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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

FT03 - Bau, Holz, Farbe und Raumgestaltung
Herausgeber: Sabine Baabe-Meijer, Werner Kuhlmeier & Johannes Meyser

Titel:
Übergänge gestalten – Konzepte, Erfahrungen und Perspektiven in den Fachrichtungen Bautechnik, Holztechnik sowie Farbtechnik und Raumgestaltung


Ästhetische Bildung in den Berufsfeldern Bau-Holz-Farbe – eine Chance für Jugendliche im Übergangssystem und in der beruflichen Ausbildung

Beitrag von Sabine BAABE-MEIJER (Regionales Berufsbildungszentrum Mölln)

Abstract

Ziel des Beitrages ist es Möglichkeiten aufzuzeigen, wie durch Aufgaben, Übungen und Projekte zur Förderung der Wahrnehmung Jugendlichen im Übergangssystem ein Zugang zur Lebens- und Arbeitswelt sowie zu sich selbst eröffnet werden kann. Ästhetische Bildung wird hier weniger als die Lehre und die Erfahrung des Schönen als vielmehr in Anlehnung an den griechischen Begriff „aisthesis“, der mit Wahrnehmung zu übersetzen ist, als Förderung derselben aufgefasst. Eine Möglichkeit hierzu stellt das Projekt „Barfußpark“ dar, das in einer Klasse des Ausbildungsvorbereitendes Jahr (AVJ) am Regionalen Berufszentrum (RBZ) Mölln durchgeführt wird. Die Entwicklung der Fähigkeit, Bauten und Räume zu errichten, sie einzurichten und farbig zu gestalten, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der ästhetischen Kompetenz. Es werden kreative Wege aufgezeigt, wie in kleinen Schritten mittels Aufgaben zur Förderung der Wahrnehmung vor allem Türen zu denjenigen Jugendlichen im Übergangssystem geöffnet werden können, die auf der Suche nach einem Platz in den Berufsfeldern Bautechnik, Holztechnik sowie Farbtechnik und Raumgestaltung sind bzw. ihn dort zumindest für eine Phase des Übergangs bereits gefunden haben.

1 Einführung und Problemstellung

Es gibt verschiedene Entwicklungen, in denen die Entscheidung für das Thema dieses Beitrages zur Förderung der ästhetischen Bildung in den Berufsfeldern Bau-Holz-Farbe begründet liegt. Einen Anlass bietet die immer häufiger zu vernehmende Feststellung, dass Jugendliche und junge Erwachsene heute verstärkt Lernschwächen, Störungen wie ADHS oder Dyskalkulie aufweisen, unter Konzentrationsstörungen und/oder psychischen Problemen leiden. Hinzu kommen vor allem in Großstädten Defizite im Bereich der motorischen Leistungsfähigkeit. Viele Kinder könnten heute nicht mehr richtig rückwärts gehen oder auf einem Bein stehen. In jüngerer Zeit wird auch dem Problem des Autismus verstärkt Beachtung geschenkt, beispielsweise im Rahmen eines schulübergreifenden Fachtages „Autismus und Schule“ im Februar 2011 in Schleswig-Holstein.

Die Ursachen für Störungen liegen nicht selten bereits in der frühen Kindheit. Das Online-Magazin der Zeitschrift „Focus“ meldete im Februar 2011 über Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern, dass "mehr als jedes vierte Kind zwischen sechs und 18 Jahren eine Sprachtherapie erhielt und fast jedes fünfte eine Ergotherapie und Krankengymnastik. Mindestens eins von zehn Kindern war bereits in psychotherapeutischer Behandlung" (FOCUS 2011, online-Ausgabe). Hierbei handelt es sich vorrangig um diejenigen Kinder, die im Rahmen der Vorsorge-Untersuchungen als behandlungsbedürftig erkannt bzw. erfasst worden sind. Andererseits zeigen KRETSCHMER und GRIEWALD in einer Untersuchung zur motorischen Leistungsfähigkeit von Grundschulkindern, dass deren motorische Leistungen kaum schlechter sind, als es vor 15 Jahren der Fall war. Von einem Trend zu schlechteren Leistungen könne nicht gesprochen werden (vgl. KRETSCHMER/ GRIEWALD 2000).

Doch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass gerade Jugendliche im Übergangssystem mit den oben beschriebenen Problemen zu kämpfen haben und dadurch in ihren Möglichkeiten, in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft bisweilen stark eingeschränkt sind. Lehrkräfte, Sozialpädagogen, Schulpsychologen und andere, die mit der Aufgabe betraut worden sind, sie in ihren Möglichkeiten zu fördern und mit ihnen zu arbeiten, suchen nach Wegen, um erst einmal einen Zugang zu ihnen zu finden und eine gemeinsame Basis zu schaffen, damit die Jugendlichen überhaupt die Bereitschaft entwickeln, mit ihnen zu kooperieren.

Es ist auffällig, dass Jugendliche nicht selten Probleme haben, ihre Umwelt und ihre Mitmenschen wahrzunehmen bis hin zur unzureichend ausgeprägten Wahrnehmung der eigenen Person. Eine Voraussetzung ist, um mit Jugendlichen gemeinsam zu arbeiten, dass sie in der Lage sind, ihre eigenen Stärken zu erkennen und selbst zu entscheiden, in welchen Bereichen sie an sich arbeiten möchten. Dieses ist nicht zuletzt auch die Basis für die Arbeit auf dem Gebiet der pädagogischen Diagnostik. Hierzu ist die Fähigkeit der Wahrnehmung einschließlich der eigenen Selbstwahrnehmung zu entwickeln und zu fördern. Mit dieser Aufgabe beschäftigen sich heute Vertreter der ästhetischen Bildung.

In diesem Beitrag werden Möglichkeiten aufgezeigt, die Jugendlichen einen besseren Zugang zu ihrer Lebens- und Arbeitswelt und zu sich selbst eröffnen können.

2 Wege zur Förderung der Wahrnehmung

2.1 Die Förderung der Wahrnehmung – Grundanliegen ästhetischer Bildung

Was hat Ästhetik mit der Förderung der Wahrnehmung zu tun? Die Erklärung bietet ein Blick auf  den etymologischen Ursprung des Wortes Ästhetik.

Grundsätzlich sind zwei Bedeutungskomponenten von Ästhetik geläufig:

·  Die Lehre von der Wahrnehmung und

·  Die Lehre vom Schönen und der Erfahrung des Schönen (vgl. PRECHTL/ BURKARD 1999).

Über viele Jahrhunderte wird Ästhetik auf das Schöne oder Kunstschöne reduziert, nicht zuletzt durch Philosophen wie Baumgarten, Kant oder Hegel. Dieses ist nach heutigem Forschungsstand nicht mehr haltbar und entspricht nicht dem Stand der aktuellen ästhetischen Formung.

Grundsätzlich bedeutet „aisthesis“ (griech.): Wahrnehmung. Das Adjektiv „aisthetikos“ bedeutet: „(sinnlich) wahrnehmend“.

Ästhetisch ist demnach alles, was unsere Sinne anregt und in uns Empfindungen und Gefühle hervorruft. Dieses beschränkt sich nicht nur auf schöne und angenehme Empfindungen. In der Antike wird zwischen sinnlichen Erkenntnissen und logischen Unterscheidungen differenziert. Im 18. Jahrhundert wird mit dem philosophischen Zweig der Ästhetik eine kritische Gegenposition zum Rationalismus der Aufklärung begründet. In dieser Zeit entwickelt sich das Verständnis von Ästhetik als der „Philosophie der Kunst“ (vgl. peez 2002).

Für die berufliche Bildung wird ästhetische Bildung in Anlehnung an Aschenbrenner als ein Prozess verstanden, der Wahrnehmungen jeglicher Art so initiiert, dass Schülerinnen und Schülern ein zunehmend differenzierteres Weltbild vermittelt und dadurch ihre kreative Handlungskompetenz erweitert wird (vgl. ASCHENBRENNER 2004, 103).

Heute wird das Ästhetische nicht allein in den Bereich der kulturellen oder ästhetischen Bildung „abgeschoben“. Es geht um die Entwicklung der Sinne, der Empfindungsfähigkeit als eine zentrale Aufgabe von Bildung überhaupt. Ästhetische Bildung zielt auf die Bildung der reflexiven Wahrnehmungs- und Empfindungsfähigkeit, gebunden an die Fernsinne Auge und Ohr, an die Nahsinne Tasten, Riechen, Schmecken sowie an den Gleichgewichtssinn (vgl. PEEZ 2002).

Eigene Erfahrungen, eigenes Erleben sind wesentliche Voraussetzungen dafür, dass junge Menschen in Freizeit und Beruf die Welt, in der sie leben, aufmerksam beobachten und wahrnehmen. Wahrnehmungen mit allen Sinnen setzen einen Prozess in Gang, der „Bilder“ unterschiedlichster Art im Kopf verankert. Hierfür fehlen im alltäglichen Leben vor allem in Großstädten oftmals die notwendigen Voraussetzungen. Daher sind zum einen auch in beruflichen Schulen Gegebenheiten zu schaffen, um sinnliche Wahrnehmungen zu fördern. Zum anderen kann bei Aufgabenstellungen, die Problemlösungen erfordern, auf jene allgemeine Problemlösekompetenz zurückgegriffen werden, die als Kreativität in der Arbeitswelt gefordert wird, indem aus und mit der Fülle der „Bilder“ neue Verknüpfungen und Modifikationen erstellt werden (vgl. ASCHENBRENNER 2004, 103).

2.2 Möglichkeiten zur Förderung der Wahrnehmung in der beruflichen Ausbildung

Als generelles Prinzip gilt: Zur Förderung der Wahrnehmung sind Lernsituationen zu schaffen, in denen gezielt die Wahrnehmung gefördert wird. Mit Blick auf die drei Fachrichtungen Bau, Holz und Farbe kann es beispielsweise darum gehen, das Aussehen und die Farben, die Eigenschaften der Materialien differenziert wahrzunehmen, mit denen gerade gearbeitet wird. Um Holzarten genau unterscheiden zu können, ist es notwendig ihre Farben und Strukturen genau zu kennen. Insbesondere in der Farbtechnik geht es darüber hinaus auch darum, diese Farben nachmischen zu können und deren Wirkung beispielsweise im Rahmen der Planung der farblichen Gestaltung eines Innenraumes einzubeziehen. Im Unterricht der Berufsschule für das Maler- und Lackiererhandwerk kann dieses beispielsweise im Lernfeld 9 „Innenraumgestaltung“ geschehen. In diesem Zusammenhang können gezielt Lernaufgaben eingesetzt werden, in denen einzelne Holzarten genau wahrgenommen werden, deren Strukturen zeichnerisch und die farbliche Wirkung mit Farben dargestellt werden (vgl. BAABE 2002). Auf diese Weise können ansprechende Ergebnisse erzielt werden, die den Jugendlichen ein Erfolgserlebnis ermöglichen und auf längere Sicht auch zu zufriedenen Kunden führen. Der Umgang mit Farben erfordert eine genaue visuelle Wahrnehmung, die immer wieder neu geübt und gezielt entwickelt werden muss. Dieses betrifft auch die Farbgestaltung von Fassaden und von Architektur. Eine genaue Wahrnehmung ist Voraussetzung, um das Schöne in der Architektur und ihrer (farbigen) Gestaltung zu erkennen. Nur durch die erworbene Fähigkeit, selbsttätig Formen und Farben in Beziehung zu der wahrgenommenen Architektur zu bringen, kann deren Schönheit immer wieder neu hervorgebracht werden.

2.3 Förderung der Wahrnehmung im zweijährigen AVJ: Projekt „Barfußpark“

Für den Bereich der Ausbildungsvorbereitung sind besondere Bedingungen und andere Ziele zu berücksichtigen. Der Anteil von benachteiligten, lernschwachen und verhaltensauffälligen Jugendlichen in dieser Schulform ist erfahrungsgemäß höher als in der beruflichen Ausbildung im Dualen System. Um sie optimal fördern zu können, bedarf es pädagogischer Konzepte, die besonders auf lern- und entwicklungspsychologischen Erkenntnissen basieren und die ressourcen- statt defizitorientiert der Bildungsbegleitung sowie der ganzheitlichen Persönlichkeitsentwicklung der Jugendlichen dienen.

Erfahrungen aus einjährigen Klassen des AVJ am RBZ Mölln des Kreises Herzogtum Lauenburg/Schleswig-Holstein für Schülerinnen und Schüler mit Förderschulabschluss aus Förderschulen oder integrativer Beschulung in Hauptschulklassen, in die ebenfalls Schülerinnen und Schüler von einer Schule bzw. einem Förderzentrum für Jugendliche mit geistigen Behinderungen/Lernbehinderungen aufgenommen wurden, führen zu bedeutsamen Erkenntnissen:

·  Sowohl in den Theoriefächern, aber auch in den Fachpraxisunterrichten benötigen die Schülerinnen und Schüler mindestens den doppelten Zeitansatz für die erfolgreiche Bearbeitung der Aufgaben im Vergleich zu denen in anderen AVJ-Klassen.

·  Viele dem Bildungs- und Entwicklungsprozess förderliche Angebote wie zusätzliche, individuell zusammengestellte Lernordner mit vorbereiteten Arbeitsblättern zur eigenständigen Erarbeitung konnten aus Zeitgründen nur knapp oder gar nicht durchgeführt werden.

·  Es gelingt zwar vielen Schülerinnen und Schülern, sich einen dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Abschluss zu erarbeiten. Doch ist dieser häufig derart schwach, dass er dem Erlangen eines Ausbildungsplatzes eher hinderlich ist und die Jugendlichen von weiteren speziellen Fördermaßnahmen der Agentur für Arbeit ausschließt.

·  Ein Teil der Jugendlichen wird von der Agentur für Arbeit nach dem AVJ in weitere einjährige Maßnahmen anderer pädagogischer Institutionen vermittelt, deren Erfolg nicht selten fragwürdig ist.

Diese Ergebnisse führen zu dem Entschluss, ein zweijähriges AVJ für diese Schülerklientel zu entwickeln. Seit dem Schuljahr 2009/2010 wird zurzeit am RBZ Mölln in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit für Schülerinnen und Schüler mit Förderschulabschluss ein zweijähriges AVJ angeboten. Hier finden Jugendliche eine Aufnahme, für die aufgrund ihrer außergewöhnlich schlechten schulischen Voraussetzungen keine Aussicht auf einen Platz im einjährigen AVJ besteht. Es handelt sich um eine sogenannte Mischklasse, in der Fachpraxisunterrichte aus den Bereichen Technik und Hauswirtschaft auf dem Stundenplan stehen. Es ist möglich, am Ende des zweiten Jahres eine Berufs- und Ausbildungsreife und gegebenenfalls einen dem Hauptschulabschluss gleichwertigen Abschluss zu erreichen. Darüber hinaus absolvieren sie verschiedene Praktika mit dem Ziel der späteren Vermittlung in eine reguläre Ausbildung (vgl. REGIONALES BERUFSBILDUNGSZENTRUM MÖLLN 2011).

Im Folgenden wird das Konzept des als Schulversuch geplanten zweijährigen AVJ skizziert. Vor der Aufnahme von Schülerinnen und Schülern werden Unterrichtshospitationen in deren abgebenden Schulen durchgeführt, um ein frühzeitiges gegenseitiges Kennenlernen in der vertrauten Lernumgebung der Jugendlichen zu ermöglichen und den Transitionsprozess auf die neue Schule zu erleichtern.

Zu Beginn des Schulbesuchs wird die Lernausgangslage der Schülerinnen und Schüler festgestellt. Dazu werden Elterngespräche und Gespräche mit abgebenden Schulen geführt und Einsicht in vorhandene Zeugnisse sowie Entwicklungsberichte genommen. Der Kooperation mit den Eltern und den abgebenden Schulen wird in dieser Konzeption große Bedeutung beigemessen. Darüber hinaus werden Ergebnisse aus Tests, medizinischen, körperlichen und ggf. neurologischen Untersuchungen in die Erstellung von individuellen Lern- bzw. Förderplänen bewusst einbezogen. Jugendliche, die mit einer Lese-Rechtschreibschwäche oder einer Dyskalkulie eine zweijährige AVJ-Maßnahme beginnen, erhalten eine darauf abgestimmte Förderung.

Mit Hilfe eines verhaltensmodifikatorischen Trainings und unter Einbeziehung der Eltern und der verhaltensauffälligen Jugendlichen soll Verhalten in Selbst- und Fremdwahrnehmung beobachtet und beschrieben werden. Erwünschtes Verhalten wird anschließend aufgebaut bzw. positiv verstärkt und unerwünschtes Verhalten soll in für die Jugendlichen möglichen Schritten abgebaut werden.

Zur Aufarbeitung von Lerndefiziten werden zusätzlich zum regulären Unterricht sogenannte „personalisierte Fitnesstrainer“ eingesetzt. Auf der Grundlage vorhandener Zeugnisse bekommen die Jugendlichen individuell zusammengestellte Lernordner mit vorbereiteten Arbeitsblättern, welche sie eigenständig erarbeiten können. Es werden ihnen weiterhin Lerntechniken vermittelt, zum Beispiel die Anwendung der Lernkartei, mit der sie relativ leicht und schnell durch Wiederholung des Lernstoffs Erfolgserlebnisse in der Aneignung von Wissen erleben.

Dass Bewegung nicht nur das gesundheitliche Wohlbefinden, sondern auch die Konzentration, das Lernen sowie das soziale Miteinander fördert, ist wissenschaftlich erwiesen. Daher wird angestrebt, in und außerhalb von Unterricht bewusst Bewegungselemente zu integrieren. Regelmäßige Fahrradtouren, Spinning im hauseigenen Studio und diverse Schnupperkurse in Kooperation mit dem Kreissportverein (zum Beispiel Segeln, Tanzen, Rudern, Bogenschießen, Golf etc.) sind Teil der Konzeption. Darüber hinaus wird es den im AVJ beschulten Jugendlichen ermöglicht, das Sport- und Freizeitangebot in ihrer direkten Umgebung kennenzulernen um es ggf. auch zu nutzen (vgl. ebenda).

2.3.1 Das Projekt „Barfußpark“

Teil der AVJ-Konzeption ist die Schulung der Sinne, die Schulung der sinnlichen Wahrnehmung. Zu diesem Zweck wurde im vergangenen Jahr die Einrichtung eines Barfußparks durch die Schülerinnen und Schüler des zweijährigen AVJ initiiert.

Was ist unter einem 'Barfußpark' zu verstehen? Ursprünglich handelte es sich bei einem Barfußpark um ein Freizeitangebot für Kinder, aber auch für Erwachsene, mit dem beabsichtigt wird, die Gesundheit und die Bewegungskompetenz zu fördern. Gleichzeitig sollte das Interesse an der Natur geweckt und Naturerlebnisse ermöglicht werden. Dies ist besonders für diejenigen bedeutsam, die in einer Umgebung mit relativ wenig Grünflächen in der Umgebung leben. Darüber hinaus werden Barfußparks gelegentlich als Attraktionen auf Veranstaltungen eingesetzt.

Es handelt sich um eine angelegte Gehstrecke, auf der durch Barfußlaufen besondere Sinneseindrücke und die damit verbundene Entspannung erlebt werden können. Dieses können kürzere Fußfühlpfade mit unterschiedlichen Bodenmaterialien, aber auch kilometerlange Barfußwanderwege sein. Im Idealfall bilden naturbelassene Wege die Grundlage für die Anlage eines Barfußpfads. Zwischen den einzelnen Erlebnisstationen sollen die Füße beim Gehen auf weichem Naturboden Erholung finden.

Zurzeit sind in Deutschland 45 Barfußparks verzeichnet, von denen sich nur einer in Schleswig-Holstein in Neukirchen/Nordfriesland befindet. Daher besteht im Kneipp-Kurort Mölln im Herzogtum Lauenburg durchaus Bedarf für eine entsprechende, Gemeinwesen orientierte Anlage. Es wurden Gespräche mit der Stadt- und der Touristikvertretung geführt, welche beabsichtigen, diesen Barfußpark auch bewusst in das Stadtbild und in das Kurangebot zu integrieren. Eine Zusage für die Unterstützung und die Genehmigung seitens des Bürgermeisters liegt vor.

Der Projektablauf ist wie folgt geplant. Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten die einzelnen Stationen des Barfußparks im Rahmen des Fachpraktischen Unterrichts. Ziel ist es, die haptische und die optische, die akustische sowie die vestibuläre Wahrnehmung, d. h. die auf das Gleichgewichtsorgan bezogene Wahrnehmung der Jugendlichen, zu schulen. Im Rahmen der gemeinsamen Tätigkeit des Anlegens eines Barfußparks können die Jugendlichen Erfolgserlebnisse in Bildungs- und Interaktionsprozessen erfahren. Darüber hinaus kann ihnen das Gefühl ermöglicht werden, mit ihren Möglichkeiten etwas Wichtiges zum gesellschaftlichen Leben beitragen zu können (vgl. REGIONALES BERUFSBILDUNGSZENTRUM MÖLLN 2011).

Grundsätzlich sollte jeder Barfußpfad einige Stationen für das Fühlen unterschiedlicher Materialien haben. Stark abhärtende Materialien wie grobe Kiesel, Splitt und grobe Hackschnitzel dürfen nur kurze Abschnitte einnehmen, angenehmer Untergrund wie Waldboden, Sand oder Rasen sollten überwiegen. Abschnitte aus Holz- oder Steinpflaster sind ebenso möglich.

Im Prinzip können die Materialien einfach auf den Boden gelegt werden. Zusätzlich können  eingefasste Ausführungen ausgearbeitet werden. Die Aufgabe der Einfassung stellt für die Jugendlichen, die den Barfußpark praktisch ausführen sollen, eine zusätzliche Herausforderung dar.

Neben verschiedenartigen Bodenbelägen wie zum Beispiel Rindenmulch gibt es in einigen Barfußparks Klettermöglichkeiten über Hindernisse, die für die Besucher mit Problemen beim Gehen durch Brücken oder Seitenwege umgangen werden. Beim Blindgang, in der Matschkuhle und bei der Bachdurchquerung kann die Sinneswahrnehmung besonders intensiv erlebt werden. Kurze Anstiege können mithilfe eines Seils überwunden werden, in das in regelmäßigen Abständen Knoten oder Schlaufen geknüpft sind.

Station „Blindgang“, Barfußpark Nienhagen (Abb. 1): Ein Rondell mit neun verschiedenen Bodenbelägen und einem durchgehenden Geländer auf der Innenseite bietet die Möglichkeit, mit geschlossenen Augen die verschiedenen Untergründe zu fühlen.

 

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Abb. 1:  Blindgang (Quelle/Online: www.barfusspark.de)

2.3.2 Anspruch auf Nachhaltige Entwicklung

Der Barfußpark bietet unmittelbaren Kontakt zur Natur. Auf diese Weise entsteht eine zusätzliche Gelegenheit, Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in den Blick zu nehmen. Dieser Anspruch ist in der Konzeption für das zweijährige AVJ enthalten. Es liegen  verschiedene Ideen und Unterrichtsmaterialien zur möglichen Umsetzung der Nachhaltigkeitsbildung vor. Ein geplantes Projekt ist eine Flusslaufrenaturierung, die AVJ-klassenübergreifend durchgeführt werden soll und von einem Kollegen mit Fakultas Biologie angeleitet werden kann. Auch hierfür liegt bereits eine Zusage für die Unterstützung und die Genehmigung seitens der Stadt vor. 

Mit dem Barfußpark wird vornehmlich der haptische Sinn angesprochen, das Wahrnehmen über die Füße und die Haut; gleichzeitig  werden auch die visuelle Wahrnehmung, der Gleichgewichts- und der Orientierungssinn gefördert (vgl. REGIONALES BERUFSBILDUNGSZENTRUM MÖLLN 2011).

2.4 Weitere Ansätze zur Förderung der Sinneswahrnehmung: Erfahrungsfelder

Mittlerweile gibt es unterschiedliche Ansätze, mit denen über die Förderung der Sinneswahrnehmung verschiedene Ziele angestrebt werden. Unter dem Oberbegriff der „Erfahrungsfelder“ sind beispielsweise die folgenden Begriffe zu finden: Welt oder Park der Sinne, Garten der Sinne, Sinnespark, Therapiegarten, Heilgarten, Kükelhaus Park, Fühlgarten, Wahrnehmungsparcours und andere.

Zur Verbreitung dieser Ideen hat Hugo KÜKELHAUS (24.03.1900-05.10.1984) beigetragen. Er war als Bau- und Möbelschreinermeister, Schriftsteller, Pädagoge, Philosoph und Künstler tätig. Auf ihn gehen Einrichtungen wie der Garten der Sinne oder Erfahrungsfelder zur Entfaltung der Sinne zurück, in denen gezielt auch die Sinne des Hörens, des Schmeckens, des Riechens und die physische Wahrnehmung von Schwingungen gefördert werden.

ZUR LIPPE beschreibt die Sicht der Lebensweise in einer hochindustrialisierten Gesellschaft von KÜKELHAUS: "Die hochindustrialisierten Gesellschaften haben mehr und freiere Möglichkeiten geschaffen, unsere menschliche Existenz mit der Natur um uns zu verbinden und in uns zu entfalten. Diese Möglichkeiten sind in der Entlastung von Verausgabung und Störung durch körperliche Arbeit begründet […]. Die hochindustrialisierten Gesellschaften bieten aber in der Wirklichkeit von Arbeit, Lernen, Freizeit, Transport, Wohnen, Konsum usw. immer weniger Beziehungen zur Natur in einem täglichen Leben an, das jedoch immer intensivere, wenn auch abstraktere Ansprüche stellt. Die Möglichkeiten sind da, aber nur theoretisch. Praktisch fehlen Anregungen, Erfahrungen, Wissen immer mehr" (ZUR LIPPE 2008b, 53f.). An anderer Stelle schreibt KÜKELHAUS: „Was uns erschöpft, ist die Nichtinanspruchnahme der Möglichkeiten unserer Organe und unserer Sinne, ist ihre Ausschaltung, Unterdrückung […]. Was aufbaut, ist Entfaltung. Entfaltung durch die Auseinandersetzung mit einer mich im Ganzen herausfordernden Welt" (2008, 45). Diesem Mangel möchte KÜKELHAUS mit seinen Erfahrungsstationen entgegenwirken.

Zum Aufbau von Erfahrungsstationen führt ZUR LIPPE aus: "Theoretisch wird uns immer entschiedener bewusst, dass es in der Wahrnehmung, in der Bildung, in der Therapie im Grunde um Resonanz geht. Bereit zu werden, der Resonanzen in der Welt mit uns wie in uns selbst gewahr zu werden und sie zu stärken, ist wohl die immer wiederkehrende Aufgabe – gerade auch da, wo sie fehlen, verstummt, entmutigt sind" (2008a, 11).

Das Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne im „Phänomania“ in Essen ist eine Entwicklung von KÜKELHAUS. Nachdem es erstmals 1967 auf der Weltausstellung in Montreal und bis Mitte der 90er Jahre an über 60 Stationen im In- und Ausland gezeigt wurde, kann es seit 1996 im denkmalgeschützten Fördermaschinenhaus der Zeche Zollverein Schacht 3/7/10 in Essen entdeckt werden. Auf über 1500 qm bietet sich dem Besucher an über 80 Stationen die Möglichkeit zu forschen, zu entdecken und zu staunen. Die interaktive Ausstellung ist ein freizeit- und erlebnispädagogisches Angebot für Kinder und Erwachsene jeden Alters, um auf Entdeckungsreise zu gehen und zu lernen, die Umwelt bewusst wahrzunehmen. Erfahrungsfelder gibt es an mehreren Orten in Deutschland, aber auch im Ausland.

Der „Garten der Sinne“ nach KÜKELHAUS im Schlosspark Freudenberg in Wiesbaden wird 1975 erstmalig als ein Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne mit ca. 40 Experimentier- und Spielstationen präsentiert, von denen ein Teil der Geräte 1967 auf der Expo-Weltausstellung in Montreal gezeigt wurde. Seit 1996 sind diese Spielgeräte ständige Exponate einer Ausstellung in seiner Heimatstadt Essen (vgl. PHÄNOMANIA ERFAHRUNGSFELD 2011).

Auf dem Freudenberg konnte KÜKELHAUS seinen Wunsch in die Realität umsetzen, eine „bleibende Stätte der Wahrnehmung“ zu stiften. Das Erfahrungsfeld zur Entfaltung der Sinne und des Denkens wurde in einem fast 110 Jahre alten Schloss inmitten eines Parks aufgebaut. Als Ergänzung zum Erfahrungsfeld wird ein umfangreiches Rahmenprogramm angeboten, zu denen Erfahrungen wie Geschmack und Dunkelheit  gehören sowie Seminare und Workshops zu unterschiedlichen Themen. Wesentliches Anliegen ist die Schulung der bewussten Wahrnehmung. Schloss Freudenberg wird bewusst als eine immerwährende Baustelle betrieben. Die Baustellen im Schloss und im Park werden als Erfahrungsfelder inszeniert und sollten der Entfaltung der Sinne und des Denkens dienen. Heute wird Schloss Freudenberg als Seminarhaus genutzt, u. a. für Gruppen des Studienganges Rhythmik (vgl. RHYTHMIK-NETZWERK 2011).

KÜKELHAUS beschreibt das Erleben im Garten der Sinne: „Der Besucher erfährt, wie das Auge sieht, das Ohr hört, die Nase riecht, die Haut fühlt, die Finger tasten, der Fuß (ver-)steht, die Hand (be-)greift, das Gehirn denkt, die Lunge atmet, das Blut pulst, der Körper schwingt. Die Wahrnehmung der Gesetze der eigenen Natur befähigt den Menschen, in den Erscheinungen der äußeren Natur die gleiche Gesetzlichkeit wahrzunehmen als auch zu wahren" (KÜKELHAUS, zit. nach CASA EL MORISCO 2003).

In Anlehnung an das Konzept von KÜKELHAUS ist eine Vielzahl an Sinnesobjekten, Erfahrungsfeldern und Anlagen entstanden, die unterschiedliche, aber auch kombinierte Sinnesbereiche ansprechen sollen, beispielsweise:

Hören: Trommeln, Monochord, Orgelpfeifen, Windharfe, Klangschale, Chladnische Klangplatten, Summstein, Gongs, Windspiel/Klangspiel sowie Naturgeräusche in Gartenanlagen: Vogelzwitschern, Wasserplätschern und -rauschen, Bienensummen.

 

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Abb. 2:  Summstein. (Quelle/Online: wikipedia-Summstein)

 

Der Summstein ist ein Stein mit einer Aushöhlung und dient der Wahrnehmung der Sinne über spielerische Erfahrung mit der eigenen Stimme durch Summen und Resonanz. Die eingehauene Höhlung fordert dazu auf, mit dem Kopf in eine geschlossene Welt für sich einzutauchen. Jeder erzeugte Ton wird vielfach zurückgeworfen und verstärkt. Besonders gut werden die steten Schwingungen eines Summens aufgenommen: "sie treffen so intensiv wieder auf unseren ganzen Kopf, selbstverständlich auch die Trommelfelle, auf, dass die Schwingungen sich spürbar oder fast spürbar durch den ganzen Körper noch bis in die Beine hinein fortsetzen können" (ZUR LIPPE/ KÜKELHAUS 2008, 149).

Gleichgewichtssinn/Balance: Die Balancierscheibe lädt Gruppen zum gemeinsamen Balancespiel auf der Fläche ein, die sich nach allen Seiten senken kann. Die gewünschte Kommunikation kann über einen sachbedingten Zusammenhang entwickelt werden. Das können gegenseitige Wünsche und Anweisungen, Austausch von Beobachtungen und Erfahrungen sein, die im Augenblick miteinander gemacht werden. Hier werden die verschiedensten Gleichgewichte und die Bewegungen entdeckt, die zu ihnen führen können. Es geht darum, an einer Bewegung zusammenzuwirken, durch gutes Gespür und leichte Verständigung Verteilungen erreichen, in denen die Bewegungen einander ausgleichen (vgl. ZUR LIPPE/ KÜKELHAUS 2008, 91).

 

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Abb. 3:  Balancierscheibe in Bremervörde. (Quelle/online: wikipedia-Balancierscheibe)

 

Sehen: Nachbilder, Farbkreisel, Rotationsscheiben, Kippende Perspektive, Murmelkaskade, Prismen, Licht- und Farbspiele.

"Scheinkörper. Die Scheibe langsam drehen. Zurücktreten und zusehen. Plötzlich erhebt sich ein Kegel aus der Fläche heraus und verengt sich nach innen gleich einem Krater mit einer Kugel am Grunde. Diese Erscheinung ist ein Produkt der visuellen Rindenfelder des Gehirns. Sie macht erfahrbar. Das Sehen ist wie alle Sinnesleistungen kein passives, sondern ein höchst aktives Verhalten, durch das, was außen ist,  sich mit mir zu etwas Neuem verbindet, das meinen Zustand jeweils entsprechend ändert" (KÜKELHAUS, zitiert auf einer Informationstafel am Objekt „Scheinkörper“, o. J.).

 

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Abb. 4:  Scheinkörper, Installation auf dem Gelände der Hamburger Werkstatt in Hamburg-Farmsen (eigene Aufnahme)

 

Weitere Stationen zur Förderung des Sehens können sein: Naturgarten mit Farbspiel verschiedener Blüten, Feng Shui-Garten, Schmetterlingsgarten, Wasserspiele, Idyllische Ruheoasen, Trockenmauern, Naturobjekte wie Natursteine und -felsen, Wurzeln, Feuer als Lagerfeuer, Wasserspiele.

 

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Abb. 5:  Wellenentstehung wahrnehmen. Garten der Sinne, Casa el Morisco/Spanien (eigene Aufnahme)

 

Riechen und Schmecken: Kräuterschnecke oder Kräuterarten, Rosenweg oder Rosarium, Blütendüfte.

 

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Abb. 6:  Kräutergarten. Garten der Sinne, Casa el Morisco/Spanien (eigene Aufnahme)

 

Fühlen/Tasten: Tastgalerie, Tastmauer oder Tastkästen, Barfußweg als haptischer Pfad mit Stein, Sand, Kies, Rindenmulch, Moos, Gras, Moor oder Wasser; Experimentieren mit Glockenspiel in Wasser, Wasserspiele.

Bewegung: Taumelscheibe, Drei-Zeiten-Pendel, Sandpendel, Pendelstein, Balanciergeräte wie -Balken, -Scheiben, -Pirouette, Kletterobjekte wie -Bäume -Wurzeln -Felsen.

Begegnung: kommunikative Einrichtungen wie Partnerschaukel, Echorohr, Parabolschalen, auch Begegnung mit Tieren wie im Streichelzoo, Tieren auf Streuobstwiesen.

 

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Abb. 7:  Partnerschaukel. Garten der Sinne, Casa el Morisco/Spanien (eigene Aufnahme)

 

"Die Partnerschaukel ist so konstruiert, dass sich der Schwung einer Schaukel auf eine zweite ihr gegenüber überträgt und deren Schwung wieder auf die erste zurückwirkt. So können wir besonders behinderte Menschen zum Erleben der Schaukel einladen. Das vielleicht Erstaunlichste dabei ist, dass der Partner, dem unser Schwung zuteil wird, plötzlich feststellt, dass seine Bewegung sich auf den anderen zurück überträgt; ungewohnte Wirksamkeit wird erfahren" (ZUR LIPPE/ KÜKELHAUS 2008, 101).

 

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Abb. 8:  Solarbetriebene multifunktionale und -sensuale Installation: farbige optische Drehscheibe, Ventilator, „Regenmacher“, Schulterklopfer. Garten der Sinne, Casa el Morisco/Spanien (eigene Aufnahme)

 

Vorrangiges Ziel, das durch diese Installationen erreicht werden soll, ist die Förderung der Wahrnehmung durch die gezielte Ansprache der verschiedenen menschlichen Sinne. Gerade aber in den Berufen der Fachrichtungen Bau-Holz-Farbe können entsprechende Objekte darüber hinausgehend genutzt werden. Die Lernenden können ausgewählte Gegenstände und Stationen nachbauen. Vielleicht entwickeln sie eigene Ideen und Installationen, die als Projekt zur Belebung des Schulhofes und des Lebens in der Schule genutzt werden können. Dadurch wird ihnen in mehrfacher Hinsicht eine besondere Bestärkung eröffnet. Sie schaffen ein eigenes Objekt, an dem sie selbst und andere ihre Wahrnehmung schulen und entwickeln können. Dadurch wird ihnen ein neuer, ein anderer Zugang zu ihrer eigenen Wahrnehmung, aber auch zu ihrer Umwelt, der Natur und Phänomenen, die der Natur entlehnt sind, ermöglicht. Auch die anfänglich benannte motorische Leistungsfähigkeit wird durch einzelne Stationen gezielt gefördert. Gleichzeitig tragen sie einen wichtigen Beitrag zur qualitativen Verbesserung des Lebens in der Schule bei. Nicht zuletzt werden fachliche, motorische, soziale und humane Kompetenzen ausgebildet, die eindeutig der Vorbereitung auf einen Beruf in einem der drei Berufsfelder dienen können – je nachdem welche Materialien, Arbeitstechniken, naturwissenschaftlich-technischen Gesetze oder gestalterischen Aspekte im Vordergrund der ausgewählten Station stehen sollen.

Ein wesentlicher Gesichtspunkt, auf den im Folgenden eingegangen wird, ist die Bedeutung der Förderung der Wahrnehmung, insbesondere auch der Selbstwahrnehmung, für die pädagogische Diagnostik.

3 Zur Bedeutung der Förderung der Wahrnehmung für die pädagogische Diagnostik

Pädagogische Diagnostik hat ihren Ursprung in Methoden aus der sozial- und sonderpädagogischen Jugendarbeit. Heute findet sie Verwendung in Schulen, insbesondere in Klassen mit Bedarf für sonderpädagogische Fördermaßnahmen. Vorrangiges Ziel der pädagogischen Diagnostik ist es, Pädagoginnen und Pädagogen Entscheidungs- und Handlungssicherheit in der Arbeit mit Jugendlichen zu geben. Es geht um die Entwicklung individueller Hilfemaßnahmen aufgrund einer Diagnose, die sich nicht auf das schlicht beobachtbare Verhalten beschränkt, sondern ein tiefes Verständnis über und für den Einzelfall eröffnet. Grundlegende Verfahrensweisen sind Schülerbeobachtung und Lernprozessentwicklung von Jugendlichen. Sie geben wesentliche Hinweise darauf, welche Fähigkeiten ein/e Schüler/in hat und verdeutlichen, an welche Kompetenzen angeknüpft werden kann und welche Kompetenzen noch auszubilden sind. Lernprozessdiagnostik ist Situationsdiagnostik und zugleich immer Lernprozessdiagnostik als individuelle Lernbegleitung (vgl. EBERT 2003, 3).

Es ist von besonderer Bedeutung, dass die Lernenden an den Beobachtungen teilhaben. Deren aktive Einbeziehung in den diagnostischen Prozess und in die konkrete Lernplanung stellt einen Perspektivwechsel in dieser Disziplin dar. Die Selbsteinschätzung der Lernenden im Hinblick auf fachbezogene Kompetenzen, Arbeits- und Lernverhalten sowie auf Lernziele und -schritte wird in die weitere Planung der pädagogischen Arbeit einbezogen.

Frauke GÖTTSCHE hat an verschiedenen Beispielen gezeigt, wie Lernende über die Diagnose ihrer „Verständnislücken“ einen Einstieg in Lernprozesse finden können. Sie sieht hierzu drei Schritte als grundlegend notwendig an:

"1. das Formulieren des vorliegenden Problems durch die Lernenden (Diagnose),

 2. die Nutzung geeigneter Methoden zum Transfer,

 3. die Verankerung durch Übung" (GÖTTSCHE 2007, 10).

Vor der Formulierung eines Problems liegt ein weiterer Schritt, den die Lernenden zu leisten haben. Die erste Schwierigkeit besteht darin, erst einmal wahrzunehmen, dass überhaupt ein Problem vorliegt und dieses zu identifizieren, bevor sie den nächsten Schritt einer konkreten Formulierung angehen können.

Als wesentliche Voraussetzungen werden das Aufbringen von Interesse für das eigene Lernen und für das zu Erlernende sowie die Fähigkeit zur Konzentration beschrieben.

Der beschriebene Perspektivwechsel in Richtung auf eine aktive Einbeziehung der Lernenden in den diagnostischen Prozess und in die konkrete Lernplanung beinhaltet zugleich die Wendung von der Defizitorientierung zur Orientierung an Stärken. "Es geht nicht mehr primär darum herauszufinden, was der Schüler nicht oder schlecht kann, sondern um die Fragen: Was kann er gut? Worin kann er gefördert werden? Diagnostik bezieht sich nicht nur auf (Lern-)Schwierigkeiten, sondern auch auf Stärken und (Lern-)Fortschritte. An diese Stärken ist anzuknüpfen. 'Diagnostik' meint also sowohl die von Lehrkraft und Lerngruppe gemeinsam vorgenommene Betrachtung und Reflexion von Unterricht als auch eine eher evaluationsorientierte Diagnostik bis hin zum stärker instrumentenbezogenen Diagnostizieren" (GRABBE 2004, 13).

Pädagogische Diagnostik beinhaltet fortlaufende Beobachtungen. Es geht darum, zu reflektierende Wahrnehmungen der Lernenden und deren Dokumentation und Auswertung gemeinsam mit ihnen vorzunehmen. Unerlässlich hierzu ist die Fähigkeit der Lernenden, sich selbst und ihre Lernstärken und -schwierigkeiten wahrzunehmen und zu erkennen. Dieses kann letztlich nur durch kontinuierliche Förderung der Selbstwahrnehmung geschehen. Ein Anfang, um sich auf diesen Weg einzulassen, kann über die körperliche Wahrnehmung geschehen, wie sie in oben beschriebenen Formen eines Barfußparks oder der Erfahrungsstationen in Anlehnung an KÜKELHAUS beschrieben wurde.

Gleichzeitig gilt es ebenso für die Lehrenden, ihre Wahrnehmung zu schärfen, da die Schülerbeobachtung und die Beobachtung der Lernprozessentwicklung eine wesentliche Grundlage für die pädagogische Diagnostik darstellt. In den Fachrichtungsseminaren Sonderpädagogik mit dem Förderschwerpunkt Sprache am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Hamburg wird zu diesem Zweck ein Beobachtungs- und Planungsraster eingesetzt. Dieses soll Referendarinnen und Referendaren die Zusammenhänge zwischen den unterschiedlichen Planungsaspekten verdeutlichen und darüber hinaus als Grundlage für die Selbstreflexion und gemeinsame Betrachtung von Entscheidungen und Erkenntnissen dienen (vgl. KUSS 2004, 19). Es stellt eine wichtige Hilfe für die Unterrichtspraxis dar, die vermutlich auch Lehrkräften anderer Fächer und Fachrichtungen eine sinnvolle Unterstützung bieten würde. In den Berufsfeldern Bau-Holz-Farbe haben es die Lehrkräfte sowohl im ausbildungsvorbereitenden Bereich als auch auf dem Gebiet der beruflichen Erstausbildung nicht selten mit Jugendlichen zu tun, die Lernschwächen aufweisen oder als benachteiligt einzustufen sind. In diesen Berufsfeldern wäre es wünschenswert, Denk- und Verfahrensweisen der pädagogischen Diagnostik bereits in das Studium zu integrieren.

4 Ausblick

Sowohl mit Blick auf die Förderung der Wahrnehmung als auch auf den Einsatz von Methoden aus dem Bereich der pädagogischen Diagnostik bedarf es an erster Stelle  der Bereitschaft der Lehrkräfte und deren Vermögen, sich intensiv auf ihre Schülerinnen und Schüler einzulassen. Problematisch ist häufig das Fehlen einer entsprechenden Ausbildung der Berufsschullehrkräfte im Studium sowie Zeitmangel, um im Rahmen des Unterrichts entsprechende Gespräche mit den Lernenden durchzuführen. Pädagogische Diagnostik ist immer im Zusammenhang mit der konkreten Aufgabe und der Tätigkeit der Jugendlichen zu sehen. Nicht zuletzt ist eines der Ziele der Berufsvorbereitung die Vorbereitung der Lernenden auf eine spätere berufliche Tätigkeit. Über die gemeinsame Tätigkeit des Planens, Entwerfens und Konstruierens von Lern- und Erfahrungsstationen können den Jugendlichen Erfolge ermöglicht werden, die infolgedessen ihr Interesse am Erlernen einer handwerklichen Tätigkeit zu wecken vermögen.

Wünschenswert sind Fortbildungen von Berufsschullehrkräften in diesem Bereich. Unerlässlich ist eine enge Zusammenarbeit zwischen Berufsschullehrkräften und Sozialpädagogen sowie Psychologen, die von freien Trägern beschäftigt sind, in denen die Jugendlichen praktisch tätig sind. Gemeinsam mit allen Beteiligten können über die Wahrnehmung der eigenen Individualität Chancen entstehen, den Jugendlichen einen Zugang zu sich selbst, zu ihrem eigenen Lernen und zu ihrer Tätigkeit zu geben.

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Zitieren dieses Beitrages

BAABE-MEIJER, S. (2011): Ästhetische Bildung in den Berufsfeldern Bau-Holz-Farbe – eine Chance für Jugendliche im Übergangssystem und in der beruflichen Ausbildung. In: bwp@ Spezial 5 – Hochschultage Berufliche Bildung 2011, Fachtagung 03, hrsg. v. BAABE-MEIJER, S./ KUHLMEIER, W./ MEYSER, J., 1-18. Online: http://www.bwpat.de/ht2011/ft03/baabe-meijer_ft03-ht2011.pdf (26-09-2011).



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