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 bwp@ Ausgabe Nr. 13 | Dezember 2007
Selbstorganisiertes Lernen in der beruflichen Bildung Herausgeber der bwp@ Ausgabe 13 sind Karin Büchter und Tade Tramm

"Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?" Schule im Spannungsfeld von Bildung und 'selbstgesteuertem Lernen'

online seit 14.4.2008

 

 


1.  Pädagogische Innovation durch das Konzept der Selbststeuerung von Schülern?

Nicht erst seit Auflage des BLK-Modellversuchsprogramms SKOLA (Selbstgesteuertes und kooperatives Lernen in der beruflichen Erstausbildung) sind die bildungstheoretische Diskussion sowie aktuelle konzeptionelle Vorschläge zur Reform der schulischen Bildung zunehmend von Nomenkomposita des Begriffs 'Selbst' geprägt (Selbststeuerung, Selbstorganisation, Selbstverantwortung, Selbstwirksamkeit, Selbstregulierung etc.), mit denen offensichtlich Innovationshoffnungen für das Bildungswesen durch eine programmatische Ausrichtung der Pädagogik auf das lernende Subjekt verknüpft sind. Von einer "neuen Lernkultur"(JAHRBUCH FÜR PÄDAGOGIK 2006) ist die Rede, in der erweiterte Selbstbestimmungsmöglichkeiten dem Schüler den Weg zu lebenslanger Lernfähigkeit ebnen sollen. Betrachtet man die Veröffentlichungen des vergangenen Jahres zu diesem Thema, lassen sich allerdings kontroverse Einschätzungen zur Berechtigung solcher Hoffnungen ausmachen. Während nicht wenige geradezu 'Heilserwartungen' für das (berufliche) Bildungssystem hegen, das – geschunden durch Mittelkürzungen und im Bemühen, einem sich zunehmend verändernden und damit seinen Arbeitnehmern immer mehr Flexibilität abverlangenden Arbeitsmarkt – als in einem Entwicklungsprozess befindlich angesehen wird, um den gestiegenen Erwartungen hinsichtlich lebenslangem Lernen und persönlichem Kompetenzerwerb gerecht zu werden, nehmen andere eine eher "naive Subjektorientierung, die Relativierung materialer Bildungsgehalte [und] die Abwertung des Inhaltsbezugs von Bildung zugunsten inhaltsdifferenter Methoden [wahr, die letztlich] untrügliche Elemente einer Reform sind", um die Bildung mit dem Ziel der "friktionslosen" Verwertung des Menschen zu einer Technologie zu degradieren (BERNHARD 2007, 66). Die Skepsis, dass die auf das "Selbst" bezogenen Partizipformen zur Umschreibung vermeintlich neuer Lernformen und Lehrarrangements keine neue pädagogische Perspektive versprechen, scheint berechtigt zu sein. Schließlich machte KLAFKI bereits vor 50 Jahren darauf aufmerksam, dass "in geistiger Selbsttätigkeit [erworbene] Einsichten [im] jungen Menschen […] wahres Bildungswissen lebendig" werden lassen (KLAFKI 1963, 40).

Auch konzeptionelle Klarheit ob eines vermeintlich neuen 'Lernverständnisses' ist zu vermissen. Eher verwirrend als programmatisch richtungweisend ist es, wenn Autoren bemerken, dass "das Kernmerkmal allen selbstbestimmten, selbstorganisierten, selbstregulierten, selbstständigen und selbstgesteuerten Lernens […] der Lernende als aktiver Wissenskonstrukteur" (HOIDN 2007, 1) ist oder die "'selbstständige Handlung' […] die zentrale Leitmaxime … für die berufliche Bildung" (DILGER/ SLOANE 2007, 1) darstellt, denn dem Leser drängt sich die Frage auf, wer denn sonst als die lernende Person selbst ihr Wissen konstruiert oder, so sie es denn tut, handelt?

Es stellt sich allerdings die Frage, ob die in dieser geradezu trivialen Form vorgenommene Orientierung auf das lernende Subjekt (Selbst) und die daraus resultierenden erziehungswissenschaftlichen Konzepte nicht fataler Weise das Gegenteil des Angestrebten zur Folge haben – nämlich gerade nicht beste Bedingungen dafür zu schaffen, dass ein Schüler seine menschlichen Möglichkeiten ausnutzen kann, um sich zum mündigen Mitglied der Gesellschaft zu entwickeln. So beinhaltet der in den hier diskutierten Konzepten angestrebte Wandel von der Lehrer- hin zur Schülerorientierung potenziell die Suspension der Lehrperson von Verpflichtungen, die bei genauer Betrachtung unabdingbar erfüllt sein müssen, wenn 'Lernen' im Sinne von Bildung vollzogen werden soll. Der Schluss, dass mit der Ausrichtung auf 'selbstgesteuertes Lernen' tatsächlich pädagogische Chancen eröffnet werden, ist nicht nur nicht konsistent, sondern es gibt Gründe, die zumindest befürchten lassen, dass diese hoffnungsfroh erwartete neue Lernkultur geradezu in Widerspruch zu einer radikal und hier im wörtlichen Sinne gemeinten, von der Wurzel her, humanen Bildung steht.

Einfache methodische Schlüsse, die aus dem – wohlgemerkt nicht präzisierten und immer noch überwiegend durch die Weinert'sche Definition fundierten – Selbststeuerungsbegriff gezogen werden, wonach sich selbstgesteuerte (oder selbstregulierte) Lernformen dadurch auszeichnen, dass "der Handelnde die wesentlichen Entscheidungen, ob, was, wann, wie und woraufhin er lernt, gravierend und folgenreich beeinflussen kann" (WEINERT 1986, 102), führen potenziell zum Gegenteil dessen, was eigentlich beabsichtigt ist. So ist beispielsweise das Konzept der Lernkompetenzen entstanden, deren Erreichen vom Schüler – im Sinne des die kognitive Wende der Psychologie kennzeichnenden Test-Operate-Test-Exit-Schemas (TOTE; MILLER/ GALANTER/ PRIBRAM 1973) – eigenverantwortlich zu realisieren bzw. zu überprüfen ist. Werden diese Kompetenzen als das eigentliche Lernziel definiert, so ist – entsprechend KIRCHÖFERS (vgl. 2007, 26) Hinweis – zu befürchten, dass der vermeintlich kompetente Schüler seine erworbenen Fähigkeiten vielleicht rhetorisch gewandt kommunizieren und sich brillant präsentieren kann, dass sich allerdings in seiner Darstellung ein die Kompetenz gerade diskreditierendes generalisiertes Nichtwissen verbirgt, denn "die größere Gefahr besteht darin, dass auf eine wissensbegründete, reproduzierbare und systemhafte Basisbildung verzichtet wird. Die Reduzierung des Basiswissens schadet aber gerade den Benachteiligten, die auf die Basisbildung besonders angewiesen sind. Diese Personengruppe wird noch weniger Chancen haben, einen bildungsbezogenen und sinnorientierten selbstständigen Bildungserwerb zu vollziehen, wenn die Basiskenntnisse und grundlegenden Kulturtechniken fehlen. Zu dieser Basisbildung gehört auch ein Systemwissen, das dem einzelnen ermöglicht, Einblick in die Systembildungen und Systemkonstruktionen der zu erwerbenden Kompetenzen zu erlangen. Wie soll er (der Schüler, A.N.) sich selbstorganisatorisch für bestimmte Ziele und Niveaustufen entscheiden, wenn ihm der Überblick fehlt? " ( KIRCHÖFER 2007, 26; Hervorhebung von A.N.)

Wenn auch für jeden Pädagogen verlockend, so greift die Vorstellung vom erfolgreichen, weil intrinsisch motivierten Schüler zu kurz. Wie unten zu zeigen sein wird (besser: in Erinnerung zu rufen ist …), verbietet sich allein aus anthropologischen Erwägungen die Idee, den Schüler etwas wollen zu lassen , auch dann, wenn es einem vermeintlich guten Zweck dienen soll. Die pädagogische Frage danach, wie er zu beeinflussen sei, damit er intrinsisch motiviert ist bzw. zu einem selbstgesteuerten Lernen gelangt, ist bei genauer Betrachtung ein Beleg dafür, dass die Ebene einer in der Tradition der Aufklärung stehenden Pädagogik verlassen und statt dessen die der erziehungswissenschaftlichen Technologie bezogen wird – mithin die Erziehung zu Autonomie (siehe auch hierzu unten) also gerade konterkariert ist. Ein Beispiel für die Missbräuchlichkeit einer erziehungstechnologischen Funktionalisierung der Selbstbestimmung von Jugendlichen zu gegenteiligem Zweck (nämlich staatlicher Fremdbestimmung) stellen die 'National-politischen Lehranstalten (Napola)' oder die 'Hitlerjugend' zur Zeit des Nationalsozialismus dar, die durch das Postulat der "Selbsterziehung" den Jugendlichen den Anschein selbstproduzierter Orientierungen und Entscheidungen vermittelten (SCHOLTZ 1985, 13 u. 115ff.). So wie dort gerät der Begriff der 'Selbststeuerung' ohne eine entsprechende ethische Fundierung zur Worthülse (im unproblematischsten Fall; es sei an dieser Stelle – um jegliches Missverständnis zu vermeiden – ausdrücklich betont, dass mit der Bezugsnahme auf das Erziehungswesen zur Zeit des faschistischen Deutschlands im letzten Jahrhundert lediglich ein anschauliches Beispiel für den Missbrauch des Selbstbestimmungsbegriffs gegeben werden soll. Ich möchte keinerlei Zweifel daran aufkommen lassen, dass in meinen Augen das gesamte deutsche Bildungssystem und auch die Vertreter der Erziehungswissenschaft (auch in der Focussierung auf die aktuell diskutierte pädagogische Idee der 'Selbststeuerung') von der Absicht des Fortbestandes der freiheitlich-rechtlichen Grundordnung und deren Sicherung durch die Mündigkeit aller Staatsbürger geleitet sind.).

Ich halte es für fragwürdig, den Zweck der 'Selbststeuerung' kurzerhand als Mittel einzusetzen, insbesondere dann, wenn er utilitaristisch auf Ziele außerhalb des lernenden Subjekts gerichtet ist. Ob und inwiefern diese Form der 'Brauchbarmachung' (beispielsweise beim sog. Kompetenzerwerb) im Berufsbildungswesen vorzufinden ist, soll und kann an dieser Stelle nicht diskutiert werden (vgl. hierzu ausführlich die Beiträge im JAHRBUCH FÜR PÄDAGOGIK 2006). Betrachtet man allerdings die aktuelle pädagogische Diskussion, so drängt sich der Verdacht auf, dass unter der Vorgabe von 'Selbststeuerung' eben diese erwähnte Gleichsetzung von Zweck und Mittel stattfindet. Gerade im Bereich der Berufsbildung scheint es so, als werde angesichts des immer wieder festzustellenden Versagens der vorherigen 9-jährigen allgemeinen Schulbildung nunmehr das eigentlich bis dahin angestrebte Ziel eines zur (Selbst-)Verantwortungsübernahme fähigen Schülers schlichtweg zur Methode erhoben, in der Hoffnung, so könne es sukzessive doch noch erreicht werden. Wenn aber Mittel und Zweck identisch sind, dann liegt keine methodische Umsetzung einer pädagogischen Erkenntnis vor, sondern ein Zirkelschluss ! Ist die daraus resultierende, drohende Gefahr pädagogischer Ineffektivität schon unerträglich genug, so wird sie noch überboten durch ihre Latenz, weil die praktische Konsequenz ein unendliches Suchen, Versuchen und Bemühen ist, das zwar sowohl Pädagogen wie Erziehungswissenschaftlern das Gefühl vermittelt, die Herausforderungen des Berufs anzugehen, das aber im Ergebnis nicht zu einer Verbesserung der pädagogischen Situation führt, sondern lediglich zu ihrer Manifestierung, denn: Auch wenn der Fleiß am falschen Ort investiert sein sollte, so nährt er doch die Hoffnung, es könne nicht alles umsonst gewesen sein! Und so perpetuiert sich ein verhängnisvoller Fehlschluss in Methodencurricula, Lernen-Lern-Programmen, in der Exilierung von Lernschwerpunkten (wie beispielsweise literarischer Bildung; BERNHARD 2007, 66), in Modellversuchen oder in Forschungsprojekten.

Wie ist es möglich, dass der Mainstream einer gesamten Profession diesem Weg folgt? Den Praktikern vor Ort ist hier kein Vorwurf zu machen, denn sie bemühen sich nicht nur redlich, sondern vor allem auch vertrauensvoll, die als Neuerungen vorgetragenen methodischen Perspektiven der Erziehungswissenschaft umzusetzen – letztlich in der Hoffnung darauf, höhere Wirksamkeit im Beruf zu erzielen. Die Versäumnisse liegen in der Disziplin, die mit einer einseitigen Ausrichtung auf die empirische Pädagogik einen Teil ihrer Wurzeln hat verkümmern lassen. Subjektorientierung mündet in einer naiven Programmatik, wenn der Subjektbegriff nur noch umgangssprachlich statt systematisch eingesetzt wird. Und so entwickelt die Erziehungswissenschaft im Rahmen empirischer Schulforschung immer mehr Hypothesen über Ursache-Wirkungsbezüge, Psychologie und Soziologie produzieren probabilistische Erkenntnisse quasi am laufenden Band, aber die allen wissenschaftlichen und methodischen Erkenntnissen übergeordnete Entscheidung, ob nämlich der Schüler als lernendes Subjekt mit der jeweiligen Theorie und der daraus resultierenden Vorgehensweise in angemessener Weise berücksichtigt wird, scheint aus dem Blickfeld zu geraten. Lernen wird zur abstrakten, subjektfreien Konstruktion, sogar dann, wenn es selbstgesteuert sein soll!

Es mag an dieser Stelle dem Leser befremdlich erscheinen, wenn hier einerseits das Konstrukt des 'Selbstgesteuerten Lernens' kritisiert und andererseits die potenziell fehlende Berücksichtigung der Subjektperspektive des Schülers bemängelt wird. Es ist ein Anliegen dieses Textes, deutlich zu machen, dass Begriffe wie 'Selbststeuerung', 'Methodenvielfalt', 'Subjektbezug' etc. sowie die diesen zugeordneten Vorgehensweisen gerade nicht sui generis zu einer Pädagogik führen, die dem Schüler als lernendem Subjekt gerecht werden, solange sie sinnentleert gebraucht werden. Der Gesichtspunkt, der die Pädagogik überhaupt erst zu einer eigenständigen Disziplin jenseits von Psychologie und Sozialwissenschaft werden lässt, geht dadurch verloren, dass der Blick auf die grundlegend zu klärende Frage danach, was zu tun sein soll , fehlt. Die Ermessensentscheidung jedes einzelnen Lehrers, die er zur Ausführung einer jeden Handlung zu treffen hat, speist sich gerade nicht nur aus der Beantwortung erkenntnisfundierter (kausaltechnologischer) Fragen, sondern letztinstanzlich immer aus einer situationsangemessenen, moralischen Entscheidungsgrundlage, die – im Falle des professionellen Handelns – nicht nur subjektiven Erwägungen gerecht werden darf. Sie basiert auf ethischen und anthropologischen Gesichtspunkten – zumindest sollte es so sein! In ihrer aktuellen erfahrungsbezogenen Focussierung, letztlich auch ausgelöst durch den Wunsch nach operationalisierbaren und standardisierbaren Bewertungskriterien für die Bildungspolitik, hat die Pädagogik ihre eigentliche Domäne preisgegeben, nämlich die verschiedenen primärwissenschaftlichen Erkenntnisse von Psychologie, Soziologie etc. unter Berücksichtigung sekundärwissenschaftlicher Gütegesichtspunkte der Philosophie (insbesondere Wissenschaftstheorie, Anthropologie und Ethik) zu einer theoriegeleiteten Praxis (und gerade nicht Poiesis, BÖHM 1995) zu vereinen.

2.  Besinnung auf die bildungstheoretischen Grundlagen der Aufklärung

Die aktuelle erziehungswissenschaftliche Diskussion, die sich um Begriffe wie 'Selbststeuerung' rankt, suggeriert eine Zweiteilung der Pädagogik in eine innovative und gute , die dem Schüler zunehmend Entscheidungsräume und Freiheitsgrade zugesteht und eine tradierte und schlechte , die den Schüler gängelt und quasi 'fremdsteuert'. Eine solche Dichotomie wird allerdings, auch ohne die sicherlich vielfältigen pädagogischen Verfehlungen und Irrwege in der Geschichte der Pädagogik zu ignorieren, der grundlegenden Problematik nicht gerecht, dass Erziehung sowohl mit Freiheit als auch mit Vormundschaft zu tun hat.

Ungeachtet philosophischer Dekonstruktion und postmodernen Zeitgeistes (die aktuell beispielsweise mit Vorliebe in einem konstruktivistischen Eskapismus Ausdruck finden), halte ich trotz der Unmöglichkeit einer Letztbegründung die Vernunft für den zentralen Ausgangspunkt jeglicher pädagogischer Aktivität. Wie anders sollte ein Lehrer einen Schüler erziehen oder ausbilden, wenn er ihm nicht potenzielle Vernunftbegabung unterstellen würde? Der Diskussion um Formen und Vorgehensweisen einer Selbststeuerungspädagogik möchte ich daher im Bemühen um die Renaissance einer bildungstheoretischen Fundierung von Pädagogik den Begriff der 'Erziehung zur Mündigkeit' gegenüberstellen und an die – früher wie heute – daraus folgenden Notwendigkeiten für die Pädagogik erinnern. Ich beziehe mich damit zunächst auf die Perspektive der Aufklärung und, als einem ihrer Hauptvertreter, auf Immanuel KANT. In seinen Vorlesungen über Pädagogik wies er auf die Aporie dieser Disziplin mit der Frage hin: "Wie kultiviere ich die Freiheit bei dem Zwange?" und er konstatierte: "Denn Zwang ist nötig." (KANT 1982, 20)

2.1  Vorbemerkung

Es ist kaum noch möglich, auf diese Überlegungen KANTs Bezug zu nehmen, ohne in den Verdacht des Reaktionismus zu geraten: Noch bis 1968 und danach bestand neben der maßgeblich durch die von KLAFKIs (1963) bildungstheoretischen und didaktischen Überlegungen beeinflussten Modernisierung des Bildungswesens auch der (nicht unbegründete) Argwohn, die Schule habe sich noch nicht endgültig von nationalsozialistischen Erziehungsidealen gelöst. Bis heute haftet der Einschätzung, dass Pädagogik u.a. auch mit 'Zwang' und damit mit einem potenziell autoritären Auftreten des Lehrers zu tun haben könnte, das Etikett unethischen Verhaltens an. Mir scheint es so, dass auch die 'Pragmatisierung' der in der damaligen Überkompensation aufgekommenen 'antiautoritären Erziehung' diesbezüglich keine Klärung herbeigeführt, sondern eher noch zur Verunsicherung der pädagogischen Praktiker beigetragen hat, denn irgendwie gehört es zum subjektiven Lehrerethos, nicht autoritär und auch nicht anti-autoritär gegenüber seinen Schülern zu handeln.

Der Grund hierfür dürfte darin liegen, dass nahezu eine gesamte Lehrergeneration die diesbezügliche Diskussion überwiegend pragmatisch mit Blick auf Erziehungs formen und weniger philosophisch mit Blick auf den Erziehungs auftrag geführt hat und damit einhergehend die ethischen Bezugspunkte bzw. 'Gütekriterien' unscharf geworden sind (z.B. unter der Programmatik 'selbstgesteuerten Lernens'; sic!). Diese unerlässliche philosophische Grundlegung findet nur noch in speziellen Fachkreisen und von pädagogischen Praktikern zumeist als nicht praxisrelevant belächelt statt – sofern sie überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Es mag beispielhaft hierfür sein, wenn im Rahmen einer SKOLA-Modellversuchstagung ein Diskussionspartner feststellte: "Philosophisches Räsonnieren nützt uns auch nichts bei der Entwicklung von Selbststeuerung!" HERBARTs Hinweis darauf, dass vor der Praxis die Theorie zu lernen sei, findet damit auf besonders subtile Weise keinerlei Berücksichtigung mehr: Ihm ging es bei seiner berühmten Äußerung zur Gefahr des "Schlendrian" in der pädagogischen Praxis nicht um die fachtheoretische, sondern um die philosophische Ausbildung des Lehrers (HERBART 1887, 284).

Hinweis : Es mag im Kontext dieser Zeitschrift befremdlich erscheinen, wenn ich mit meinen Ausführungen weniger den Ausbildungs- als den Erziehungsauftrag der Berufsschule focussiere. Ich begreife Institutionen, die der Erfüllung von Schul- und Ausbildungs pflicht dienen, als Einrichtungen, die einen gesellschaftlichen pädagogischen Auftrag zu erfüllen haben. D.h., die dort eingesetzten Lehrerinnen und Lehrer sind zwar zur Vermittlung fachlicher Inhalte und Stoffe im Rahmen von Ausbildung beauftragt, ihr pädagogisches Aufgabenfeld umfasst aber vor allem die Didaktisierung von Bildungsinhalten sowie die Erziehung zur Mündigkeit (ansonsten wäre es nicht nötig, Pädagogen in der Ausbildung einzusetzen und die Berufsausbildung im dualen System anzulegen.) Die Berufsschule mag diesbezüglich eine besondere Stellung einnehmen, da die dortigen Schüler allein schon wegen ihres Alters als potenziell mündig anzusehen sind. Umso mehr ist es eine wichtige pädagogische Aufgabe des Berufsschullehrers, nach seinem Ermessen zu entscheiden, welches Verhalten in der jeweiligen pädagogischen Situation dem jeweiligen Schüler gerecht wird. Und so wie dies von Schüler zu Schüler unterschiedlich sein mag, so stehen von Person zu Person der Ausbildungs-, der Bildungs- oder der Erziehungsauftrag im Vordergrund. Wie unten zu zeigen sein wird, benötigt der Lehrer für eben diese pädagogische Ermessensentscheidung ein erziehungswissenschaftliches und ethisches 'Referenzsystem', das im weiteren Verlauf dieses Textes als 'pädagogische Haltung' gekennzeichnet werden wird.

2.2  Die anthropologische Grenze der Erziehungswissenschaft

KANTs Hinweis auf die pädagogische Aporie deutet auf das grundlegende Dilemma hin, in dem sich jeder Erziehungswissenschaftler und jeder pädagogische Praktiker befindet: Einerseits ist es die Aufgabe der pädagogischen Profession, wissenschaftlich fundiert, d.h. auf der Basis von Theorien (auf Kausalitätsannahmen, also auf allgemeingültigen und notwendigen Ursache-Wirkungs-Bezügen beruhend) zu handeln, andererseits wird mit der Unterstellung dieser Kausalität die zu erziehende Person als kausal-determiniertes (d.h. prinzipiell unfreies) Objekt konstruiert. Damit spricht das erziehende Subjekt (z.B. der Lehrer) dem Erziehungs'objekt' (z.B. dem Schüler) seinen Selbstzweckcharakter (siehe unten) ab, benutzt dieses also "bloß als Mittel zu beliebigem Gebrauche für diesen oder jenen Willen" (KANT 1999, 428). Hieraus ergeben sich zumindest zwei Diskussionsfelder:

•  Zum einen wird deutlich, dass Pädagogik im eigentlichen Sinne keine Wissenschaft sein kann – zumindest wenn man Wissenschaft in der Bestimmung begreift, nomologische Theorien (überprüfte Kausalgesetze) aufzustellen und daraus folgend Technologien (d.h. effektivitätsbezogene Handlungsregeln) zu entwickeln. Es würde den vorgegebenen Rahmen sprengen, diesen Gesichtspunkt hier zu diskutieren (ausführlich hierzu: NEVELING 2008, 90ff. bzgl. der Auffassung von Pädagogik als einer "Technologie der Nicht-Technologie"). Es sei aber nochmals auf das o.g. Postulat einer Pädagogik als theoriegeleitete Praxis (und gerade nicht Poiesis) hingewiesen, mit dem eine einseitig empirische Erziehungswissenschaft als nicht gegenstandsadäquat – weil nämlich dem Schüler seine Subjekthaftigkeit gerade absprechend – einzustufen ist.

•  Zum anderen stellt sich die Frage, wie mit dem Anliegen pädagogischer Professionalität einerseits und der anthropologischen Annahme vom Menschen als zur Autonomie (siehe hierzu unten) befähigtem Subjekt andererseits erziehungswissenschaftlich fundiertes Handeln überhaupt ethisch vertretbar sein kann. Diese Problematik, die bei dem Versuch entsteht, Freiheit und kausale Determination auf ein Ding zu beziehen (im hier diskutierten Zusammenhang heißt das, den Schüler zeitgleich als Subjekt und Objekt zu denken) zeigt KANT in seiner Darlegung der dritten "Antinomie" in der "Kritik der reinen Vernunft" (KANT 1956, B 472ff.) auf. Zunächst scheint es schlechterdings unmöglich, das Erzieherverhalten auf ein solches 'Subjekt-Objekt' auszurichten.

Diese aufgezeigte Unvereinbarkeit entsteht allerdings nur unter empirischer Perspektive (sic!): KANT selbst hebt in der "Kritik der praktischen Vernunft" den "scheinbaren Widerspruch zwischen Naturmechanismus und Freiheit in ein und derselben Handlung" auf, indem er darauf verweist, dass die "Naturnothwendigkeit" (kausale Bedingtheit) nur demjenigen anhängt, was "unter Zeitbedingungen steht" und demzufolge nur dem handelnden Subjekt als Objekt . Das bedeutet, dass das handelnde Subjekt als Objekt (in dem Fall also der Schüler) empirisch (a posteriori) als unter situativen Bedingungen stehend wahrgenommen wird, die in einem Kontinuum zeitlich aufeinander folgender Ursachen und Wirkungen liegen. Der dem Schüler gegenüber agierende Lehrer also, der seinen Schüler als Objekt sinnlich wahrnimmt (d.h. perzipierend zwangsläufig die empirische Perspektive einnimmt), geht davon aus, dass die Bestimmungsgründe der Schülerreaktion im vorausgegangenen Lehrerverhalten liegen. Denn die "Bestimmungsgründe einer jeden Handlung" liegen aus dieser (empirischen) Perspektive immer in der Vergangenheit und damit "nicht mehr in seiner Gewalt". Ein in solcher Weise als Objekt verstandenes Subjekt handelt aufgrund von Bedingtheit. Eine freie Willensentscheidung ist vor dem Hintergrund eines solchen Menschenbildes nicht konsistent denkbar.

Für den Schüler als Subjekt aber gilt in dieser Situation das, was für jedes Subjekt prinzipiell gilt: Als vernunftbegabtes Wesen ist es sich seiner selbst als der Naturkausalität unterliegend bewusst. Darüber hinaus betrachtet es sich jedoch immer auch zeitgleich "im Bewußtsein seiner intelligiblen Existenz" auch unabhängig von Zeitbedingungen und damit "nur als bestimmbar durch Gesetze, die es sich durch Vernunft selbst giebt". In diesem "Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung", sondern jede seiner Handlungen steht, wenn auch in einer zeitlichen Folge, so doch nicht in einer anderen Kausalität als der der eigenen Vernunft (KANT 1968, 174f.; Hervorhebung durch A.N.).

Mit dieser "Kausalität durch Freiheit" (KANT 1956, B 472) kann der mündige Mensch als autonomes Subjekt bestimmt werden. Entsprechend der Etymologie des Wortes (autos – selbst, nómos – Gesetz) begreift es sich in Anerkennung seiner selbst als gesetzgebend und in der freiwilligen Unterwerfung unter diesen gesetzlichen Zwang als allein durch den eigenen Willen bestimmt.

Der hier beanspruchte Autonomiebegriff ist von dem umgangssprachlich 'erodierten' (und leider nicht selten auch in wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorzufindenden) unbedingt zu unterscheiden. 'Autonomie' im hier verwendeten Sinne ist kein Synonym für 'Selbstständigkeit', 'Unabhängigkeit' o.ä. und das dem hier dargelegten Terminus zugehörige Adjektiv entzieht sich jeglicher Sinnhaftigkeit in der nicht selten vorzufindenden Sprachform des Komparativs ('autonomer werden'). Autonomie kann demzufolge auch nicht als 'selbstgesteuertes Lernen' methodisch verordnet oder durch ein bestimmtes Lehrerverhalten evoziert und schon gar nicht sukzessive vermittelt werden.

2.3  Konsequenzen für die pädagogische Praxis

Für die pädagogische Praxis ergeben sich aus diesem Autonomiebegriff zwei funktionale Konsequenzen (vgl. NEVELING 2008, 90). Zum einen ist die Pädagogik vom Anspruch der technologischen Effektivität im Sinne einer 'Erfolgsgarantie' zwingend zu suspendieren. Dies hat vor allem für die empirische Erziehungswissenschaft Folgen: Sie ist unerlässlich zum Erkenntnisgewinn, sie darf aber nicht zu einer utilitaristischen 'Pädagogik' führen: Um es im KANTschen Sinne auszudrücken: Sie muss durch das 'Gesetz der Vernunft' in den 'Dienst an der Menschheit' gestellt werden. Diesen kategorischen Imperativ formuliert KANT u.a. wie folgt: "Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" (KANT 1999, 421). Es darf auf keinen Fall mit der sog. goldenen Regel ("Was Du nicht willst, das man dir tu, das füge keinem anderen zu") oder dem sog. Selbstanwendungsprinzip ("Was ich für mich als gut bzw. geboten ansehe, ist auch der Maßstab dafür, was für andere gut oder geboten ist") verwechselt werden. Ein Grund dafür, dass Pädagogik häufig scheitert, liegt in eben dieser Verwechslung!

Wo Erziehungswissenschaft jenseits von Bildung beispielsweise zur ökonomischen Verwertbarkeit oder zur Entpflichtung von staatlicher Bildungsverantwortung funktionalisiert wird, hat sie ihre Legitimation verloren. Der vernunftgemäß handelnde Pädagoge steht in der Pflicht, seine Profession innerhalb dieser legitimatorischen Grenzen zu halten. Dies führt unmittelbar zur zweiten funktionalen Konsequenz: Professionelles Lehrerhandeln ist nur mit Einsicht in die Notwendigkeit möglich, sich als Lehrer die Selbstverpflichtung aufzuerlegen, stets für jeden anvertrauten Schüler Bedingungen zu realisieren, die dessen Entwicklung hin zur Mündigkeit möglich machen. Eingedenk des Umstandes, dass dies nicht kausal, also auf technologischem Wege, evozierbar ist, hat der Lehrer die moralische Pflicht, Bedingungen so zu gestalten und sich so zu verhalten, dass sein Erziehungs'objekt' jederzeit die Möglichkeit hat, sich als Subjekt zu erfahren, also als ein 'vernünftiges Wesen', das verantwortlich handelt (vgl. NEVELING 2008, 90).

Was aber heißt nun, Bedingungen der Möglichkeit zur Entwicklung von Mündigkeit zu schaffen? Diese Frage ist methodisch nicht eindeutig zu beantworten und daher ist auch die Vorstellung von einer Pädagogik der Selbststeuerung als unangemessen oder – wie im Jahrbuch für Pädagogik 2006 angedeutet – als infantil zu bewerten. Der Schüler wird nicht zum mündigen Subjekt, wenn er gravierend und folgenreich selbst beeinflussen kann, "ob, was, wann, wie oder woraufhin" (WEINERT 1986, 102) er lernt, sondern erst der Umstand, dass er vernunftgemäß, d.h. sich in Anerkennung seiner selbst als gesetzgebend begreifend und diesem gesetzlichen Zwang sich freiwillig unterwerfend, handelt .

Bedingungen zu schaffen, die dies möglich machen, ist – wie gesagt – die Pflicht des Pädagogen. So ist es beispielsweise die Aufgabe des Lehrers, den Schüler stets mit den Konsequenzen seines Handelns zu konfrontieren. Dies kann den Charakter von Sanktionen haben, es kann aber auch bedeuten, den Schüler Selbstbestimmung und Eigenverantwortung durch das Einräumen von Freiheitsgraden erproben zu lassen. Ebenfalls möglich ist es, dass der Lehrer – gerade im Gegenteil dazu – 'Zwang' ausübt, um dem Schüler die notwendigen Voraussetzungen erwerben zu lassen, dass er überhaupt mündig handeln kann. KANT benennt diesbezüglich sequentiell aufeinander aufbauend die Notwendigkeiten der "Disziplinierung", d.h. die Einschränkung des zu Erziehenden, damit er nicht potenziell selbstzerstörerisch seinen (animalischen) Trieben folgt, die der "Kultivierung von Geschicklichkeiten" (wie z.B. das Lesen und Schreiben), die der "Zivilisierung" (wie z.B. zwischenmenschliche Umgangsformen) mit dem Ziel der "Moralisierung", die der zu erziehenden Person potenziell die Fähigkeit verleiht, unter allen möglichen anstrebbaren Zwecken die guten auszuwählen, d.h. solche, die gleichzeitig jedermanns Zwecke sein können (KANT 1982, 16f.).

Ob ein Lehrer seiner Selbstverpflichtung als Pädagoge nachkommt, nämlich Bedingungen zur Möglichkeit mündigen Handelns zu schaffen, hängt davon ab, ob er den Schüler in seiner jeweiligen Situation als Subjekt respektiert . Pflicht des Lehrers ist es, nach eigenem Ermessen ein Verhalten zu generieren, das am ehesten die geforderten Möglichkeitsbedingungen für die Mündigkeit des Schülers darstellt.

Um es an einem Beispiel zu verdeutlichen: Dem Berufsschüler einer Berufsvorbereitungsklasse gegenüber, der nur unregelmäßig am Unterricht teilnimmt, weil er öfters verschläft, kann ein Lehrer vielfältige Handlungsmöglichkeiten reflektieren. Es ist vorstellbar, dass die gegebene Situation und der gegebene Kontext es ratsam erscheinen lassen, die Unterrichtsversäumnisse zunächst unsanktioniert zur Kenntnis zu nehmen und den Schüler lediglich auf den pünktlichen Unterrichtsbeginn hinzuweisen. Der Lehrer könnte sich entscheiden, auf mögliche Konsequenzen in Form schlechter oder ausbleibender Leistungsbeurteilungen hinzuweisen oder langfristig die mangelhaften Leistungen des Schülers entsprechend zu bewerten. Er kann aber auch als Folge der Nachlässigkeit des Schülers beschließen, 'Zwang' auszuüben (bzw. ausüben zu lassen), indem er den Schüler polizeilich in den Unterricht verbringen lässt (Disziplinierung). Denkbar ist auch die Situation, in der es ihm als einzig sinnvolle Verhaltensweise erscheint, den Schüler im Sinne von Kultivierung zu lehren, die Uhr zu lesen und einen Wecker zu stellen oder, in Absprache mit ihm, Weckanrufe zu tätigen (bzw. tätigen zu lassen), die es dem Schüler ermöglichen, rechtzeitig aufzuwachen, um seiner Schulpflicht nachzukommen.

Von dem Ringen des Pädagogen um die Antwort auf die Frage, was zu tun und zu lassen sei, damit der Schüler Einsicht in das Ausmaß seiner Selbstverantwortung gewinnen kann, suspendiert die methodische Verordnung der Selbststeuerung (sensu WEINERT). Wenn der Lehrer den sich in dieser Weise verhaltenden Schüler sich selbst und seiner eigenen Unfähigkeit sich zu organisieren überlässt, ist er – einer 'Pädagogik der Selbststeuerung' folgend – seiner Rechenschaftspflicht für sein pädagogisches Handeln enthoben.

3.  Focussierung auf die Lehrerpersönlichkeit

Es dürfte deutlich geworden sein, dass es illusorisch ist, den Vorgang der 'Erziehung zur Mündigkeit' methodisch zu standardisieren – weder unter dem Postulat 'selbstgesteuerten Lernens' noch unter einem anderen. Erziehung im hier explizierten Sinne entzieht sich der Operationalisierbarkeit, denn als das Resultat von Vernunfterwägungen des handelnden Pädagogen ist sie in einer Kausalität durch Freiheit begründet und damit empirisch nicht erfassbar (s.o). Maßgeblich und für das Handeln des Lehrers im hier geforderten Sinne ausschlaggebend sollen seine pädagogischen Ermessenseinschätzungen sein, die der o.g. Selbstverpflichtung gerecht werden und die theoretisch begründet sind in dem von KANT als Sittengesetz gekennzeichneten kategorischen Imperativ.

Bereits vor 50 Jahren hat KLAFKI (1963, 25f.) darauf hingewiesen, dass Methodik inhaltsleer wird, wenn sie nicht in der Folge didaktischer Entscheidungen steht. Didaktik stellt er in seiner Bildungstheorie in den Dienst von Bildung und "die damit gemeinte Verfassung des Menschen jene Haltung in sich [aufzunehmen], die wir mit den Worten Verantwortungsbewusstsein und Verantwortungsbereitschaft bezeichnen" (KLAFKI 1963, 46). Die Bedeutung dieser Einschätzung macht KLAFKI u.a. mit der folgenden Auflistung der Vertreter des diesbezüglich breiten Konsenses innerhalb der jüngeren Bildungsgeschichte deutlich: E. SPRANGER, H. NOHL und Th. LITT, M. BUBER, J. DERBOLAV und W. FLITNER, E. FINK, M. J. LANGEVELD und G. GEIßLER, H. WEINSTOCK, Fr. und K. HAHN, A. PETZELT, R. GUARDINI, H.-H. GROOTHOFF und L. FROESE.

Es ist letztlich der einzelne Lehrer, der diesen Bildungsanspruch durch seine didaktischen Entscheidungen (und die daraus folgende Methodik) erfüllt. In einer Zeit, in der Schulbuchverlage Millionengewinne mit Methodenkompendien für jedes Fach und jede Schulstufe (allerdings auch bis hin zu fach- und damit sinnentleerten Methodencurricula) erwirtschaften, kann es nicht mehr um die Antwort auf die Frage nach neuen methodischen Möglichkeiten und Formen gehen, mit der das o.g. Bildungsideal zu sichern wäre, sondern es ist viel mehr die nach den persönlichen Handlungsentscheidungen des Lehrers.

KLAFKI (1963, 51 u.) betonte, dass der Mensch nur als "Sich-Entschließender" noch voll Herr seines Tuns ist. "Vom Augenblick der Ausführung löst sich die Handlung von ihrem Initiator, tritt in den von vielfältigen Kräften bestimmten Wirkungszusammenhang zwischenmenschlicher, gesellschaftlicher, politischer Bezüge und Situationen. Sie unterliegt nun den nie voll voraussehbaren Deutungen der anderen Menschen und löst vielleicht ganz unerwartete Reaktionen aus." Da man sein Handeln nicht widerrufen kann, erweist es sich immer auch als ein Wagnis, das eine doppelte Versuchung in sich trägt: "Entweder angesichts des Scheiterns […] dem Wagnis in Zukunft auszuweichen – oder aber angesichts eines glücklichen Gelingens der Missdeutung zu verfallen, dass Handeln eine Weise des souveränen Verfügens oder Produzierens, […] gar eine Technik […] der human relations [sei]" (sic!). Der handelnde Lehrer kann in diesem Sinne nur Herr seines professionellen Tuns im Dienste des o.g. Bildungsauftrags bleiben, wenn er sich selbst in einem ständigen Prozess der Selbstreflexion über die Motive seiner Handlungsentscheidungen immer wieder Rechenschaft ablegt. Nicht die Wirkung seiner Handlung ist dabei maßgeblich, sondern der "gute Wille", der dieser vorausgeht (KANT 1999, 393)

KANTs antiteleogische These beinhaltet, dass der Wert von Verhaltensweisen nicht durch den Zweck bestimmt werden kann, der damit verfolgt wird, denn der Zweck von Verhaltensweisen, die "pflichtmäßig" oder "aus unmittelbarer Neigung" geschehen, ist – zumindest in der Betrachtung singulärer Verhaltensweisen – von dem der "Handlungen aus Pflicht" äußerlich nicht zu unterscheiden – wenngleich sie nicht identisch sind (vgl. KANT 1999, 396ff.). Ein Lehrer, der seinen Schülern die curricular vorgegebenen Lerninhalte vermittelt, diesbezüglich didaktische Entscheidungen trifft und methodische Vorgehensweisen entwickelt, erfüllt damit beispielsweise den Zweck, ein den Schülern hilfreicher Lehrer zu sein. Er handelt pflichtmäßig , wenn er dies tut, um zum Beispiel mit diesem Dienst seinen eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Würde er aus unmittelbarer Neigung handeln, so wäre der Zweck seiner Handlungen mit dem vorhergehend beschriebenen identisch, allerdings lägen seine möglichen Beweggründe nun in einer unmittelbaren Zuwendung zu den Schülern, beispielsweise in der Befriedigung seines narzisstischen Bedürfnisses, von seinen Schülern, deren Eltern oder den Kollegen geliebt bzw. geschätzt zu werden, in der Erfüllung seiner Zuneigung zu den Schülern oder etwa im Mitleid und der inneren Anteilnahme an ihrer persönlichen Situation. In beiden geschilderten Situationen folgt dieser Lehrer Zwecken, die ihn heteronom bestimmen. Er handelt beispielsweise aufgrund biologischer, mentaler oder gesellschaftlicher Bedingungen.

Die gleiche Verhaltensweise erfolgt aus Pflicht , wenn er mit ihr zwar beispielsweise auch bezwecken würde, den Schülern ein hilfreicher Lehrer zu sein, dieser Zweck aber als Selbstzweck auf der freien Willensentscheidung des Lehrers gründet, etwa unter der Maxime, dass es sich der Lehrer aus allgemeiner Achtung vor der menschlichen Vernunft selbst 'schuldig' ist, seinen Schülern gegenüber in einer bestimmten Weise zu handeln.

In allen beschriebenen Fällen bestimmen Entscheidungsinstanzen innerhalb des Subjekts über die geäußerten Verhaltensweisen, aber lediglich die aus Pflicht ist durch den radikalen Vernunftbezug objektiv. Eben diese Objektivität ermöglicht es, dass potenziell jede Handlung eines Lehrers einem immer gleichen Maßstab gerecht wird. Genau dessen bedarf es, um das o.g. Postulat der Lehrerselbstverpflichtung zu erfüllen, stets bestmögliche Bedingungen der Möglichkeit zur Entwicklung von Mündigkeit jedes einzelnen Schülers zu realisieren.

Wenngleich "diese Pflicht als Pflicht überhaupt, vor aller Erfahrung, in der Idee einer den Willen durch Gründe a priori bestimmenden Vernunft liegt" (KANT 1999, 29) und damit als objektiv anzusehen ist, so konzediert KANT dennoch, dass es "schlechterdings unmöglich [ist], durch Erfahrung einen einzigen Fall mit völliger Gewißheit auszumachen, da die Maxime einer sonst pflichtmäßigen Handlung lediglich auf moralischen Gründen und auf der Vorstellung seiner Pflicht beruht habe. Denn es ist zwar bisweilen der Fall, daß wir bei der schärfsten Selbstprüfung gar nichts antreffen, was außer dem moralischen Grund der Pflicht mächtig genug hätte sein können, uns zu dieser oder jener guten Handlung und so großer Aufopferung zu bewegen; es kann aber daraus gar nicht mit Sicherheit geschlossen werden, daß wirklich gar kein geheimer Antrieb der Selbstliebe unter der bloßen Vorspielung jener Idee die eigentliche bestimmende Ursache des Willens gewesen sei, dafür wir denn gerne uns mit einem uns fälschlich angemaßten edleren Bewegungsgrunde schmeicheln, in der Tat aber selbst durch die angestrengteste Prüfung hinter die geheimen Triebfedern niemals völlig kommen können, weil, wenn vom moralischen Werte die Rede ist, es nicht auf die Handlungen ankommt, die man sieht, sondern auf jene inneren Prinzipien derselben, die man nicht sieht." (KANT 1999, 407)

Wenn es aber nicht möglich ist, völlige Gewissheit darüber zu erhalten, ob man als Lehrer der geforderten Selbstverpflichtung gerecht wird (bzw. retrospektiv gerecht geworden ist), dann folgt daraus die Notwendigkeit, dass der Lehrer aus Pflicht im stetigen Bemühen bleibt, seinen Handlungsmaximen gerecht zu werden. Er muss sich jederzeit die Frage stellen, ob er der o.g. Selbstverpflichtung als Pädagoge nachkommt und damit nicht pflichtmäßig oder aus innerer Neigung handelt. Nur der Lehrer, der dieses Bemühen für sich als Grundhaltung verinnerlicht hat, ist in der Lage, zur Mündigkeit zu erziehen. Diese persönliche Haltung verschafft ihm die Möglichkeit, einen Umgang mit der Schnittstelle zu finden, an der die Anwendung des objektiven Sittengesetzes auf die realen empirischen Bedingungen ihre subjektive Brechung (sensu Refraktion) erfährt.

Nun könnte man fragen, weshalb es notwendig ist, mit dieser aufzeigten Haltung pädagogische Handlungen auszuführen, wenn doch letztlich am sichtbaren Verhalten nicht erkennbar ist, ob sie aus Pflicht, pflichtmäßig oder aus innerer Neigung stattgefunden hat. Es ist davon auszugehen, dass bei einer Menge von Handlungen, die eine Person ausführt, entweder bei wechselnden handlungsleitenden Motiven Diskrepanzen bemerkbar werden oder, bei konstanten handlungsleitenden Motiven, diese perzeptibel werden (für derartige Wahrnehmungen sind Schüler geradezu Experten!). Im Falle wechselnder Motive ist die Glaubwürdigkeit des Lehrers durch seine Widersprüchlichkeit ohnehin in Frage gestellt, im Falle konstanter Motive verliert der Lehrer seine Glaubwürdigkeit, sobald wahrnehmbar wird, dass er seine eigenen Interessen pflichtmäßig oder aus innerer Neigung verfolgt. Einzig der Handlung aus Pflicht ist – wie oben bereits verdeutlicht – immanent, dass sie Ausdruck eines immer gleichen Maßstabs ist, nämlich Bedingungen der Möglichkeit zur Entwicklung von Mündigkeit zu schaffen. Eine Lehrerhandlung, die dieser Haltung folgt, macht sie – ganz gleich welcher Art sie ist , ob Aufforderung zur Selbstbestimmung, Vertrauensäußerung oder Sanktion – für den Schüler als Fürsorge für ihn und Anerkennung seiner Subjekthaftigkeit und damit Vernunftbegabung identifizierbar!

Als kognitive Entität ist die persönliche Haltung empirisch nicht fassbar. Ein Lehrer kann sich im Prozess der Selbstreflexion Rechenschaft darüber abgeben, ob er in dieser oder jener Situation aus Pflicht, pflichtgemäß oder aus Neigung handelt. Ein außenstehender Beobachter kann lediglich versuchen diesen nicht sichtbaren Anteil der Lehrerhandlung hermeneutisch zu erschließen. Dennoch ist die Haltung eines Lehrers weder als eine subjektivistische Belanglosigkeit noch als ein wissenschaftliches Artefakt aufzufassen, denn es lässt sich als kognitive Repräsentation dialogkonsensual rekonstruieren und ist damit auch einem intersubjektiven Reflexionsprozess zugänglich.

Um eine auf den Schüler als Subjekt ausgerichtete Pädagogik im hier explizierten Sinne, d.h. zur Mündigkeits-, Selbstständigkeits- und Selbstverantwortungserziehung, zu realisieren, ist also vor allem anderen die Person des Lehrers in den Focus zu nehmen und hier im besonderen seine Haltung als Lehrer. Dies ist das Ergebnis umfangreicher Diskussionen, die innerhalb der BLK-Modellversuche LUST (Lehrerinnen und Schülerinnen im Team, Bremen) und LunA (Lernen und nachhaltige Ausbildung, Hamburg) sowie in deren Umfeld stattgefunden haben, mit der Folge, dass in Absprache mit den Vertretern der Modellversuchsleitungen die wissenschaftliche Rekonstruktion von Lehrerhaltungen zu einer der zentralen Modellversuchsaufgaben erklärt wurde. Gerade als eine Folge des ernsthaften und aufrichtigen Bemühens, der programmatischen Verpflichtung des Modellversuchsprogramms SKOLA gerecht zu werden, wurde deutlich, dass die (methodische) Ausrichtung auf selbstgesteuertes oder kooperatives Lernen als Heuristik für die Bewältigung drängender schulischer Aufgaben im Berufsbildungsbereich zu kurz greift.

 

Literatur

BERNHARD , A. (2007): "Simplify your life!" Die Infantilisierung der gesellschaftlichen Lernräume und die Vermüllung des Bewusstseins als neue pädagogische Herausforderungen. In: KIRCHHÖFER , D./ STEFFENS, D. (Hrsg.): Jahrbuch für Pädagogik 2006. Infantilisierung des Lernens? Neue Lernkulturen – ein Streitfall, Frankfurt a. M. u.a., 59-74.

BÖHM , W. (1995): Theorie und Praxis. Eine Einführung in das pädagogische Grundproblem. Würzburg.

DILGER , B./ SLOANE, P.F.E. (2007): Das Wesentliche bleibt für das Auge verborgen, oder? Möglichkeiten zur Beobachtung und Beschreibung selbst regulierten Lernens. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 13. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe13/dilger_sloane_bwpat13.pdf .

HOIDN , S. (2007): Selbstorganisiertes Lernen im Kontext – einige Überlegungen aus lerntheoretischer Sicht und ihre Konsequenzen. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 13. Online: http://www.bwpat.de/ausgabe13/hoidn_bwpat13.pdf .

JAHRBUCH FÜR PÄDAGOGIK 2006 (2007): Infantilisierung des Lernens? Neue Lernkulturen – ein Streitfall, Frankfurt a. M. u.a.

KANT, I. (1956): Kritik der reinen Vernunft. Hamburg (2. Aufl. der Originalausgabe, Ausgabe B, 1787).

KANT, I. (1968): Kritik der praktischen Vernunft. Akademie-Ausgabe V. Berlin u. New York (Erstauflage 1788).

KANT, I. (1982): Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung. Besorgt von Hans-Hermann Groothoff und Mitwirkung von Edgar Reimers. Paderborn.

KANT, I. (1999): Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Hamburg (Erstauflage 1985).

KIRCHHÖFER , D. (2007): Neue Lernkultur und Infantilisierung. In: KIRCHHÖFER , D./ STEFFENS, D. (Hrsg.): Jahrbuch für Pädagogik 2006. Infantilisierung des Lernens? Neue Lernkulturen – ein Streitfall, Frankfurt a. M. u.a., 17-42.

KLAFKI, W. (1963): Studien zur Bildungstheorie und Didaktik. Weinheim u. Basel.

MILLER , G.A./ GALANTER , E./ PRIBRAM, K.H. (1973): Strategien des Handelns. Pläne und Strukturen des Verhaltens. Stuttgart (Übersetzung der englischen Ausgabe von 1960).

NEVELING, A. (2008): Primat des Subjekts. Grundlagen einer erziehungswissenschaftlich konsistenten Lehrerausbildung auf der Basis des Forschungsprogramms Subjektive Theorien. (in Vorbereitung).

SCHOLTZ, H. (1985): Erziehung und Unterricht unterm Hakenkreuz. Göttingen.

WEINERT , F.E. (1986): Selbstgesteuertes Lernen als Voraussetzung, Methode und Ziel des Unterrichts. In: Unterrichtswissenschaft, 10, H. 6, 99-110.

Danksagung

Ich bedanke mich für das Lektorat des Manuskriptes bei Daniela Hoff-Bergmann, der Landesvorsitzenden des Fachverbandes Philosophie, Bremen.

 

 

online seit 14.4.2008