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 bwp@ Ausgabe Nr. 11 | November 2006
Qualifikationsentwicklung und -forschung für die berufliche Bildung

Bildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung als Basis für eine nachhaltig-innovative Curriculumentwicklung


 

 


1. Erkenntnisinstrumente berufsbildungswissenschaftlicher Qualifikationsforschung

In der Diskussion um das Verhältnis von Berufsbildung und Beschäftigung steht üblicherweise das Problem der Passung im Vordergrund, also die Frage danach, welche Anforderungen das Beschäftigungssystem an die Qualifikationen der Arbeitskräfte und an das System der beruflichen Qualifizierung stellt und mit welchen Qualifikationen die nachwachsende Generation die Institutionen der beruflichen Bildung verlässt, um in das Beschäftigungssystem einzumünden. Die Passung kann sich dann hinreichend genau realisieren – so unsere zentrale Hypothese – wenn es gelingt, die implikativ und konfigurativ verlaufende Vergesellschaftung von Arbeit zu identifizieren. Das wiederum geht nicht ohne entsprechende Referenzrahmen und Forschungsinstrumente.

Erkenntnisinstrumente der berufsbildungswissenschaftlichen Qualifikationsforschung

Veränderungen in komplexen Gesellschaften verlaufen nicht gleichförmig, sondern in unterschiedlichen Rhythmen, Qualitäten und Richtungen. Spannungen, Diskontinuitäten und Inkonsistenzen sind die Folge. Sie stören nicht nur das Gleichgewicht, sondern erzwingen neue Formen sozialer Organisation und sozialen Verhaltens. Für diese gesellschaftlichen Phänomene prägte der us-amerikanische Soziologe OGBURN (vgl. OGBURN 1922) den bis heute gängigen Begriff „sozialer Wandel“; mit „cultural lag“ bezeichnet er die Ungleichzeitigkeiten und Zeitverzögerungen in der Entwicklung einzelner Gesellschaftsbereiche. Als Synonyme für gesellschaftlichen Wandel sind inzwischen auch die Begriffe gesellschaftlicher Wandel, sozio-struktureller Wandel, technisch-ökonomischer Wandel oder auch Strukturwandel und Transformation gebräuchlich.

Die berufsbildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung nutzt verschiedene Erkenntnisinstrumente (vgl. LISOP/ HUISINGA 2004; HUISINGA 1996 und 2005; HUISINGA/ LISOP 1999 und 2005), um diese gesellschaftlichen Prozesse in Richtung und Reichweite differenzierter zu erfassen; dabei handelt es sich sowohl um Grundaussagen (Axiome) als auch Theoreme bzw. Modelle:

1. Axiom: Gesellschaftsprozesse verlaufen implizierend im Prozess von Freisetzung und Vergesellschaftung; Entmischungen und Arbeitsschneidungen strukturieren das Feld der Arbeit neu: Der Prozess permanenter Veränderung gesellschaftlicher Sach- und Sinnzusammenhänge vollzieht sich als „Freisetzung“ von Zusammenhängen und Wechselbeziehungen sowie als Neukonfiguration (vgl. ELIAS 1976). Darin fügen sich alte, veränderte und neue Sachkomplexe und Werte aufgrund der Konstitutionslogik erneut, aber verändert, zusammen. In Anlehnung an NEGT/ KLUGE (1976) wird diese Seite des historischen Prozesses „Vergesellschaftung“ genannt. Instanzen und Institutionen, Wissens- und Wertbestände, Urteils- und Handlungsmuster, Lebensgewohnheiten und nicht zuletzt die Arbeitsverhältnisse sind in den Prozess von Freisetzung und Vergesellschaftung einbezogen. Dieses Axiom dient dazu, historische Veränderungen in ihrer Richtung und Reichweite differenzierter zu erfassen und zu beurteilen. Geht es in historischen Umbrüchen doch immer nicht nur um die Veränderung einzelner gesellschaftlicher Bereiche, sondern um das gesellschaftliche Gesamtgefüge und damit um die Traditionsbestände des Denkens, Fühlens und Wollens bzw. der Mentalitäten. Das Freigesetzte fordert zur Überwindung der entstandenen Diffusionen neue gesellschaftliche Formgebungen heraus, damit neue soziale Entsprechungen bzw. neue gesellschaftliche Sinngebungen entstehen können. In diesem Prozess kommt dem beruflichen Bildungswesen eine steuernde und regulierende Aufgabe zu, die an den Zielen soziale Integration, Qualifizierung, Absorption und demokratische Loyalitätssicherung zu bemessen ist. Die Erfüllung dieser Aufgaben, die das berufliche Bildungswesen im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung übernommen hat, ist fortlaufender Überprüfung zu unterziehen. Eine Überprüfungsinstanz ist die berufsbildungswissenschaftliche Forschung.

2. Axiom: Der gesellschaftliche Implikationsprozess wird durch ein System von Konstitutionslogiken bestimmt: Die Formgebung gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen erfolgt aufgrund eines Bedingungsgefüges, nämlich der „gesellschaftlichen Konstitutionslogik“. Sie besteht aus einer grundlegenden Kausalgesetzlichkeit bzw. Rationalität: der Reproduktionslogik. Die Reproduktionsrationalität meint die Reproduktion der individuellen und gesellschaftlichen Existenz. Diese Grundrationalität konkretisiert sich in einer Art Sicherungsarbeit, die sich auf das Bedingungsgefüge der Existenz bezieht. In dieser Arbeit ist der Mensch zugleich Objekt und Subjekt. Objekt ist er aufgrund seiner natürlichen Natur, die ihn den Naturgesetzen unterwirft, und aufgrund der gesellschaftlichen Verhältnisse, weil er zugleich von gesellschaftlichen Bedingungsgefügen geprägt und abhängig ist. Als Subjekt ist der Mensch jedoch auch zur Freiheit, zur Überwindung von Abhängigkeit und zur kreativen Gestaltung fähig. Die Reproduktionsrationalität erfährt im Prozess der Geschichte ihre je spezifische Ausformung; unter marktbeherrschten Verhältnissen verschränkt sie sich mit der Produktions-, der Waren-, Verteilungs-, der Zugangs- und der Befriedungsrationalität. Zu den gesellschaftlichen Aufgaben der berufsbildungswissenschaftlichen Forschung gehört es, die Freiheiten des Subjekts unter diesen spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen und vor dem Hintergrund der rechtsstaatlichen Demokratie zu sichern. Deshalb ist aus berufsbildungswissenschaftlicher Sicht zunächst zu fragen, wie aufgrund der gesellschaftlichen Rationalitäten die Strukturelemente des Bildungswesens geprägt werden. Denn in den Rationalitäten manifestieren sich Prinzipien, die entweder eher egalitär und integrativ oder selektiv wirken bzw. entweder von öffentlichen oder privatwirtschaftlichen Belangen dominiert werden.

3. Axiom: Der Implikationsprozess der Subjektbildung wird durch ein System von Kräften und Bedürfnissen bestimmt: Die implikationstheoretische Sicht der Subjektbildung geht von einem Zusammenspiel menschlicher Kräfte und Bedürfnisse aus, die sich – aufgrund unterschiedlicher Gewichtungen – nach zwei Seiten hin ausdifferenzieren lassen: in eine somato-psychische und eine psycho-soziale Seite. Die Lebenskräfte und -bedürfnisse drängen von beiden Seiten her zugleich auf Befriedigung wie Objektivierung von Lebensentäußerung, wodurch sich erst Sinn und Identität ergeben und das subjektive Wahrnehmen und Auslegen in Bildungsprozessen seine Prägung erfährt. Mit unmittelbarem Bezug auf die Subjekte ist berufsbildungswissenschaftlich danach zu fragen, welche Leistungen aufgrund des pädagogischen Ethos für die Entwicklung und Entfaltung von Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz erbracht werden. Schwergewichtig ist die Subjektbildung im Rahmen des beruflichen Ausbildungs- und Schulwesens zwar auf ein Berufs- und Qualifikationsfeld und einen Beruf bzw. ein Qualifikationsbündel bezogen, gleichwohl hat sie jedoch auch einen allgemeinen Erziehungs- und Bildungsauftrag zu erfüllen. Diese Leistung „Subjektbildung“ kann man auch als allgemeine Reproduktionsleistung bezeichnen, die sowohl der Gesellschaft als Ganzes wie auch den ökonomischen Teilbereichen und der individuellen Flexibilität dient.

4. Axiom: Lehr- und Lernprozesse verlaufen implikativ als Verschränkung von Zielen, Inhalten, Verfahren und Psychodynamik: In Anlehnung an die methodische Leitfrage bei BLANKERTZ (1975) hat die (methodische) Strukturierung von Lehr- und Lernprozessen immer – ungeachtet aller sonstigen Differenzen der Verfahrensweisen – die individuell-subjektiven (also anthropogenen) Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler (das System der Lebensbedürfnisse und -kräfte) mit dem subjektiven Sachanspruch, der seinerseits soziokulturelle Bedingungen hat, zu korrelieren. Ziele, Inhalte, Verfahren und die Psychodynamik von Lehr-/Lernprozessen sind im Sinne der Implikation wechselseitig aufeinander verwiesen, ineinander enthalten, durchdringen sich ebenso wie sie sich wechselseitig einbeziehen und eine logische „Wenn-So-Dann-Beziehung“ darstellen.

Aus diesen Axiomen wurden Theoreme oder Modelle gewonnen, die zugleich empirisch basiert sind:

•  Das Modell gesellschaftlicher Implikationszusammenhang ist ausdifferenziert nach Formgebungsprozessen und -strukturen als gesellschaftliches Makrosystem; als Mesosystem bezieht es sich auf institutionelle und organisationale Formgebungen (z. B. Betriebe, Unternehmensverbünde, Administrationen) sowie auf lebensweltliche Zusammenhänge;

•  das Modell psychodynamischer Implikationszusammenhang der Lebenskräfte und Lebensbedürfnisse bezieht sich auf den menschlichen Lebensprozess, der zugleich körperlicher, emotionaler und geistiger sowie individueller und sozialer Prozess ist;

•  das Modell curriculare Relevanzebenen von Bildung und Qualifikation ist ein Konstruktionsrahmen für Berufsbilder wie Curricula;

•  das Modell didaktischer Implikationszusammenhang ist gerichtet auf das dialektische Gefüge von Relationen zwischen Zielen, Inhalten und Verfahren von Lehr- und Lernprozessen. In seinem Mittelpunkt stehen Bildungsprozesse als Entwicklung und Entfaltung des Subjektes.

Diese Erkenntnisinstrumente beziehen sich auf die Bewegungen basaler gesellschaftlicher Prozesse, in welche die qualifikatorisch relevante Praxis eingebunden ist. Sie dienen als Referenzrahmen zur Beschreibung und Analyse der Ausgangslage für eine curriculare Bedarfskonstellation.

2. Zur Konkretisierung der berufsbildungswissenschaftlichen Qualifikationsforschung

Im Rahmen der bildungswissenschaftlichen Qualifikationsforschung werden vor allem Prozesse von Freisetzung und Vergesellschaftung differenzierter untersucht. Die Ausgangsthese ist dabei, dass sich eine berufsbildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung auch an ihren prospektiven Ergebnissen messen lassen muss. Aus diesem Grunde wurde für die Erforschung von Curricula das „Risikolagenmodell“ erarbeitet (vgl. BUCHMANN 2006).

Es stützt sich zunächst auf die Identifizierung von Ambivalenzen . Die gegenwärtigen gesellschaftlichen Strukturen für berufliche Ausbildungsprozesse sind als solche der Moderne durch Ambivalenzen und Unsicherheiten ebenso wie durch Unübersichtlichkeit, Individualisierung und Rationalisierung gekennzeichnet, um nur einige wenige, aber für das Verhältnis von Bildungs- und Beschäftigungssystem und die Fragen der Passung zentrale Aspekte zu nennen. Die Vergesellschaftung von Arbeit erfolgt in den Antinomien der modernen Gesellschaft unter Bedingungen, die sich aus bildungswissenschaftlicher Perspektive mit dem Gegensatzpaar „Orthodoxie und Avantgarde“ (LISOP 1992, 59) oder soziologisch in der Antithetik von „Globalisierung und Fragmentierung“ (MENZEL 1998) fassen lassen. Die Wirkgefüge und ambivalenten Kräfte, die in modernen Gesellschaften relevant werden, müssen nachvollzogen und verstanden werden, um gestaltend in die sich entwickelnden gesellschaftlichen Strukturen eingreifen zu können (vgl. BUCHMANN 2004).

Ergänzt wird die Identifizierung der Ambivalenzen durch die systematische Beobachtung von Mismatches am Arbeitsmarkt . Gemeinhin bezeichnet man die Abweichung von einem perfekten „Match“ als „Mismatch“. Um das Ausmaß an Mismatch operationalisierbar zu machen, geht man von einem hypothetischen „optimalen“ Match als Benchmark aus (vgl. ENTORF 2000, 10). Bezogen auf den Arbeitsmarkt, das heißt konkret auf den Ausgleich von Qualifikationsangebot (Arbeitssuchenden) einerseits und Qualifikationsnachfrage (offenen Stellen) andererseits, kann „Optimalität“ zum einen die Match-Qualität der im Matching-Prozess abgeschlossenen Arbeitsverhältnisse betreffen. Hier steht die quantitative und qualitative Frage im Vordergrund, ob die Profile der Arbeitsplatzanforderungen von den Arbeitsplatzbewerbern vollständig ausgefüllt werden. Solche perfekten Matches seien die Grundlage dauerhafter Beschäftigungsverhältnisse. Eventuelle spätere Trennungen vom Arbeitsplatz erfolgten dann im Prinzip nur rezessionsbedingt; wenn man vom Problem obsolet werdender Arbeitsplätze einmal absieht (qualitätsorientiertes Match).

Die Schneidung der Arbeitsverhältnisse hängt ferner von neuen Steuerungslogiken ab. Das Risikolagenmodell nutzt dabei konkret Steuerungsmodelle wie das New Public Management, welches zwischenzeitlich in Wirtschaft und Verwaltung zu den jeweils vorherrschenden Organisationsmodellen gehört (vgl. z. B. BEYER 2000, MEYER 2001). Solche Steuerungsmodelle justieren Zielsetzungen, Aufbau, Aufgaben und Handlungsoptionen, Hierarchien, Positionen, aber auch wissenschaftliche Relevanz- und Aussagensysteme wie Erkenntnismuster, Sprachsysteme, Gesetze und Logiken etc. im Sinne eines Paradigmas neu. Angesichts des gesellschaftlichen Strukturwandels werden traditionelle Organisationsmodelle offensichtlich dysfunktional und in diesen Fällen durch neue Steuerungsmodelle ersetzt.

Im Zusammenwirken mit neuen Steuerungsmodellen reglementiert eine Doppelstrategie dominant die Beurteilung und Bestimmung der Zusammensetzung produktiver Leistungspotentiale: Portfolio-Strategien und Ratingverfahren. Der Portfolio-Ansatz nimmt als Planungsinstrument die strategischen Wertschöpfungspotentiale ganzheitlich z. B. hinsichtlich ihrer Ertragskraft in den Blick und bewertet diese. Im Rahmen des Portfolio-Managements werden z. B. Betriebe oder Unternehmensteile nach der optimalen Mischung ihrer Risiken gruppiert. Es werden neue optimalere Kombinationen der Faktoren Arbeit und Kapital gesucht und die Wertschöpfungsprozesse systematischer kontrolliert. Die Faktorkombinatorik wird durch Einflüsse gesteuert und geregelt, die wir als Entmischungsprozesse konzipieren (vgl. BUCHMANN 2003). Diese Entmischungsprozesse treten in unterschiedlichen Erscheinungsformen und in unterschiedlichen Handlungsfeldern auf und sind eine zentrale Ursache für die Entstehung von Bedarfen an Arbeitsvermögen wie sie zugleich neue Arbeitsschneidungen regeln .

Ein solcher theoretischer Gesamtzugang bietet den Vorteil, dass nicht nur retrospektiv festgestellt werden kann, sondern theoretisch durchaus die Möglichkeit eines „forecastings“ gegeben ist. Denn er ermöglicht, die qualifikatorischen Wirkungen auf ihre Entstehung zurück zu verfolgen, da sich das forecasting parallel zu den bedingenden Faktoren positioniert. Praktische Bedeutung hat ein solches Vorgehen bereits in der Technikfolgebewertung gewonnen (vgl. z. B. HUISINGA 1985 u. 1996, DIERKES 1997, ROPOHL 2001).

Eine sozialwissenschaftliche Technikforschung schließlich ergänzt das Risikolagenmodell.

Es ist dieser so gefasste theoretische Gesamtzugang, von dem aus wir zu einer Erhellung

•  der Funktion und des Stellenwerts des empirischen Arbeits- und Tätigkeitsfeldes im Rahmen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung,

•  der organisationalen Formgebungen dieser Arbeit,

•  der konkreten prototypischen Operationen und der erforderlichen Qualifikationen,

•  der Arten von Wissen (z. B. Faktenwissen, Regelwissen, Theoriewissen, Problemlösewissen) sowie der Wissensarchitektur, die erforderlich sind (unabhängig von Prüfungskatalogen),

•  von prototypischen Wertmustern, Denk- und Urteilsmustern, Rollenmustern, arbeitsfeldbezogenen Habitualisierungen mit zugehörigen Mentalitäten,

•  der im jeweiligen untersuchten Relevanzfeld auftretenden Rationalitäten, Interessen, Widersprüche, Konflikte oder auch unterschiedlichen Sichtweisen, die es durchdringenden,

gelangen.

Mit der Erhebung dieser empirischen Daten verknüpft ist eine erkenntnistheoretische Komponente. Da das gewonnene Verfügungswissen um Orientierungs- und Problemlösewissen (zwecks Zukunftsgestaltung) ergänzt werden muss, wird das zu untersuchende Relevanzfeld auf Rationalitäten, Interessen, Widersprüche, Konflikte oder auch unterschiedliche Sichtweisen, die es durchdringenden, untersucht und nach wissenschaftlichen und praktischen bzw. sozialen Lösungsmustern geforscht.

Schließlich dient ein dritter Forschungsschritt der Erhebung des Subjektbezuges, also der Lebensweltbezüge, grundlegenden Bedürfniskonstellationen und Gebrauchswertorientierungen von Wissen im Relevanzfeld.

An diese Materialsammlungen schließt sich ein differenzierter Prozess der Ermittlung von Korrelationen und Verdichtungen an, um die curricularen Lernfelder zu generieren. Methodologisch sichert die Exemplarik die Transformation des Materials in die Curriculumkomplexe. Die Exemplarik ist philosophisch und didaktisch als Erkenntnisprinzip zu verstehen, das durch Wahrnehmung, Auslegung und Zuordnung von Wesen (Konstitutionslogik) und Erscheinung, Ganzen und Teilen, Strukturen und Prozessen didaktisch realisiert wird. Es dient der Auswahl und Aufbereitung von komplexen Lerngegenständen, indem es auf das Auffinden und Erkennen, aber zugleich auch auf das Entfalten von Knotenpunkten bzw. Verdichtungen in sich mehrschichtiger oder unterscheidbarer Felder, Phänomene, Prinzipien, Gesetze oder Fachgebiete zielt. Die Exemplarik stellt somit nicht – wie häufig in einem verkürzten Verständnis unterstellt – auf die Auswahl und die Arbeit mit Beispielen ab, sondern dient der Erkenntnis von Mustern. Das einzelne Lernziel, Thema oder Stoffgebiet entfaltet seine bildende Wirkung nämlich erst dann, wenn von den Lernenden erkannt werden kann, womit es zu einem Ganzen und zu umfassenderen Zusammenhängen gehört. Dieses Muster der Zusammengehörigkeit ist durch eine gemeinsame Konstitutionslogik geprägt, die die Beziehung der Teile zueinander ebenso strukturiert wie die Teile selbst. Es kommt darauf an, die Beziehung und Zusammengehörigkeit der Muster zur Erkenntnis zu bringen. Damit dient die Exemplarik nicht primär der Stoff- oder Komplexitätsreduktion. Soll doch im Gegenteil in Lernprozessen die Komplexität von Sachverhalten durchschaut und nicht reduziert werden. Im Sinne der Exemplarik ist didaktische Reduzierung dann (statt Verringerung von Stofffülle oder bestenfalls vereinfachte Darstellung von Grundprinzipien) Resultat folgender Schritte:

•  Zurückführen des Komplizierten auf sein Grundprinzip.

•  Aufzeigen des Grundprinzips als strukturprägendes Moment in der Komplexität.

•  Herausarbeitung der Verknotungs- bzw. Verdichtungszonen unterschiedlicher Dimensionen.

Die Verringerung der Stofffülle ist demnach das Ergebnis aus dem Herausarbeiten des Exemplarischen. Dabei handelt es sich um einen mehrschichtigen Prozess (vgl. LISOP/ HUISINGA 2004).

An zwei Anwendungsbeispielen sei dieses Vorgehen dokumentiert:

•  Die Veröffentlichungen „Qualifikationsbedarf, Personalentwicklung und Bildungsplanung“ sowie „Curriculumentwicklung im Strukturwandel“ sind Beispiele aus der Forschungspraxis der Autoren LISOP und HUISINGA (vgl. HUISINGA / LISOP 2002, 2005). Die Texte und die Ergebnisse dieser Bände entstanden im Rahmen eines Projektes der Gewerblichen Berufsgenossenschaften. Ziel des Projektes war es, den Strukturwandel bei den Gewerblichen Berufsgenossenschaften daraufhin zu untersuchen, wie sich die Qualifikationsanforderungen speziell im Segment der gehobenen Funktionen verändern. Die hierüber gewonnenen Daten sollten als Basis für ein neues Berufsbild und einen neuen Ausbildungsgang samt Curriculum dienen. Die Untersuchungen gaben dabei den Blick frei für die historisch gewachsene Einheit von Funktionen und Prozessen der öffentlich und institutionell betriebenen Haftungsregulation bei Arbeitsunfällen und ihren Leistungen im Rahmen der Sozialgesetzgebung. Mit ihr zeigten sich zugleich neue Prägungen des Selbstverständnisses, der institutionellen Verfassung, der Arbeitsorganisation und der subjektbezogenen Kompetenzspektren als neue Bündelung (Implikation). In ihrer Vergesellschaftung fügen sich nämlich neue Elemente zusammen, und zwar von gesellschaftlichen Bewusstseinsformen mit Recht und Ethik, Kommunikationsformen und betrieblicher Organisation, von Lebensbedürfnissen und Lebenskräften.

•  Die Anwendung des empirisch und theoretisch rückvermittelten Konzeptes einer bildungswissenschaftlichen Qualifikationsforschung ist zum anderen für das Feld des Gesundheitswesens dokumentiert (vgl. BUCHMANN 2006). Dabei ist zu betonen, dass das konkrete Forschungsfeld sich auf alle Zentren, in denen gesellschaftliche Aufgaben und Ansprüche neu verteilt werden, hätte richten können und es nicht um eine ceteris paribus Forschung geht, sondern um solche Wechselwirkungen, die durch Bündelungen und Überlagerungen von Anforderungen, auch aus Aufforderungen bzw. Folgen aus sozialen Entscheidungen resultieren. Im Hinblick auf das Gesundheitswesen sind solche „Verdichtungen“ herausgearbeitet worden, an denen sich die Bedarfe an Arbeitsvermögen im Gesundheitswesen zukünftig zu orientieren haben: konkret am Case Management. Für andere gesellschaftliche Aufgabenbereiche und Handlungsfelder können sich andere Formen der Typisierung und Standardisierung von vergesellschafteter Arbeit ergeben. Es existiert hier allerdings kein Universalismus; auch aus diesem Grunde ist berufsbildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung immer wieder neu zu justieren. Es ist dieser Typus von Arbeit, die ihn bestimmenden Rationalitäten, Widersprüche, Brüche, Ungleichzeitigkeiten, Konflikte, Wissenskontingente etc., die für Fragen der Subjektbildung im Rahmen der Curriculumkonstruktion aufbereitet werden müssen.

3.  Zusammenfassung und Ausblick

Der implikationstheoretisch berufsbildungswissenschaftliche Ansatz geht also davon aus, dass ein Curriculum, mithin also auch Lernfelder, nicht linear aus einem Guss und schon gar nicht als Ableitung aus dem Arbeitsprozess oder einer Wissenschaft entsteht. Das Curriculum entsteht vielmehr aus einem finalen System von Fragekomplexen und Konstruktionsschritten, die jeweils mehrfach „durchlaufen“ werden.

Die berufsbildungswissenschaftliche Qualifikationsforschung setzt insbesondere Akzente im Hinblick auf die sachlogischen Ansprüche an eine empirisch basierte, auf Nachhaltigkeit und Innovation gerichtete berufsbildungswissenschaftliche Curriculumkonstruktion . Sie setzt dabei auf der Makro- und der Exoebene der gesellschaftlichen Bedeutung von Freisetzung und Vergesellschaftung an. Es sind die Entwicklungen auf diesen Ebenen, die die organisationale Formgebung von Arbeit (Mesoebene) und die Arbeitsoperationen samt Lernsituationen (Mikroebene) beeinflussen. Die Analyse von Arbeitsplätzen in gesellschaftlichen Institutionen, in denen einer erwerbswirtschaftlichen, ehrenamtlichen und/oder reproduktiven Arbeit nachgegangen wird, sind somit fakultativer Bestandteil des berufsbildungswissenschaftlichen Forschungsansatzes. Dabei folgt die Konzeption der Analysen auf der Mikro- und Mesoebene der Einsicht, dass in den dynamischen Wechselbeziehungen zwischen den Ebenen die Berufsbildung aufgrund ihrer ökonomischen Implikationen durch Einflüsse von „oben“ dominiert wird. Insofern kann eine Curriculumkonstruktion, die sich auf veränderte qualifikatorische Anforderungen in der Wirtschaft bzw. neue Arbeitsschneidungen und -vermögen bezieht, nicht auf Arbeitsplätze oder Berufsfelder beschränkt bleiben, muss dementsprechend über die lernfeldorientierte Lehrplanentwicklung nach KMK-Vorgaben deutlich hinausgehen.

Die gesellschaftlichen Transformationsprozesse lassen ein Zurückfallen hinter eine solche empirisch und theoretisch rückvermittelte curriculare Gesamtstrategie als Komplexitätsbewältigungskonzept, aus der ein angemessenes Forschungsprogramm resultiert, definitiv nicht zu; diese Einsicht zumindest lässt sich problemlos plausibilisieren, mehr noch, sie wird momentan durch gesellschaftliche Realität überholt.

 

Literatur

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