wbv   Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.

 

 

 
ROLF DUBS (Universität St. Gallen)
Widerspruch oder produktives Spannungsverhältnis zwischen Praxis- und Wissenschaftsbezug?


Ausgehend von einer Beschreibung der Veränderungen im Handelslehrerberuf und der Ziele des Handelslehrerstudium soll im folgenden Beitrag der Gestaltungsfrage des Studiums nachgegangen werden, um zu einer Antwort auf das Spannungsfeld zwischen Praxisbezug und Wissenschaftsorientierung zu gelangen.

1. Veränderungen in den Anforderungen an den Handelslehrerberuf

Noch immer ist die wenig differenzierte Meinung weit verbreitet, die Lehrerbildung sei auf die Bedürfnisse der späteren praktischen Berufstätigkeit auszurichten, d. h. die angehenden Lehrkräfte hätten vor allem zu lernen, gut zu unterrichten. Deshalb rühmen Bildungspolitiker und fordern Studierende nicht selten Studiengänge mit einem starken Praxisbezug. Eine von der Praxis oft missverstandene empirische Forschung verstärkt diese Forderung, weil Politikerinnen und Politiker sowie viele Lehrkräfte von ihr abschließende Antworten auf alle umstrittenen bildungspolitischen und unterrichtlichen Fragen erwarten. Die Folge davon könnte eine "praxisbezogene Rezeptologie" sein, die vordergründig viele Probleme zu lösen scheint, aber langfristig zu einem starren, wenig reflektierten Bildungssystem führen würde.

Aus zwei Gründen ist ein solcher einseitiger Praxisbezug der Handelslehrerausbildung abzulehnen. Erstens besteht die Gefahr, dass eine einseitige Praxisorientierung die raschen gesellschaftlichen Veränderungen und die damit verbundene, immer ausgeprägter werdende Instabilität der Bildungspolitik, mit den negativen Auswirkungen auf den Schulalltag nicht aufzufangen vermag. Die dringend nötige Stabilität für das Bildungswesen lässt sich nur dann ohne neue Erstarrungen, die durch unter politischem Druck handelnde Schulbehörden herbeigeführt werden, überwinden, wenn die Erziehungswissenschaft Paradigmen und Theorien in reflektierter Weise in die Schuldiskussion einbringt.

Zweitens interpretieren diejenigen Leute, welche sich einen einseitigen Praxisbezug wünschen, die Veränderungen, welche sich im Lehrerberuf abspielen, in bezug auf neue Anforderungen nicht umfassend genug. Früher beschränkte sich die Tätigkeit von Lehrkräften in erster Linie auf die Verwirklichung der im Lehrplan vorgegebenen Ziele mit einem möglichst wirksamen Unterrichtsverhalten. Diese Ziele waren in der traditionellen Gesellschaft mit weitgehend übereinstimmenden normativen Grundwerten und einfacheren Lernansprüchen wenig bestritten und ohne schwerwiegende Herausforderungen zu erreichen. Deshalb genügte eine praxisorientierte Lehrerbildung, die vor allem Handreichungen für die tägliche Schulführung und für den Alltag vermittelte. Heute haben sich die Verhältnisse grundlegend verändert. Auf die Lehrkräfte kommen viel komplexere Aufgaben zu, die mit bloßen Handreichungen nicht mehr zu erfüllen sind (vgl. DARLING-HAMMOND, WISE, & KLEIN, 1995). Zu den für die Lehrerbildung wichtigsten Veränderungen zählen die folgenden:

(1) Der Wertepluralismus in der einheimischen Bevölkerung und die Durchmischung der Gesellschaft mit Menschen aus vielen Völkern verunsichern immer breitere Kreise, so dass der Wertepluralismus durch eine Werteverunsicherung ergänzt wird. Zusammen mit dem Bedeutungsverlust des Glaubens oder der Ethik und dem geringer werdenden Einfluss der Familie auf die Werterziehung sieht sich die Schule mit der Forderung nach einer verstärkten Wert-, Charakter- und Persönlichkeitserziehung konfrontiert. Dies erfordert eine reflexive Auseinandersetzung mit Paradigmen der Erziehung und mit bildungstheoretischen Fragen sowie mit Problemen der interkulturellen Pädagogik.

(2) Die beruflichen Ansprüche und jene an das des Lebens aller Menschen steigen angesichts des raschen Wandels in der Technologie und in der Wirtschaft stark an, so dass die Schulen nicht mehr nur Vorgaben von Lehrplänen erfüllen und anhand von Lehrmaterialien nachvollziehend unterrichten können, sondern sie sind gehalten, neben der Wissenserarbeitung Lern- und Denkstrategien zu unterstützen und das selbstregulierte Lernen einzuleiten.

(3) Das gegenwärtige Bestreben um eine Teilautonomisierung der Schulen erfordert von den Lehrkräften die Fähigkeit zur Schulentwicklung, die nur gelingen kann, wenn die Lehrkräfte mit der Curriculumentwicklung, Qualitätsfragen der Schule und allgemeinen Schultheorien vertraut sind.

(4) Der zunehmende Umfang des Wissens und die steigende Komplexität der Zusammenhänge setzt eine gute fachwissenschaftliche Wissens- und Könnensbasis voraus, denn einerseits ist es nur unter dieser Voraussetzung möglich, eine einigermaßen vertretbare Stoffauswahl zu treffen. Und andererseits - was noch wichtiger ist - müssen die Lehrkräfte die gewählten Lerninhalte nicht nur angelernt, sondern kognitiv durchdrungen haben. Andernfalls ist es gar nicht möglich, sie mit den Schülerinnen und Schülern zu erarbeiten.

Diese wenigen Hinweise zeigen, dass einfache, praxisbezogene Handlungsanweisungen nicht mehr genügen: alle Tätigkeiten von Lehrkräften verlagern sich immer mehr in Richtung eines steten Entscheidens in komplexen Situationen, die einerseits den Eigenarten und den Bedürfnissen der Lernenden (die sich immer stärker unterscheiden) und andererseits einem theoretischen Bildungskonzept gerecht werden müssen. Bevor nun dieses Theorie-Praxis-Verhältnis genauer untersucht werden kann, sind die Anforderungen an Lehrkräfte angesichts der oben beschriebenen Veränd-erungen genauer zu beschreiben.


2. Die beruflichen Anforderungen an Lehrkräfte und die Wirksamkeit von Lehrerbildungsprogrammen


Die folgenden Überlegungen gehen von Arbeiten von SHULMAN (1986) aus und sind in Abbildung 1 zusammengefasst. Dieses Modell will als Grundlage für die Beantwortung von drei Fragen dienen:

Das Modell geht davon aus, dass Lehrkräfte am Ende ihrer Ausbildung in erster Linie über ein im Schulalltag anwendbares pädagogisches Inhaltswissen verfügen, das sich aus einer Interaktion zwischen Fachwissen, pädagogischem Wissen, Wissen über die Schülerinnen und Schüler sowie Wissen über die Abhängigkeiten der Schule von ihrer Umwelt entwickelt, und das sich aufgrund weiteren Lernens und praktischer Erfahrung ständig vergrößert.
Auf der Basis empirischer Befunde zur Lehrtätigkeit (vgl. hierzu ausführlicher Dubs (1999), 305) könnte man meinen, die Umschreibung der Anforderungen an Lehrkräfte sei nicht besonders problematisch. Denkbar wäre eine Umschreibung mit drei Merkmalen:

(1) Lehrkräfte benötigen ein vernetztes pädagogisches Inhaltswissen in dem beschriebenen Sinn.

(2) Sie müssen die Fähigkeit haben, alltägliche Schul- und Unterrichts-situationen mit Hilfe dieses Wissens zu analysieren und aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten diejenige auszuwählen, welche unter Berücksichtigung der aktuellen Situation die wirksamste ist. Deshalb ist das Inhaltswissen zu einem pädagogischen Handlungswissen zu entwickeln.

(3) Sie benötigen Fertigkeiten, die sie zur Umsetzung ihrer Entscheidungen anhand ihres pädagogischen Handlungswissens sowie zu dessen Anwendung befähigen. Dazu benötigen sie pädagogische Handlungskompetenzen.

Diese Umschreibung beinhaltet das Spannungsfeld zwischen Wissenschafts-orientierung und Praxisbezug. Um in Extremen zu sprechen: Man könnte auf der einen Seite argumentieren, das Schwergewicht der Lehrerbildung sei auf ein wissenschaftlich gestaltetes pädagogisches Inhalts- und Handlungswissen zu legen, das die Grundlage für Entscheidungen im Schulalltag gebe, so dass eine kurze praktische Ausbildung genüge, um aus der Erfahrung die notwendigen Handlungskompetenzen dank einem umfassenden Verständnis relativ leicht zu erwerben. Auf der anderen Seite ließe sich anführen, das Entscheidende im Lehrerberuf seien pädagogische Handlungskompetenzen (vor allem Fertigkeiten in der Unterrichtsgestaltung), für die als Grundlage "naive Theorien", d. h. Aussagensysteme, die ausschließlich auf der praktischen Erfahrung aufbauen, vollauf genügten.
Ansatzpunkte zur Klärung dieser widersprüchlichen Ansätze könnten zuerst einmal in der empirischen Forschung gesucht werden, die etwas über die Wirksamkeit verschiedener Lehrerbildungsprogramme aussagen.
Zieht man aber die einschlägigen empirische Befunde heran (vgl. Dubs (1999), 307ff), gilt es wieder einmal festzustellen, dass die Vielzahl von Untersuchungen zur Wirksamkeit von Lehrerbildungsprogrammen mehr Widersprüche und Unsicherheiten als Lösungen bringt. Dies ist auch verständlich. Erstens ist die Fragestellung so komplex, dass es kaum möglich ist, umfassende und damit aussagekräftige Schlussfolgerungen zu ziehen. Zweitens sind die vielen Untersuchungen nicht vergleichbar, weil die Kontexte der Lehrerbildungsprogramme zu verschieden sind. So ist zu vermuten, dass allein schon das Verständnis und die Vermittlungsart der Theorie und ihre allfällige Kombination mit der Praxis selbst unter sonst gleichbleibenden Bedingungen zu ganz anderen Erkenntnissen führen. Drittens steht die Forschungsmethodik solcher Untersuchungen noch auf einem relativen tiefen Stand (viele Befragungen und Interviews), so dass klare Ergebnisse noch gar nicht erwartet werden können.

Unter diesen Voraussetzungen bleibt den für den Aufbau von Lehrgängen in der Lehrerbildung Verantwortlichen nichts anderes übrig, als aufgrund von plausiblen Einzelergebnissen aus der empirischen Forschung, der Theorie und ihrer eigenen Erfahrung weiterhin programmatisch zu arbeiten und sich der wissenschaftlichen Diskussion zu stellen. Dieser Weg wird im Folgenden für die Handelslehrerausbildung, wie sie in St. Gallen zu realisieren versucht wird, dargestellt.


3. Thesen für den Aufbau einer Konzeption der Handelslehrerausbildung


3.1 Ausgangslage

Aufgrund der bisher angeführten Aspekte bedarf die Handelslehrerausbildung einer guten fachwissenschaftlichen Grundbildung. Deshalb ist es falsch, die fachwissenschaftliche Bildung zu Lasten der pädagogischen Bildungsinhalte zu verkürzen. Wie soll beispielsweise ein Handelslehrer Recht unterrichten, wenn er keine genügend umfassenden rechtswissenschaftlichen Kenntnisse hat? Benötigt werden Fachleute des Rechts, welche gut unterrichten können und nicht Pädagogen, die eine gewisse Ahnung von Recht haben. Schwieriger zu beantworten ist die Frage, ob die Studierenden des Handelslehramtes Lehrveranstaltungen des Rechts ohne Bezug auf ihren Beruf belegen sollen, oder ob ein Konzept zu wählen ist, in welchem die Fachwissenschaft und die Fachdidaktik Recht kombiniert werden. Weil offenbar die fachwissenschaftliche Basis für das erfolgreiche Unterrichten bedeutsam ist, sollte sie in fachwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen aufgebaut werden. Die Erfahrung lehrt aber, dass damit und mit allgemeinen pädagogischen Lehrveranstaltungen die Sicherheit im Unterrichten nicht geschaffen wird. Dazu bedarf es einer ausgebauten Fachdidaktik.
These 1: Die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Unterricht lassen sich nur mit einer fachwissenschaftlichen Grundbildung und einer ergänzenden Fachdidaktik schaffen. Der Fachdidaktik in jedem zu unterrichtenden Fach ist gegenüber heute mehr Bedeutung beizumessen (in ähnlicher Weise SCHNEIDER, 1996).

3.2 Das pädagogische Wissen (die pädagogische Theorie)

Die Tatsache, dass viele Lehramtskandidatinnen und -kandidaten ihr pädagogisches Wissen (die erworbenen Theorien) zu wenig in den schulischen Alltag einbringen können, also große Diskrepanzen zwischen theoretischem pädagogischem Wissen und praktischem Handeln im Unterricht bestehen, darf nicht zur Forderung führen, die Theorie sei überflüssig und für die Berufsfähigkeit wertvoll seien nur praktische Handlungsanweisungen. Eine Praxis ohne Theorie kann es nicht geben. Aber die Theoretiker müssen erkennen, dass die Verfügbarkeit von Theorien eine wichtige, nicht aber schon hinreichende Bedingung für das Gelingen einer dieser Theorie entsprechenden Praxis ist (HEID 1991). Zum theoretischen Wissen muss ein praktisches Können hinzukommen, um praktische Kompetenz zu begründen, oder wie GAGE (1978) es sagt: Erfolgreiches Lehren setzt eine wissenschaftliche Basis der Kunst des Lehrens voraus. Dies bedeutet, dass sich die Professionalität von Lehrkräften darin manifestiert, dass es ihnen gelingt, die vorliegenden und einigermaßen gesicherten Theorien als Steuerungsgrundlage für ihr unterrichtliches Handeln zu nutzen (BECK 1992). Wie wichtig dieser Zusammenhang ist, lässt sich gegenwärtig an der Konstruktivismus-Debatte besonders gut zeigen. Viele Lehrkräfte, die heute für autonomes Lernen (die Lernenden bestimmen selbst, was sie erarbeiten wollen) und kooperatives Lernen eintreten, berufen sich auf den Konstruktivismus. Hätten sie aber die Theorie des Konstruktivismus studiert, so müssten sie wissen, dass sich der Konstruktivismus als Theorie weder mit Problemen der Auswahl von Unterrichtsinhalten noch mit Fragen der Unterrichtsmethodik (Unterrichtsverfahren) beschäftigt, sondern sein Augenmerk auf die Neukonstruktion von Wissen aus subjektiver Sicht richtet. Viele solche Missverständnisse und daraus entstehende pädagogische Dogmen wären vermeidbar und lösten im Schulwesen nicht immer wieder verunsichernde Pendelschläge aus, wenn die Lehrkräfte dank guter theoretischer Wissensgrundlagen pädagogische Aussagen ernsthafter reflektieren und interpretieren würden.
Eine Lehrerbildung ohne gute theoretische Grundlagen ist also undenkbar. Die Theorie muss als Wissens- und Reflexionshintergrund dienen, der den Lehrkräften hilft, im Schulalltag unterrichtliche Entscheidungen zu treffen und Kompetenzen im Umgang mit sich selbst aufzubauen (PÄTZOLD 1995). Würde sich die Lehrerbildung nur auf das Vermitteln von bewährten Techniken für den Alltagsunterricht beschränken und nur erfahrungsgeleitet-pragmatisch sein, so fehlte das Wichtigste, die pädagogische Gesamtschau und die Reflexion für unterrichtliche Entscheidungssituationen. Lehrkräfte würden zu vollziehenden Technokraten, die von dogmatischen Vorstellungen über richtiges und falsches pädagogisches Handeln geprägt wären. Der immer wieder geforderte ausschließliche Praxisbezug ohne theoretische Fundierung stellt auch für die empirische Forschung eine Gefahr dar. Sie kann unter diesen Umständen dazu missbraucht werden, eine vorgefundene Praxis nur zu bestätigen, indem sie für eine vorherrschende Vorstellung oder eine erwünschte Idee über Schule und Unterricht anwendungsbedeutsames Wissen und Handlungskompetenz entwickelt, die einen erwünschten Zustand bloß wissenschaftlich legitimieren, nicht aber auch kritisch reflektieren.
Versucht man für die Theorie ein Raster zu entwickeln, so könnte von dem in Abbildung 2 dargestellten System ausgegangen werden. Die pädagogische Theorie lässt sich in einzelne für die Schule und den Unterricht bedeutsame Erkenntnisfelder aufgliedern. Das sind größere Problemkreise, die in einer umfassenden Sicht der pädagogischen Theorie zugrunde gelegt werden. Die Gliederung kann nach traditionellen, disziplinenorientierten Gesichtspunkten oder nach größeren Themenbereichen, die sich aus den Erkenntnisquellen ergeben, erfolgen. Die Erkenntnisquellen sind der Schulalltag, wie er von Lehrkräften und Lernenden erlebt wird, Erziehungsideen, wie sie in der Öffentlichkeit oder von Lehrkräften vertreten werden oder theoriegeleitete Fragestellungen von Wissenschaftlern. Die Erkenntnisfelder führen zu Hypothesen, die zu Theorien entwickelt werden, die immer einer normativ-kritischen Analyse zu unterziehen sind und soweit als möglich einer empirischen Überprüfung ausgesetzt werden sollten. Daraus abzuleiten ist das pädagogische Handlungswissen, das als wissenschaftliche Basis für die Bildungspolitik, den Umgang mit den Lernenden sowie die Kunst des Unterrichtes dient. Dieses pädagogische Handlungswissen setzt sich zusammen aus dem pädagogischen Wissen, dem Wissen über die Abhängigkeiten der Schule von ihrer Umwelt sowie dem Wissen über die Schülerinnen und Schüler (vergleiche Abbildung 1).

These 2: Eine nur auf praktischen Erfahrungen (Unterrichtsratschläge, Empfehlungen, naive Theorien) aufbauende Lehrerbildung genügt nicht. Ohne ein theoretisch fundiertes pädagogisches Handlungswissen, das die theoriebildende, die normativ-kritische und die empirische Perspektive umfasst, fehlt ihr die Voraussetzung, die nötig ist, damit die Studierenden die Alltagserscheinungen und -probleme in der Bildungspolitik, in der Schule und im Unterricht aus ganzheitlicher Sicht erfassen und verstehen, sie normativ-kritisch analysieren und erkennen, ob und inwieweit theoretische Erkenntnisse empirisch überprüfbar sind. Deshalb ist die Einführung in die empirische Sozialforschung ein wesentlicher Bestandteil einer jeden Lehrerbildung. Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, so fehlen den Lehrkräften einerseits die Grundlagen zur Beurteilung von pädagogischen Innovationen und pädagogischen Modeerscheinungen und andererseits die Anstöße zu schulischen Neuerungen und Verbesserungen, denn neue theoretische Erkenntnisse regen in vorzüglicher Weise zu Veränderungen im Alltagsunterricht an.

3.3 Vom pädagogischen Wissen zum pädagogischen Handlungswissen

Seit langem wird auch von namhaften Erziehungswissenschaftlerinnen und Erziehungswissenschaftlern der geringe Einfluss der erziehungswissen-schaftlichen Theorie auf die Bildungspolitik, die Schule und den Unterricht beklagt (PATRY 1988; KENNEDY 1997 & PETERSON 1998). Dafür sind mehrere Ursachen verantwortlich. Erstens bemühen sich zu wenige Theoretikerinnen und Theoretiker um die praktische Relevanz ihrer Fragestellungen, und es interessiert sie zu wenig, wie sich ihre Erkenntnisse der Schulpraxis dienstbar machen lassen. Zweitens gewinnen sie häufig Erkenntnisse, die für den Schulalltag bedeutsam sind, sich aber kaum umsetzen lassen, weil die Betrachtungsweise die Realität des Schulalltages vernachlässigt (z. B. Arbeitsbelastung der Lehrkräfte, zur Verfügung stehende Unterrichtszeit). Drittens geben sie sich die Aufträge oft selbst, indem sie Studium und Untersuchungen aus wissenschaftlicher Sicht vertiefen und sich dabei immer weiter von den Bedürfnissen der Bildungspolitik und vom Schulalltag entfernen. Diese Tendenzen beeinflussen die Lehre, indem sie für viele Studierende oft zu abstrakt bleibt und den falschen Eindruck hinterlässt, die Theorie nütze für die spätere Tätigkeit als Lehrkraft nichts. Ihnen ist durch eine Umgestaltung des traditionellen Universitätsunterrichtes zu begegnen, wobei die folgenden Aspekte zu bedenken sind:

(1) Anstelle einer disziplinenorientierten Behandlung der einzelnen Lerngebiete (z. B. Geschichte der Wirtschaftspädagogik, allgemeine Wirtschaftspädagogik, Lerntheorie, Entwicklungspsychologie usw.) sollte ein problemorientierter Aufbau des Studiums verwirklicht werden, indem von Problemfeldern der konkreten bildungs- und schulpolitischen Situationen, wie sie den künftigen Lehrkräften begegnen, ausgegangen und der Wissenskonstruktion mehr Gewicht beigemessen wird. Damit eine solche problemorientierte, gemäßigt konstruktivistische Lehrgangsgestaltung aber nicht zu einer Beliebigkeit des Unterrichtes (SEIFERT 1998) mit einem unstrukturierten, zufälligen Wissensaufbau führt, sind relevante und ganzheitliche, der Schulpraxis entnommene Problemfelder zu bestimmen. Außerdem ist eine gute Basis in Wissenschaftstheorie und in empirischer zu vermitteln, damit der problemorientierte Unterricht theoretisch genügend fundiert bleibt.

(2) Die Problemfelder sind stärker zu aktualisieren, damit auch diejenigen Probleme bearbeitet werden, welche für die Lehrkräfte vor allem in ihrer beruflichen Anfangszeit bedeutsam sind. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht. Gegenwärtig werden die Schulen vielerorts in teilautonome Schulen (Schulen mit Gestaltungsfreiräumen) umgebaut, in denen Schulentwicklungsprozesse durch die Lehrerschaft zu verwirklichen und Leitbilder zu erstellen sowie aus Rahmenlehrplänen Schullehrpläne zu entwickeln sind und/oder ein intern konzipiertes Qualitätsmanagement aufzubauen ist. Darauf werden aber Lehrkräfte noch kaum vorbereitet. Insbesondere fehlt an den meisten Lehrerbildungsstätten eine Anleitung zur praktischen Umsetzung dieser neuen Themenbereiche, obschon sich immer deutlicher zeigt, dass Lehrkräfte ohne genügendes pädagogisches Inhalts- und Handlungswissen aus ihrem Studium diese Aufgaben nicht in innovativer Weise erfüllen können.

(3) Problematisch an der Theorievermittlung ist der noch weitgehend vorherrschende traditionelle Lehrbetrieb an den Universitäten mit Vorlesungen und Seminaren. Beide Veranstaltungstypen werden sicher immer bedeutsam bleiben, aber sie sind zu ergänzen. So wird sich das selbstregulierte Lernen (vgl. beispielsweise DUBS 1998 und die dort zitierte Literatur) nicht durchsetzen, wenn es nur in Vorlesungen behandelt und theoretisch in Seminaren vertieft wird. Verwirklichen lässt es sich nur aufgrund eigener Lernerfahrungen, denn nur dann erkennt man, welche praktischen Probleme beim selbstregulierten Lernen entstehen und welche Formen der Lernberatung (Scaffolding) hilfreich sind. Ganz generell sollten alle unterrichtsmethodischen Innovationen, die theoretisch entwickelt werden, in der universitären Unterrichtsgestaltung Eingang finden. Dadurch würden die Forscher in ihrer eigenen Lehrpraxis erfahren, wie Rahmenbedingungen noch so wertvolle Innovationen aus der Unterrichtstheorie im Schulalltag oft fragwürdig werden lassen, gar wenn sie zu einseitig gesehen werden.

(4) Weil sich wegen der Situationsgebundenheit des gesamten pädagogischen Geschehens aus der Theorie in den wenigsten Fällen pädagogische Handlungskompetenzen ableiten lassen, die rezeptmäßig anwendbar sind, sind die Lehramtskandidatinnen und -kandidaten darauf vorzubereiten, ihr Wissen in Entscheidungssituationen in zweckmäßiger Weise einzusetzen. Dazu leistet das forschende Lernen (MITTELSTRASS 1998) gute Dienste. Wenn die Studierenden gelernt haben, schulpraktische Probleme selbst zu erfassen, sie theoretisch und empirisch zu durchdringen und Schlussfolgerungen zu ziehen, so werden sie später Entscheidungen im Schulalltag differenzierter treffen, weil sie systematischer und vor allem theoretisch fundiert überlegen. Diese Wirkung tritt aber nur ein, wenn sich das forschende Lernen vornehmlich an den Problemen der Schulpraxis orientiert. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht. Ein für Lehrkräfte wichtiges Erkenntnisfeld ist das Lehrerverhalten. Seine Inhalte sind für das praktische Unterrichten und für alle Fragen der Lehrerbeurteilung bedeutsam. Wer glaubt, Rezepte für das Unterrichtsverhalten genügten zum Verständnis, dürfte spätestens beim Erstellen eines Beurteilungsinstrumentes zur Erfassung des Lehrerverhaltens feststellen, dass dazu umfassende theoretische Erkenntnisse nötig sind (z. B. die Stärken und Mängel der Prozess-Produkt-Forschung, vergleiche beispielsweise GAGE & NEEDLES 1989, aber auch die Möglichkeiten und Grenzen konstruktivistischer Ansätze, vergleiche CLARK & WELTE 1994). Weil die Forschung zu vielen dieser Fragen bislang keine befriedigende Antwort und vor allem keine überzeugenden Rezepte für die Praxis geben kann, gewinnen die Studierenden am meisten Einsichten, wenn sie möglichst an praktisch erlebten Unterrichtsproblemen mittels des forschenden Lernens zu differenzierten Erkenntnissen gelangen. Erst dann erkennen sie die Relativität aller Beurteilungsschemata; sie lernen aber auch die positive Aussagekraft der Instrumente richtig einzuschätzen.

These 3: Damit sich das pädagogische Wissen zu pädagogischem Handlungs-wissen entwickelt, muss sich die pädagogische Theorie stärker an den Problemfeldern des bildungspolitischen, des Schul- und des Unterrichtsalltages orientieren. Dies bedingt erstens eine praxisnähere Auswahl der Themenfelder in der theoretischen Lehrerbildung. Zweitens sind die Unterrichtsformen in der theoretischen Lehrerbildung stärker denjenigen, wie sie für die Schulpraxis gefordert werden, anzugleichen: eine gemäßigt konstruktivistisch aufgebaute Lehre mit Möglichkeiten zum forschungs-orientierten Lernen sowie die Verwendung von vielgestaltigeren universitären Unterrichtsverfahren müssen angestrebt werden.

3.4 Vom pädagogischen Handlungswissen zur pädagogischen Handlungskompetenz

Unbestritten ist auch, dass viele Lehrkräfte ihr pädagogisches Handlungs-wissen nicht in pädagogische Handlungskompetenzen umsetzen können. Schon Ende der sechziger Jahre beklagte TIERSCH (1969, 487), dass viele Lehrpersonen "nicht über ein ihren Aufgaben entsprechendes Könnens- und Verhaltensrepertoire verfügen" und nur unzureichend in der Lage seien, pädagogische Planungen in konkretes Unterrichtshandeln zu transferieren oder ein situationsangemessenes Unterrichtsverhalten zu zeigen. Gleiches gilt für die Schulentwicklung. Viele Lehrkräfte bekunden mit Arbeiten im Rahmen von Schulentwicklungsprozessen (z. B. Gestaltung von Leitbildern, Erarbeitung von Schullehrplänen, Entwurf von Instrumenten für das Qualitätsmanagement) Mühe, weil sie ihr pädagogisches Wissen aus dem Studium entweder nicht mehr verfügbar haben oder in praktischen Situationen nicht anwenden können. Dieser Mangel lässt sich nur beseitigen, wenn die Schul- und Unterrichtspraxis systematisch in die Lehrergrundbildung integriert wird. Im einzelnen ist an folgendes zu denken:

(1) Die Idee der teilautonomen Schule kann nur verwirklicht werden, wenn die Studierenden bereits während ihres Studiums die Methodenkompetenzen erlernen, die sie später bei den Schulentwicklungsarbeiten im Alltag benötigen. Dabei müssen sie erfahren, dass Handlungskompetenzen erst dienlich sind, wenn das theoretische Wissen verfügbar gemacht werden kann. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Ein theoretisches Erkenntnisfeld umfasst die Schulkultur und darauf aufbauend die Schulleitbilder. Zur Entwicklung von Leitbildern im späteren Schulalltag sind die Studierenden aber erst fähig, wenn sie im Studium selbst Leitbilder entwickelt haben. Deshalb wird in der St. Galler Handelslehrerausbildung für dieses Erkenntnisfeld (Problembereich) der folgende unterrichtliche Aufbau gewählt: Im Anschluss an die Bearbeitung der Grundzüge der Bildungspolitik und der Bildungsphilosophie in einer stärker traditionell gestalteten Lehrveranstaltung (Zeitfaktor!) wird in seminaristischer Form im Sinne des forschenden Lernens erarbeitet, wie ein Schulleitbild entwickelt werden kann (Handlungswissen). Darauf aufbauend entwickeln die Studierenden in Achtergruppen im Rahmen ihrer Portfolioarbeiten ein Schulleitbild, das abschließend beurteilt wird (Förderung der pädagogischen Handlungskompetenz).
Das Portfolio-Konzept wird in der St. Galler Handelslehrerausbildung seit mehreren Jahren mit aus der Sicht der Studierenden nachweislich gutem Erfolg eingesetzt (DUBS 1993). "Ein Portfolio ist eine zweckgerichtete Sammlung von Arbeiten im Zusammenhang eines Lehr-/ Lernprozesses, die den Einsatz, den Fortschritt und den Leistungsstand in einem oder mehreren (Fach-)Gebiet(en) darstellt" (JABORNEGG 1997). Es dient also als Bindeglied zwischen Theorie und Praxis. Weil die Bewertung des Portfolios zur Verbreiterung der Beurteilungsbasis als Note in das Diplom eingeht, legen die Studierenden überdurchschnittlich gute Portfolio-Arbeiten vor.

(2) Auf die Unterrichtspraxis werden die Lehramtskandidatinnen und -kandidaten nur genügend vorbereitet, wenn das pädagogische Handlungs-wissen mit praktischen Übungen verbunden wird, damit sich pädagogische Handlungskompetenzen entwickeln können. Damit ist die Streitfrage der Ein- oder Zweiphasigkeit der Lehrerbildung aufgeworfen. Die St. Galler Handelslehrerausbildung baut auf einer differenzierten Einphasigkeit auf, weil nur sie die in diesem Beitrag vertretene Auffassung einer sinnvollen Verbindung von Theorie und Praxis ermöglicht. Bei der zweiphasigen Gestaltung kann diese Verbindung nicht gelingen, weil die Theorieerarbeitung an der Universität mangels Praxisbezug und -erfahrung wesentliche Erkenntnisfelder nicht genügend berücksichtigt und damit auch vielen Bedürfnissen angehender Lehrkräfte nicht Rechnung trägt, und die Praxis (beispielsweise im Studienseminar) den theoretischen Grundlagen häufig nicht die nötige Beachtung schenkt, so dass die Studierenden in der Praxis den Sinn der theoretischen Fundierung nicht mehr einsehen.
Das St. Galler Konzept sucht deshalb bewusst nach der steten Verbindung von Theorie und Praxis bis hin zu Lehrübungen in Schulklassen. Deshalb wurde der folgende Studienaufbau gewählt: In einer ersten Phase der schulpraktischen Ausbildung, der theoriegeleitete Einführungsveranstaltungen wie allgemeine Wirtschaftspädagogik sowie weitere allgemeine Bereiche wie Lerntheorie und empirische Sozialforschung vorangehen, beschäftigen sich die Studierenden im Sinne des forschenden Lernens mit der Unterrichtsvorbereitung und dem Lehrerverhalten, wozu auch praktische Übungen mit Micro-Teaching und Reflective Teaching (DUBS 1981) durchgeführt werden. Um dafür das Problembewusstsein zu schaffen, führen die Studierenden vorgängig im Rahmen ihrer Portfolio-Arbeiten in Zweiergruppen drei Schulbesuche bei von ihnen ausgewählten Lehrkräften durch. Die Erkenntnisse aus den besuchten Lektionen und den anschließenden Gesprächen mit den jeweiligen Lehrkräften werden nach bestimmten Vorgaben im Portfolio ausgewertet, um Grundlagen für das forschende Lernen zu schaffen. Den Abschluss der Ausbildung bilden die Fachdidaktiken der einzelnen Fächer, die aus einem einführenden theoretischen und einem anschließenden schulpraktischen Teil mit beaufsichtigten Lehrübungen bestehen. Diese Lehrübungen, in denen kleine Gruppen von Studierenden die gleiche Schulklasse für 3 bis 4 Wochen unter Aufsicht von Universitätsdozenten übernehmen, zwingen alle Beteiligten zum Praxisbezug, was nicht zuletzt für die Dozierenden von Vorteil ist. Nach erfolgter Diplomprüfung haben die Studierenden schließlich während fünf Wochen (100 Lektionen) das Pensum einer aktiven, von der Universität auf die Betreuung von Studierenden vorbereiteten Lehrkraft voll zu übernehmen, um für die Anfangsphase ihrer eigenen Berufstätigkeit realistischer mit den Anfängerproblemen vertraut zu sein (vgl. zur Problematik des Praktikums BRUSLING 1998).
Die Integration der unterrichtspraktischen Ausbildung in die wissenschaftliche Grundbildung bringt viele forschende Lehrkräfte der Universität in ein Dilemma. Die Unterrichtspraxis führt immer wieder zu Fragen, die sich wissenschaftlich nicht beantworten lassen, so dass auf Unterrichtsrezepte (vgl. beispielsweise GRELL & GRELL 1994) zurückzugreifen ist. Ohne naive Unterrichtstheorien lässt sich keine wirksame Lehrerbildung aufbauen (gleicher Meinung SCHNEIDER 1996). Wesentlich sind aber die folgenden Bedingungen: Unterrichtsratschläge und Rezepte sind ausdrücklich als solche zu kennzeichnen. Zudem sollten die Lehrerbildner nur solche Ratschläge und Rezepte weitergeben, die sie selber demonstrieren können, um einerseits als Modell zu dienen und andererseits den Studierenden aber auch zu zeigen, wie viele dieser Rezepte sehr personenbezogen sind.

These 4: Die theoretische und die praktische Ausbildung für das Handelslehramt sind miteinander zu verknüpfen: Die Praxis schafft das Problembewusstsein und lenkt auf die für die Ausbildung wichtigen Erkenntnisfelder. Die theoretische Ausbildung muss im Interesse der Reflexions- und Entscheidungsfähigkeit die Voraussetzungen schaffen, damit pädagogische Probleme in ihrer Ganzheit interpretiert und unbedachte Modernismen und andere Einseitigkeiten entlarvt werden können. Nur die abschließende praktische Anwendung vermag Handlungskompetenzen zu schaffen, bei denen auch persönliche naive Theorien und darauf aufbauende Kompetenzen zum Tragen kommen, wobei deren Stellenwert besser beurteilt werden kann, wenn breite theoretische Erkenntnisse verfügbar sind.

These 5: Diese Forderungen lassen sich nur in einer einphasigen Studiengestaltung verwirklichen.

3.5 Die Fachdidaktik als integrierendes Element in der Handelslehrerbildung


Die bisherigen Ausführungen sollten deutlich machen, dass der Integration der erziehungswissenschaftlichen und der fachwissenschaftlichen Theorie sowie der bildungspolitischen, schulischen und unterrichtlichen Praxis größte Bedeutung beigemessen wird. Ebenso klar sollte geworden sein, dass eine umfassende Integration aller Lerngebiete in einzelne Problemkreise, wie dies von radikalen Konstruktivisten vorgeschlagen wird (vgl. beispielsweise die Versuche in der Medizinerausbildung in den Vereinigten Staaten, BARROWS 1985), hier nicht zur Diskussion steht. Deshalb wird die Frage bedeutsam, wo eine partielle Integration verwirklicht werden könnte. Die besten Voraussetzungen dafür ergeben sich in der Fachdidaktik (die gleiche Auffassung vertritt SCHNEIDER 1996).
Eine theoretisch genügend fundierte pädagogische Ausbildung sichert ein pädagogisches Inhaltswissen (siehe Abbildung 1), das nicht nur als Wissens-, Reflexions- und Entscheidungsbasis für das gegenwärtige Lernen und Arbeiten dient, sondern auch dazu beitragen muss, es im späteren Berufsleben durch selbstreguliertes Lernen fortlaufend auszuweiten. Durch forschendes Lernen, gemäßigt konstruktivistische Arbeit und neue Unterrichts- und Arbeitsverfahren (z. B. Portfolio) ist das Inhaltswissen anhand von für die Praxis der Bildungspolitik, der Schule und des Unterrichts bedeutsamen Erkenntnisfeldern (Problembereichen) zu pädagogischem Handlungswissen zu entwickeln. Dadurch soll vor allem das verbreitete Problem des trägen Wissens im Hochschulunterricht überwunden werden (vergleiche beispielsweise RENKL 1994). Für den Unterricht entscheidend sind aber die pädagogischen Kompetenzen, die sich ohne Verlust an Theoriegehalt in der Fachdidaktik in Verbindung mit praktischen Lehrübungen entwickeln lassen. In solchen Lehrübungen begegnen die Studierenden der Realität, die sie zwingt, alle theoretischen Erkenntnisse zur Problemlösung herbeizuziehen, was eine wirksame Integration der gesamten Theorie (umfassendes pädagogisches und Handlungswissen) erzwingt, wodurch die Vorbereitung auf die Praxis ohne Theorieverlust gewährleistet ist.
Abbildung 3 stellt diese Integration dar. In der St. Galler Handelslehrerausbildung wird für jedes einzelne Fach, das Handelslehrkräfte zu unterrichten haben, eine Fachdidaktik angeboten, in welcher es im theoretischen Teil zu einer umfassenden Integration von pädagogischem Inhalts- und Handlungswissen kommt, und pädagogische Kompetenzen anhand dieser theoretischen Grundlagen in Lehrübungen aufgebaut werden.

These 6: Werden die Fachdidaktiken mit Theorie und Unterrichtspraxis zum integrierenden Element des gesamten Handelslehrerstudiums ausgestaltet, so befruchten sich Theorie und Praxis in realitätsnaher Form gegenseitig.

 



Schlussfolgerung

Sind Praxisbezug und Wissenschaftsorientierung ein Widerspruch oder ein produktives Spannungsverhältnis in der Handelslehrerausbildung? Die Antwort ist klar. Betont man den Widerspruch, so schafft man sich ein Problem: Die Wissenschaft, die nur die Theorie sieht, muss sich Praxisferne vorwerfen lassen, und sie darf nicht überrascht sein, wenn sie kaum Einfluss auf die Bildungspolitik und auf den Schulalltag hat. Die Politik und die Schulpraxis, die nur praktische Handlungsanweisungen wollen, irren sich, denn Praxiserfahrung und Handlungsanweisungen genügen weder für eine reflektierte Entscheidungsfindung noch für Innovationen, die mehr sind als nur Modeerscheinungen einer - politisch-gesellschaftlich bedingt - unstabilen Bildungs- und Schulpolitik. Deshalb muss die Praxis die Theorie mit für sie bedeutsamen Problemstellungen herausfordern, und in der Ausbildung der Handelslehrer sind diese Problemstellungen einzubringen, damit sich theoretische Erwägungen nicht immer weiter vom Erleben der Praxis entfernen. Nur wenn sich die Theorie den echten und nicht nur selbstgewählten theoretischen Problemen annimmt, und sie ihre Erkenntnisse nicht als absolute Wahrheiten, sondern als reflektierte Entscheidungs-grundlagen an die Praxis heranträgt, wird sich ihr Einfluss vergrößern. Je stärker sich die Wissenschaft in zum Teil elitärer Weise mit sich selbst beschäftigt ("man schreibt für die Kollegen und nicht für die Praxis, weil man sich nur auf diese Weise profiliert"), und je weniger sie sich selbst (zum Beispiel mit einer Klassendemonstration der eigenen Theorien) der Praxis stellt, desto überflüssiger wird sie für Politikerinnen und Politiker. Dass dies in Zeiten der Budgetrestriktionen verhängnisvoll ist, braucht nicht betont zu werden. Deshalb ist alles zu tun, um die Beziehungen zwischen Theorie und Praxis in der Handelslehrerausbildung zu einem täglichen, produktiven Spannungsverhältnis werden zu lassen.


Literatur:

BARROWS, H. S. (1985): How to design a problem-based curriculum for the preclinical years. New York.

BECK, K. (1992): Zur Funktion von Universität und Studienseminar in der Ausbildung von Lehrern für berufsbildende Schulen. In B. BONZ, K.-H. SOMMER & G. WEBER (Hrsg.), Lehrer für berufliche Schulen. Lehrermangel und Lehrerausbildung (183-200). Esslingen.

BRUSLING, C. (1998): The Practicum in the Education of Professions: Relations between Institutions of Higher Education and Fields of Practice. EERA Bulletin, 1 (2), 9-14.

CLARK, C. M. & WELTE, S. (1994): Constructivism and Teaching. In Ch. METZGER & H. SEITZ (Hrsg.), Wirtschaftliche Bildung. Träger, Inhalte, Prozesse (261-278). Zürich.

DARLING-HAMMOND, L., WISE, A. E. & KLEIN, S. F. (1995): A Licence to Teach. Building a Profession for 21st-Century Schools. Boulder.

DUBS, R. (1981): Reflective Teaching. Eine neue Form des Lehrerverhaltenstrainings. ZBW, 77 (10), 723-733.

DUBS, R. (1993): Die Ausbildung der Lehrkräfte für Wirtschaftsfächer (Handelslehrerinnen und Handelslehrer) an der Hochschule St. Gallen. Schweizerische Zeitschrift für Kaufmännisches Bildungswesen, 87 (2), 60- 76.
DUBS, R. (1998): Lehren und Lernen für die künftige Arbeitswelt. Ein Beitrag zum selbstgesteuerten Lernen. In M. SCHULZ, B. STANGE et al. (Hrsg.), Wege zur Ganzheit. Profilbildung einer Pädagogik für das 21. Jahrhundert (210-228). Weinheim.

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