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 bwp@ Ausgabe Nr. 13 | Dezember 2007
Selbstorganisiertes Lernen in der beruflichen Bildung Herausgeber der bwp@ Ausgabe 13 sind Karin Büchter und Tade Tramm

Struktur, Handlungsrationalität und Selbststeuerung

online seit 14.4.2008
 

 


1.  Vorbemerkungen

Aktuelle Diskussionen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik fokussieren die Konzepte des situations- und handlungsorientierten Unterrichts. Hierbei erfolgt eine weitestgehende Orientierung an betrieblichen Arbeits- und Geschäftsprozessen und selbstgesteuerten Lernumgebungen zum Erwerb beruflicher Handlungskompetenz. (vgl. u. a. ACHTENHAGEN 2003, 78-97; KAISER 2003, 125-147). In diesem Zusammenhang entstanden unterschiedliche Modellversuchsvorhaben. So zielen z. B. die Modellversuchsprogramme der Bund-Länder-Kommission wie SINUS-TRANSFER, LLL oder SKOLA auf die Etablierung selbstgesteuerter und kooperativer Lernprozessen ab (für eine Übersicht vgl. www.blk-bonn.de/modellversuche/programme_ab_1998.htm ). Die Programmskizze des Modellprogramms SKOLA ( Selbstgesteuertes und kooperatives Lernen in der beruflichen Erstausbildung) stellt zusammenfassend die zentralen Desiderata in der beruflichen Erstausbildung heraus: „Sowohl die Lehr- und Lernprozesse als auch die Kulturen in den beruflichen Schulen betonen noch zu wenig die Selbstverantwortung, die Prinzipien der Selbstorganisation und der Selbststeuerung und das Lernen und Arbeiten in Teamkontexten. Konzepte der Selbstwirksamkeit spielen systematisch im Unterrichts- und Schulalltag beruflicher Schulen trotz ihrer Bedeutung für Unterrichts- und Lernerfolg kaum eine Rolle.“ Der in diesem Programm angesiedelte Modellversuch LUNA (Lernen und nachhaltige berufliche Ausbildung) (Innerhalb des BLK-Modellversuchsprogramms skola führen die Bundesländer Hamburg und Hessen den Verbund-Modellversuch LunA – „Lernen und nachhaltige berufliche Ausbildung“ durch. Der Modellversuch verknüpft „Selbstgesteuertes Lernen“ in Aus- und Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern mit der Weiterentwicklung des Unterrichts in beruflichen Schulen. Die Laufzeit des Modellversuches ist vom 01.08.2005-31.07.2008. www.blk-luna.de ) nimmt Bezug zu beiden Seiten des schulischen Ausbildungssystems. Er betrachtet sowohl die konkrete Unterrichtsinteraktion und die Gestaltung der Arbeitsmöglichkeiten in der Schule als auch die Lehrererbildung, d. h. die Aus- und Fortbildung der Lehrer. Schüler sollen durch veränderte Lehr-Lern-Arrangements in die Lage versetzt werden, selbstgesteuert zu lernen. Dazu haben sich Gruppen von diesen Konzepten gegenüber aufgeschlossenen Lehrern zusammengeschlossen, um ihren Unterricht mit Elementen der Selbststeuerung anzureichern und ihn zu reorganisieren. Tradierte Strukturen und langjährige Handlungsweisen im Unterricht zu verändern ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden, welche nicht eindeutig auf einige wenige Aspekte der Veränderung zurückzuführen sind. Um zu erläutern, warum Lehrer und auch Schüler bei Veränderungen von unterrichtlichem Vorgehen auf Schwierigkeiten stoßen, werde ich zwei theoretische Konzepte heranziehen. Diese thematisieren sowohl strukturelle Bedingungen des Unterrichtes als auch subjektive Eigenschaften der Lehrenden und Lernenden.

Im Folgenden werde ich zunächst einen Überblick über die Anforderungen geben, die das Konzept des Selbstgesteuerten Lernens an Schule und Unterricht stellt. Veränderungsforderungen und Schwierigkeiten der Lehrer und Schüler bei der Reorganisation ihrer Unterrichte werde ich anhand der Theorie der Strukturierung von GIDDENS und der Skripttheorie in Anlehnung an SCHANK und ABELSON erläutern. Zum Schluss werde ich einen Bezug zum Modellversuch herstellen, indem ich exemplarisch einige Modellversuchserfahrungen mit den beiden theoretischen Konzepten konfrontiere.

2.  Selbstgesteuertes Lernen und die Anforderungen an den Berufsschulunterricht

REUTTER (1998, 28) beschreibt bildhaft heutige Anforderungen, die an Schule und an die in ihr Tätigen gestellt werden: „War Schule Vorbereitung auf eine Fahrt durch das Leben, in dem Verkehrsschilder, Orientierungstafeln und Leitplanken den Weg wiesen und die Gefahr des völligen Verfahrens minimierten, so muss heute Schule auf eine Fahrt vorbereiten, bei der der Einzelne sich nicht nur nicht auf Orientierungsmuster, Ge- und Verbote verlassen kann, nein, er muss auch noch in der Lage sein, seinen Atlas fürs Leben selbst zu zeichnen und darüber hinaus die richtige Fahrtrichtung wissen.“

Berufsschulunterricht soll die Schüler nachhaltig auf das Berufsleben vorbereiten. Im Zentrum steht die Förderung kognitiv anspruchsvoller Denkprozesse, welche die Schüler befähigen sollen, schwierige fachliche Probleme selbstständig zu lösen. Dazu benötigen sie ein Wissen, das in Abgrenzung zu trägem Wissen, auf einem tiefen Verständnis beruht, verfügbar und aus gewohnten Anwendungssituationen auf neue Anwendungen transferierbar ist. Der Erwerb dieser Fähigkeiten wird mit dem Konzept des Selbstgesteuerten Lernens in Verbindung gebracht, da davon ausgegangen wird, dass diese Kompetenzen durch offene Lernarrangements selbstständig erworben werden können (vgl. DUBS 1995, 266f.). „Selbstgesteuertes Lernen ist eine Form des Lernens, bei der die Person in Abhängigkeit von der Art ihrer Lernmotivation selbstbestimmt eine oder mehrere Selbststeuerungsmaßnahmen (kognitiver, volitionaler oder verhaltensmäßiger Art) ergreift und den Fortgang des Lernprozesses selbst (metakognitiv) überwacht, reguliert und bewertet.“ (KONRAD/ TRAUB 1999, 13). Bei dieser Definition werden sowohl die kognitive Seite als auch die motivationale und metakognitive Seite des Lernprozesses angesprochen. Dabei wird der Lernende in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Von eben dieser „Konzentration des Blicks auf den lernenden Menschen“ (NUISSL 1999, 34) geht auch die aktuelle Diskussion zum selbstgesteuerten Lernen aus. DOHMEN (1998, 66) kommt zu dem Schluss, dass die so genannten traditionellen Curricula und Institutionen diese individuellen Suchbewegungen und Regulationsbemühungen immer weniger unterstützen. Er spricht sich daher für ein selbstbestimmteres konstruktives Lernen aus, bei dem die Lernenden immer wieder neue, jeweils auf wechselnde Herausforderungen bezogene Wissenskonstellationen und Kompetenzprofile erarbeiten.

Der Weg zu dieser Neubestimmung zwischen Wissen, Können und Handeln sowohl auf der Schüler- als auch auf der Lehrerseite, basiert auf einem Verständnis einer neuen Lehr- und Lernkultur. Vor diesem Hintergrund ist Lehren nicht mehr als „direkte Steuerung“ (VOSS 2002, 41) anzusehen, sondern als „indirekte Beeinflussung in der gemeinsamen Gestaltung von Lern-Lehr-Prozessen“ (ebd.), die Lernen ermöglicht. Lerntheoretisch verweist der Begriff des selbstgesteuerten Lernens auf die Konstruktivismusdebatte (vgl. OLBRICH 2001, 391). „Lehrer sind in der Sicht des Konstruktivismus erfindungsreiche Störer und nicht Instrukteure“ (GERDSMEIER/ FISCHER 2002, 176). Ihre Aufgabe ist „im Kontext eines allgemeinen Kommunikationsprozesses einer Lerngruppe [...] Angebote zu Inhalten, Strukturen, Prozessen, Regeln etc.“ zu unterbreiten (VOSS 2002, 41), „die am Ende und vielleicht nach ausgehandelten Modifikationen von den Lernenden als subjektiv sinnvoll aufgefasst werden“ (GERDSMEIER/ FISCHER 2002, 176).

Mit dem Wandel der Lernkultur in Richtung Schülerselbststeuerung geht es aber nicht um eine Abschaffung instruktionaler Handlungsmuster im Unterricht, sondern um eine Transformation professioneller Handlungsmuster, welche auch immer an die Handlungspraxis der Lehrkräfte geknüpft sind. Die Anforderungen an offenen Unterricht und die damit verbundenen Anforderungen an die Aktivität der Schüler verändern die Vorstellung dessen, was man unter „Lehren“ versteht.

Es bleibt festzuhalten, dass – wenn man dem Anspruch der Selbststeuerung folgt - der Lehrende die bisherige Gestaltung von Unterricht umstrukturieren und den Lernenden Freiräume zur Gestaltung ihrer Lernprozesse einräumen sollte, ohne in Beliebigkeit zu verfallen. Hier gilt es Lernumgebungen zu entwerfen, die den Lernenden den Raum geben, ihre Selbststeuerungskompetenzen im Rahmen ihrer Möglichkeiten auszubauen und gleichzeitig das geforderte Wissen in einer kooperativen und sozialen Lernumgebung zu erwerben (vgl. LANG/ PÄTZOLD 2004, 17). KONRAD und TRAUB (1999, 50) formulieren folgende Ansprüche, die selbstgesteuertes Lernen an den Unterricht stellt: „Selbstgesteuertes Lernen hat nur dann positive Effekte, wenn die Metakognition der Lernenden verbessert und dies durch einen Wandel der Rolle der Lehrperson zum Beobachter und Berater unterstützt wird.“ Somit ist der Lehrende beim selbstgesteuerten Lernen nicht dafür zuständig, dass die Lernenden ein bestimmtes Wissen haben, sondern dafür, dass sie dieses Wissen erlangen können.

3.  Struktur, Handlungsrationalität und Skripts

Diese Darstellung der Anforderungen des selbstgesteuerten Lernens an die Schule und speziell auch an den Unterricht und die daraus resultierenden Veränderungen des Handelns der in ihm Tätigen, verdeutlichet die generelle Bedeutung des Verhältnisses von Struktur und handelnden Akteuren und damit auch Veränderungen von Strukturen und Handlungsabläufen im pädagogischen Feld. ANTHONY GIDDENS hat in seiner Theorie der Strukturierung dargelegt, dass Strukturen das Handeln nicht nur beschränken, sondern dieses zugleich ermöglichen. Strukturen sind daher nicht einseitig als Rahmenbedingungen zu sehen, sondern ebenfalls als Produkt und Medium des Handelns der Akteure und können nicht ohne diese betrachtet werden. Dadurch entstehen relativ stabile Handlungsmuster und Routinen, die auch im gewissen Sinne unabhängig von dem Akteur bestehen können. Der Routinebegriff impliziert bei GIDDENS eine Dezentrierung des Individuums und ermöglicht einen Blick auf eine Struktur, die nicht mehr allein dem Individuum zugerechnet werden kann.

Routinen koordinieren das Verhalten mehrerer Personen und beruhen auf gemeinsam geteilten Wissensbeständen. Unterricht ist geprägt von Routinen, von wiederkehrenden Mustern der Unterrichtsführung, die Lehrkräfte im Laufe ihrer Berufstätigkeit übernommen haben (vgl. SEIDEL 2003, 4). Diese Routinen sind durch bestimmte Handlungsmuster, aber auch durch Rollen, Vorstellungen und Erwartungen, die Schüler und Lehrkräfte dabei einnehmen, charakterisiert (vgl. SCHANK/ ABELSON, 1977). Diese Handlungen und Sequenzen von Handlungen werden von SCHANK und ABELSON als Skripts bezeichnet, deren Ablauf in wesentlichen Punkten gleich ist.

3.1  Akteur – Handeln – Struktur

Soziale Beziehungen und Handlungsprozesse laufen nie ungeordnet ab. Gerade in Institutionen wie Schule und institutionalisierten Prozessen wie Unterricht weisen sie spezifische Strukturmerkmale auf. Handlungen werden nach GIDDENS (1997, 36) von Akteuren durchgeführt, die die Fähigkeit besitzen, „zu verstehen, was sie tun, während sie es tun“. Ausgangspunkt ist also ein (selbst)bewusst, selbstständig und aktiv handelnder Mensch, der während des Handelns selbstreflexive Strategien verwendet und diese ggf. veräußerlichen kann. GIDDENS versteht unter „Handeln“ einen kontinuierlichen Fluss des Verhaltens, das sich dadurch auszeichnet, dass es nicht determiniert ist, d. h. dass der Akteur zu jedem Zeitpunkt hätte anders handeln können, als er es getan hat. Verhalten wird dabei als eine Form intentionalen Handelns verstanden. Akteure überwachen und reflektieren also routinegemäß nicht nur ihr eigenes Handeln, sondern auch ihren Handlungskontext, welcher wiederum durch unbekannte Handlungsbedingungen verändert wird (vgl. GIDDENS, 1997, 55f.).

Neben dieser „Handlungsfähigkeit“ („Capability“) besitzt der Akteur also eine weitere Eigenschaft, die GIDDENS „Bewusstheit“ („Knowledgability“) nennt, welche das gesamte Wissen über die Umstände des eigenen Handelns des Akteurs umfasst.

Das Bewusstsein des Akteurs wird von GIDDENS in drei Ebenen unterteilt:

Praktisches Bewusstsein

Als praktisches Bewusstsein bezeichnet GIDDENS (1997, 431) all das, was „die Akteure über soziale Zusammenhänge wissen (glauben), einschließlich der Bedingungen ihres eigenen Handelns, was sie aber nicht in diskursiver Weise ausdrücken können“.

Diskursives Bewusstsein

Als diskursives Bewusstsein bezeichnet er all das, was „die Akteure über soziale Zusammenhänge, einschließlich ihres eigenen Handelns sagen oder verbal ausdrücken können“ (ebd., 429).

Ebene der unbewussten Motive

Die Ebene der unbewussten Motive ist dagegen in der Regel einer diskursiven Formulierung verschlossen.

Die drei Ebenen des Bewusstseins, also das Handlungswissen, wirken – wenn auch in unterschiedlicher Art und Weise – auf das Handeln des Akteurs: Die unbewussten Motive bestimmen die Handlungsmotivation, die allerdings keinen direkten Eingang in die Handlung findet, sondern die prinzipielle Ausrichtung des Handelns beeinflusst. Die beiden anderen Ebenen wirken auf die „Rationalisierung des Handelns“ ein. Das bedeutet, dass die Akteure ein Verständnis für die Gründe ihres Handelns entwickeln, auch wenn sie diskursiv nicht in der Lage sind Rechenschaft über ihr Handeln abzulegen. Diese interne Begründungsverpflichtung sorgt dafür, dass die Akteure ihrem Handeln eine Orientierung geben und aktiv gestaltend wirken. Während der Überwachung und Steuerung des Handelns wird es gleichzeitig mit den Intentionen und Handlungsgründen des Akteurs abgeglichen, d. h. rationalisiert. So werden die Handlungen des Akteurs und seine Aufmerksamkeit auf das aktuelle Handeln ausgerichtet, wobei eine gleichzeitige Modifizierung der Handlungsgründe vorgenommen wird. Daher ist die Rationalisierung des Handelns reflexiv in den Prozess der Handlungssteuerung und -überwachung eingebunden.

Handlungsmotivation, Rationalisierung des Handelns, reflexive Steuerung des Handelns und die Rückkopplung zum Handlungskontext werden von GIDDENS als Stratifikationsmodell bezeichnet. Dieses Modell erklärt das Handeln des sozialen Akteurs auf der Ebene des Individuums.

Unbewusste Motive und unbeabsichtigte Handlungsfolgen stellen unerkannte Handlungsbedingungen für weiteres Handeln dar, sodass dieses „Nichtwissen“ wiederum zu nicht intendierten Handlungsfolgen führen kann. GIDDENS hebt das praktische Handeln hervor, indem er es als Träger von Routinen beschreibt. Diese Routinisierung gibt dem Akteur eine Art von Sicherheitsgefühl (vgl. GIDDENS 1997, 222). Unter Routine wird alles verstanden, „was gewohnheitsmäßig getan wird“ (GIDDENS 1997, 36). Routinen spielen eine wichtige Rolle bei der Reproduktion sozialer Praktiken. Da Routinehandlungen unreflektiert, gewissermaßen automatisch ablaufen, zeichnet sich eine Handlung, die von der Routine abweicht, dadurch aus, dass sie begründet ist. Der Wandel sozialer Strukturen entsteht dadurch, dass die Akteure die tradierten Handlungsabläufe verlassen und so die soziale Praxis verändern. Mit Hilfe des Phänomens der Routine und deren Auflösung können dann Rückschlüsse auf die Gründe von Reproduktion alter Pfade und Entwicklung von Abwehrhaltungen gegenüber Entwicklungsprozessen gezogen werden. So können in reflexiver Auseinandersetzung neue Routinen aufgebaut oder alte verändert werden. In und durch ihre Handlungen reproduzieren die Akteure also die Strukturen, die ihr Handeln ermöglicht (vgl. GIDDENS 1997, 52).

Als Struktur bezeichnet GIDDENS Regeln und Ressourcen, die in rekursiver Weise in die Reproduktion sozialer Systeme einbezogen werden. Dabei existiert Struktur in Form von „Erinnerungsspuren, der organisatorischen Basis der menschlichen Bewusstheit, und als im Handeln exemplifiziert“ (GIDDENS 1997, 432). Um zu erklären, wie Interaktionen produziert und reproduziert werden, d. h. wie der Prozess des Handelns verläuft, verweißt GIDDENS auf das Konzept der Rekursivität: „Der Wiederholungscharakter von Handlungen, die in gleicher Weise Tag für Tag vollzogen werden, ist die materielle Grundlage für das, was ich das rekursive Wesen des gesellschaftlichen Lebens nenne.“ (GIDDENS, 1997, 37). Dabei kann Handeln als rekursiver Bezug des Akteurs auf Strukturen gedeutet werden, mit dem Effekt der Strukturreproduktion (vgl. ebd., 37). Diese Konzeption nennt GIDDENS „Dualität der Struktur“, welche den Dualismus zwischen Volution und Determination aufzuheben versucht. Demzufolge ist Rekursivität eine Eigenschaft des Handelns, die Kontinuität im Handeln sicherstellt, wobei die Strukturen das kompetente Handeln des Akteurs ermöglichen und gleichzeitig seine Handlungsoptionen einschränken, d. h. soziale Strukturen begrenzen und erzeugen gleichzeitig die Handlungsautonomie der Akteure. Um die Vermittlung zwischen Struktur und Handlung erklären zu können, schlägt GIDDENS das Konzept der Modalitäten vor.

Auf der Strukturdimension der Signifikation wird durch Interaktion Sinn produziert. Diese Sinnproduktion ist unter Rückgriff auf soziokulturelle Deutungsmuster möglich und somit zugleich Sinn re produktion. Zusätzlich führt GIDDENS die Machtdimension ein, welche er auf der Strukturebene als Herrschaft definiert, die die Macht gesellschaftlich rechtfertigt und ihr auf diese Weise soziale Geltung verleiht. Handlungszusammenhänge zwischen Akteuren sind also durch Machtverhältnisse charakterisiert. Aus der Perspektive der Legitimation wird auf der Interaktionsebene die legitime Ordnung eines Systems (z. B. Gesellschaft, Organisation, Schule) hergestellt. Da bei Nichtbeachtung der Norm (auf der Modalitätenebene) negative Sanktionen drohen, orientieren sich die meisten Akteure an der Norm und tragen somit zur Reproduktion der Legitimationsdimension bei.

Hier wird deutlich, dass Handeln und soziale Strukturen nicht voneinander zu trennende Phänomene sind. Dadurch stellen auch Institutionen wie z. B. die Schule immer etwas Gewordenes dar, welches auch anders hätte werden können und damit auch etwas, was nur vom aktuellen Standpunkt aus verändert werden kann. Die Schanierstelle zwischen Handeln und Struktur sind die sozialen Praktiken. Praktiken sind einerseits überindividuell und ermöglichen eine Konzeption sozialer (subjektloser) Strukturen. Andererseits verdeutlichen sie, dass Strukturen von sozialen Akteuren praktiziert werden müssen, um zu existieren. Soziale Strukturen geben also über das Medium „Praxis“ dem Handeln eine Form und begrenzen es gewissermaßen. Gleichzeitig ermöglichen Praktiken dem Akteur das Handeln aber auch, indem er die Form definieren kann. Solange aber die Akteure nicht von der bisherigen Praxis abweichen, reproduzieren sie durch ihre Praktiken die bestehenden sozialen Strukturen. „Der Handlungsstrom produziert kontinuierlich Folgen, die die Akteure nicht beabsichtigt haben, und diese unbeabsichtigten Folgen können sich auch, vermittelt über Rückkoppelungsprozesse, wiederum als nicht eingestandene Bedingungen weiteren Handelns darstellen“ (GIDDENS 1997, 79).

Anschließend an die Strukturationstheorie, in der dargelegt wurde, dass Strukturen durch Routinen im Handeln reproduziert werden, wird hier ein weiteres theoretisches Modell herangezogen, um zu verdeutlichen, warum das Handeln in spezifischen Situationen wie bspw. in der Schule, eine hohe Resistenz gegenüber Veränderungen aufweisen können. Handlungen werden auf Grundlage von Erfahrungen generiert und tragen so zur Reproduktion bestehender Strukturen bei. Die entstehenden Routinen können mit Hilfe des Skriptbegriffes von SCHANK und ABELSON erläutert werden. Einige Forschergruppen bemühen sich derzeit auf Grundlage verschiedener Forschungsschwerpunkte darum, den Skriptbegriff für die Beschreibung und Erfassung unterrichtlicher Lehr-Lernprozesse zu adaptieren (z. B. FISCHLER u. a. 2002; SEIDL u. a. 2002; SEIDL 2003; BLÖMEKE u. a. 2005).

3.2  Skripts

Der im kognitionspsychologischen Sinne von SCHANK und ABELSON (1977) verwendete Skriptbegriff bezeichnet eine mentale Repräsentation einer systematischen Handlungsabfolge, die auf eine spezifische Situation ausgerichtet ist und mit einem bestimmten Ziel versehen ist. Ein Skript enthält Angaben darüber, welche Abläufe von Ereignissen und Handlungen in bestimmten Situationen erwartet werden können. SCHANK/ ABELSON (1977, 41) beschreiben es als „ a predetermined, stereotyped sequence of actions that defines a well-known situation “ Nach DE BEAUGRANDE/ DRESSLER (1981, 96) sind Skripte „stabilisierte Pläne, die häufig abgerufen werden, um die Rollen und die erwarteten Handlungen der Kommunikationsteilnehmer zu bestimmen. Skripte unterscheiden sich also dadurch von Plänen, dass sie eine im Voraus festgesetzte Routine haben.“ Wie GIDDENS konstatiert, sind Routinen einerseits für das Gelingen von Handlungen und deren Effektivität von Bedeutung, andererseits werden diese Handlungen auch nicht mehr von den Akteuren bewusst wahrgenommen, sodass sie in gewissem Maße auch änderungsresistent sind und unreflektiert reproduziert werden. Bei der Verwendung von Skripts wird auf frühere Erfahrungen zurückgegriffen, um künftige Ereignisse antizipieren zu können: „Understanding, then, is a process by which people match what they see and hear to pre-stored groupings of actions that they have already experienced. New information is understood in terms of old information“ (SCHANK/ ABELSON, 1977, 67)

Wird man mit einer Situation konfrontiert, so wird ein bereits gelerntes Skript aktiviert, das mit dieser Situation in Zusammenhang steht. Die Funktion von Skripts liegt einesteils darin, dass Situationen ohne weitere Erklärungen verstanden werden können und zum zweiten erlauben sie gewisse Vorhersagen über Handlungsabläufe. Skripts determinieren aber das Handeln der Akteure nicht, da die Schemata mit Leerstellen ausgestattet sind. SCHANK und ABELSON (1977) benennen hierfür das Phänomen des „Slot-Filling“, welches beschreibt, dass ein Skript, im Sinne eines Ablaufplanes, mit Lücken (slots) ausgestattet ist, welche nach einer Situationsklassifikation mit den spezifischen Einzelheiten der Situation gefüllt werden. Dabei reichen Schlagworte (Headers) oder spezifische Situationen aus, um ein Skript zu aktivieren. SEIDEL (2003, 34) konstatiert, dass im Bereich des Wissenserwerbs „Ereignisse, die innerhalb einer Kultur nach bestimmten Regeln und Normen organisiert sind, im Zuge individuellen Lernens als Skripts organisiert werden“. Der Erfahrungsraum „Schule“ und „Unterricht“ wird demnach auch durch spezifische Skripts organisiert. Die Skripttheorie stellt ein komplexes Modell dar, um didaktische Aspekte des Lehrerhandelns und somit unterrichtliche Muster sowie Abläufe zu betrachten.

Die aktuelle Diskussion um selbstgesteuertes Lernen fordert Reorganisationsprozesse innerhalb der Schule und des Unterrichtes. Die Veränderung von pädagogischen Strukturen birgt aber einige Schwierigkeiten, die mit dem Konzept der Dualität von Struktur von GIDDENS und der Skripttheorie von SCHANK und ABELSON verdeutlicht werden können. Im Folgenden werde ich die beschriebenen Modelle zur Reproduktion von Strukturen und Handlungen auf Schule und Unterricht beziehen.

4. Strukturen und Routinen im Unterricht

Ergebnisse der Videostudie, die im Rahmen der „Third International Mathematics and Science Study“ (TIMSS) durchgeführt wurde, zeichnen eine relative Gleichförmigkeit unterrichtlichen Handelns von Lehrern im Mathematikunterricht nach. Ein großer Teil der Unterrichtsstunden weist ein einheitliches Skript auf: Wiederholung, Hausaufgabenbesprechung, Einführung in eines neues Thema, Durcharbeiten anhand von Übungsaufgaben, Hausaufgaben. (vgl. BAUMERT et al. 1997, 226) Inwiefern dies auf andere Unterrichtsfächer übertragbar ist, bleibt derzeit offen (vgl. SEIDEL 2003).

Schüler und Lehrer verbringen einen Großteil ihrer Zeit im Unterricht, somit kann davon ausgegangen werden, dass sie über Wissen zu Unterricht verfügen und sich spezifische Unterrichtsskripts auf beiden Seiten herausgebildet haben. Handlungsrelevantes, professionelles Wissen von Lehrkräften ist unter der Perspektive der Skripttheorie kognitiv als Handlungsabfolge gespeichert und wird routinisiert in ähnlichen Situationen abgerufen. Unterrichtliche Situationen zeichnen sich strukturell durch eine hohe Eigendynamik und gewisse Intransparenz aus (vgl. WAHL, 1991). Der Lehrer muss unter diesen Bedingungen „unter Druck“ handeln, ohne Gelegenheit zur bewussten Reflexion zu bekommen, sodass auf Skripts zurückgegriffen wird und diese das Verhalten im Klassenraum steuern. Diese Skripts haben eine stabilisierende Wirkung und zugleich sind sie Ursache dafür, dass Innovationen und Konzepte zur Veränderung des beruflichen Handelns nur schwer aufgenommen werden.

Die Skripts strukturieren zwar die konkreten Praktiken der Akteure, determinieren diese aber nicht. Um Strukturen verändern zu können, müssen sie zunächst diskursiv benannt werden. Voraussetzung ist dabei, dass der Akteur einen Zugriff auf das diskursive Bewusstsein bekommt. Nur so sind die Akteure fähig ihr Handeln zu rationalisieren, d. h. ihre Beweggründe des Handelns verbal zu äußern und zu legitimieren. Dabei ist es entscheidend, dass die Handlungsrationalisierung nicht den gesamten Handlungsprozess begleitet, sondern auf Anfrage (durch andere Akteuren, oder durch Selbstreflexion) hin erfolgt. Skripts sind nicht reflektierte Routinen, die sich in GIDDENS Stratifikationsmodell der Ebene des praktischen Bewusstseins zuordnen lassen. Die Skripts müssen also, wenn sie verändert werden sollen, durch eine Aufforderung in das diskursive Bewusstsein gehoben werden um so problematisiert werden zu können.

Im Hinblick auf die Veränderung von Unterrichtsstrukturen in Richtung Selbststeuerung der Schüler wird – auch wenn das Wissen darüber vorhanden ist – dieses Wissen nicht umgesetzt. Dies kann damit erklärt werden, dass solche Lehrer keine routinisierten Skripts entwickelt haben, die den Anforderungen an einen offenen Unterricht mit mehr Schüleraktivitäten folgen. Entstehen aber „Slots“, oder Störungen in den „neuen“ Handlungsfolgen, welche noch keine routinisierten Skripts darstellen, werden bereits bekannte Skripts aktiviert (u. a. resultierend aus dem hohen Entscheidungsdruck), sodass unterrichtliche Handlungsstrukturen, nur marginal verändert werden können.

Lehrkräfte verfügen i. d. R. im Kontext individueller Förderung durch selbstgesteuertes Lernen über wenig Erfahrung und haben auch keine Handlungsalternativen zu ihren jetzigen Unterrichtskonzepten entwickelt. Sie verbleiben in der ihnen bekannten Handlungslogik. „Während der Lehrer im Alltagsunterricht zumeist zutreffend voraussieht, was in der Stunde bis zum Ende passiert, kann niemand den Verlauf von handlungsorientiertem Unterricht vorhersagen" (BREIT 1998, 109). Schüleraktivität und die Partizipation der Schüler an Planung, Durchführung und Auswertung des Unterrichts scheinen zu einer Offenheit zu führen, die bewährte Handlungsmuster von Lehrern in Frage stellen – und diese somit verunsichern.

5.  Ausgangslage des Modellversuches LunA

Der Modellversuch LunA verwendet ein Akronym, das für „Lernen und nachhaltige Ausbildung“ steht. Der in die Bezeichnung aufgenommene Ausdruck der Nachhaltigkeit soll zum Ausdruck bringen, dass ein besonderes, hochwertiges Lernergebnis angestrebt wird. Die Gestaltung eines andersartigen Unterrichts erfordert also dreierlei:

•  die Bereitschaft der Lehrenden zu neuen didaktisch-methodischen Unterrichtsarrangements (Veränderung der Skripts der Lehrer),

•  die Bereitschaft der Schüler, sich auf einen so gestalteten Unterricht einzulassen (Veränderung der Skripts der Schüler), als auch

•  institutionell-organisatorische Rahmenbedingungen, die sich durch Kooperation und Kommunikation auszeichnen (Regeln und Ressourcen).

Diese drei Ebenen sind miteinander verschränkt und lassen sich nicht ohne weiteres voneinander trennen, da sie sich auch gegenseitig bedingen. Im Modellversuch haben sich offenen Lernkonzepten gegenüber aufgeschlossene Lehrkräfte unterschiedlicher berufsbildender Schulen zusammengefunden, um ihre Unterrichtspraxis zu reflektieren und mit Elementen von Selbststeuerung anzureichern. Für die Durchführung offener Lernarrangements fehlen aber selbst den erfahrenen Lehrkräften oft die Skripts oder Handlungsvorstellungen, die für eine Gestaltung von Lernprozessen, die die Selbstorganisation und -steuerung der Schüler in den Mittelpunkt stellen, notwendig sind.

Im Modellversuch LunA ist dem Begriff des selbstgesteuerten Lernens bewusst keine ganz exklusive inhaltliche Auslegung gegeben worden. Jede Lehrergruppe hat im Rahmen des Auslegungsspektrums eigene Schwerpunktsetzungen vorgenommen. Der Ausdruck des selbstgesteuerten Lernens wird hier als übergreifender Arbeitsbegriff genommen, der keine besonderen Qualitäten ein- oder ausschließt. (Zu Beginn des Modellversuches wurde den Lehrern mit Hilfe eines Fragebogens die Möglichkeit gegeben, sich sowohl einen Überblick über bestimmte Dimensionen des Selbstgesteuerten Lernens zu machen als auch sich ein eigenes Profil herauszubilden, welches sie in ihrer Unterrichtspraxis verfolgen wollen (vgl. GERDSMEIER/ KÖLLER 2006). ) Die Lehrer, die ihren Unterricht in Hinblick auf eine stärke Schülerselbststeuerung verändern wollen, stehen vor dem Problem, ihre Instruktionshaltung zu überwinden und durch eine andere Haltung – einer anderen Rationalität folgenden – zu ersetzen. Im Modellversuch können unterschiedliche Schwerpunkte in der Gestaltung von offenem Unterricht festgestellt werden, die unterschiedliche didaktische Vorstellungen beinhalten und verschiedene Elemente vom selbstgesteuerten Lernen verwenden. Offener Unterricht soll zum selbstgesteuerten Lernen anregen. Schüler sollen dadurch die Möglichkeit bekommen, aktiv an einem für sie bedeutsamen Lerngegenstand zu arbeiten.

Die folgenden Beispiele zeigen Versuche, Unterricht zu reorganisieren. Das Vorgehen der Lehrer bei der Umstrukturierung ihrer unterrichtlichen Handlungen lässt sich mithilfe der Skripttheorie erklären und erlaubt mit Rückgriff auf die Strukturationstheorie interessante Rückschlüsse auf die (neue) Organisation von Unterricht und Schule.

5.1  Bearbeitung von offenen Fällen und Widerstände

Ein Beispiel für einen möglichen Ansatzpunkt, Unterricht für Schüler offener zu gestalten, stellt die Arbeit an Fällen dar. So wurde z. B. in einer Klasse im Lernfeld 1 Wirtschaftslehre und Bürowirtschaft ein Fall konstruiert, der sich mit den rechtlichen Bestimmungen in der Ausbildung auseinandersetzt. Dieser ist nach der Intention der Lehrer so gestaltet, dass die Schüler hier einen Anknüpfungspunkt angeboten bekommen, sich mit weiteren rechtlichen Bedingungen und Bestimmungen in der Ausbildung auseinanderzusetzen. Die Schüler wurden dabei in diesem Fall in die Rolle versetzt, andere Schüler kompetent in verschiedenen Themenfeldern, wie zum Beispiel Arbeitsplatzgestaltung, Bürowirtschaft und Jugendarbeitsschutzgesetz, etc. zu beraten und wesentliche rechtliche Bestimmungen in einer Materialsammlung zusammenzustellen und diese abschließend vorzustellen. Die Schüler haben sich zwar insgesamt auf diesen Fall eingelassen und sind nach Informationen der Lehrer „da auch sehr schnell drauf gekommen“. Die Themen, zu denen Informationen präsentiert werden sollten, waren beispielhaft dargestellt und die Präsentationen sollten darüber hinaus weitere Themenstellungen beinhalten. Schwierigkeiten gab es bei den Problemstellungen, die im Fall präsentiert waren, da sich die Schüler nicht mit der „erweiterten“ Aufgabenstellung auseinandergesetzt haben. Dadurch sahen sich die Lehrer gezwungen, das Thema vorzustrukturieren und es mit den Schülern in enger Führung in Gruppenarbeit zu bearbeiten. Durch die Orientierungslosigkeit und Intransparenz der Unterrichtsregeln haben die Schüler Widerstand gegen die Bearbeitung solcher Fälle signalisiert und mit Nachdruck eine enge Führung mit klaren Anweisungen und Arbeitsaufträgen verlangt.

Dieses Beispiel verdeutlicht, dass durch eine begründete Abweichung von der Routine, d. h. durch den Versuch der Skriptveränderung, Irritationen entstanden sind. Durch die Handlungsrationalisierung, den Schülern mehr Freiheiten zuzugestehen und die Eigenständigkeit der Schüler zu fördern, entstanden unbeabsichtigte Handlungsfolgen, welche vom Lehrer nicht ad hoc reflektiert werden konnten. Aufgrund des aktuell verfügbaren Skripts, welches durch die Störung aktiviert wurde, wurden die Slots gefüllt und ein relativ gesteuerter Unterricht verfolgt, sodass die bestehenden Strukturen des Instruktionsunterrichtes reproduziert wurden.

Für die Lehrer stellen sich nun folgende Fragen: Wo kann strukturierend eingegriffen werden, ohne zu viele Vorgaben zu machen? Wie viele Irrwege sollen/dürfen Schüler machen? Wann ist der Unterricht noch „selbstgesteuert“? Durch diese reflexiven Fragen werden die Praktiken auf die Ebene des diskursiven Bewusstseins gehoben, sodass die routinisierten Strukturen offen gelegt und somit verändert werden können.

Gemeinsam versuchen Lehrer und Schüler eine klare Linie durch bestimmte Orientierung gebende Instrumente zu bekommen. So wird z. B. verbindlich vor jedem Lernfeld und z. T. auch vor neuen (komplexen) Themen eine Art Advance Organizer eingesetzt, sodass die Schüler einen Überblick bekommen, was sie weiterhin erwartet. Dies soll helfen, Schülern Sicherheit zu vermitteln und ihnen einen Überblick über das Themenfeld zu geben. Durch die Schaffung neuer Routinen versuchen die Lehrer ihre Skripts und somit auch die Skripts der Schüler zu verändern und ihren Unterricht zu reorganisieren, ohne die Strukturen des Instruktionsunterrichtes zu reproduzieren.

5.2 Offenheit und Kontrollpunkte

Eine andere Lehrergruppe erklärte Schülern mit Hilfe eines Mindmaps die Zusammenhänge in einem Lernfeld und forderte sie auf, eigene, für sie zentrale Fragen zum Thema „duales System“ zu stellen. Die Schüler sollten zu diesen Fragen eine Musterlösung bereitstellen und ihren Mitschülern zur Verfügung stellen. Problematisch war, dass die Fragen der Schüler, weder prüfungsrelevant, noch richtig beantwortet waren, oder aus falschen, nicht offiziellen Quellen/Internetseiten herauskopiert wurden, ohne dass sie bearbeitet wurden. Mit diesem Vorgehen wollten die Lehrer aber gerade über die Prüfungsfragen hinausgehendes Wissen bei den Schülern aufbauen. Allerdings war dieses so erworbene Wissen zu unstrukturiert und z. T. auch fachlich falsch, sodass die Lehrer (vor allem aus Zeitmangel und Irritation) dieses Thema durch Instruktionen aufgearbeitet haben. Das gescheiterte Vorgehen wurde mit den Schülern zusammen thematisiert. Es wurden spezifische Phasen definiert, in denen weitgehend selbstgesteuert gearbeitet werden sollte, mit regelmäßigen Berichterstattungen über sog. Kontrollpunkte und wiederum solche, die durch Lehrerinstruktionen geprägt waren. Diese stark steuernden Phasen dienen zum Üben und zur Rückversicherung, (sowohl für die Lehrer, da sie nun direkter und in gewohnter Weise diagnostizieren können, als auch für die Schüler, da sie Sicherheit vermittelt bekommen) und um in neue Themen einzuführen. Vertiefende Inhalte werden von den Schülern durch offene Fälle selbstständig bearbeitet.

In diesem Beispiel werden mehrere Skripts kombiniert, um die Strukturen Schritt für Schritt zu überwinden. Da sich Handeln immer rekursiv auf die vorhandenen Strukturen bezieht und nachfolgendes Handeln ermöglicht und einschränkt (im Sinne der Dualität der Struktur), versuchen die Lehrer durch kleine Veränderungen einen Wandel ihrer Unterrichtskultur zu initiieren. Der Verlust an Handlungssicherheit bleibt in diesem Beispiel relativ begrenzt, da Phasen der reflexiven Nachbesprechungen einen großen Raum einnehmen und somit neue reflektierte Routinen aufgebaut werden können.

6.  Resümee

Im vorliegenden Beitrag wurden zwei Theorien verknüpft, die helfen können, die Schwierigkeiten von strukturellen Veränderungen im Unterricht zu erklären. Dabei wurde zum einen auf die Theorie der Strukturierung von GIDDENS zurückgegriffen, um die Bedingungen der Reproduktion von Handeln und Struktur im Unterricht zu beleuchten. Zum anderen wurde die Skripttheorie von SCHANK und ABELSON herangezogen, um die kognitiven Strukturen der Lehrer exemplarisch zu rekonstruieren. Die beschriebenen Beispiele aus dem Modellversuch LunA wurden unter beiden Perspektiven ausschnittartig betrachtet um Strukturen zu verdeutlichen, die symptomatisch für Hemmnisse bei der Reorganisation von schulischen Prozessen erscheinen. Im Modellversuch haben sich die Lehrer über ihre Schwierigkeiten und Erfolge diskursiv auseinander gesetzt, sodass ihre Skripts thematisiert und dekonstruiert werden konnten. Diese Arbeit fortzusetzen und die tradierten Routinen zu bearbeiten, um so Unterricht und auch das System Schule in Hinblick auf mehr Schülerselbstständigkeit und Eigenverantwortung zu verändern, stellt einen zentralen Bestandteil einer umfassenden Bildungsreform im berufsbildenden Schulwesen dar.

 

Literatur

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