Editorial bwp@ 20
Editorial von Tade Tramm, H.-Hugo Kremer & Ralf Tenberg
15 Jahre Lernfeldkonzept waren Ausgangspunkt und Anlass für das Thema der Ausgabe 20 von bwp@. Vor 15 Jahren fokussierte sich ein erheblicher Teil der Forschung im berufs- und wirtschaftspädagogischen Raum auf fächerübergreifenden und handlungsorientierten Unterricht. Am 9. Mai 1996 wurde durch den Unterausschuss für berufliche Bildung der Kultusministerkonferenz das Lernfeldkonzept in Form einer Handreichung für die Gestaltung berufsschulischer Rahmenlehrpläne vorgelegt. Dies wurde als curriculare Konsequenz einer Gesamtbefundlage begründet, welche eine Fächerstrukturierung mit expliziten, kleinschrittigen Lernzielen als dysfunktional für die Förderung der beruflichen Handlungskompetenz im Unterricht konstatierte. Zudem bestand großes Interesse daran, durch einen Lehrplan, der sich an beruflichen Handlungen orientiert, einen „traditionellen“ Unterricht, der als lehrerzentriert, inhaltslastig und berufsfern angesehen wurde, zu überwinden.
Die wenigen Studien, die sich mit der Frage nach der Quantität und Qualität der Lernfeldimplementierung befassen (z. B. CLEMENT 2002; KREMER 2003 oder verschiedene Beiträge in bwp@ 4 ), legen Befunde vor, die zum Nachdenken veranlassen. Sie legen nahe, dass weder die mit dem Lernfeldkonzept zentral intendierte Verbreitung handlungsorientierten Unterrichts in komplexen Lehr-Lern-Arrangements flächendeckend um sich gegriffen hat, noch die erwartete Entwicklung der Arbeitsorganisation von Lehrerinnen und Lehrern vom „Einzelkämpfertum“ zur kollegialen Teamarbeit. Dem gegenüber steht eine anhaltende Fundamentalkritik des Ansatzes, in der nicht nur dessen theoretische und empirische Fundierung in Frage gestellt werden, sondern auch die von der Kultusministerkonferenz vorgenommene Konzeptionalisierung und die länderspezifische Implementierung (vgl. z. B. BRUCHHÄUSER 2009).
Wie der aktuelle Stand der Lernfeldimplementierung und alle damit zusammenhängenden Teilaspekte tatsächlich einzuschätzen sind, kann jedoch weder aus den vorliegenden wissenschaftlichen Befunden noch aus den disparaten Informationen aus Schulen, Studienseminaren, Landesinstituten und Ministerien mit hinreichender Klarheit und Sicherheit festgestellt werden.
Mit der aktuellen Ausgabe von bwp@ möchten wir die in den letzten Jahren eher an den Rand gedrängte Diskussion um das Lernfeldkonzept neu beleben und damit zu einer Positionsbestimmung für die weitere Entwicklung des Lernfeldansatzes beitragen. Sie knüpft dabei an die Ausgabe 4 von bwp@ aus dem Jahre 2003 an und will erneut ein Forum für theoretisch-konzeptionelle Beiträge, empirische Analysen und innovative Entwicklungen aus dem Praxisfeld bieten.
Wir bündeln die eingegangenen Beiträge in drei thematische Cluster:
Eine erste Gruppe von Beiträgen befasst sich unter der Überschrift „Konzeptionelle Grundlagen des Lernfeldkonzepts“ aus einer historischen und systematischen Perspektive mit dessen Entwicklung, Rezeption sowie Perspektiven seiner Weiterentwicklung:
„Wollten wir, was daraus wurde?“ überschreibt DETLEF BUSCHFELD die von ihm aus der Perspektive eines damals beratend teilnehmenden Beobachters bei den Mitgliedern der Lehrplankommission Industriekaufleute von 2000 erhobene retrospektive Bilanz dieser curricularen Innovation. „Ja“, resümiert er deren Äußerungen, wenn auch vieles langsamer als damals gedacht verlaufen sei, gelte doch, dass die „gewordene Vielfalt“ gewollt und der Preis für die intendierten „offenen und realistischen Lehrpläne“ sei.
„Ist das Glas nun halbvoll oder halbleer“ fragt TADE TRAMM in seinem „Beitrag zur berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskussion des Lernfeldkonzepts als (späte) Antwort auf eine Fundamentalkritik von Holger Reinisch“, die dieser im Jahre 2003 (also zur Halbzeit dieser 15 Jahre Retrospektive) in bwp@ 4 veröffentlicht hatte. Was Reinisch als letztlich irreparable Konstruktionsfehler interpretierte, wird in diesem Beitrag als spezifische Gefährdung des Konzepts gedeutet, die nach geeigneten kompensatorischen Strategien verlangt, um letztlich das innovative Potenzial des Lernfeldkonzepts zur Geltung bringen zu können.
Unter dem Titel „Kompetenzorientierung statt Performanzorientierung: Ein neuer Lehrplan des beruflichen Gymnasiums als Prototyp für den nächsten Schritt im Lernfeldkonzept“ identifiziert RALF TENBERG zwei aus seiner Sicht grundlegende konzeptionelle Problembereiche des Lernfeldkonzepts als Ausgangspunkt einer Formatveränderung, deren Grundansatz darin liegt, lernfeldbezogene und lernfeldübergreifende Kompetenzen so als Ziele zu konkretisieren, dass in den Lehrplänen „Dubletten aus Lernhandlungen und korrespondierendem Wissen“ ausgewiesen werden. Dies wird am Beispiel des so erstmalig konzipierten Hessischen Lehrplans für berufliche Gymnasien exemplarisch verdeutlicht.
ANNE BUSIAN setzt sich in ihrem Beitrag mit dem für das Lernfeldkonzept zentralen Konstrukt der Geschäftsprozessorientierung auseinander und untersucht, inwiefern „dieses originär betriebswirtschaftliche Postulat … geeignet ist, die Zielgrößen beruflicher Bildung auszuschärfen und die Curriculumkonstruktion zu beeinflussen“. Ihre Erörterung fokussiert dabei den systematischen Status der Geschäftsprozessorientierung im Spannungsfeld von Wissenschafts-, Situations- und Subjektorientierung und konstatiert verschiedene Unklarheiten und Forschungsdesiderate, die sich aus deren Verwendung in den Handreichungen der KMK ergeben.
In seinem Beitrag „Zur Verknüpfung von kaufmännischen und mathematischen Kompetenzen“ diskutiert JAN HENDRIK STORK am Beispiel von mathematischen und kaufmännischen Kompetenzen im Ausbildungsberuf Einzelhandelskaufmann/-frau die Frage, welche fachlichen Teilkompetenzen notwendig sind, um in einer spezifischen beruflichen Domäne erfolgreich handeln zu können und wie diese Teilkompetenzen zusammenhängen. Die besondere Relevanz dieser Diskussion ergibt sich aus den Analogien zur problematischen Dichotomisierung von Handlungssystematik und Fachsystematik im Kontext der Lernfelddebatte.
Eine zweite Gruppe von Beiträgen setzt sich aus verschiedenen Perspektiven mit Aspekten der „Implementation des Lernfeldkonzepts“ auseinander.
ALEXANDRA EDER und ANNE KOSCHMANN geben einen Einblick in eine mehrperspektivische Studie mit der Fragestellung ob und wie die Lernfeldlehrpläne die Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern an berufsbildenden Schulen beeinflusst hat. Ihre Untersuchung an verschiedenen niedersächsischen Berufsschulen geht von dem hohen Anspruch der neuen Lehrpläne aus, erst auf Schulebene präzisiert und konkretisiert zu werden, der sog. schulspezifischen Curriculumentwicklung, welche – nach Ansicht der Lehrplangremien – in Teamarbeit erfolgen sollte. Ihre Befunde deuten an, dass diese Idee einer curricular induzierten Veränderung beruflich tradierter Arbeitsorganisation aktuell eher Wunsch denn Realität ist.
In einem Beitrag von MARTINA HÖRMANN wird die Entwicklung und Umsetzung lernfeldstrukturierter Curricula in der Altenpflege so dargestellt, dass einerseits die Spezifika dieses Berufs deutlich werden und andererseits die dabei nicht triviale Herausforderung, auf dessen Lehrplan die Grundideen der Lernfeldorientierung zu übertragen. Beginnend mit einem Aufriss der Ausgangslage wird Schritt für Schritt die Lehrplangenese beschrieben und an Beispielen erläutert. Als Besonderheit wird hier die enge Verschränkung der Lernfelder des Lehrplans mit jenen der Altenpflegeausbildungs- und -prüfungsverordnung dargestellt und so auch in eine mögliche Zukunft geblickt, in der die Korrespondenz zwischen den beiden Ordnungsmitteln von Schulen und Betrieben verbessert werden könnte.
Im Aufsatz von NINA BOCKSROCKER wird die Thematik der Sprachkompetenz als Desiderat der Lernfeldlehrpläne akzentuiert. In einer Gegenüberstellung der „Berufssprache“ und der „Jugendsprache“ werden die Sprachförderdiagnostikmodelle der baden-württembergischen Lehrpläne für Berufsschulen analysiert und kritisiert und daraus die Notwendigkeit einer bundeseinheitlich vorzugebenden Erweiterung des Lernfeldkonzepts hergeleitet. Für diese Erweiterung wird ein fünfgliedriges Fördermodell referiert, welches sowohl der Sprachkompetenz als auch der interkulturellen Kompetenz einen höheren Stellenwert in der dualen Ausbildung verleihen könnte.
Der dritte Block – „Impulse des Lernfeldkonzepts für Reformen der beruflichen Bildung“ – richtet das Augenmerk darauf, in welcher Weise vom Lernfeldkonzept Impulse für die Veränderung von Strukturen und Prozessen an beruflichen Schulen ausgegangen sind und wie dieses Konzept mit anderen Innovationsbereichen der beruflichen Bildung verzahnt ist.
CARMELA APREA setzt die Frage, welche Kompetenzen Lehrkräfte für die sachgemäße Implementierung des Lernfeldkonzepts benötigen und wie deren Erwerb in geeigneter Weise gefördert werden kann, als Ausgangspunkt ihres Aufsatzes. Dabei rückt sie die Planung und Ausarbeitung komplexer Lehr-Lern-Arrangements in den Mittelpunkt und stellt ein an der Universität Mannheim entwickeltes Konzept des aufgabenorientierten Coachings sowie erste empirische Befunde zu dessen Wirksamkeit vor.
Bezogen auf die gleiche Herausforderung stellen ROBERT W. JAHN, MATHIAS GÖTZL, ANKE SEEMANN, HOLGER REINISCH und TANA STARK das Modellvorhaben „Curriculumwerkstatt“ vor, das in Kooperation des Lehrstuhls für Wirtschaftspädagogik der FSU Jena mit dem Studienseminar Ilmenau durchgeführt wird. Im Zentrum der curricularen Entwicklungswerkstatt, über deren Begründung, Anlage und Umsetzung der Aufsatz berichtet, steht die gemeinsame Planung, Umsetzung und Evaluation von Unterrichtsvorhaben im Lernfeldkontext durch Studierende und Lehramtsanwärter.
Einen am BIBB entwickelten Vorschlag für ein einheitliches und systematisches Konzept zur Gestaltung kompetenzbasierter Ausbildungsordnungen stellen BARBARA LORIG, DANIEL SCHREIBER, CHRISTIN BRINGS, TORBEN PADUR und NICOLE WALTHER in ihrem Beitrag „Konzept und Gestaltung kompetenzbasierter Ausbildungsordnungen“ zur Diskussion. Zentrale Aspekte dabei sind Überlegungen zum Kompetenzverständnis, zur Kompetenzmodellierung und zur prozessbezogenen Curriculumentwicklung, die die Analogien zur Lernfelddiskussion deutlich zutage treten lassen.
Mit den jetzt vorgelegten Beiträgen ist die Bestandsaufnahme zu 15 Jahren Lernfeldkonzept in bwp@ 20 keinesfalls abgeschlossen. Den Möglichkeiten dieses Mediums folgend werden in einigen Updates während der nächsten Monate weitere Beiträge veröffentlicht, die die Diskussion um zusätzliche Facetten erweitern werden. Neben bereits angekündigten und ggf. als Reaktion auf die hier vorgelegten Arbeiten noch zu erstellenden Texten betrifft dies insbesondere eine Reihe von Beiträgen, die aus Vorträgen im Rahmen der Fachtagung Wirtschaft und Verwaltung der Hochschultage Berufliche Bildung in Osnabrück im März 2011 entstanden sind, die unter dem Titel „Zwischenbilanz des Lernfeldkonzepts – erfolgreiche Neuorientierung oder Irrweg?“ stattfand.
Schließlich freuen wir uns, in den thematischen Rahmen dieser Ausgabe von bwp@ eine Rezension von WOLFGANG LEMPERT einbinden zu können, die wir, auch wenn sie sich weder formal noch inhaltlich bruchlos in das Format dieser Publikation einfügt, als besondere Bereicherung sehen und unseren Lesern nicht vorenthalten wollten: „Nicht Eilen, nein: Teilen ist an der Zeit! Von der Ökonometrie zur Wirtschaftsethik“ überschreibt LEMPERT seinen „durch das Meisterwerk von AMARTYA SEN: Die Idee der Gerechtigkeit“ angeregten Rezensionsartikel. In dem Werk des indischen Nobelpreisträgers für Wirtschaftswissenschaften geht es, wie LEMPERT resümiert, „um die Begründung und Durchsetzung einer weltweiten Umverteilung knapper Ressourcen, die im Interesse der gleichen Freiheit aller Menschen zu deren Entfaltung nötig erscheint“.
Den Herausgebern erscheint der Beitrag LEMPERTs als Kontrapunkt einer Debatte sinnvoll, ja notwendig, die nicht selten dazu tendiert, berufliche Bildungsprozesse einer Produktionslogik zu unterwerfen und pädagogische Fragestellungen über Gebühr zu ökonomisieren. Demgegenüber sehen wir es als hilfreich an, den für viele Berufe zentralen, für alle aber zumindest unverzichtbaren Gegenstand der Ökonomie zumindest insoweit produktiv zu hinterfragen, dass über die auch im Lernfeldkontext weiterhin prägenden, betriebswirtschaftlich-funktionalistischen oder volkswirtschaftlich-neoliberalen Perspektiven hinaus eine Reihe anderer Fragen in den Horizont der beruflichen Bildung einbezogen werden müssen.
Tade Tramm, H.- Hugo Kremer & Ralf Tenberg
im Juni 2011