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Berufs- und Lebensperspektiven Behinderter.
Methodologische Grundsätze integrationspädagogischer
Tätigkeit
|
Fragen, Interessen, Motive, Handlungsmöglichkeiten
Mit welchem Erkenntnisinteresse können sich Pädagogen,
vor allem berufspädagogisch orientierte Behindertenpädagogen
mit Berufs- und Lebensperspektiven von behinderten Personen befassen?
Die Antworten auf diese Frage fallen unterschiedlich aus. Im Gespräch
zwischen Kolleginnen und Kollegen in einer abgebenden Schule der
Sekundarstufe I, während einer Veranstaltung zur Fort- und
Weiterbildung von Pädagogen, im wissenschaftlich ausgerichteten
Studium, im integrationspädagogischen Forschungsprozess sind
unterschiedliche Antworten gefragt. Das Interesse an einer Weiterentwicklung
der Theoriebildung, an ihrer Konkretisierung mit Blick auf die Denk-
und Verfahrensweisen in unterschiedlichen Bildungsprozessen, in
den einschlägigen Institutionen, in Förderschulen und
Integrationsklassen, in beruflichen Schulen, in Werkstätten
für behinderte Menschen und in den Integrationsfachdiensten
ist groß, unübersehbar. Woran es vor allem fehlt, das
ist das gemeinsame Nachdenken und Planen, das abgestimmte Handeln
zwischen dem verantwortlichen Personal in den abgebenden und aufnehmenden
Institutionen. Die Erfolge sind dann ermutigend, wenn die Kommunikation
und der Schulterschluss zwischen den Beteiligten bis in die Betriebe
und ihre Leitungsebenen hinein realisiert werden kann (vgl. HAARMANN/SPIESS
2002).
In der Planung und Durchführung integrationspädagogischer
Tätigkeit fehlt es weder an den behinderten- und integrationsrechtlichen
Grundlagen noch an begründeten Kriterien für die Qualität
der Arbeit, die im Prozess des Übergangs Behinderter in die
berufliche Bildung und Qualifizierung, in die Betriebe und Werkstätten
geleistet werden muss. Die aktuelle Aufgabe besteht darin, die Integrationsfachdienste
der Integrationsämter flächendeckend in den Städten
und Regionen auszubauen und von den Zwangsjacken der Bürokratie,
des quantitativen Denkens und der statistischen Erhebungen zu befreien.
Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit im integrationspädagogischen,
im arbeitspädagogischen Prozess muss die Verantwortlichkeit
des Personals für die Qualität der geleisteten Arbeit
stehen. Das gilt selbstverständlich auch für die Tätigkeit
von Pädagogen in den allgemeinen Schulen, in der berufsvorbereitenden
und beruflichen Bildung. Nicht mehr Arbeits- und Unterrichtsstunden
dürfen den Pädagogen mit einem politisch motivierten und
verwaltungstechnisch ausgerichteten Instrument abgepresst werden.
Viel mehr müssen sie verpflichtet sein, gegenüber den
Beteiligten, vor allem gegenüber den Eltern und Erziehungsberechtigten,
gegenüber der Schulaufsicht und der bildungs- und wissenschaftspolitischen
Öffentlichkeit die Ziele, Inhalte und Methoden ihrer Tätigkeit
im Erziehungs- und Bildungsprozess regelmäßig darzulegen.
Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen sollten die naheliegenden,
die nächsten Entwicklungsmöglichkeiten der Lernenden,
der Jugendlichen stehen. Über die Sicherung und Ausweitung
der vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Kenntnisse,
des Wissens und der Persönlichkeitseigenschaften der Jugendlichen
muss kontinuierlich reflektiert werden. Diese Sicherung und Ausweitung
der Fähigkeiten und Fertigkeiten Jugendlicher kann erfolgreich
nur im Medium ihrer eigenen Tätigkeit, der sie umgebenden Natur,
der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge und sinnerfüllter,
gesellschaftlicher Arbeit und Produktion stattfinden (vgl. PESTALOZZI
1966, 10).
Die weitgehend abstrakte Auseinandersetzung über die Planung
und Realisierung von gemeinsam geteilter Unterrichts- und Lerntätigkeit
zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern ist wesentlich
auf die ersten fünf oder sechs Schuljahre ausgerichtet, auf
die dort dominierende Tätigkeit des Lernens als die 'Arbeit
von Kindern' (vgl. DUISMANN 2003). Danach muss der gesellschaftliche
Arbeits- und Produktionsprozess nicht nur wahrgenommen und gedanklich
be- und verarbeitet werden, sondern in ihm müssen für
die Heranwachsenden Räume, Werkstätten, Erprobungsstrategien
geschaffen werden, in denen sie ihre Kräfte mit Blick auf die
Welt der Erwachsenen, mit Blick auf ihre selbsttätige Integration
in das Beschäftigungssystem, in die Erwerbstätigkeit entwickeln
können. Wenn die sozialökonomisch und politisch herrschenden
Kräfte nicht in der Lage bzw. Willens sind, diesen Integrationsprozess
durch die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu
ermöglichen und zu sichern, dann tragen sie selbstverständlich
die Verantwortung für die Berufsnöte, die Arbeitslosigkeit
und die Verwahrlosung großer Teile der Jugend. Berufspädagogisch
qualifizierte Behindertenpädagogen oder umgekehrt, behinderten-
und sozialpädagogisch qualifizierte Berufspädagogen sind
nicht nur besorgt um die berufliche Integration behinderter Jugendlicher
(ca. 6-8 %), sondern um einen Teil der Jugend, der in manchen Stadtteilen,
Regionen und wirtschaftlich unentwickelten bzw. heruntergekommenen
Gebieten bis zu 30 % aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausmacht.
Gewerkschafter, Pädagogen, wissenschaftlich gebildete, geistig
und materiell unabhängige Menschen, die in der Lage und Willens
sind, sich zu assoziieren, sie können ein Bollwerk sein oder
bilden, um den andauernden und zunehmenden Kräften in Politik,
Wirtschaft und Gesellschaft entgegenzutreten. Diese sind offensichtlich
bestrebt, Wahrheiten zu verschweigen, Opfer der sozialökonomischen
Entwicklung und ihrer sozialversicherungspolitischen Folgen zu Tätern
abzustempeln oder die Institutionen und Erscheinungen des Systems
derart bunt zu verpacken oder anzustreichen, dass in einer Stadt
wie Hamburg sehr wahrscheinlich kaum hundert Menschen mehr durchblicken,
was mit Hilfe der Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- und Hochschulpolitik
des politischen Senats durchgesetzt werden soll bzw. kann.
Derweil können aufmerksame Bürger in der Stadt Hamburg
wahrnehmen, dass die überwiegende Mehrzahl der Lehrer und wahrscheinlich
auch der Eltern gegen die Lehrerarbeitszeitverordnung sind. Nicht
wenige Kolleginnen und Kollegen aus dem Fachbereich Erziehungswissenschaft
konnten sich während der Anhörung von Experten, von Bürgern
durch den Schulausschuss der Bürgerschaft davon überzeugen,
dass Eltern, Lehrer, Gewerkschafter und Wissenschaftlerinnen qualifizierter
für ein demokratisches Schulgesetz und vor allem für den
Ausbau integrationspädagogischer Arbeit in den Schulen und
im Berufsbildungsprozess eintreten können als selbst die oppositionellen
Kräfte im Stadtparlament.
An anderen Orten dieser Stadt, in berufs- und rehabilitationspädagogischen
Einrichtungen können sich Studierende als angehende Pädagogen,
als Behinderten- oder Berufspädagogen damit auseinander setzen,
wie und mit welchem Erfolg sich behinderte bzw. durch Unfall und
Krankheit geschädigte Menschen auf neuen Wegen für berufliche
Tätigkeiten qualifizieren. Im Zusammenhang mit der Analyse/Synthese
von Persönlichkeitsentwicklungsprozessen in Werkstätten
für behinderte Menschen hat der Verfasser dieses Beitrags eine
Person vor Augen, die jahrelang bestrebt war, ihren Analphabetismus
zu überwinden, das Lesen und Schreiben zu lernen. Das gelang
der Person erst dann und sehr langsam, nachdem ihr qualifizierte
Unterstützung durch zwei sprachwissenschaftlich und didaktisch
gebildete Lehrerinnen zuteil wurde. Die beiden Sonderpädagoginnen
haben sich bereits während ihres Studiums an der Universität
Oldenburg intensiv und auf wissenschaftlich reflektiertem Niveau
mit muttersprachlichem Anfangsunterricht, mit der so genannten Morphem-Methode
beim Lesen und Schreiben von erwachsenen, geistig behinderten Personen
befasst. Sie waren später in ihrer beruflichen Tätigkeit
so versiert im Prozess der Analyse von Wahrnehmungs- und Tätigkeitsprozessen
von geistig behinderten Erwachsenen, dass sie sicher die Morpheme,
die Wörter und Wortfelder herausfinden konnten, welche als
Material, als Gegenstände der Aneignung von Schriftsprachlichkeit
geeignet waren. In dem Prozess der Aneignung der Schriftsprache,
an den hier erinnert wird, ging es im Kern um die Wörter drehen
und Drehmaschine, um das Morphem '-dreh-'. Der erwachsene, geistig
behinderte Analphabet war versierter Praktiker an verschiedenen
Drehmaschinen in den Werkstätten für behinderte Menschen
in Ganderkesee, zwischen Oldenburg und Bremen gelegen. Sein eignes
jahrelanges Bemühen um Schriftsprachlichkeit war vergeblich,
weil Kolleginnen und Kollegen in der Werkstatt aber vor allem in
der örtlichen Volkshochschule nicht über die angemessenen
Fähigkeiten verfügten. Sie konnten die inneren Zusammenhänge
zwischen Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung, zwischen Bedürfnis
und Interesse nicht aufdecken.
Am Beispiel einer Kulturtechnik der Blinden und zugleich Gehörlosen,
am Daktylieren kann die Darstellung verifiziert werden: Wenn Pädagogen
die Kulturtechniken nicht virtuos beherrschen, wenn sie die Wissenschaft
und Praxis der Vermittlung zwischen den Personen, der sie umgebenden
Natur, ihrer Umwelt, ihrer eigenen Welt der Gedanken und der Betätigung
nicht ausloten, dann müssen sie sich mit geringem Erfolg zufrieden
geben. Pädagogen und solche, die es werden wollen, können
die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Sie sollten mit Blick auf ihre
eigene Persönlichkeitsentwicklung nicht verzweifeln; denn es
ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass Lehrerinnen und Lehrer
weitgehend dafür verantwortlich sind, wenn Kinder über
Jahre hinweg die Schule besuchen und nur unzulänglich oder
gar nicht das Lesen und Schreiben lernen. Die keineswegs immer optimistisch
stimmenden Antworten auf viele Fragen beim Studieren und beim Erforschen
integrationspädagogischer Prozesse stehen nicht unverbunden
nebeneinander. Was sie zusammenhält, ist der Reichtum des pädagogischen
Prozesses in der Gesellschaft, mit seinen widersprüchlichen
Erscheinungen in Wissenschaft und Praxis. Der Reichtum des pädagogischen
Prozesses existiert in seiner Bewegung und Entwicklung, in den Taten
der Lehrerinnen und Lehrer, der Kinder, Jugendlichen und Eltern,
die in den Institutionen des Prozesses planvoll, intentional wirken.
Er existiert auch in den Denk- und Verfahrensweisen von Studierenden
und Wissenschaftlerinnen, die sich vieles aneignen, mit dem Ziel,
in dem unendlichen Prozess gestaltend zu wirken. Die widersprüchliche
Einheit des pädagogischen Prozesses in Theorie und Praxis muss
betont werden. Alle Versuche, die pädagogische Theoriebildung
der pädagogischen "Praxis entgegenzustellen und eine solche
Entgegenstellung philosophisch zu 'begründen'", haben
sich in Vergangenheit und Gegenwart als fruchtlos erwiesen (KOROLJOW/GMURMANN
1972, 118). Wie ein solcher Kardinalfehler und andere Mängel
beim Denken und Tun im pädagogischen Prozess vermieden werden
können, kann mit Hilfe der inneren Zusammenhänge zwischen
nicht mehr als sechs wissenschaftlichen Kategorien demonstriert
werden.
Gesetzmäßigkeit
Welches Interesse Pädagoginnen und Pädagogen auch immer
leiten mag, die im integrationspädagogischen Prozess tätig
sind: Sie können seine Widersprüchlichkeit erkennen und
beachten. Sie können Widersprüchlichkeiten gedanklich
angemessen be- und verarbeiten, wenn es ihnen bewusst ist, was integrationspädagogische
Theoriebildung leisten, welchen Zwecken sie dienen soll. Sie soll
(erstens) gesicherte gesetzmäßige Aussagen über
den Gegenstand unserer wissenschaftlichen Tätigkeit bestätigen
und konkretisieren. Selbstverständlich ist es auch notwendig
oder wahrscheinlich, bislang unbekannte gesetzmäßige
Zusammenhänge im Prozess der Entfaltung des individuell-gesellschaftlichen
Menschen, im Prozess der Herausbildung von Persönlichkeiten
zu entdecken und sprachlich-begrifflich in Arbeitsprozessen darzustellen.
Angesichts veränderter, vor allem sozialer und materiell-technischer
Bedingungen des pädagogischen Prozesses muss davon ausgegangen
werden, dass die pädagogisch wie berufspädagogisch qualifizierte
Beförderung von Persönlichkeitsentwicklungsprozessen sich
nicht nur auf neuartige Erkenntnisse sondern auch auf neu entdeckte
Gesetzmäßigkeiten stützen kann. Im gegebenen Zusammenhang
kann an die von pädagogischen Fachkräften herstellbaren
inneren Zusammenhänge zwischen vier Erscheinungen bzw. Tatsachen
erinnert werden:
· die Errungenschaften der Informations- und Kommunikationstechnologie,
die im Bildungsprozess gar nicht mehr wegzudenken sind,
· die mikroelektrotechnische Revolutionierung der Steuerungselemente
sämtlicher Arbeitsmaschinen zu systemischer Produktionstechnik,
· die veränderten demografischen Bedingungen, beispielsweise
die Tatsache, dass immer mehr Kinder und Jugendliche ohne Geschwister
aufwachsen, und dass die familiäre Entwicklung, die Jugend,
die Arbeit in Schulen, Berufsschulen und Betrieben getrennt erscheint
zwischen Stadt und Land, zwischen den Ländern, zwischen Stadtteilen,
zwischen Schichten und Klassen, zwischen den etablierten und zugewanderten
Familien, zwischen den immer widersprüchlicher werdenden
Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Wirtschaftszweigen,
· die bereits erwähnte Arbeits- und Perspektivlosigkeit
großer Teile der Bevölkerung, der Jugend und alter
Menschen. Es ist absurd bzw. ablenkend, die krisenhafte, sozialökonomische
Entwicklung reformieren zu wollen, in dem denen, die nichts oder
wenig haben, vor allem keine Arbeit, neue Lasten aufgebürdet
werden. Der Staatshaushalt der Bundesrepublik wird seit Jahrzehnten
zunehmend von der lohnabhängigen Bevölkerung finanziert,
und wenn die Lohnerhöhungen oder wenigstens Arbeits- und
Ausbildungsplätze fordert, dann wird sie von einer Koalition
aus Wirtschaft und Politik beschimpft und - so wie es jetzt in
der ostdeutschen Metallindustrie geschieht - es wird ihr angedroht,
die Betriebe in das Ausland zu verlegen. Es scheint kaum Politikerinnen
und Politiker von Format zu geben, die dies anprangern und verurteilen
als tendentiell grundrechtswidrig und gegen den sozialen Frieden
im Lande bzw. im zusammenwachsenden Europa gerichtet.
Gewordenheit
Die Theoriebildung, im vorliegenden Falle die berufs- und behindertenpädagogische,
soll (zweitens) ihren Gegenstand in seiner Gewordenheit widerspiegeln.
Es geht hier nicht um die Gewordenheit der pädagogischen Wissenschaft
selbst (Geschichte der Pädagogik), sondern um die Herausbildung
und Entwicklung der pädagogischen Denk- und Verfahrensweisen,
die dafür bestimmend sind, wie in Schule und Unterricht, im
Betrieb und in der Berufsschule die Gewordenheit einer Persönlichkeit
zum Ausdruck kommt.
Zukunft
Die pädagogische Theoriebildung soll (drittens) über
die künftige Entwicklung ihres Gegenstandes Aussagen machen.
Selbstverständlich dürfen nicht die Jugendlichen selbst
oder gar ihre Köpfe als der 'Gegenstand' pädagogischer
Arbeit angesehen werden. Der Gegenstand pädagogischer Arbeit
ist die ethisch und wissenschaftlich verantwortete Vermittlungstätigkeit
zwischen den Jugendlichen, ihren psychophysischen Kräften und
der sie umgebenden Natur, der gesellschaftlich geformten Umwelt,
der Kultur und der Welt der Arbeit, der Produktion aller Güter
und Dienstleistungen, die Menschen in ihren sozialen Beziehungen
zum Leben brauchen. Damit ist diese grundlegende Bestimmung pädagogischer
Arbeit durch PESTALOZZI zum dritten Mal variierend gebraucht worden.
Er hat ein Bewusstsein über die inneren Zusammenhänge
zwischen Sozialerziehung und Volksbildung, zwischen berufs- und
behindertenpädagogischer Tätigkeit in Wissenschaft und
Praxis ausgebildet.
In diesem dritten Element der Theoriebildung geht es um die Zukunft
der Personen, die den professionell tätigen Pädagogen
von den staatlichen und gesellschaftlichen Organen anvertraut sind
bzw. anvertraut werden, und deren Entwicklung sie mit wissenschaftlich
begründeten und erprobten Mitteln erforschen und befördern
sollen. Pädagogische Theorie, die keine Prognose über
die sich entwickelnden, sich bildenden, über die zu erziehenden
Menschen erstellt, erfüllt nicht ihren wesentlichen Zweck.
Das ist eine Feststellung, die Brisanz bekommt, wenn vor allem Pädagoginnen
und Pädagogen die Augen nicht (mehr) davor verschließen,
dass viele Verantwortliche in den pädagogischen Institutionen,
in den Betrieben und in den Organen der Politik keine Antworten
mehr wissen, auf die Fragen nicht nur der Jugend nach einer erfüllten
Zukunft, nach sozialer und materieller Sicherheit, nach sinnerfüllter
Arbeit und Berufsbildung, nach Frieden nicht nur bei uns, sondern
auch im Kongo, im Irak, in Afghanistan. Diese Länder und Menschen
sind den Pädagogen keineswegs fern. Hamburg hat die größte
afghanische Gemeinde in Deutschland zu Gast mit ca. 15 Tausend Personen,
darunter vielen Jugendlichen, die ganze Berufsschulklassen füllen.
Die drei genannten und die nun folgenden drei Qualitätskriterien
für integrationspädagogische Arbeit, die als die wesentlichen
Seiten wissenschaftlicher Denk- und Verfahrensweise bestimmt werden
können, müssen angehende Pädagogen am Ende des Studiums
beherrschen und selbst unter widrigen Umständen anwenden können.
Viele komplizierte Darlegungen und Diskussionen im pädagogischen
Prozess und vor allem in der Lehrerbildung sind auf das dialektische
Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Bewegung
und Entwicklung, von Behinderung und Normalität ausgerichtet.
Eine angemessene Haltung und Auffassung zu diesen gesellschaftlichen
wie individuellen Entwicklungsproblemen kann folgendermaßen
zusammengefasst werden: Keine Pädagogin, kein Pädagoge
sollte sich mit Feststellungen zufrieden geben, dass 'das Leben
in der Gesellschaft sich wandelt', dass 'die gesellschaftliche Kommunikation
und Produktion revolutioniert wird', dass die Individuen tätig
sind und sich entwickeln. Mit Blick auf das pädagogische Denken
und Tun ist es unumgänglich, dass die Praxis des gesellschaftlichen
Lebens und Arbeitens, dass die Praxis des Bildungsprozesses und
des gemeinsamen Lernens eines grundsätzlichen Wandels bedarf,
damit sich viele Menschen, Behinderte und Benachteiligte, Menschen
aus anderen Kulturkreisen, ganze Schichten der Bevölkerung
überhaupt erst entfalten können. Pädagogen müssen
auf dieser Forderung bestehen und, damit sie nicht unglaubwürdig
werden, müssen sie selbst Hand anlegen, damit die gesellschaftlichen
wie materiellen Bedingungen, die Voraussetzungen für integrationspädagogische
Tätigkeit geschaffen bzw. verbessert werden. Wenn Berufspädagogen
der Auffassung sind, dass geistig behinderte Menschen das Recht
haben, sich in einer Berufsschule zu bilden und in einem Betrieb
zu arbeiten, dann sollten sie nicht in der Berufsschule hoffen und
warten, dass sie zu ihnen kommen. Das Soziale und das Politische
ist immer dominant in dem (integrations)pädagogischen Denken
und Handeln.
Welche Erwartungen können Pädagogen an eine integrationspädagogische
Theorie bzw. Theoriebildung haben, die ein Mittel zur Veränderung
der gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem das Mittel
zur Integration von Menschen in das Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem
ist, die bislang weitgehend ausgeschlossen sind? Mit Hilfe von drei
weiteren Gedankengängen können die Erwartungen zum Ausdruck
gebracht werden.
Ganzheitlichkeit
Integrationspädagogisches Denken und Handeln ist nicht darauf
aus, (irgend) eine Seite der Entwicklung, Erziehung und Bildung
einer Persönlichkeit zu erhellen. Mit der Analyse/Synthese
möglicher Berufs- und Lebensperspektiven Behinderter und ihrer
nachdrücklichen Verwirklichung können und wollen Pädagogen
der jeweiligen Persönlichkeit und der Logik ihres Denkens und
Handelns, ihrer Gefühls- und Lebenswelt gerecht werden. Ist
das wegen ihrer unzulänglichen Fähigkeiten oder wegen
der fehlenden Mittel nicht oder noch nicht möglich, dann können
sie darauf aus sein, Voraussetzungen zu schaffen, um Wesentliches
tun zu können. Vor allem die dezidiert pädagogische Arbeit
mit sehr schwer geschädigten bzw. behinderten Menschen ist
ohnehin immer eingebettet in das absichernde, versorgende Handeln
(vgl. HANSELMANN 1941, 52 und 61). Solange Integrationspädagogen
noch dabei sind, einen Ansatzpunkt für ihre Arbeit zu suchen
und zu finden, sind sie darauf aus, die Persönlichkeitsentwicklung
von Behinderten und Benachteiligten als Prozess und Ganzheit differenziert
und distanziert zu erfassen. Dieser Gedanke muss herausgestellt
werden, weil über einzelne Erscheinungen des Erziehungsprozesses,
z. B. über isolierende Bedingungen, über Kindheit, über
die Pubertät oder über Wahrnehmungstätigkeit vieles
bereits bekannt ist. Woran es fehlt im Studium der Pädagogik,
das ist z. B. die Bestimmung dessen, was pädagogische Tätigkeit
in Wissenschaft und Praxis ausmacht (Gegenstandsbestimmung der pädagogischen
Arbeit). Im Theoriebildungsprozess und auch im integrationspädagogischen
Prozess fehlt es in aller Regel am Überblickswissen und an
der gedanklichen Vorwegnahme des Weges, der professionell begehbar
ist. Viele Pädagogen behelfen sich dann damit, dass sie für
wechselnde Erscheinungen in der Praxis die ewig gleiche Erklärung
heranziehen oder alle möglichen Aufgaben im Erziehungs- und
Bildungsprozess mit den gleichen Mitteln angehen. Es ist aber eine
Binsenweisheit in der Pädagogik, dass selbst unter gleichen
Bedingungen dasselbe Mittel keineswegs sicher zum Ziel führt
(a. a. O., 175).
Entwicklung
Pädagogen im Forschungsprozess und im integrationspädagogisch
ausgerichteten Berufsbildungsprozess müssen es berücksichtigen,
dass sie als gestaltende, als professionell tätige Subjekte
sich auch selbst bewegen und entwickeln. Sie orientieren sich an
neuen Entwicklungen und vor allem an Kolleginnen und Kollegen in
den institutionellen Arbeitszusammenhängen. Kooperation ist
nötig aber zeitraubend. Der Gegenstand pädagogischer Arbeit
in Wissenschaft und Praxis verändert sich permanent. Es kristallisieren
sich ständig neue Sichtweisen auf die Arbeit, auf die Vermittlungstätigkeit
zwischen den Jugendlichen und Erwachsenen, auf ihre Welt der Arbeit
und der Berufsbildung heraus. Wenn die Jugendlichen und Erwachsenen
sich, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, dann kann
das von Pädagogen gedanklich vorweggenommen, es kann auch 'zufällig'
sein. Oft ist es gar nicht so sicher oder bekannt, welcher Person
der Erfolg zugerechnet werden kann. Die Entwicklungsrichtung ist
oft nicht eindeutig. Was mit vereinten Kräften z. B. in den
Werkstätten und Betrieben entsteht, wird an anderen Orten,
nicht selten von Angehörigen, in der Familie konterkariert.
Eine Studentin, die während eines Praktikums in einer Tagesbildungsstätte
für geistig behinderte Menschen stolz berichtete, sie hätte
es erfolgreich geschafft, eine geistig behinderte, erwachsene Person
zum selbstständigen Toilettengang zu erziehen, bekam von einer
dort dauerhaft tätigen Kollegin die zynische oder fatalistische
Antwort: 'Warten Sie ab, bis wir mit ihr hier allein sind, dann
beginnt die Person mit uns das Spiel von neuem!'
Widersprüchlichkeit
Mit diesem Beispiel kann verdeutlicht werden, wie Integrationspädagogen
sich in den Widersprüchen ihrer Denk- und Verfahrensweisen
verfangen können. Sie können es schaffen, die inneren
Widersprüche ihrer Vermittlungstätigkeit zwischen den
Personen und ihren Lebenswelten zu erkennen. Alleine sind sie in
aller Regel verloren. Wer in einem Kollegium wenigstens eine professionell
tätige Person des Vertrauens hat, die eine Wahrheit sagen kann
und deren Aussagen und Tätigkeiten zusammenpassen, der kann
sich glücklich schätzen. Es kommt nicht selten vor, dass
Integrationspädagogen mit ihren Überzeugungen und Bestrebungen
selbst in einem großen Kollegium alleine dastehen, kämpfen
und an das bekannte Wort denken: Nur tote Fische schwimmen mit dem
Strom. Die Widersprüche (z. B.) im Prozess der Aneignung eines
Arbeitsprozesses durch eine Person, die angeleitet wird, sind oft
unentwirrbar. Die geistige Aneignung einer 'gemeinsamen dritten
Sache' ist kompliziert und langwierig vor allem dort, wo den Beteiligten
als Mittel der Kommunikation nicht die entfaltete Sprache bzw. die
Schriftsprachlichkeit zur Verfügung steht.
Die Beachtung, die Erforschung, die Erkenntnis der inneren Widersprüchlichkeit
des Gegenstandes pädagogischer Arbeit ermöglicht den Pädagogen
selbst im Falle des Misserfolgs den einen oder anderen Gedanken
über die Antriebskräfte oder gar über mögliche
andere Entwicklungsrichtungen, die eingeschlagen werden können.
In dem Bühnenstück von Carl Zuckmeyer muss der Oberst
sich mehrfach die Mahnung von Jakobowsky anhören: 'Es gibt
selbst in ausweglos erscheinenden Situationen immer wenigstens zwei
Handlungsmöglichkeiten!'
Literatur:
DUISMANN, G. H. (2003): Vorlesung über berufsvorbereitenden
Unterricht im integrationspädagogischen Seminar am 18. Juni
2003 im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität
Hamburg.
HAARMANN, E. M. und SPIESS, I. (2002): Verbindungen schaffen zwischen
behinderten-, berufs- und sozialpädagogischer Arbeit: Begleitende
Hilfen im Arbeitsleben, in: BAABE/HAARMANN/SPIESS (Hrsg.): Für
das Leben stärken - Zukunft gestalten. Behindertenpädagogische,
vorberufliche und berufliche Bildung - Verbindungen schaffen zwischen
Gestern, Heute und Morgen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus
Struve. Paderborn: Eusl, 74-95.
HANSELMANN, H. (1941): Grundlinien zu einer Theorie der Sondererziehung
(Heilpädagogik). Erlenbach-Zürich: Rotapfel-Verlag.
KOROLJOW, F. F. und GMURMAN W. J. (Hrsg.) (1972): Allgemeine Grundlagen
der Pädagogik. Berlin: Volk und Wissen.
PESTALOZZI, J. H. (1966): Über den Aufenthalt in Stanz, in:
BUCHENAU/SPRANGER/STETTBACHER (Hrsg.): Pestalozzi, Sämtliche
Werke, Band 3, Berlin, Leipzig: Walter de Gruyter & Co., 3-32.
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