Beitrag von Ulrike BUCHMANN (Universität Siegen)
Seit Mitte der 1990er Jahre zeigt sich eine politisch gewollte liberalisierende, deregulierende und privatisierende (Steuerungs-)Logik in der gesellschaftlichen Reproduktion. Von dieser Entwicklung ist insbesondere die nachwachsende Generation betroffen und damit auch die berufliche Bildung als gesellschaftliche Reproduktionsinstitution. Für die betroffenen Subjekte treten immer deutlicher vielfältige Übergangsrisiken im Lebensverlauf hervor. Zur Bewältigung solcher Risiken sind sie auf die Entwicklung eines komplexen Kompetenzspektrums von Selbst-, Sach- und Sozialkompetenz angewiesen, um die gesellschaftlich erzwungene Neukonfigurationen zwischen Erwerbsarbeit, öffentlicher Arbeit und privater Reproduktionsarbeit zu bewältigen und zukunftsweisend zu gestalten. Eine in diesem Sinne angelegte (über Curricula gesicherte) Entwicklung und Entfaltung des Humanvermögens ist als gleichermaßen hohe wie langfristig-anspruchsvolle Forschungsaufgabe der Bildungs- und Berufsbildungswissenschaft zu begreifen, die auf ein entsprechendes Selbstverständnis der Disziplin angewiesen ist. Denn, diese Aufgabe erfordert auf der Zielebene nichts Geringeres als die Sicherung einer realen Utopie von Zivilgesellschaft und damit zwangsläufig eine Prüfung der disziplinären Referenzrahmen hinsichtlich ihrer auch zukünftig tragfähigen Problemlösepotentiale.
New logic in steering the direction of the education system: New Public Management and its consequences for the disciplinary self-concept of the study of professional and vocational education and training and business studies
Since the mid-1990s there has been a politically-driven liberalising, deregulating and privatising (steering) logic in societal reproduction. The younger generation is particularly affected by this development, and with this also vocational education and training as a societal institution of reproduction. For the affected individuals there are increasingly clear and diverse transition risks in the life course. In order to deal with these risks they need to be able to rely on the development of a complex spectrum of competences of technical competence, self-competence and social competence in order to cope with the societally necessary new configurations between working life, public work and private reproduction work and to design it for the future.
The development and progress of human capital in this sense (and secured in curricula) must be viewed as a long-term and demanding research task of educational studies and vocational education and training studies, which depends on a corresponding self-concept of the discipline. After all, this task requires nothing less than the securing of a real utopia of a civil society and thereby necessarily a testing of the disciplinary frame of reference with regard to its potential for solving problems in the future.
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Die ebenso zahlreichen wie unterschiedlichen Beiträge und Diskussionen zum Thema „Neue Steuerungsmodelle“ im Rahmen des letztjährigen DGfE-Kongresses haben mich im besonderen dazu veranlasst, über das bestehende wie auch über ein möglicherweise notwendiges neues Selbstverständnis der Berufsbildungswissenschaftlerinnen und Berufsbildungswissenschaftler nach zudenken. Denn, rund um das Thema neue Steuerungslogik verdichten sich – wie bereits anlässlich anderen Phänomenallagen zuvor (vgl. u. a. Binnendifferenzenzierungs- und Ver-/Entberuflichungsdebatte) – im disziplinären Diskurs paradigmatische Sichtweisen, die hinsichtlich ihres Aufklärungspotentials in Bezug auf die komplexen Bedingungen gesellschaftlicher Transformationsprozesse durchaus different einzuschätzen sind. Mit dem Ziel einen Beitrag zu dieser dringend notwendigen Aufklärung zu leisten, stelle ich im Folgenden zunächst die Ergebnisse einer berufsbildungswissenschaftlichen Bedingungsanalyse zu den aktuellen Veränderungen im Bildungssystem zur Diskussion, die Forschungs- und Entwicklungsdesiderate offensichtlich werden lässt, zu deren Bearbeitung die Berufsbildungswissenschaft aufgrund ihrer disziplinären Wissensbestände und Diskurserfahrungen – unter bestimmten Bedingungen – durchaus einen Beitrag leisten könnte.
Vor dem Hintergrund der in Dresden geführten Diskussionen scheint mir eine zeitnahe Klärung der „inneren Logik“ dieser eher partiell und in ihren Randerscheinungen wahrgenommenen Entwicklungen und Prozesse überfällig, zu. Sie ist m. E. wesentliche Voraussetzung dafür, um angemessene (auch) berufsbildungswissenschaftliche Gestaltungsperspektiven und Handlungsoptionen für das Bildungssystem zu generieren, die eine Entwicklung und Entfaltung der Subjekte jenseits rein ökonomisch definierter Effektivität und Effizienz ermöglichen. Bei der meiner Analyse der aktuellen Veränderungen im Bildungssystem gehe ich von nachfolgenden Prämissen aus.
Die Entwicklungen im Bildungssystem verlaufen seit Implementierung der Unterrichtspflicht (als bildungspolitischer Zäsur) durch den absolutistischen Staat (1794) – und der damit realgeschichtlich auf den Weg gebrachten Vergesellschaftung der nachwachsenden Generation – asynchron. Solche Situationen können sich als historische Zäsuren herausarbeiten lassen, die eine Weichenstellungen u. a. im Hinblick auf Akteurskonstellationen, Zielverständigungen und/oder Aufgabenzuschreiben für das Bildungswesen markieren. Demokratische Gesellschaftsstrukturen erfordern in ähnlichen Konstellationen andere Legitimationen nämlich einen Klärungsprozess, in dem die gesellschaftlichen Mächte um Interessendurchsetzung ringen (vgl. BLANKERTZ 1975); wobei immer auch die Ressourcenbereitstellung und die Finanzierung der Bildungsinstitutionen zur Debatte stehen und zu einer günstigen Konjunkturlage im Sinne politischer Gelegenheitsstrukturen beitragen bzw. diese verhindern.
Die in diesem Beitrag zu erörternden neuen Steuerungsmodelle im Bereich öffentlicher Dienstleistungen sind nun in diesem Sinne eine weitere abermalige Zäsur, in der ideen- und damit in der Folge auch realgeschichtlich die Weichen zu stellen wären, über die eine neue Ratio im Bildungssystem etabliert wird, die die Bildungswissenschaft[1] und damit auch die Berufsbildungswissenschaft in besonderer Weise (heraus)fordert– so meine erste These. Geht es doch – in dieser Konkretheit historisch erstmalig – darum, zu zeigen, was das (Berufs)Bildungssystem im Hinblick auf gesellschaftliche relevante Problemlagen und anstehende Aufgaben zu leisten in der Lage ist und wo gegebenenfalls seine Grenzen liegen.
Auch bei der Etablierung neuer Steuerungsmodelle im Bereich öffentlicher Dienstleistungen handelt es sich nun keineswegs um eine Veränderung, die ad hoc stattfindet, sondern um das vorläufige Ergebnis einer Entwicklung, die bereits Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzte: In politischer wie ökonomischer Hinsicht gewannen die Fragen der gesellschaftlichen Transformation an Bedeutung. Bereits seit Ende der 1940er Jahre wurden Fragen der technischen und technologischen Entwicklung und der sich entwickelnden Dienstleistungsgesellschaft in den Blick genommen (vgl. z. B. FOURASTIÉ 1954) sowie Anfang der 1970er Jahre in den USA eine Diskussion zur postindustriellen Gesellschaft in Gang gesetzt (vgl. BELL 1985), die in jüngerer Vergangenheit im Hinblick auf informations- und wissensgesellschaftliche Phänomene weitergeführt wird.
Diskutiert werden vor allem der Rückgang unmittelbarer Produktionstätigkeiten zugunsten von Tätigkeiten im Dienstleistungsbereich wie auch eine zunehmende Verwissenschaftlichung erwerbsarbeitsrelevanten Wissens, der damit einhergehende Wertewandel ebenso wie eine neue Rationalisierungsqualität jenseits nationalstaatlicher Grenzen, die in der Folge einen erhöhten Wettbewerbsdruck über alle Wirtschaftssegmente hinweg produziert.
Auf wirtschaftspolitischer Ebene finden diese Entwicklungen ihren Ausdruck im sogenannten GATS-Abkommen (General Agreement on Trade in Services), das als Agreement der 1994 neu gegründeten Welthandelsorganisation (WTO[2]) den Handel von Dienstleistungen u. a. in den Bereichen
· Post und Telekommunikation (Beispiel: Deutsche Post AG )
· Öffentlicher Verkehr (Beispiel: Deutsche Bahn AG)
· Energie- und Wasserversorgung (siehe plurales Anbietersystem)
· Gesundheit (Beispiel: Privatisierung von Universitätskliniken)
· Bildung (Beispiel: Curricula inkl. Aufgaben werden als nordamerikanische Bestseller vertrieben)
dereguliert, liberalisiert und damit privatisiert.
In der Folge wird in den 144 unterzeichnenden Mitgliedsländern nicht mehr der Staat eine Grundversorgung seiner Bürgerinnen und Bürger verantworten müssen, sondern (z. T. weltweit agierende) Konzerne entscheiden über wichtige auch soziale Leistungsangebote. Rifkin wertet das GATS-Abkommen, den Maastrichter Vertrag und die Schaffung der NAFTA, der nordamerikanischen Freihandelszone, als „deutliche Anzeichen dafür, dass sich globale Machtverhältnisse ändern“, denn „hunderte von Gesetzen, die den freien Handel der transnationalen Firmen beeinträchtigen, werden dadurch null und nichtig“ (RIFKIN 1996, 178).
Aus bildungswissenschaftlicher Perspektive ist das GATS-Abkommen deshalb von Bedeutung, weil Dienstleistungen, die der Generierung von Bildung dienen, mit ihm zu einem prinzipiell handelbarem Gut und damit der Konstitutionslogik Warenrationalität (vgl. LISOP/ HUISINGA 2004) untergeordnet werden.
In der Folge entsteht auch in bisherigen Non-Profit-Bereichen ein Wettbewerbs- und Rationalisierungsdruck, der zur Auflösung bestehender Arbeitsorganisationsstrukturen und -prozesse und deren Restrukturierung unter Kostendämpfungsgesichtspunkten führt.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung lassen sich folgende Verfahren verstärkt seit Mitte der 1990er Jahre beobachten:
· Outsourcingprozesse
· Fusionen
· Kapitalallokationen: Risikostreuung (BASEL I/BASEL II) z. B. über Beteiligungsgesellschaften
· Konsolidierungsmaßnahmen: Veränderung der Struktur öffentlicher Ausgaben/Einnahmen zwecks Abbau von Überkapazitäten
Diese Verfahren bezeichnen wir als Entmischungen, die als ökonomische, soziale, politische usw. Implikationen wirksam werden (vgl. u. a. BUCHMANN 2007). Als Phänomene dieser Entwicklungen entstehen verbreitet:
· Call Center
· Shopping Center
· Logistik Center
· Bürgerbüros oder auch
· Beratungs- und Gesundheitscenter.
Ziel ist es dabei immer, Überkapazitäten abzubauen im Sinne von Effizienz oder eine effektivere Aufgabenerfüllung zu gewährleisten und zwar über Auslagerungen, Kooperationen etc.
Öffentliche Dienstleistungen werden u. a. erbracht in der öffentlichen Verwaltung und im Bildung- und Gesundheitswesen. Für deren Herstellung, die vornehmlich die Reproduktion sichert, fokussiert die OECD seit Beginn der 1990er Jahre ein neues Außensteuerungsmodell, das als New Public Management (NPM) diskutiert wird. Der Grund dafür liegt im immensen Staatsverbrauch mit damals rund 49 % des BIP[3]. Zu den öffentlichen Dienstleistungen zählen u. a. auch die (finanz)autonome Schule, die mittels Globalhaushalte gesteuerten Hochschulen oder die nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führende Arztpraxis, das Beratungszentrum etc.
NPM ist in seiner Bedeutung zunächst unbestimmt; je nach Autor, Perspektive oder Theoriezusammenhang wird der Begriff verwendet als
· Sammelbegriff für unterschiedliche Theorieansätze
· Schlagwort für ein generell neues Paradigma innerhalb der Verwaltungswissenschaften oder als
· Element des Wandels zu einer „postmodernen Verwaltung“;
In diesem Sinne ist NPM also ein Rahmen oder Framing, dessen Zielperspektive sich auf die Neuregulierung als Entmischungen auf dem Arbeitsmarkt wie auch im Bildungssystem (das natürlich auch gleichzeitig Arbeitsmarkt ist) richtet. Phänomene des mit der Implementierung von NPM einhergehenden Umdenkens finden sich – je nach Kontext und Erkenntnisinteresse – unter den Stichworten:
· Qualitätssicherung bzw. -management
· Organisationsentwicklung
· Standardisierung
· Personalentwicklung
· Evaluierung
· und auch unter Professionalisierung.
Doch wenden wir uns zunächst dem Begriff „Steuerungsmodelle“ zu: Mit Steuerungsmodellen werden in Wirtschaft und Verwaltung die jeweils vorherrschenden Organisationsmodelle bezeichnet (vgl. z. B. BEYER 2000, MEYER 2001), an denen Zielsetzung, Aufbau, Aufgaben und Handlungsoptionen, Hierarchien, Positionen, aber auch wissenschaftliche Relevanz- und Aussagensysteme wie Erkenntnismuster, Sprachsysteme, Gesetze und Logiken etc. im Sinne eines Paradigmas orientieren. Angesichts des gesellschaftlichen Strukturwandels werden traditionelle Organisationsmodelle offensichtlich z. T. dysfunktional und werden in diesen Fällen durch neue Steuerungsmodelle ersetzt.
Bis zum Ausgang des 20. Jahrhundert basierte das herkömmliche Organisationsprinzip der öffentlichen Verwaltung auf dem Bürokratiemodell von Max WEBER (vgl. WEBER 1972). In diesem Modell spiegeln sich die zu Zeiten WEBERS aktuellen gesellschaftspolitischen Problem- und Regelungsfelder der Verwaltung im europäischen Raum wider, die sich vor allem in der gesellschaftspolitischen Herausforderung einer rationalen Ausübung legaler Herrschaft konzentrieren. In diesem Kontext war das Modell „Bürokratie“ funktional im Hinblick auf die anstehenden Aufgaben.
Ziel war es, die personengebundene, patriarchalische Herrschaft und die damit einhergehende subjektive Willkür durch korrekte, personenunabhängige, sachbezogene und dabei nachvollziehbare Umsetzung vorgegebener Regeln abzulösen. Das Modell betont Rechtsbindung, Unparteilichkeit, Professionalität, Gleichbehandlung und Kontrollierbarkeit des Verwaltungshandelns (vgl. BUDÄUS et al. 1998, 1). Als wahrscheinlich älteste nach diesem bürokratisch-hierarchisch-regelorientierten Typ organisierte Institutionen gelten die Katholische Kirche und das Militär.
Grundlage des Modells bildete die abstrakte Regelbindung und der Glaube an die Legitimität dieser Regeln. Das Problem der rationalen Ausübung legaler Herrschaft stellte sich Anfang des letzten Jahrhunderts nun aber nicht nur im Verhältnis von Bürger zu Staat, sondern in gleichem Maße auch für die industriellen Großunternehmen: Die Übertragung dieses Organisationskonzepts auf die Industrie war eine der herausragenden Leistungen des 19. Jahrhunderts: Sie erst ermöglichte, die hohe Anzahl gering oder gar nicht qualifizierter Mitarbeiter effizient zu koordinieren.
Arbeitsteilung als ökonomisch-technische Dimension und bürokratische Herrschaftsausübung als soziologische Dimension stellen Anfang des 20.Jahrhunderts die beiden Grundpfeiler für die effiziente Steuerung von Großorganisationen sowohl im öffentlichen als auch im privaten Bereich dar (ebd., 2). Als Kennzeichen dieses klassischen Steuerungsmodells lassen sich benennen
· hauptamtlich qualifizierte Mitarbeiter
· definierte Kompetenzen
· strenge Regelgebundenheit der Arbeit
· eine Formalisierung und exakte Dokumentation der Tätigkeiten
· hierarchische Koordinierung (Dienstwege) sowie
· eine nicht regelgebundene Organisationsspitze.
Im Kontext wirtschaftlichen Handelns hat vor allem das Ende der Massenproduktion ursächlich dazu beigetragen, dass das bisherige bürokratische Organisationsmodell obsolet wurde.
Als Auslöser für diesen Wandel werden nicht nur die neuen technischen Möglichkeiten der Informationsverarbeitung und veränderte Marktanforderungen und -chancen (Diversifizierung) betrachtet, sondern auch die veränderten Erwartungen und Fähigkeiten der Beschäftigten, also der Wertewandel.
Angesichts dieser Entwicklungen verabschiedeten sich privatwirtschaftliche (Groß)Unternehmen sukzessive von bürokratischen Managementkonzepten. Die veränderten Anforderungen dynamischer Umwelten und Marktentwicklungen machten offensichtlich organisatorische Umstrukturierungen und Anpassungsprozesse notwendig, begleitet von einem Wandel des organisatorischen Grundverständnisses von Unternehmen.
In den komplexen Verwaltungsorganisationen des Staates gestaltete sich diese Entwicklung etwas anders, insofern als sie bis dato keinem existentiellen Modernisierungsdruck unterlagen. Historisch ist es nämlich erst die spezifische Kombination aus
· Modernisierungs- und Leistungslücke (Stichworte: Passungsproblematik; internationale und nationale Leistungsvergleichstests),
· einer rapide abnehmenden Finanzierbarkeit der bisher öffentlich wahrgenommenen Aufgaben,
· gepaart mit der dysfunktionalen Organisation öffentlicher Bürokratien,
die Innovationen, Bedarfsorientierung und Wirtschaftlichkeit in den Vordergrund treten lassen (vgl. BUDÄUS et al. 1998, 4ff.).
Um die gesellschaftliche Relevanz dieser spezifischen Bedingungskonstellation deutlich zu machen, sei hier exemplarisch auf die vielfältigen unter dem Terminus Passungsproblematik diskutierten gesellschaftlichen Problemlagen und Gefährdungsbereiche verwiesen, die sich unter Rückgriff auf ein anthropologisches Arbeitsverständnis (mindestens) am Verhältnis des Bildungssystems zu folgenden drei gesellschaftlichen Teilbereichen festmachen lassen:
a) Bildungssystem – Beschäftigungssystem: Diesbezüglich bezieht sich das Passungsproblem auf Missmatches hinsichtlich einer qualitativen Entsprechung zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem. Es wird in der Berufsbildungswissenschaft auch unter dem Begriff der Realitätsnähe oder des „empirischen Gehaltes von Curricula“ erörtert (vgl. z. B. BRUCHHÄUSER 2005). Das Problem ist so alt wie die Berufsbildungswissenschaft selbst. Warf doch schon Anna SIEMSEN (1926) dem als Vater der Berufsschule geltenden KERSCHENSTEINER vor, feste Schneidungen (z. B. in Form von Berufen) seien als Leitidee von Ausbildung im Industriezeitalter obsolet geworden. Reflexionen über „Umbildungen“ im Berufsleben und in der Berufsausbildung beschäftigen die Berufsbildungswissenschaft, aber auch die Bildungspolitik zunehmend seit Anfang der 1960er Jahre (vgl. u.a. MERTENS 1970, HUISINGA 1990). An den Debatten über Schlüsselqualifikationen und an den Thematiken der Handlungs- und Lernfeldorientierung lässt sich das Problem der Entsprechung von Ausbildung und Qualifikationsbedarf besonders gut nachvollziehen. HUISINGA/ LISOP nennen das Problem der Entsprechung bzw. das Abstimmungsproblem (vgl. KLOSE 1987) „Passung“ (vgl. HUISINGA/ LISOP 1999, 25). An der Schnittstelle zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem stellt sich das Passungsproblem als eines des problemlosen Übergangs („zweite Schwelle“). Es betrifft nicht die Auswahl und Bestimmung von Wissens- und Könnenskatalogen bezüglich der Ausführung konkreter Tätigkeiten, sondern in zunehmendem Maße die Justierung der eher generellen (extrafunktionalen) und der eher speziellen Qualifikationen. Anders formuliert geht es darum, welches Wissen und Können, welche habituellen Dispositionen, welche Rollen- und Wertemuster über die zu erlernenden Arbeitstechniken hinaus von Belang sind. Unter Rückgriff auf die subjektbezogene Theorie der Berufe von BECK, BRATER, DAHEIM (vgl. dies. 1980) und Leitbilder kaufmännischer Ausbildung hat die Berufsbildungswissenschaft das Verhältnis von generellen und speziellen Qualifikationen zwar schon vor Jahrzehnten aufgegriffen; sie hat jedoch kaum Instrumente oder Standards für eine entsprechende Qualifikations- und Curriculumforschung entwickelt. Auch haben die korporative Struktur des Berufsbildungssystems und seine Basierung durch das Berufsbildungsgesetz der Lösung des Passungsproblems mit dem Procedere der Erstellung von Ausbildungsordnungsmitteln eine spezifische Hürde entgegengestellt. Sie müssen zahlreiche Abstimmungsebenen durchlaufen, was den Prozess einerseits in ein time-lag und was andererseits inhaltliche Verflachungen mit sich bringt. Beobachten lassen sich diese Missmatches und time-lags u. a. am Fachkräftemangel bei gleichzeitig hoher Arbeitslosenquote, hohen Ausbildungs- und Studienabbrecherquoten und auch an der Verbreitung von Burnout-Syndromen.
b) Bildungssystem – öffentliche Arbeit: Die Bearbeitung dieser Passungsproblematik, die sich u. a. an den Phänomenen festmachen lassen, die gemeinhin als Politikverdrossenheit, nachlassende Wahlbereitschaft, Nachfolgeproblematik bei Ehrenämtern oder auch als ein eher diffuses „Sich-nicht-verantwortlich-fühlen“ gelabelt werden, gehört bisher eher nicht zum klassischen Forschungsfeld der Berufsbildungswissenschaft (vgl. u.a. DEUTSCHE FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT 1990), obwohl die (im Prinzip unhintergehbare) Dreieinheit von Sach-, Selbst- und Sozialkompetenz, mit entsprechend entwickelter Urteils-, Handlungs- und Kommunikationsfähigkeit durchaus zu den disziplinären Grundeinsichten bzw. zu ihrem Wissensbestand gehören. Diesbezüglich ist das Selbstverständnis der Berufsbildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler daraufhin zu hinterfragen, ob nicht die traditionellen Partialsichten bereits bei der Ursachen- und Bedingungs(er)forschung nur einen Teil des komplexen Gefüges offenlegen können und damit auch der Blick auf angemessene Strategien für den Umgang mit Gefährdungen und Risiken verstellt bleibt.
c) Bildungssystem – private Reproduktionsarbeit: In diesem gesellschaftlichen Schnittstellenbereich sind es die Fragen des „Umgangs mit sich selbst und anderen“ und das zugrunde liegende Selbstverständnis der Akteure, die in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit geraten, wenn es um Problemlagen geht, die sich u. a. im Konstrukt „Gesundheit“ verdichten. Diesbezüglich sind es nämlich nicht nur die empirisch nachweisbaren steigenden somatischen und psychosomatischen Pathologien – wie sie medizinisch diagnostiziert und vom Bundesamt für Statistik generiert werden (vgl. DESTATIS) –, sondern auch die persönlichen und gesellschaftlichen Beziehungsstrukturen und ihre Qualitäten, die es in den Blick zu nehmen gilt. Die eher diffuse Phänomenallage macht auf offensichtlich weit verbreitete (und zunächst bzw. z.T. milieuunabhängige) Problemlagen aufmerksam: Sie betreffen Beziehungs- und Erziehungsfragen, Ernährungs- und Bewegungsdefizite, Verwahrlosung, Vernachlässigung, das Straßenkinderphänomen, Aggression und Autoaggression – um nur einige der jüngst häufiger in der Öffentlichkeit diskutierten Gefährdungsbereiche zu nennen – aber z. B. auch eine Sterblichkeitsrate der 0-1jährigen die den hochelaborierten medizinischen Sachstand in der BRD inklusive zugehöriger Infrastruktur geradezu konterkariert. Diesbezüglich stehen ebenfalls systematische Bedingungs- und Ursachenanalyse aus, die notwendige Sichten korrelieren und auf Neuschneidungen der Expertise/ des Expertenwissens angewiesen sind.
Die gesellschaftliche Bearbeitung dieser komplexen, interdependenten Problemlagen scheint zwar einerseits dringend erforderlich, entzieht sich andererseits aber eindimensional-fachlichen Zugriffen und partieller „Erziehungs-“ bzw. „Entwicklungs“bemühungen in den jeweiligen Reproduktionskontexten (wie sie beispielsweise immer wieder im Hinblick auf „soziales Lernen“ versucht werden). Vielmehr ist – den (erziehungs)wissenschaftlichen Diskurs betreffend – ein neues Denken aller drei Komplexe in ihrer wechselseitig abhängigen Gesamtheit erforderlich; womit dann allerdings auch gesellschaftlich zu lösende Aufgaben intendiert sind, die den öffentlichen Bildungsauftrag anspruchsvoll neu konnotieren und den Modernitätsrückstand des Bildungssystems in seiner aktuellen Ausprägung, mitsamt seiner Bildungsinstitutionen, Bildungsgänge und Curricula offensichtlich werden lassen.
Es ist die spezifische Kombination aus Leistungslücken, Modernitätsrückständen, abnehmender Finanzierbarkeit[4] und Dysfunktionalitäten, die das Feld bereitet für eine neue Steuerungslogik im Bereich öffentlicher Aufgaben, die es im Folgenden zu konkretisieren gilt.
Vor dem Hintergrund der skizzierten Veränderungen wird NPM seit den 1990er Jahren als Grundprinzip ökonomisch-rationalen Handelns im gesellschaftlichen Reproduktionsbereich etabliert. NPM steht vor diesem Hintergrund für die konkrete praktische Erfahrung, dass die bürokratisch ausgerichtete Detailsteuerung nicht mehr geeignet ist, den relevanten gesellschaftlichen Anforderungen hinreichend Rechnung zu tragen.
Die bürokratische Organisationsstruktur ist zum Ende des 20. Jahrhunderts selbst zu einem Problem geworden. NPM steht für entsprechende Lösungsversuche.
Von daher meint NPM im derzeitigen Entwicklungsstadium inhaltlich auch weniger ein neues Paradigma, sondern zunächst nur die Herbeiführung eines Paradigmenwechsels. Dabei spielt ohne Zweifel die Orientierung an privaten Unternehmen und den dort praktizierten Managementtechniken eine wesentliche Rolle. Ob – und ggf. in welcher inhaltlichen Ausprägung – in Zukunft überhaupt noch ein einheitliches Modell (analog zum Bürokratiemodell der Vergangenheit) für öffentliche Dienstleistungen maßgebend sein wird, ist zurzeit zumindest offen. Wahrscheinlicher dürfte eher die Ausformulierung und Entstehung einer Reihe unterschiedlicher, aufgaben- und situationsabhängiger Ansätze sein.
NPM ist so gesehen auch Ausdruck der Kritik an der Vorstellung einer einheitlichen und weitgehend homogenen öffentlichen Verwaltung und steht somit insbesondere für
· einen Wandel von der Input- zur Outputorientierung über Produktdefinitionen und -budgetierungen
· für eine dezentrale Verantwortung in den Fachbereichen statt Trennung von Fach- und Ressourcenzuständigkeiten
· für klare Aufgaben- und Verantwortungsteilung
· Controllingabteilungen, die die Kontextsteuerungen sichern,
· Innerorganisatorische Leistungsabsprachen statt Einzelanweisungen
· Wettbewerbs- und Kundenorientierung.
Die Gegenüberstellung beider Modelle in der folgenden Abbildung dient der Verdeutlichung signifikanter Unterschiede:
Abb. 1: Altes und neues Steuerungs-/Regulierungsmodell im Vergleich
So differieren altes und neues Modell dahingehend, dass Zielformulierungen und Ergebnisbeschreibungen – statt Regeln – zwecks Organisations-Steuerung vereinbart werden. Die bisherige funktionale Arbeitsteilung wird durch eine produktbezogene Organisation im Sinne der Prozessorientierung ersetzt. Die Hierarchisierung der bürokratischen Strukturen wird durch ein Kontraktmanagement zwischen selbständigen Arbeitseinheiten ersetzt. Statt des traditionell eher marginalen Einsatzes von Wettbewerbsinstrumenten erfolgt eine Aufgabenauslagerung nach strategischen Marktgesichtspunkten; und das diesbezüglich weitestgehend fehlende strategische Management wird durch ein explizites Bekennen zur Kundenorientierung unabdingbar.
Der Modernisierungsdruck zu Beginn des 21.Jahrhunderts resultiert aus mindestens fünf Ursachengeflechten, die als neuartige Typen von Problemlagen die staatliche Bildungspolitik, die Bildungs- und Berufsbildungsforschung, die Bildungsinstitutionen und Curriculumkonstrukteure gleichermaßen herausfordern:
1. Die hohe „Dropout“-Quote: So provozieren demographischer und sozialer Wandel unterschiedlichen Beziehungen von Jugendlichen und Erwachsenen zu Gütern, Dienstleistungen und zur Arbeit, über die sich Wissen, Normen und Werte relativieren und damit auch die Erwachsenen als Autoritäten in Ausbildungsprozessen. Die Entwicklung von Ausbildungsgängen macht nur Sinn unter Rückbezug auf die gesellschaftliche Lage der nachwachsenden Generation. Die Realentwicklung sieht anders aus: Derzeit erreichen wir etwa 20 – 40 % eines Geburtenjahrgangs über Bildungsprozesse weder kognitiv, noch emotional oder sozial. Das sind die sogenannten „Benachteiligten in der beruflichen Bildung“, die in einer Fülle von berufsvorbereitenden, -begleitenden bzw. -ersetzenden Maßnahmen und im günstigsten Fall in unattraktiven Ausbildungsgängen „geparkt“ werden, um dann zum größeren Teil an der nächsten Statuspassage (Übergang Ausbildung – Arbeitsmarkt) zu scheitern (vgl. u. a. BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND WISSENSCHAFT 2006).
2. Ein verändertes internationales Umfeld induziert einen europäischen Bildungsrechtsraum, der alle Ebenen institutionalisierter Erziehungs- und Bildungsprozesse betrifft und der Berufsbildung den Europäischen Qualifikationsrahmen (EQR) beschert hat.
3. Über die Neustrukturierung des öffentlichen Sektors hat sich die Gesetzeslage dahingehend verändert, dass eine neue Arbeitsschneidung zwischen Staat (strategisches Geschäft) und Bildungsinstitution (operatives Geschäft) implementiert wurde (s. o.).
4. Private Konzerne erweitern ihre Geschäftsbereiche um das Ressort „Bildung“ (vgl. CHE/Bertelsmann; Curriculumentwicklung: „Handelsblatt macht Schule“ etc.).
5. Die Implementierung (teilweise international) konkurrierender Modernisierungsstrategien im Bildungsbereich (vgl. u. a. Schulvergleichsstudien wie PISA, IGLU oder TIMMS etc.) schreitet weiter fort.
Der Staat steht mit Blick auf diese Problemlagen und Ursachengeflechten vor zwei entscheidenden generellen Herausforderungen:
· politisch-ideologisch ist eine (Neu)Bestimmung der Staatsziele und -aufgaben (auch für das Bildungswesen) zu leisten.
· administrativ-organisatorisch geht es um die (effektiven) Umsetzungsmöglichkeiten der beschlossenen Ziele über den Staatsapparat; (mindestens) eine Binnenmodernisierung im Sinne einer systematischen Organisations- und Personalentwicklung ist damit auch im Bildungswesen unumgänglich.
Für das Bildungssystem heißt das – unter der neuen Arbeitsschneidungsperspektive – konkret, dass die Ziele, also Bildung, Qualifikation, Wissen, Herrschaftssicherung, und dafür zur Verfügung stehende Ressourcen politisch geklärt und diesbezügliche Aufgaben der öffentlichen Bildungseinrichtungen reformuliert werden müssen; dazu bedarf es einer professionellen berufsbildungswissenschaftlichen Forschung als Grundlage für eine dringend notwendige wissenschaftliche Politikberatung.
Das New Public Management als Framing unterschiedlicher Handlungsprinzipien eines „schlanken Staates“ war als politische Forderung angesichts der Entwicklung von öffentlichen Haushaltsdefiziten relativ problemlos legitimier- und durchsetzbar. Die historisch herausgebildeten Staatsaufgaben werden über das New Public Management neu verteilt. Auch das Bildungswesen als eine spezifische (Non-profit-) Leistung der Allgemeinheit ist in diese Neuverteilung staatlicher Aufgaben involviert.
Ein neues Bildungsmanagement soll dafür Sorge tragen, zunächst alle Aufgaben des Bildungssystems auf ihren Beitrag zur Erfüllung des öffentlichen Bildungsauftrages hin so zu überprüfen, dass eine Entlastung des Staates von überkommenen, nicht effizienten Festschreibungen eintritt. Bisher war die gesellschaftliche Teilhabe die Logik, aus der sich die öffentlichen Dienste und somit auch das Bildungssystem und der Bildungsauftrag speisten (vgl. BUNDESVERFASSUNGSGERICHT 1973, Art. 20); insofern betont die Rechtsprechung eine „Bringschuld des Sozialstaates“. Die staatliche Leistungserbringung folgt nun offensichtlich einer veränderten (Finanz)Logik (vgl. auch zum Folgenden HUISINGA/ JAHN 2004). Diese werde an folgenden Prinzipien bzw. Instrumenten deutlich:
1. Das Prinzip der betriebswirtschaftlich definierten Effizienz: Es führt dazu, dass sich die staatliche Leistungserstellung immer mehr an dem dafür erforderlichen Marktpreis orientiert und weniger an der die Leistungserstellung gestaltenden bzw. erhaltenden politischen Funktion.
2. Das Prinzip der Aufgabenkritik: Es soll einerseits dauerhaft eine Überprüfung der Aufgabenerfüllung durch den Staat sicherstellen und andererseits prüfen, ob sie in der angemessenen Qualität erfolgt (Zweckkritik). Die Vollzugskritik richtet sich dagegen auf den zweckmäßigen Aufgabenträger.
3. Das Prinzip der Pluralstruktur von Leistungsanbietern: Es initiiert durch interne Vergleiche und simulierten Wettbewerb einen Quasi-Markt, der bei der Vergabe öffentlicher Aufträge eine steuernde Funktion einnimmt.
4. Das Prinzip der Trennung von strategischen und operativen Kompetenzen: Es dient der Neuordnung des Verhältnisses von Politik und Verwaltung. Entscheiden die politischen Instanzen über die Ziele und erwünschten Wirkungen gemeinwirtschaftlicher Leistungen, so erhalten die Verwaltungsorgane, wie z. B. die Einrichtungen des Bildungswesens, weitgehende Autonomie bezüglich der Realisierungsmöglichkeiten.
5. Das Prinzip der Outputorientierung: Es ist auf die Steuerung der den Verwaltungsorganen gewährten Autonomie gerichtet und lehnt sich an das ökonomische Modell einer Nachfrageinduzierung an.
6. Das Prinzip der Kunden- und Dienstleistungsorientierung: Es rekurriert auf Einfluss- und Mitsprachemöglichkeiten und dient der Erhöhung einer lokalen Demokratie. Hierzu gehören spezielle Instrumente der Beschwerdeführung, neue Führungshaltungen, aber auch Ansprüche an ein systematisches Qualitätsmanagement.
7. Das Prinzip der Selbststeuerung: Mit ihm wird – unter dem Label „nachhaltige Entwicklung“ – die Hoffnung auf Abbau von Ressourcenverschwendung ebenso verbunden wie auf eine Aktivierung ungenutzter Kapazitäten. Mit diesem Prinzip sollen die durch die Gewährung erweiterter Handlungsspielräume eine höhere Prozessrationalität erreicht werden.
8. Das Instrument der Leistungstiefe und des Kontraktmanagements: Es dient einer marktorientierten Reorganisation der administrativen Prozesse, die der Sicherung des Bildungsauftrages dienen (z. B. über Gebäudemanagement oder Personalleasing).
9. Das Instrument der Profil- und Programmbildung: Es schließt an der Nachfrageorientierung an und dient der regionalen Steuerung von Bildungsbedürfnissen, die jedoch in Einklang gebracht werden müssen mit den zugeteilten bzw. selbstgeschaffenen Ressourcen.
10. Das Instrument der bedingten Finanzautonomie: Es dient der Regulierung einer übermäßigen Anspruchshaltung hin zu einer internalisierenden Selbststeuerung mit Eigenverantwortung. Als Gerechtigkeitskriterien kommen dabei strategisches und operatives Controlling zum Einsatz zwecks Steuerung der Mittelverteilung.
11. Das Instrument der Evaluation und Qualitätssicherung: Es handelt sich dabei um ein Entwicklungsinstrument, um – nach vorheriger Abstimmung – Potentiale aufzuzeigen und Chancen der Entfaltung zu eröffnen.
In den skizzierten Prinzipien und Instrumenten lässt sich durchaus ein – in der Kontinuität des deutschen sozial- und wohlfahrtstaatlichen Handelns stehendes – Grundmotiv erkennen: das Subsidiaritätsprinzip. Dieses orientierte sich a priori an der Aufgaben- und Verantwortungsteilung zwischen Staat, Gesellschaft und Bürger. Im Subsidiaritätsprinzip enthalten ist das Prinzip der Verpflichtung, das unter den Bedingungen des New Public Managements konkretisiert wird zu einem Prinzip der Verpflichtung zur Mitwirkung. Entsprechend kann bei einer Mitwirkungs-Verweigerung auch ein Leistungsausschluss erfolgen.
Das neue Integrationsprinzip „Teilnahme“ substituiert das bisherige Integrationsprinzip „Teilhabe“. Die Dialektik dieser neuen Handlungsregulationen basiert einerseits auf Elementen einer neoliberalen Ökonomik, konstituiert sich andererseits aber auch durch kommunitaristische Elemente. Insofern haben wir es gleichzeitig mit einer Kontextsteuerung „von oben“ und einer zivilen Bürgergesellschaft „von unten“ zu tun. Dabei muss die ökonomische Handlungsrationalität nicht notwendig die soziale dominieren. Der Prüfstein im Bildungswesen, dies zeigt der wissenschaftliche Diskurs mehr als deutlich, ist die Überwindung der Semi-Professionalität zugunsten einer grundständigen Professionalisierung des Lehrerstandes; ähnliches ist m. E. für die übrigen Bereiche mit öffentlichen Aufgaben zu konstatieren, aber nicht zuletzt auch für den Bereich der privatwirtschaftlich orientierten kaufmännischen Sacharbeit, die sich traditionell eng am öffentlich-rechtlichen Sektor orientiert.
Die öffentlichen Verwaltungen, das Gesundheitswesen, Banken und Versicherungen, die Sozialversicherungsträger aber auch der Handel etc. werden durch das ökonomische Handlungsparadigma gezwungen mit Blick auf eine Qualitätssteigerung der Dienstleistungsprozesse bzw. auf die Outputorientierung auch die Ausbildung der Beschäftigten in die Analyse und Bewertung der historisch entstandenen Engpässe einzubeziehen. Insofern stellen die neuen Steuerungsmodelle und speziell das New Public Management für die Fragen des Selbstverständnisses der Berufsbildungswissenschaft einen doppelten Begründungsrahmen dar:
1. Zum einen nehmen die neuen Steuerungsmodelle die Berufsbildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler in die Pflicht, die eigene Aufgabenerfüllung im Hinblick auf gesamtgesellschaftliche Bedarfe (wie eben den Bildungsauftrag, Allokations-, Selektions- und Qualifikationsfunktionen etc.) zu prüfen und ggf. zu optimieren. Dazu gehört dann m. E. auch eine Optimierung curricularer Gestaltungsprozesse auf der Basis einer (berufs)bildungswissenschaftlichen Qualifikationsforschung.
2. Zum anderen bilden die neuen Steuerungsmodelle die Folien für veränderte Arbeitsschneidungen in öffentlichen, privatwirtschaftlichen und privaten Handlungsfeldern, in Profit- wie in Non-Profit-Institutionen, durch die Freisetzungs- und (Neu)Vergesellschaftungsprozesse von Arbeit initiiert werden. Diese gilt es im Rahmen (berufs)bildungswissenschaftlicher Qualifikationsforschung in den Blick zu nehmen.
Wir haben es auf der einen Seite also mit einer deutlichen Erhöhung der Autonomie der Akteure auch in der Bildungsforschung und den Bildungsinstitutionen zu tun, die jedoch in eine an überprüfbarer Aufgabenerfüllung gekoppelte Mittelverteilung eingebunden ist. Die Berufsbildungswissenschaft ist dazu aufgefordert, sehr genau zu prüfen, was sie – und in der Folge die Institutionen des Berufsbildungswesens – zur Erfüllung des öffentlichen Bildungsauftrages beitragen, wo ihre Grenzen liegen (und damit andere z. B. politische Lösungen gefragt sind) und wo sie ggf. versagt hat (Defizitanalyse) und dieses transparent und damit interner wie externer Evaluation zugänglich zu machen. Die Aufgabenerfüllung allerdings erfordert professionelle wissenschaftliche Ziel- und Bedingungsanalysen, die dem Komplexitätsgrad gesellschaftlicher Verhältnisse entsprechen, um auf dieser Basis die Arbeitsfelder und Themen (berufs)bildungswissenschaftlicher Theoriebildung zu legitimieren und die inhaltliche Ausgestaltung in den Handlungsfeldern (Lehrerbildung, Schulentwicklung, Curriculumentwicklung, Gestaltung von Lehr-Lernsituationen, pädagogische Diagnosen oder Lernstandserhebungen) zu ermöglichen.
Es sind insbesondere die Widersprüchlichkeiten, Antinomien, Ungleichzeitigkeiten der skizzierten Entwicklungen und Anforderungen, aber auch ihre Chancen und Gestaltungsoffenheit, die im (berufs)bildungswissenschaftlicher Diskurs zu erörtern wären, um über eine daran rückgebundene Theoriebildung die Grundlage für professionelles Handeln in den Bildungsinstitutionen zu schaffen. Diese Professionalität ist unabdingbare Voraussetzung zur Nutzung der Autonomiespielräume, um Bildungsprozesse zu initiieren, die zur Sicherung von Emanzipation, Autonomie und gesellschaftlicher Teilhabe- bzw. Teilnahmemöglichkeiten beitragen.
Das Selbstverständnis der Berufsbildungswissenschaft ist zwar zunächst konkret auf die speziellen Kontexte von Erwerbsarbeit gerichtet, daran allerdings wäre das zugrunde liegende Allgemeine zur Aufklärung zu bringen, um die nachwachsende Generation im Hinblick auf Erwerbsarbeit, öffentliche Arbeit und private Reproduktionsarbeit urteils-, handlungs- und gestaltungsfähig zu machen; auch insbesondere mit Blick auf die mit der neuen Steuerungslogik initiierte Neukonfiguration der drei Bereiche.
Die Berufsbildungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler verfügen als „klassische“ Schnittstellenakteure zwischen Bildungs- und Beschäftigungssystem über notwendige Forschungs- und Entwicklungspotentiale in diesem Feld, die fruchtbar in den neuen, notwendigerweise transdiziplinären Diskurs eingebracht werden könnten, ohne dabei sich selbst zu überhöhen: Hinsichtlich der in Transformationsprozessen zu erwartenden Konflikte, Friktionen, Reibungen, Brüche etc., wenn zum Beispiel Ziele bzw. Erkenntnisinteressen der Akteure differieren bzw. inkompatibel sind, Informationsdifferenzen Einsichten verwehren, liebgewonnene Besitzstände zur Disposition stehen etc. verfügen sie einerseits aufgrund ihres Gegenstandsbereichs über ein diskursorientiertes „Erfahrungswissen“, andererseits aber auch über Wissensbestände, die angesichts der skizzierten historisch neuen Qualität von notwendiger Modernisierungsrationalität im Sinne der Expertise zu reorganisieren wären. Über diese berufsbildungswissenschaftliche Expertise wäre insbesondere bei der Neufiguration von dreierlei Arbeit die Subjektbildungsratio zu sichern und zwar zu Lasten der bisher –vornehmlich wie mäßig erfolgreich – bemühten ökonomischen Ratio.
In diesem Zusammenhang sind drei neuralgische Aufgabenbereiche hervorzuheben bzw. Forschungsdesiderate für eine prospektive Berufsbildungsforschung zu diagnostizieren:
1. Die Integrationsfunktion des (Berufs)Bildungssystems ist – der elaborierten Bildungsberichterstattung folgend – kritisch zu hinterfragen: So weisen die Berufsbildungsberichte wie die beiden nationalen Bildungsberichte eine Quote von rund 30% eines Jahrgangs aus, die das Bildungssystem entweder ohne Abschluss oder mit einem Abschluss verlassen, so dass der Übergang in ein Ausbildungs- bzw. Erwerbsarbeitsverhältnis zunehmend häufiger erschwert bzw. unmöglich wird. Kompetenzorientierte internationale Schulvergleichstests (u. a. PISA) erteilen dem deutschen Bildungssystem im Hinblick auf die Realisierung von Chancengleichheit und Teilhabemöglichkeiten insgesamt eine deutliche Absage.
2. Auch die Evaluierung der Qualifikationsfunktion des (Berufs)Bildungssystems wäre angesichts der Diskusionen um den Bedeutungsverlust von Bildungszertifikaten als Berechtigungen als phänomenologischer Ausdruck der vorne skizzierten Passungsproblematiken (time lags, Missmatches etc.) und der empirisch belegbaren ökonomischen, sozialen und politischen Entmischungen als systematische und langfristige Sicherungsaufgabe zu begreifen.
3. Nicht zuletzt ist auch die Allokationsfunktion des (Berufs)Bildungssystems als Gegenstand berufsbildungswissenschaftlicher Forschung und Entwicklung in den Blick zu nehmen, dann u. a., wenn eine Verwissenschaftlichung aller gesellschaftlichen Teilbereiche mit entsprechender Expertise einerseits und eine auf Erfahrungswissen basierende Curriculumentwicklung und Bildungsganggestaltung anderseits zunehmend auseinanderfallen (vgl. BUCHMANN 2004) und damit weitreichende Fehlallokationen provozieren.
Ein im aufgezeigten Sinn verstandenes disziplinäres Selbstverständnis der Berufsbildungsforscherinnen und -forscher ist auf die Sicherung von Bildungsprozessen gerichtet, die eine Entwicklung von Urteils-, Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit in den antinomischen Bezügen von Freiheit und Verantwortung ermöglichen. Diese ist als eine fundamentale Voraussetzung dafür zu begreifen, die aktuelle bildungspolitische Zäsur – trotz oder gerade wegen des erhöhten Risiko- und Gefährdungspotentials – als günstige politische Gelegenheitsstruktur zugunsten einer Neuorientierung im Sinne der Zivilgesellschaft zu nutzen.
[1] Wie an anderer Stelle ausführlich begründet (vgl. BUCHMANN 2007) benutze ich den Terminus Bildungswissenschaft synonym für Erziehungswissenschaft und Berufsbildungswissenschaft statt Berufs – und Wirtschaftspädagogik.
[2] Nach achtjährigen Verhandlungen einigten sich am 15. April 1994 die Unterzeichnerstaaten des GATT in Marrakesch auf eine Abschlusserklärung, die die sogenannte Uruguay-Runde beendete und die Strukturen der Welthandelspolitik grundlegend veränderte. Gab es bis dahin nur das GATT, ein 1947 geschlossenes Abkommen, mit dem in mehreren Verhandlungsrunden Zölle und Handelsbeschränkungen für Waren abgebaut wurden, so entstand nun die Welthandelsorganisation (WTO). Die WTO ist nicht mehr nur ein Vertrag, sie ist eine internationale Organisation mit Sitz in Genf, mit - bedingt durch einen eigenen Streitschlichtungsmechanismus (Dispute Settlement) - einiger Durchsetzungskraft. Ein festgelegter Zeitplan verhindert ein Verschleppen der Verfahren und da die Ablehnung eines Berichts nur im Konsens geschehen kann, erhalten die Entscheidungen faktisch automatisch Rechtskraft. Zwar hatte auch das GATT ein eigenes Sekretariat und Mechanismen zur Streitschlichtung, diese waren jedoch häufig langwierig und weit weniger durchsetzungsfähig. Neben der organisatorischen Struktur hat sich aber insbesondere auch der Aufgabenbereich verändert und geht nun weit über den Handel mit Waren hinaus. Im Wesentlichen umfasst das Vertragswerk der WTO drei Abkommen:
(1) das seit 1947 bestehende GATT,
(2) das Dienstleistungsabkommen GATS und
(3) das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS).
[3] Vordergründig zumindest scheint die neue Logik durchaus erfolgreich zu sein: Die Staatquote konnte seit ihrem letzten Höchststand im Jahr 1996 (49,3%) auf nunmehr 43,2% (2008) gesenkt werden (Quelle: BMBF, OECD).
[4] An dieser Stelle kann nur auf die Gesamtproblematik der veränderten Wertschöpfungslogik und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Funktionsveränderungen zwischen Produktions- und Reproduktionsstrukturen (Stichwort: „Gewinnen durch Sparen“) hingewiesen werden.
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