungen
zwischen theoretischer Erkenntnis und praktischem Handeln einschließlich
der darin implizierten sozialen und moralischen Dimensionen. Beschränkte
sich integriertes Lernen unter relativ stabilen Umweltbedingungen
auf vorgegebene Ordnungssysteme als "Grenzen des Denkens",
gewinnt bei zunehmender Dynamik der Lernumwelt die Fähigkeit
des Lernenden an Bedeutung, selbsttätig Ordnungs- und Integrationsleistungen
zu erbringen. Reflexiver Umgang mit Komplexität bedeutet, Grenzen
zu ziehen, also sich auf Differenzierung und Spezialisierung einzulassen,
und sie zugleich als Verweis auf andere Möglichkeiten wahrzunehmen,
sie zu überschreiten. Integriertes Lernen im allgemeinsten
Sinne ist grenzüberschreitendes Lernen.
Integriertes Lernen im oben angedeuteten Sinne bezeichnet eine Problemlösungsstrategie,
keineswegs schon eine "gute Lösung" per se. Die Frage
nach der Bedeutung integrierten Lernens ist mithin eine Frage nach
den Funktionen, Zielen und Zwecken des Lernens in Abhängigkeit
von den Herausforderungen der Lernumwelt. Im weitesten Sinne zielt
integriertes Lernen darauf ab, die Variationsmöglichkeiten
des Umgangs mit Lernresultaten zu erweitern. Integriertes Lernen
bedeutet bei "gelungener Integration" Optionserweiterung
für den Lernenden. Es reduziert in diesem Fall die Risiken
der Selektivität von Lernprozessen, hebt diese aber nicht auf.
Jede Form der Integration differenziert zwischen realisierten und
nicht realisierten Integrationsalternativen. Integration und Differenzierung
sind einander bedingende, komplementäre Prozesse. Es geht bei
der Frage nach den Zielen integrierten Lernens mithin nicht um die
Maximierung oder Minimierung von Integration bzw. Differenzierung,
sondern um die Optimierung des Verhältnisses von Integration
und Differenzierung in Bezug auf die jeweils favorisierten Zielparameter
der zur Disposition stehenden Lernprozesse.
Integriertes Lernen bedeutet: in Zusammenhängen lernen, Differenzieren
und Koordinieren, Vernetzen von Theorie und Praxis. In allen Fällen
geht es dabei um relativ komplexe und aktive Formen des Umgangs
mit Wissen und um insgesamt höhere Anforderungen an die Steuerungsfähigkeit,
Reflexivität und Flexibilität des Lernsystems. Der Einsatz
von Methoden, Medien und Sozialformen ist darauf abzustimmen. Von
zunehmender Bedeutung sind Lehr-Lern-Arrangements, die integriertes
Lernen in Form selbstorganisierten Lernens fördern. Auch hierbei
geht es nicht um Maximierungsstrategien. Integriertes Lernen und
erhöhte Variabilität der Lehr-Lern-Arrangements erfordern
zugleich Stabilisierung von Lernprozessen. Stabilisierung von Variabilität
ist die unerlässliche Bedingung dafür, dass durch integriertes
Lernen trotz erhöhter Komplexität und Flexibilität
fachliche Kompetenz und Identität entwickelt werden können.
Die Art und Weise, wie sich eine Person im Laufe ihres Entwicklungsprozesses
mit der Umwelt auseinandersetzt, hängt nicht nur von den Lernerfahrungen
in den jeweils wahrgenommenen Lebensbereichen und von den unmittelbar
erlebten Interaktionen in Lehr-Lern-Prozessen ab (mikrostruktureller
Aspekt), sondern wird tiefgreifend beeinflusst von den Wechselwirkungen
zwischen dem Mikrosystem des Lernens und den damit verbundenen Makro-
und Mesosystemen. Dazu gehören das Bildungssystem insgesamt
und das mit ihm verkoppelte Berechtigungswesen sowie die jeweiligen
Bildungsgänge, in die die einzelnen Lernprozesse curricular
eingebunden sind und deren Abschlusszertifikate ("Bildungstitel")
entscheidenden Einfluss auf die Verwertbarkeit erworbener Qualifikationen
haben. Anders gesagt: Optionserweiterung durch integriertes Lernen
ist nicht primär eine Funktion des praktischen "Gebrauchswertes"
erworbener Qualifikationen, sondern weitgehend eine Frage des "Tauschwertes"
von Bildungsabschlüssen in Abhängigkeit von den Konditionen
des Berechtigungssystems sowie den Knappheitsbedingungen und Rekrutierungsstrategien
im Beschäftigungssystem. Darauf beziehen sich in Abgrenzung
von der Intentionalität integrierten Lernens die Konzepte "Gleichwertigkeit"
und "Doppelqualifikation".
Schulisch organisiertes Lernen bedeutet notwendigerweise Differenzierung
zwischen primärer Erfahrung in individuellen Lebenswelten und
sekundär vermittelten, generalisierten Kenntnissen, Fertigkeiten
etc. für bestimmte Lernkollektive. Jede organisatorische, curriculare
oder soziale Differenzierung innerhalb des schulisch institutionalisierten
Bildungswesens produziert "Grenzen". Die Grenzen zwischen
differenzierten Schulformen können mehr oder weniger offen
beziehungsweise mehr oder weniger geschlossen sein. Entsprechendes
gilt für die Zusammenhänge zwischen Unterrichtsfächern,
zwischen theoretischem und praktischem Lernen. Offene versus geschlossene
Schulsysteme, offene versus geschlossene Curricula etc. sind jeweils
idealtypische Extremwerte der relativen Stärke von Grenzziehungen,
innerhalb derer sich das Verhältnis von Integration und Differenzierung
auf mannigfaltige Art manifestiert. Das Integrationsproblem stellt
sich unter diesem Gesichtspunkt in seiner allgemeinsten Form als
Grenzproblem. Differenzierungsprinzip ist das der "Grenzstärke"
(BERNSTEIN 1971), und zwar auf den unterschiedlichen Ebenen von
Makro- und Mikrosystem, Meso- und Exosystem sowie zwischen diesen
Ebenen (BRONFENBRENNER 1981).
Wenn es keine Durchlässigkeit zwischen den Schulformen gibt
oder wenn es keine Vernetzungen zwischen den fachlich klassifizierten
Inhalten eines Curriculum gibt, wenn zwischen den im Unterricht
behandelten Inhalten und den außerschulischen Erfahrungen
keine Zusammenhänge hergestellt werden - wenn also die Grenzen
eine abschließende Funktion haben und grenzüberschreitende
Prozesse unterbinden, dann soll hier von "geschlossenen"
Beziehungen die Rede sein. Sind die Grenzen der jeweils differenzierten
Systeme fließender, so tendieren sie zu "offenen"
Beziehungen. Integration und geschlossene Grenzen schließen
sich aus. Allerdings ist die Öffnung von Grenzen nur eine notwendige,
keinesfalls eine hinreichende Bedingung für Integration.
Durchlässigkeit als Öffnung der Grenzen zwischen den unterschiedlichen
Schulformen eines Bildungssystems ermöglicht Integration, ist
aber nicht von selbst schon integriertes Lernen. Erst in dem Maße,
wie Interdependenzen zwischen grenzüberschreitenden Lernprozessen
bestehen, entwickelt sich integriertes Lernen. Für den Integrationsbegriff
ist Interdependenz konstituierend. Dabei ist Interdependenz jedoch
nicht mit Integration gleichzusetzen (vgl. WILLKE 1978, 236). Interdependenzen
erzeugen Integrationsbedarf, wenn und soweit sie Probleme, Widersprüche,
Komplikationen erhalten, die nur durch integriertes Lernen gelöst
werden können. Integriertes Lernen zu postulieren, wo kein
Integrationsbedarf besteht oder wo ein solcher sich nicht überzeugend
darstellen lässt, dürfte auf Dauer kaum erfolgreich sein.
Um es an einem konkreten Beispiel zu demonstrieren: Umweltschutz
gehört seit einigen Jahren zu den verbindlichen Bestandteilen
der Berufsausbildung im Dualen System. Themen des Umweltschutzes
betreffen jeden, und die Interdependenzen zwischen politischen und
wirtschaftlichen, technischen und sozialen Problembezügen liegen
auf der Hand. Interdependenzen als solche reichen aber nicht aus,
um vom integrierten Lernen sprechen zu können. Interdependenzen
müssen Problemstellungen enthalten und subjektiv erfahrbar
sein, und zwar in dem Sinne, dass der Lernende von dem Problem persönlich
betroffen und an der Problemlösung beteiligt ist. Ob in Handel
oder Handwerk, Industrie oder in den Berufen der Touristikbranche,
in allen Berufen haben es die Berufstätigen und Auszubildenden
zunehmend mehr mit den Herausforderungen der Umweltverschmutzung
zu tun. Aber nicht alle in derselben Weise. Die Auszubildenden kommen
in die Berufsschule, weil sie sich von ihr erhoffen, sie möge
die Probleme ihres beruflichen Alltags ernst nehmen. Es bleibt nur
eine Möglichkeit, die zum Erfolg integrierten Lernens führen
könnte: Dort anzusetzen, wo der Auszubildende für seine
berufliche Kompetenzentwicklung theoretische und praktische Hilfe
erwartet. Das kann für die Kauffrau oder den Kaufmann im Einzelhandel
die Frage nach der kundenfreundlichen, im Interesse der betrieblichen
Wettbewerbsfähigkeit aber auch kostengünstigen und nicht
zuletzt umweltverträglichen Entsorgung von Verpackungsmaterial
sein; für den Gas- und Wasserinstallateur die Problematik des
umweltschützenden Betriebs von Heizungs- und Sanitäranlagen
etc. So liegt es nahe, dass für die Verbesserung der Umweltbildung
(zunächst) die konkreten Erfahrungen im Vollzug beruflichen
Handelns den Anknüpfungspunkt für integriertes Lernen
bilden, das dann buchstäblich "grenzüberschreitend"
in die Behandlung der weltweiten Dimension der Umweltproblematik
einmündet.
Fazit: Integriertes Lernen bedeutet Lernen in Bildungssystemen mit
relativ offenen Grenzen zwischen den jeweils differenzierten und
spezialisierten Lernbereichen (zum Beispiel Unterrichtsthemen, Fächern,
Bildungsgängen, schulischen und außerschulischen Lernorten).
Ansatzpunkt für integriertes Lernen sind Interdependenzen zwischen
allgemeinen (objektiven) Problemlagen und den speziellen Anforderungen,
wie sie die Lernenden in ihrer Umwelt (zum Beispiel am Arbeitsplatz)
wahrnehmen und sich mit ihnen aktiv auseinandersetzen. Ziel integrierten
Lernens ist die Entwicklung der Fähigkeit, bedeutungsvolle
Probleme komplexer Handlungssituationen, an denen die Lernenden
selbst beteiligt sind, verstehen, bewältigen und gestalten
zu können, sowie - daran anknüpfend - die Förderung
grenzüberschreitender Problemlösungsfähigkeiten in
Hinsicht auf interdependente Problemlagen außerhalb des unmittelbaren
Erfahrungsbereichs.
Mit dieser allgemeinen Bestimmung des Begriffs "integriertes
Lernen" ist eine ökologisch-systemische Perspektive menschlicher
Entwicklung verbunden. Menschliche Entwicklung wird in Anlehnung
an BROFENBRENNER (1981) verstanden als ein Prozess, durch den die
sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verlässlichere
Vorstellungen über ihre Umwelt erwirbt. "Der Mensch erweitert
im Verlauf seiner Entwicklung seinen Einfluss auf die entfernteren
Teilbereiche seiner Umwelt, die sein Leben bestimmen" (vgl.
BRONFENBRENNER 1981, 266). Integriertes Lernen hat mithin nicht
nur eine synchronische Dimension, auf die das Merkmal der Interdependenz
von Lebensbereichen verweist, sondern auch eine diachronische Dimension,
die den Prozess der Differenzierung und Koordination oder Vernetzung
von Lerninhalten im subjektiven Bildungsgang der Lernenden betrifft.
Damit ist ein entscheidender Punkt angesprochen: Der Begriff integrierten
Lernens lässt sich sinnvollerweise nur auf den subjektiven
Bildungsgang beziehen, auf die Art und Weise, wie Menschen sich
in ihrem Entwicklungsprozess mit ihrer Umwelt und mit sich selbst
auseinandersetzen, Beziehungen herstellen und in Zusammenhängen
denken und handeln. Natürlich haben die pädagogisch arrangierten,
curricular strukturierten und rechtlich formalisierten Rahmenstrukturen
in Form institutionalisierter Bildungsgänge darauf einen Einfluss.
Bildungsgänge mit starken Grenzziehungen nach außen und
innen und streng formalisierten Grenzsicherungen seitens externer
Kontrollinstanzen engen den Spielraum für integriertes Lernen
ein, offenere Curricula ermöglichen und stimulieren vergleichsweise
komplexere und flexiblere Formen integrierten Lernens.
Das Bildungssystem in der Bundesrepublik bevorzugt nach wie vor
Bildungsgänge mit relativ stark ausgeprägten Grenzziehungen.
Das gilt für das allgemeine Schulwesen in ähnlicher Weise
wie für den beruflichen Bildungsbereich, und für doppelqualifizierende
Bildungsgänge vielfach noch verstärkt, weil die eng definierten
Rahmenvorgaben sowohl des allgemeinen als auch des beruflichen Bereichs
berücksichtigt werden müssen. Deshalb empfiehlt es sich,
den Begriff des integrierten Lernens deutlich zu unterscheiden von
Integrationskonzepten, die sich auf die organisatorischen und curricularen
Rahmenstrukturen sowie auf die Zertifizierung der Lernprozesse beziehen.
Unterscheiden bedeutet nicht trennen! Insofern sind beide Seiten
aufeinander zu beziehen: der subjektive und der formale Aspekt von
Bildungsgängen. Primär mit der formalen Seite integrierten
Lernens haben es die Begriffe Doppelqualifikation und Gleichwertigkeit
zu tun.
3.2 Doppelqualifikation
Der Begriff Doppelqualifikation wird im deutschsprachigen Bereich
in der Regel auf abschlussbezogene Bildungsgänge angewandt,
und zwar vorzugsweise im Zusammenhang mit der Verbindung von allgemeinen
und berufsbezogenen Bildungsabschlüssen. Mit "Bildungsgang"
im institutionellen Sinne ist in Anlehnung an den Sprachgebrauch
des DEUTSCHEN BILDUNGSRATS (1974, 75) gemeint: "
eine
geordnete Folge von Lehrveranstaltungen in einem Schwerpunkt, die
zu einem Fachabschluss führt". Als doppelqualifizierend
bezeichnet man Bildungsgänge üblicherweise dann, wenn
innerhalb ein und desselben Bildungsgangs ein allgemeiner und ein
berufsbezogener Abschluss erworben werden können. Doppelqualifikationen
können sich auch auf das Nachholen des Hauptschul- oder des
Realschulabschlusses beziehen. Eine umfassende Definition bieten
DAUENHAUER und KELL an: "In einem neuen doppelqualifizierenden
Bildungsgang soll durch Verknüpfung, Verbindung, Verzahnung
oder Integration von Inhalten zweier bisher getrennter Bildungsgänge
der Erwerb von zwei Abschlüssen ermöglicht werden, und
zwar gleichzeitig oder nacheinander" (DAUENHAUER/KELL 1990,
49).
Ziel doppelqualifizierender Bildungsgänge kann, aber muss nicht
das integrierte Lernen im Sinne der Herstellung grenzüberschreitender
Interdependenzen zwischen allgemeinen und beruflichen Lerninhalten
sein. Vielfach steht als pragmatische Zielperspektive die Zeitersparnis
im Vordergrund der Doppelqualifikation (DAUENHAUER/KELL 1990, 49).
Dieser Effekt kann durch integriertes Lernen positiv beeinflusst
werden. Bei der Durchsicht curricularer Materialien gewinnt man
allerdings den Eindruck, dass sich Doppelqualifizierung vielfach
auf die Addition separierter allgemeiner und beruflicher Lerninhalte
beschränkt. Auch auf diese Weise ist Zeitersparnis möglich.
Dann nämlich, wenn die gemeinsame Schnittmenge von Lerninhalten
zweier Bildungsgänge im doppelqualifizierenden Bildungsgang
nur einmal vermittelt werden muss. Ob und in welcher Weise in doppelqualifizierenden
Bildungsgängen tatsächlich integriertes Lernen stattfindet
(vgl. GRUSCHKA/KUTSCHA 1983), muss in jedem Einzelfall sorgfältig
geprüft werden. Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass integriertes
Lernen nicht identisch ist mit Doppelqualifikation. Doppelqualifikation
stellt auf den formalen "Tauschwert" der bildungsgangbezogenen
Abschlüsse ab. Im pädagogisch erwünschten Fall ist
mit Doppel-Berechtigung auch eine neue Qualität der Lernprozesse
verbunden: als allgemeine Bildung im Medium des Berufs (BLANKERTZ
1972).
3.3 Gleichwertigkeit
In der bildungspolitischen Diskussion werden integriertes Lernen
und Doppelqualifikation mit Gleichwertigkeit in Verbindung gebracht.
Auch dieser Zusammenhang bedarf der genaueren Klärung. Formal
betrachtet bedeutet Gleichwertigkeit, dass äquivalente Abschlüsse
über verschiedene, nicht gleichartige Bildungsgänge erworben
werden können. Bei der Forderung nach Gleichwertigkeit dominiert
die Zielperspektive des Zugangs zum Hochschulsystem. Gefordert wird
die Gleichwertigkeit bestimmter Berufsabschlüsse mit dem Abitur
beziehungsweise der Fachhochschulreife hinsichtlich der Berechtigung
zum Studium an Universitäten und Fachhochschulen. Das zentrale
Problem liegt nun darin, das tertium comparationis der Gleichwertigkeit
ungleichartiger Bildungsgänge zu bestimmen. Wenn es um die
Gleichwertigkeit gymnasialer und beruflicher Bildungsgänge
in Bezug auf die Studienberechtigung geht, liegt es nahe, auf das
Kriterium der "Studierfähigkeit" zurückzugreifen.
Aber leider besteht derzeit kein bildungspolitischer Konsens darüber,
welche inhaltlichen Leistungsanforderungen und Methoden wissenschaftlichen
Arbeitens, welche studienrelevanten Verhaltensweisen und Attitüden
als zuverlässige Eigenschaften allgemeiner Studierfähigkeit
gelten (sollen).
Traditionell wurde die Hochschulreife (Maturität) zertifiziert
durch das Abitur als Abschlusszeugnis der gymnasialen Oberstufe.
Trotz der früheren Vielfalt an Gymnasialzweigen (altsprachliches,
neusprachliches, mathematisch-naturwissenschaftliches, wirtschaftswissenschaftliches
Gymnasium etc.), und trotz der unterschiedlichen Kurskombinationen,
die heute an der neugestalteten gymnasialen Oberstufe angeboten
werden, wird nach wie vor am Ziel der allgemeinen Hochschulreife
festgehalten. Im Prinzip basiert dieses Konzept auf dem Gedanken
der Gleichwertigkeit im Sinne von Wissenschaftspropädeutik
als Äquivalenzkriterium (vgl. HABEL 1990). Mit dem Abitur als
Zertifikat der an unterschiedlichen Gymnasialzweigen beziehungsweise
in der differenzierten gymnasialen Oberstufe erworbenen Berechtigung
der allgemeinen Hochschulreife - womit in der Bundesrepublik Deutschland
zugleich die Hochschulzugangsberechtigung verbunden ist - wird ja
unterstellt, dass sich die allgemeine Studierfähigkeit im Medium
unterschiedlicher Bildungsgänge vermitteln lässt. Demselben
Prinzip folgt im Grunde auch die Forderung nach Gleichwertigkeit
von allgemeiner und beruflicher Bildung; sie ist nur radikaler und
beschränkt sich nicht auf die speziellen Inhalte des gymnasialen
Fächerkatalogs, der den curricularen Vermittlungsrahmen und
damit die Grenzen wissenschaftspropädeutischen Lehrens in der
gymnasialen Oberstufe bestimmt.
Wie Doppelqualifikation ist auch Gleichwertigkeit nicht per se mit
integriertem Lernen gleichzusetzen. Gleichwertigkeit von Abschlüssen
im Sinne des Berechtigungswesens basiert auf bildungspolitischen
Vorgaben, schulrechtlichen Normierungen und administrativen Regulierungen.
Durch sie werden Bildungszertifikate ungleichartiger Bildungsgänge
hinsichtlich ihrer Berechtigungen "gleichgestellt". Gleichwertigkeit
heißt in diesem Zusammenhang: Gleichstellung von Bildungsabschlüssen
durch Verwaltungsakte, unabhängig davon, auf welchen Gründen
diese beruhen. Mit integriertem Lernen und speziell mit der Integration
von wissenschafts- und berufspropädeutischem Lernen muss das
nichts zu tun haben. An der Geschichte des Gymnasiums lässt
sich studieren, wie kontingent bildungspolitische Entscheidungen
über die Gleichwertigkeit gymnasialer Bildungsabschlüsse
sind. War im 19. Jahrhundert der Erwerb der allgemeinen Hochschulreife
in der Regel an den Besuch des neuhumanistischen Gymnasiums gebunden,
erfolgte an der Jahrhundertwende die Gleichstellung der Abschlüsse
des neusprachlichen und mathematisch-naturwissenschaftlichen Gymnasiums
mit dem Abitur des nun so genannten altsprachlichen Gymnasiums.
Und wurde in den fünfziger Jahren unseres Jahrhunderts darum
gerungen, die Gemeinsamkeit der herkömmlichen Gymnasialtypen
erneut in einem allgemein verbindlichen Maturitätskatalog zu
fixieren, setzten sich schon ein Jahrzehnt später unter dem
Druck der expansiven Reformpolitik eine Reihe weiterer gleichberechtigter
Gymnasialtypen durch (wirtschaftswissenschaftliches, sozialwissenschaftliches,
musisches Gymnasium und andere), bis es im Rahmen der Neugestaltung
der gymnasialen Oberstufe (1972) dazu kam, die Vielzahl der Gymnasialtypen
durch ein differenziertes System von Grund- und Leistungskursen
bei gleichzeitiger Erweiterung des Fächerspektrums zu ersetzen.
Fragt man nach den Kriterien für die Gleichwertigkeit der unterschiedlichen
gymnasialen Bildungswege, gibt es nur einen wirklich zuverlässigen
Anhaltspunkt: Konstitutiv für ihre Gleichwertigkeit ist der
gemeinsame Abschluss des Abiturs, das kraft Verwaltungsakt der Schulaufsichtsbehörden
die Berechtigung der allgemeinen Studierfähigkeit zertifiziert.
Ebenso könnte auch die Gleichwertigkeit bestimmter Abschlüsse
in beruflichen Bildungsgängen mit den Abschlüssen der
gymnasialen Oberstufe durch hoheitliche Verwaltungsakte hergestellt
werden. Dabei lassen sich die Mittel des Berechtigungswesens durchaus
für unterschiedliche Zielsetzungen und Interessen nutzen: Gleichwertigkeit
kann "Belohnung" und damit Folge integrierten Lernens
sein, bei dem das jeweilige Integrat nach dem Äquivalenzprinzip
auf den Erwerb studien- und berufsbezogener Abschlüsse angerechnet
wird. Sie kann aber auch eine Strategie der Separierung sein - nach
dem Motto: "getrennt, aber gleichwertig". Gleichwertigkeit
dient im letzteren Fall der Grenzerhaltung getrennter Bildungssysteme
mit ungleichartigen Curricula und vor allem ungleichartigen Zuständigkeiten
staatlicher, korporativer und betrieblicher Entscheidungsträger.
4. Schlussbemerkungen
Ob es nun um die Erfolgsgeschichte des Gymnasiums geht, das seine
Attraktivität dem Abitur als einheitsstiftende Berechtigung
verdankt, oder um den noch andauernden "Kampf" des beruflichen
Bildungswesens um die Gleichwertigkeit qualifizierter beruflicher
Bildungsabschlüsse mit der Hochschulzugangsberechtigung des
Abiturs: im Vordergrund stand und steht das partikulare Interesse
der jeweiligen staatlichen und nicht-staatlichen Bildungsagenturen
an der Erweiterung ihrer institutionellen Zuständigkeiten bei
der Vergabe von Verfügungsrechten in Bezug auf das Hochschulzugangsprivileg.
Als Beobachter dieser Entwicklung wird man rasch erkennen, dass
die Struktur des gegliederten Bildungswesens die Möglichkeiten
grenzüberschreitender Aktivitäten auf dem Feld der Bildungsreform
und damit die Voraussetzungen integrierten Lernens stark limitiert.
Die Distribution des gesellschaftlichen Wissensvorrats erfolgt selektiv
über die separierten Schullaufbahnen als staatlich lizenzierte
Verteilungsagenturen; diese blockieren im deutschen Bildungssystem
nicht unerheblich den Austausch von Wissen und die Verbindung unterschiedlicher
Wissensarten im Sinne integrierten Lernen. Dass darunter auch die
wirtschaftliche Produktivität von Wissen leidet, legen die
Ergebnisse des jüngsten OECD-Bildungsberichts nahe.
Gleichwertigkeit codiert durch das Konstanthalten bestehender Strukturen
die Ungleichheit der Bildungschancen im System der nach Allgemeinbildung
und Berufsbildung getrennten Bildungssysteme. Sie ist im Unterschied
zum subjektiven Gebrauchwert integrierten Lernens eine Tauschwertkategorie.
Wer den Tauschwert nicht als letztes Wort pädagogischen Denkens
zu akzeptieren vermag, kommt nicht umhin, sich den substantiellen
Fragen integrierten Lernens zuzuwenden. Dabei geht es auch und nicht
zuletzt um Fragen nach der "Ordnung der Dinge" als strukturaler
Dimension integrierten Lernens. Wir werden zwar nicht mehr auf die
Ordnung der Dinge und die damit verbundenen "großen Erzählungen"
(LYOTARD 1986) zurückgreifen können, auf die sich COMENIUS
bei der Abfassung der "Großen Didaktik" verließ.
Jedoch wird auf die (immer wieder zu erneuernde) Herstellung von
Ordnung als pädagogischem Bezugsrahmen für "integriertes
Lernen" nicht zu verzichten sein, wenn Lernen und Lehren in
öffentlicher Verantwortung nicht auf "Halbbildung"
reduziert sein soll (vgl. ADORNO 1962). Nicht die "Ver-Ordnung"
von Ordnung, sondern die Ermöglichung und Unterstützung
von "Denken" als "Ordnen des Tuns" (vgl. AEBLI
1980/1981) wäre die Perspektive, auf die integriertes Lernen
- auch in Widerspruch zu den Handlungsszwängen des Alltags
und den darauf verkürzten Formen handlungsorientierten Lernens
- abzielen sollte.
Mit Willi BRAND verbinden mich Gespräche und freundschaftliche
Beziehungen, die mich in solchen Überlegungen ermutigten.
Literaturverzeichnis
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