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    Inhaltlich verantw. Herausgeber der Ausgabe Gramlinger, Steinemann und Tramm
 
 
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Rainer Bremer/ Michael Kleiner/ Reinhold Stahl

Das geschäfts- und arbeitsprozessorientierte Curriculum für Industriekaufleute im Modellversuch GAB und seine didaktische Umsetzung

1.  Das Problem der Geschäfts- und Arbeitsprozessorientierung der im Modellversuch GAB beteiligten Wirtschaftsberufe

Der Modellversuchstitel „GAB“ steht für „Geschäfts- und arbeitsprozessbezogene, dual-kooperative Ausbildung in ausgewählten Industrieberufen mit optionaler Fachhochschulreife“. Das Vorhaben diente der Verbesserung der betrieblichen Ausbildung bei Volkswagen sowie dem hierauf bezogenen Unterricht der Berufsschulen. Es war geeicht auf die Probleme, die in der gewerblich-technischen Ausbildung entstanden sind, nämlich auf die realen und zukünftigen Anforderungen der Facharbeit vorzubereiten. Die Wirtschaftsberufe (Industriekaufleute und Kaufleute für Bürokommunikation) schienen zunächst kaum berührt, vor allem im Hinblick auf die eigentliche „Krisendiagnose“, die zur Idee des Modellversuchs führte: Weil die gewerblich-technische Ausbildung sich mehr und mehr auf Lehrwerkstatt und Lehrgänge beschränkte, begab sie sich in eine wachsende Distanz zur Berufswirklichkeit an den Arbeitsplätzen, für die die Jugendlichen qualifiziert werden sollen. Die Konsequenzen des in den 90er Jahren branchenweit ausgelösten Wandels von Technologie und Arbeitsorganisation in der Automobilindustrie führten zu einem verdoppelten Aufwand: Einmal musste der Betrieb durch die Ausbildung auf die Prüfung vorbereiten, danach ein zweites Mal auf die davon erheblich verschiedenen Standards der realen Berufsarbeit.

Die Ausgangslage der Wirtschaftsberufe schien demgegenüber ideal. Dort gab und gibt es keine Lehrwerkstätten, es wird in den Abteilungen, innerhalb der Geschäfts- und Arbeitsprozesse ausgebildet. So lag die Annahme nahe, dass die Teilnahme dieser Berufe am Modellversuch entweder überflüssig oder allenfalls in solchen Aspekten sinnvoll ist, die sich grundsätzlich von den übrigen Innovationen unterscheiden.

In den empirischen, die tatsächlichen Ausbildungsbedingungen realisierenden Blick fiel dann doch eine Gemeinsamkeit. Die Wirtschaftsberufe teilen mit den gewerblich-technischen eine Schwierigkeit, die ein nicht primär fachsystematischer, sondern kompetenzentwicklungsorientierter Aufbau des Curriculums bereitet. Eine der wesentlichen, von GAB intendierten Innovationen sollte sein, für das Curriculum primär nicht die Bezugswissenschaften und ihre – im Unterricht als Fachdidaktiken gespiegelten – Systematiken heranzuziehen, sondern auf die Bedingungen Rücksicht zu nehmen, die im lernenden, d. h. seine beruflichen Kompetenzen aufbauenden Subjekt vorliegen. Damit geht es nicht mehr nur um die Erschließung des systematisch aufgebauten Fachwissens, sondern auch um die Vermittlung von Erfahrungen mit beruflichen Gegenständen, die im Sinne einer Entwicklung vom Anfänger zum Experten mit wachsender Professionalität gehandhabt werden sollen (Rauner/Röben/Bremer 2001). In der Diskussion um Lernfelder ist in diesem Zusammenhang von beruflichen Handlungssituationen (Hägele/Knutzen 2001) die Rede, bei denen die Zielformulierungen die Rolle von definitorischen Beschreibungen dessen spielen, was als berufstypischer Standard des Könnens und Handelns zu gelten hat (KMK 2000, die Standardformulierung beginnt mit: „Die Schülerinnen und Schüler wissen…“ oder „… beurteilen…“).

Die auf den ersten Blick arbeits- und geschäftsprozessgerechte Organisation der wirtschaftsberuflichen Ausbildung bei Volkswagen erwies sich bei zweitem Hinsehen keineswegs als jenes insgesamt beispielhaft prozessorientierte Vorbild, dem die gewerblich-technische Ausbildung nur nachzueifern brauchte. Dies wird an der teilweise erheblichen Differenz zwischen Arbeits- und Geschäftsprozess sichtbar (2), allerdings in den Reformkonsequenzen erst deutlich, wenn der Unterschied zwischen betrieblichem und schulischem Lernen herausgearbeitet wird (3).

2. Wirtschaftsberufliches Lernen in strategisch verknüpften Arbeitsprozessen

(Die Folgen sind für die Kompetenzentwicklung der Auszubildenden beträchtlich: Sie verläuft kaum in einer vom Prozessbegriff erforderten Breite, als vielmehr in einer später beträchtlichen Tiefe, die sie weitgehend von den Nachbarprozessen isoliert und die tatsächlichen Zusammenhänge in ein gewisses Dunkel taucht. Hinzu kommt, dass die Figur des Kunden praktisch nicht vorkommt, die Arbeit wird eher in linear gerichteten Abläufen als in reflexiven Prozessen geleistet. )

Die bereits im Titel des Modellversuchs GAB vorgenommene Differenzierung zwischen Arbeits- und Geschäftsprozess unterstellt nicht nur eine Unterscheidbarkeit, sondern auch ein bestimmtes Verhältnis, zu dem die beiden Prozesstypen zueinander stehen: Der Prozesscharakter, der für die Arbeit an einzelnen Plätzen und für deren Verknüpfung in paralleler oder sequentieller Form in Anspruch genommen wird, unterstellt die Überwindung des Taylorismus als dominanter Organisationsform der Arbeit, die in möglichst weit reduzierte Teilfunktionen zerlegt und dann wieder verknüpft wird. Von einer dies überwindenden Arbeitsorganisation werden eine gewisse Komplexität und vor allem eine horizontal verankerte Verantwortlichkeit für das Ergebnis erwartet. Man kann auch sagen, dass ein Arbeitsprozess Spielräume professioneller Autonomie aufweist, innerhalb derer Entscheidungen über Mittel und Zwecke zu treffen sind, um die Standards von Qualität, Produktivität und Rentabilität einzuhalten oder ggf. weiterzuentwickeln. Gleichzeitig weisen sie eine Eigengesetzlichkeit technischer oder ökonomischer Art auf, die zu beherrschen die Kompetenz der Beschäftigten ausmacht. Da der Postfordismus die Arbeitsteilung nicht auf-, sondern auf ein höheres Niveau hebt (Lutz 1996), macht ihre sinnvolle Verknüpfung einen horizontal, alle Arbeitsprozesse umgreifenden Prozess notwendig, der teleologisch-strategisch, ökonomisch und – sicherlich erst bei gewissen Unternehmensgrößen – beschäftigungspolitisch auf die Arbeitsprozesse zurückwirkt. Komplementär zur technisch-ökonomischen Eigengesetzlichkeit einzelner Arbeitsprozesse steht die strategisch wirksame, in diesem Sinne direktive Determinierung durch die Geschäftsprozesse. Die Perspektive des Geschäftsprozesses müsste sich bei einem hinreichend entwickelten Abstraktionsvermögen in der Gestaltung der Arbeitsprozesse niederschlagen. Dies ist allerdings an die Voraussetzung gebunden, dass die Arbeit als Prozess und nicht länger als reduzierte Funktionseinheit innerhalb einer konsekutiven Verknüpfungskette organisiert wird.

Diese Voraussetzung wird im beteiligten Unternehmen nicht selbstverständlich erfüllt, die Arbeitsplätze, an denen die wirtschaftsberuflichen Auszubildenden lernen, sind nicht durchweg auf Prozesse umgestellt oder in solche anders als bloß funktional eingebunden. Überblickshaft kann man sagen, dass das noch vorherrschende funktionale Organisationsmodell dem didaktischen Plan Wöhes (1960/2000) entspricht. Nach dem Soll-Zustand ist es für einen Beschäftigten in der Finanzbuchhaltung demnach völlig gleichgültig, ob das von ihm mit buchhalterischen Dienstleistungen versorgte Unternehmen Automobile, Käse oder Elektrizität produziert.

3.  Das Verhältnis von schulischem und betrieblichen Lernen in GAB

Im Vergleich zu den gewerblich-technischen Berufen und ihrer Ausbildung haben wir es auch in diesem Punkt mit einer Besonderheit zu tun. Der dominant betrieblich-dezentralen Ausbildung in den Wirtschaftsberufen – zu Beginn gibt es Basisseminare und Grundkurse von zusammen höchstens sechs Wochen Dauer – steht berufsschulisch ein über drei Jahre kontinuierlich nach Plan verlaufender Unterricht gegenüber. Im Prinzip kommen wir erst hier, auf der Schulseite, mit dem von GAB insgesamt exponierten Problem der Entfernung von Bildung und Ausbildung von den relevanten Arbeits- und Geschäftsprozessen in Berührung. Hier wäre also der logische Ort einer Verbesserung nach GAB-Prinzipien gewesen.

Eine modifikationslose Übertragung dieser Prinzipien – Lernen im Arbeitsprozess – würde aber auf deren Trivialisierung hinauslaufen. Aus diesem Grunde haben wir dergleichen gar nicht versucht. Eine anspruchsvolle Austarierung systematischen und kontextabhängigen Lernens kann nicht den Weg einer Entgegensetzung, sondern nur einer Ergänzung gehen. Das gewichtigste Hindernis, das schulische Lernen mit dem betrieblichen in ein komplementäres Verhältnis zu bringen, besteht in der aus der individuellen Sicht der Lernenden willkürlichen Rotation über die Arbeits- und Lernplätze in den Fachabteilungen. Die Praxis der Rotation hängt ursächlich mit der bereits oben charakterisierten funktionsorientierten Arbeitsteilung zusammen: Wenn die Abteilungen weitgehend unabhängig von einander operieren, dann ergibt sich aus der zeitlichen Reihenfolge des Lerneinsatzes auch keine etwa didaktisch beachtenswerte Planungsgröße. Die dem arbeitsorganisatorisch vorgeprägten Muster punktuell-funktionaler Spezialisierung folgende Rotation führt zwangsläufig dazu, dass einige Auszubildende gleich zu Beginn an Arbeitsplätze delegiert werden, die andere erst zum Ende ihres Lernwegs kennen lernen. Dies widerspricht bereits der Möglichkeit einer am Kompetenzaufbau sich systematisch orientierenden Ausbildung.

Aber auch ohne das Ideal einer die subjektiven Bedingungen empirischer Entwicklungsverläufe ernst nehmende Curriculumrevision zu verfolgen, steht ein demgegenüber reduzierter Kooperationsansatz vor gewaltigen Problemen. Die Rotation widerspricht jeder Art von Systematik, sei sie entwicklungstheoretisch oder fachdidaktisch begründet. Stellt man dazu in Rechnung, dass die Rotation nicht einmal sicher über qualitativ homogene, also auf die Anforderungen der spezialisierten Arbeitsaufgaben abgestimmte Einsatzplätze verläuft, wird sogar das Niveau fraglich, das der komplementären Abstimmung zwischen schulischem und betrieblichen Lernen zugrunde gelegt werden soll.

Um die Wirtschaftsberufe an GAB teilhaben lassen zu können, wurden spezielle Lösungen für die Implementation der GAB-Prinzipien erforderlich.

4.  Ein neues Arbeitsorganisationsmodell für die betriebliche Ausbildung im „Lernfeld“

Die mangelnde Prozessorientierung gerade der betrieblichen Ausbildung verlangt nach einer gänzlich neuen Basis der Ausbildungsorganisation: Wenn der Hauptanteil der kaufmännisch-verwaltenden betrieblichen Arbeit funktional getrennt, also vertikal organisiert wird, dann muss die Prozesshaftigkeit ausbildungsseitig auf proprietäre Weise erzeugt werden. Pate standen bei der Lösung für dieses Problem zwei Konzepte, die hier nur benannt und nicht näher erläutert werden können: Es sind dies einmal schulische „Lernbüros“ bzw. die Service–Produktions–Lerninseln der gewerblich-technischen Ausbildung. Um aber z. B. über den simulativen Charakter eines Lernbüros hinaus zu kommen, sollten die neu konzipierten „Ausbildungs–Service–Center“ (ASC) reale Aufgaben übernehmen, jedoch deren Abwicklung prozesshaft organisieren. Damit blieb der Realcharakter der bisherigen wirtschaftsberuflichen Ausbildung erhalten, die Arbeit selbst wurde aber als ein übergreifender Geschäftsprozess organisiert, innerhalb dessen sich sinnvolle kaufmännisch-verwaltende Arbeitsprozesse anlagern ließen.

Das erste noch während der Laufzeit von GAB realisierte ASC übernahm die Funktionen einer „Behälterlogistik“. Ein Unternehmen, das von einer kaum noch überschaubaren Zahl von Zulieferern Roh- oder Halb- oder Fertigteile bezieht, diese in großmaßstäblichen Verfahren kombiniert, weiter- und endverarbeitet und dann als Automobile verkauft, lässt sich als ein riesiges, überkomplexes logistisches System beschreiben, das sich in Subsysteme gliedert. Ein solches, vergleichsweise kompaktes Subsystem stellt die Behälterlogistik dar. Sie repräsentiert eine horizontal durch andere Geschäftsprozesse durchlaufende Schicht von sinnvoll verknüpften Arbeitsprozessen, die zahlreiche Schnittstellen zu anderen, nicht nur logistischen Aufgaben aufweisen. Eine der Stärken dieses ASC ist sicherlich die Elastizität der unterlegten technischen Vorgänge – es bleibt die ständige Aufgabe der Optimierung als Beseitigung von Engpässen an vollen oder Stillstandszeiten der leeren Behälter.

Durch die Einrichtung von ASC gewinnt die betriebliche Ausbildung in den Wirtschaftsberufen eine sachlogisch bearbeitbare Prozesshaftigkeit. Die darin verkoppelten, teilweise auf Optimierung ausgerichteten und daher anspruchsvollen Arbeitsprozesse lassen sich im Unterricht auf fachdidaktisch-systematisch bearbeitbare Komplexe rückbeziehen. Allerdings sind die Umstellungen der betrieblichen Ausbildung auf Modelle wie das ASC „Behälterlogistik“ noch nicht soweit fortgeschritten, dass die Berufsschule auf eine eigene Konzeption von Lernfeldern und deren Aufschlüsselung mittels systematischen Wissens verzichten könnte.

Literatur:

gesammelt am Ende dieses Workshop-Abschnitts bei Tramm/Brand/Schwartz


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