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EDITORIAL zur bwp@-Ausgabe 5

Regionale Berufsbildungszentren

KARIN BÜCHTER und MARTIN KIPP

1 Einleitung

In der Diskussion um Reformen in der beruflichen Bildung spielt die Frage nach der Neupositionierung und Weiterentwicklung von Berufsschulen eine herausragende Rolle. Aktuelle berufsbildungspolitische Vorschläge und praktische Initiativen gehen in Richtung einer Umstrukturierung von Berufsschulen zu "Kompetenzzentren" bzw. "Regionalen Berufsbildungszentren" (RBZ). Zentraler Gedanke dabei ist, durch die Autonomisierung von Berufsschulen und die Erweiterung von Angeboten ihre Profilierung in der Regionalpolitik zu fördern. Trotz unterschiedlicher Interessen und Akzentuierungen scheint über die Notwendigkeit einer berufsschulischen Reorganisation mittlerweile gesellschaftlicher Konsens zu herrschen: zwischen den Spitzenorganisationen der Wirtschaft, der BLK, der KMK, Lehrerverbänden, Hochschulvertretern und der GEW.

Die eigentliche Idee dessen, was heute als Kompetenzzentrum bezeichnet wird, nämlich die Bündelung von beruflicher Bildung und wirtschafts-, regional- und arbeitsmarktfördernden Dienstleistungen, ist so neu nicht. Bereits im 19. Jahrhundert gab es regionale Gewerbeförderzentren, in denen berufliche Aus- und Weiterbildung für Handwerker stattfand. Die historischen Kontinuitätslinien der aktuellen Diskussion führen aber deutlich in die 1960er/70er Jahre. So hat beispielsweise der DEUTSCHE BILDUNGSRAT (1969) im Zusammenhang mit den Schulbauempfehlungen vorgeschlagen, berufliche "Schulzentren" zu errichten, wodurch es möglich wäre, "das Angebot von Bildungseinrichtungen und deren Nutzungsgrad sehr zu verbessern, besonders dann, wenn die Erwachsenenbildung und andere Formen der Weiterbildung einbezogen werden und Bildungszentren entstehen" (14).

Weitere Anstöße gaben dann die zunehmend prognostizierte Krise des Dualen Systems und die eng damit verbundene Berufsschulkritik. Angesichts der "Kritik an der deutschen Berufsausbildung", so Gustav GRÜNER (1970), müsse über "Alternativlösungen" nachgedacht werden, zum Beispiel: "die Schaffung eines eigenen selbständig-unabhängigen Raumes für die Berufsausbildung, der von den verschiedensten an der Berufsausbildung beteiligten gesellschaftlichen Gruppen getragen wird. [...] In dieses völlig neuartige Gebilde müssten die derzeitige betriebliche Berufsausbildung, die Stätten der überbetrieblichen Unterweisung, die beruflichen Schulen und die Berufsberatung eingebracht und zu einem organischen Ganzen verbunden werden. [...] Die Berufsschule verlöre bei der Lösung [...] ihren ‚berufsbegleitenden' Charakter [...] Auch auf die Erstausbildung aufbauende Weiterbildungsveranstaltungen [...] müssten feste Bestandteile dieses neuen Systems werden. Die Verwaltung dieses - etwa den Sozialversicherungen ähnlichen - Bereiches hätte durch demokratische Gremien zu geschehen, in denen Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Ausbilder für den praktischen Unterricht, Lehrer für die Theorie, Eltern und Auszubildende anteilig vertreten wären" (470). Im Zusammenhang mit der Lernorte-Debatte seit Mitte der 1970er Jahre gingen Überlegungen dahin, "den Stellenwert und die Einseitigkeit des Lernortes Berufsschule in der Erstausbildung und der Volkshochschule in der Weiterbildung zu brechen [...]. Die Lernortkontinuität könnte so über den Rationalisierungsaspekt hinaus eine bildungs- und gesellschaftspolitische Funktion bekommen, wenn es gelänge, über die Lernortkontinuität eine Teilnehmerkontinuität zu etablieren" (LIPSMEIER 1977, 725). Im Gesetzesentwurf der Bundesregierung für ein neues Berufsbildungsgesetz vom 18.4.1975 sind die Vorschläge, Berufsschulen zu Weiterbildungsstätten umzuwandeln, aufgenommen worden. Dieser Entwurf wurde aber damals nicht verabschiedet.

Erst seit den 1990er Jahren wird die Diskussion um die Umstrukturierung der Berufsschulen mit einem zunehmenden publizistischen Aufwand betrieben. Einige Modellversuche sind inzwischen auf den Weg gebracht, erste Ergebnisse liegen vor und Zweifel werden geäußert. Trotz des scheinbaren Konsenses in der Programmatik zeigt sich in der Praxis, dass es sich bei den Reorganisationsvorhaben von Berufsschulen nicht selten um politisch konfliktäre Angelegenheiten und von Partikularinteressen bestimmte Unterfangen handelt, die nicht unwesentlich auf Kosten der Berufsbildung Jugendlicher zu gehen drohen. Prominentes Beispiel ist die Berufsschulpolitik in Hamburg, über die wir - nicht zuletzt deshalb, weil bwp@ seit nunmehr zwei Jahren von einem Hamburger Herausgeberkollegium auf den Weg gebracht wird - gern ausführlich berichten wollten. Angesichts der besonderen Bedingungen, die nachfolgend erläutert werden, fällt unsere Berichterstattung eher knapp aus und beschränkt sich auf den Wiederabdruck von vier bildungspolitischen Dokumenten, deren Lektüre und Zusammenschau allerdings aufschlussreich sein kann. Anstelle des von uns geplanten ausführlichen Berichts über den Prozess und aktuellen Stand der Hamburger Berufsschul-Reform beschränken wir uns auf den Verweis auf drei Artikel aus der Tagespresse (Hamburger Abendblatt:

1.) Berufsschulen: Anstalt oder Stiftung? (HA 31.10.2002, S. 18)
-> hier eingescannt zum Nachlesen: (pdf 429kb)

2.) Berufsschulen. Die große Reform (HA 31.10.2003)
-> hier eingescannt zum Nachlesen: (pdf 113kb)

3.) Berufsschul-Reform: Jetzt kommen die Kritiker, (HA 1./2.11.2003)
-> hier eingescannt zum Nachlesen: (pdf 130kb)

sowie eines "Offenen Briefes" an den Präses der Hamburger Behörde für Bildung und Sport, den wir gemeinsam mit allen anderen Wissenschaftlern des Instituts für Berufs- und Wirtschaftspädagogik der Universität Hamburg am 25. Juni 2003 unterzeichnet haben:
http://www.ibw.uni-hamburg.de/service/zu_news/Praeses_Brief2003_06_24.pdf
.

Die derzeit herrschende, bemerkenswerte Informationskultur der Hamburger Behörde für Bildung und Sport wird zum einen daran deutlich, dass dieser "Offene Brief" bis heute unbeantwortet geblieben ist, und zum anderen daran, dass Mitglieder des Instituts für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die von einzelnen Berufsschulen zur Teilnahme an Workshops zur Umsetzung der Reformabsichten eingeladen worden waren, von Behördenvertretern unmittelbar vor Workshopbeginn wieder ausgeladen wurden - mit dem Hinweis darauf, dass es sich bei den Workshops um behörden-interne Veranstaltungen handele, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit - ausdrücklich auch unter Ausschluss der wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit - stattfänden; Mitglieder der Universität, die ein verständliches Interesse am Berufsschul-Reformprozess hätten, würden zu gegebener Zeit über dessen Fortgang und Ergebnis informiert.

Die genannten drei Artikel aus dem Hamburger Abendblatt lassen erkennen, dass das ursprünglich verfolgte Reformkonzept heftig umstritten war und ist, dass daran mittlerweile erhebliche Abstriche vorgenommen wurden und dass gleichwohl eine stattliche Schar von kompetenten Kritikern den hinter verschlossenen Türen stattfindenden Reorganisationsprozess mit beißenden Kommentaren und Reformforderungen begleitet. Unseren ausführlichen Bericht über die aktuelle Hamburger Berufsschul-Reform schieben wir auf, bis uns autorisierte Informationen sowohl aus der Behörde als auch aus einzelnen Berufsschulen vorliegen - auch in der Rückschau mag manche Reformdynamik ihren Charme und Reiz haben.

2 Zu den Beiträgen

Mit dieser Ausgabe von bwp@ möchten wir Beiträge liefern, die theoretische Überlegungen, empirische Ergebnisse und Praxisberichte beinhalten.

Teil A: THEORETISCHE ÜBERLEGUNGEN

In den hier versammelten Aufsätzen werden die aktuelle Programmatik zu "Kompetenzzentren" und "Regionale Berufsbildungszentren" skizziert, die in der Diskussion kursierenden Begriffe differenziert, Leitbilder hinterfragt und der Forschungsstand referiert. Besondere Bezugspunkte der Auseinandersetzungen sind die Anforderungen an die künftige Schulentwicklung, die Voraussetzungen und Bedingungen der Einbindung von Berufsschulen in regionalen Netzwerken sowie die schulische Umstrukturierungsprozesse flankierenden bildungspolitischen Aufgaben.

Ralf TENBERG: Regionale Kompetenzzentren in Deutschland. Bestandsaufnahme über eine aktuelle Entwicklungsperspektive beruflicher Schulen

Karl WILBERS
: Berufsbildende Schulen: Kompetenzzentren in regionalen Netzwerken?

Dietmar TREDOP
: Zur Funktion des Personalmanagement im Neuen Steuerungsmodell als zentrales Instrument für eine teilautonome Schule

Rita MEYER: Regionalisierung, Marktorientierung und Netzwerkbildung - Kritische Annäherungen im Kontext der Diskussion um regionale Berufsbildungszentren

Teil B: EMPIRISCHE ERGEBNISSE

Als Konkretisierung der Diskussion um Regionale Berufsbildungszentren sind die empirischen Forschungsergebnisse gedacht. Anhand von Datenmaterial aus den Bundesländern Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen werden Ansprüche und Realität bei der Implementation von Berufsbildungszentren exemplarisch miteinander konfrontiert, Einschätzungen von Akteurinnen und Akteuren, die an schulischen Entwicklungsprozessen beteiligt waren/sind, wieder gegeben, die Auswirkung auf die Benachteiligtenförderung problematisiert und Konsequenzen für die Lehrerbildung vorgeschlagen.

Matthias BECKER/Georg SPÖTTL: Entwicklungsfelder regionaler Berufsbildungszentren - Ergebnisse einer empirischen Untersuchung

Volker BANK/Hans-Carl JONGEBLOED/Dirk SCHREIBER: Ökonomische und pädagogische Implikationen der Einrichtung Regionaler Berufsbildungszentren am Beispiel des Landes Schleswig-Holstein

Ruth ROß
: Schulische Innenansichten zum regionalen Berufsbildungszentrum

Beatrix NIEMEYER: Benachteiligte Jugendliche - Einkommensquelle, Störfaktor oder Innovationsmotor für Regionale Berufsbildungszentren

Marc BEUTNER/Christoph SCHWEERS: Holzweg oder Prachtstraße? Profilbildung nordrhein-westfälischer Berufskollegs im Rahmen ihres Entwicklungsprozesses zu Kompetenzzentren

Teil C: PRAXISBEITRÄGE

Konkrete Einzelfallbeispiele beinhalten die zwei Praxisberichte. Zum einen handelt es sich um einen Bericht über eine berufliche Schule in der Region Bodensee, die am Bundesprogramm "Lernende Region" beteiligt ist, zum anderen um die Ergebnisse einer Bremer Schule im Rahmen des EU-Modellversuchs "Regionale Bildungsnetzwerke".

Armin SEHRER (Claude-Dornier-Schule Friedrichshafen): Die berufliche Schule in der Lernenden Region Bodensee

Helmut ZACHAU
(SZ Walle): Netzwerk Gesundheitsbildung - Eine Berufsschule auf dem Weg zum regionalen Bildungszentrum

Wir möchten an dieser Stelle Lehrerinnen und Lehrer von beruflichen Schulen, die sich derzeit in Umstrukturierungsprozessen befinden, mit Nachdruck dazu auffordern, sich an dieser Ausgabe von bwp@ zu beteiligen

Wir wünschen den Leserinnen und Lesern von bwp@ viele Anregungen bei der Lektüre dieser Beiträge - insbesondere auch für die Diskussion in unserem Forum.

Karin Büchter & Martin Kipp

 

Literatur

DEUTSCHER BILDUNGSRAT (1969): Empfehlungen der Bildungskommission: Zum Schulbau. 8.2.1969, 14.

GRÜNER, Gustav (1970): Die deutsche Berufsausbildung... In: Die berufsbildende Schule, 22. Jg., H. 7/8, 469-470.

LIPSMEIER, Antonius (1977): Zum Problem der Kontinuität von beruflicher Erstausbildung und beruflicher Weiterbildung. In: Die Deutsche Berufs- und Fachschule. 73. Band, H. 10, 723-737.

 

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