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bwp @ Spezial 5 | September 2011
Hochschultage Berufliche Bildung 2011
Herausgeber der bwp@ Spezial 5 sind Thomas Bals & Heike Hinrichs

WS23 - ECVET/DECVET
Herausgeber: Dietmar Frommberger, Andreas Diettrich & Holger Reinisch


Titel:
ECVET und DECVET: Zu den Potenzialen von Leistungspunktsystemen zur Förderung von Übergängen in der beruflichen Bildung.


Editorial zu Workshop 23: ECVET und DECVET: Zu den Potenzialen von Leistungspunktsystemen zur Förderung von Übergängen in der beruflichen Bildung.

Das Thema der 16. Hochschultage berufliche Bildung an der Universität Osnabrück lautet „Übergänge in der beruflichen Bildung nachhaltig gestalten: Potentiale erkennen – Chancen nutzen“. Aufgegriffen wird damit eine aktuelle und außerordentlich gravierende Problemlage, die eine lange Geschichte hat. Schließlich lautet das Versprechen der bürgerlichen, demokratisch verfassten Gesellschaft seit der Zeit der Aufklärung, dass soziale Integration und sozialer Aufstieg des Individuums durch Bildung nicht von sozialer Herkunft und dem Verfügen über materielle Ressourcen abhängen werde, sondern allein von der individuellen Anstrengungsbereitschaft und Leistung. Neben der Herstellung materialer Chancengleichheit, etwa durch Gebührenfreiheit des Besuchs von Bildungseinrichtungen, finanzieller Unterstützung zur Sicherung des Lebensunterhalts während des Besuches von Bildungseinrichtungen sowie kompensatorische pädagogische Fördermaßnahmen für Benachteiligte, ist die Konfiguration des Bildungswesens von entscheidender Bedeutung für die Einlösung dieses Versprechens. Dies bedeutet auf der makrodidaktischen und strukturellen Ebene von Bildungssystemen, dass diese durch strukturelle Offenheit und Durchlässigkeit gekennzeichnet sein müssen. Allerdings zeigt bereits einerseits ein knapper Blick in die Geschichte der auf das deutsche (Berufs-)Bildungswesen bezogenen Reformdebatten (vgl. z. B. KELL/ REINISCH 2011) und andererseits auf die aktuelle Datenlage (vgl. insb. AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG 2008), dass bis heute in Deutschland hinsichtlich Durchlässigkeit (und Chancengleichheit) erhebliche Defizite bestehen. Betroffen davon sind insbesondere die Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die das Pflichtschulsystem ohne Abschluss oder mit dem der Hauptschule bzw. dem der Realschule verlassen. Dies ist nicht nur die Mehrheit aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sondern auch die größte Klientel des beruflichen Bildungswesens in der Sekundarstufe II. Dieser Personenkreis leidet besonders unter den strukturellen Veränderungen und konjunkturellen Schwankungen auf dem Markt für Ausbildungsstellen, der Abschottung der beruflichen Bildungsgänge von den zum Hochschulstudium berechtigenden Bildungsgängen der Sekundarstufe II und der hohen Differenzierung und gegenseitigen Abgrenzung der Bildungsgänge innerhalb des beruflichen Bildungssystems: „Die Wege in das Leben als Erwachsener sind heute nicht nur länger, sondern auch variabler, disparater und diskontinuierlicher als in früheren Generationen. Übergänge verlängern sich, z. B. durch berufsvorbereitende Maßnahmen und Arbeitslosigkeit. Risiken der sozialen Exklusion nehmen für diejenigen zu, denen es nicht gelingt, Ausbildungsoptionen zu ergreifen und schulische sowie betriebliche Selektionsprozesse zu meistern“ (HEINZ 2011, 16).

Es sprechen jedoch nicht nur die angeführten genuin pädagogischen, auf die Förderung der Angehörigen der jungen Generation zielenden Gründe für eine eingehende Beschäftigung mit der Frage der Übergänge im Bildungssystem, sondern auch sozial- und wirtschaftpolitische Aspekte. Diese betreffen insbesondere

  • die aus dem demografischen Wandel hervorgehende Situation, dass das mittlerweile rar gewordene „Gut“ Jugendlicher zu einer Wachstumsbremse im wirtschaftlichen Wettbewerb zu werden droht. Der drohende bzw. in einzelnen Wirtschaftssektoren bereits eingetretene Facharbeiter- und Akademikermangel inspiriert entscheidend die Suche nach bisher „unerschlossenen Reserven“ für qualifizierte oder gar hoch qualifizierte Tätigkeiten im Beschäftigungssystem. Neben älteren Arbeitnehmern, Langzeitarbeitslosen, Frauen in und nach der Familienphase und qualifizierten Immigranten gelten auch Jugendliche mit „untypischen Bildungsverlaufen“ als eine solche Reserve für den Ausbildungs- und Arbeitsmarkt sowie für ein Studium.
  • das zentrale Ziel der Sozial- und Wirtschaftspolitik der Europäischen Union (EU), und zwar die Förderung der Mobilität der Arbeitnehmer in der EU. Deren Organe haben daher in den vergangenen Jahren verschiedene Konzepte, Strategien und Instrumente entwickelt, die der Transparenz, Vergleichbarkeit und Mobilität in der beruflichen Bildung und zwischen verschiedenen Bildungsteilbereichen dienen sollen. Neben dem European Qualifications Framework (EQF), dem Europass, etc. gilt dies vor allem für das European Credit System for Vocational Education and Training(ECVET).

 

Abb. 1:   Projekte an Schnittstellen und Übergangsbereichen im Berufsbildungssystem und zu anderen Bereichen des Sekundarbereichs II, des Postsekundarbereichs, des Tertiärbereichs und zum Ausland

Die Bundesregierung hat sich an diesen europäischen Initiativen beteiligt und Pilotinitiativen gestartet, die an verschiedenen Übergängen innerhalb der Sekundarstufe II, zum Postsekundarbereich bzw. Tertiärbereich und zum Ausland Anrechnungsmodelle entwickeln und erproben sollen, die einen Beitrag zur Erhöhung der horizontalen und vertikalen Durchlässigkeit zwischen diesen Teilbereichen des Bildungssystems leisten können. Von den sieben Übergangsbereichen bzw. Schnittstellen werden in diesen Pilotinitiativen folgende bearbeitet (siehe Abb. 1):

  • Übergang zwischen einer Berufsausbildung bzw. beruflichen Fortbildung und einem Studium an einer Hochschule (ANKOM-Initiative, siehe STAMM-RIEMER/ LOROFF/ HARTMANN 2011),
  • Anrechnungsmöglichkeiten von im Ausland erworbenen Kompetenzen mittels des ECVET-Instrumentariums in einer Reihe von EU-Projekten unter deutscher Beteiligung (vgl. LE MOUILLOR 2010) und
  • Im Rahmen der Pilotinitiative „DECVET - Entwicklung eines Leistungspunktesystems in der beruflichen Bildung“ (vgl. BMBF 2008, 2010 und www.decvet.net) der Übergang von der Berufsvorbereitung in eine Berufsausbildung nach Berufsbildungsgesetz und Handwerksordnung (zukünftig duale Berufsausbildung), Übergang zwischen zwei Ausbildungsberufen innerhalb der dualen Berufsausbildung, Übergang von einer vollzeitschulischen Berufsausbildung (nach Landesrecht) in eine duale Berufsausbildung und Übergang von der dualen Berufsausbildung in eine berufliche Fortbildung.

Im Mittelpunkt des Workshops 23 auf den 16. Hochschultagen berufliche Bildung standen ausgesuchte Konzepte, die im Rahmen der Projekte der DECVET-Pilotinitiative entwickelt und erprobt werden. Ergänzt wurden diese Beiträge um Überblicke und Analysen zu aktuellen Entwicklungen in der europäischen und deutschen Berufsbildungspolitik. Im Folgenden werden einige für die Veröffentlichung überarbeitete Referate aus dem Workshop präsentiert.

Am Beginn steht eine Analyse von Andreas DIETTRICH (Uni Rostock) und Christiane KÖHLMANN-ECKEL (Bundesinstitut für Berufsbildung). Die Autoren befassen sich mit Anforderungen und Konzepten für die Gestaltung von Zu- und Übergängen in der Beruflichen Bildung. Aufbauend auf einer Systematisierung möglicher Schnittstellen und entsprechender Übergänge zeigen sie auf, mit welchen bildungspolitischen Programme und Initiativen derzeit Lösungskonzepte entwickelt, erprobt und z. T. implementiert werden, z. B. im Rahmen von Bausteinkonzepten oder zertifizierten Teilqualifikationen. Somit stellt dieser Beitrag die DECVET-Pilotinitiative in den Kontext der deutschen und europäischen Berufsbildungspolitik.

Es folgt ein Beitrag von Anita MILOLAZA (Uni Magdeburg) zu den Beweggründen, die zur Durchführung der BMBF-Pilotinitiative DECVET geführt haben, zu den Zielen der Pilotinitiative und zu den Aufgaben der Projekte. Der Beitrag endet mit einem Fazit zu den Herausforderungen und Chancen, die mit der Entwicklung eines Leistungspunktesystems in der beruflichen Bildung verbunden sind.

Die sich anschließenden Beiträge stammen aus Projekten der DECVET-Pilotinitiative.

Thilo LANG und Michael DAMBACHER (Ministerium für Kultus, Jugend und Sport Baden-Württemberg) beschreiben auf Basis des baden-württembergischen Projekts „Eurolevel“ als Teil der Pilotinitiative DECVET, welches an der Schnittstelle zwischen der dualen und der vollzeitschulischen Berufsausbildung angesiedelt ist, ein Verfahren zur Kompetenzfeststellung unter Berücksichtigung der Vorgaben von ECVET und den Besonderheiten des dualen Systems. Dabei werden neben konzeptionellen Zwischenergebnissen auch erste praktische Erfahrungen mit den Instrumenten Klassenarbeit, Fachgespräch und Lerndokument vorgestellt. Die Autoren gelangen zu der Einschätzung, dass diese Instrumente geeignet sind, die horizontale und vertikale Mobilität sowie die Durchlässigkeit zwischen verschiedenen Bildungswegen zu fördern.

Thorvald DEGNER, Petra BINZ und Franz J. HEEG (Uni Bremen, Arbeitswissenschaftliches Institut Bremen) berichten über ein Instrument (Systemspiel) zur Erfassung individueller Kompetenzen, welches im Rahmen des an der Schnittstelle zwischen Berufsausbildung und beruflicher Fortbildung angesiedelten DECVET-Projekts LeisGIMi entwickelt wurde. Es soll dazu dienen, die Entscheidungsfindung an der genannten Schnittstelle zu verbessern und eine Alternative zur Erfassung von beruflicher Handlungsfähigkeit bieten.

Den Abschluss bildet ein Beitrag von Dietmar FROMMBERGER (Uni Magdeburg), in welchem sich der Autor mit der Frage des möglichen Beitrags von Kreditpunktsystemen für die Schaffung und Weiterentwicklung durchlässiger Bildungsstrukturen auseinandersetzt. Dargestellt werden zunächst grundlegende Begründungsmuster für durchlässige Strukturen im Rahmen von Bildungssystemen, anschließend diskutiert der Autor wesentliche Merkmale sowie Möglichkeiten und Grenzen von Kreditpunktsystemen.

Literatur

AUTORENGRUPPE BILDUNGSBERICHTERSTATTUNG (Hrsg.) (2008): Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Übergängen im Anschluss an den Sekundarbereich I. Bielefeld.

BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (Hrsg.) (2008): Entwicklung eines Leistungspunktesystems in der beruflichen Bildung. Dokumentation der Auftaktveranstaltung der BMBF-Pilotinitiative 19.–20. Februar 2008 in Berlin. Bonn, Berlin.

BUNDESMINISTERIUM FÜR BILDUNG UND FORSCHUNG (2010): Die Pilotinitiative DECVET. Kompetenzen anrechnen – Durchlässigkeit verbessern. Bonn.

HEINZ, W. R. (2011): Jugend im gesellschaftlichen Wandel: soziale Ungleichheiten von Lebenslagen und Lebensperspektiven. In: KREKEL, E. M./ TILLY, L. (Hrsg.): Neue Jugend, neue Ausbildung? Beiträge aus der Jugend- und Bildungsforschung. Bielefeld.

KELL, A./ REINISCH, H. (2011): Chancengleichheit und Durchlässigkeit im deutschen Bildungssystem – Rückblick und Zukunftsperspektiven. Erscheint 2011.

LE MOUILLOUR, I. (2010): The development of ECVET in Europe. Luxembourg [CEDEFOP working Paper No. 10].

STAMM-RIEMER, I./ LOROFF, C./ HARTMANN, E. A. (2011): Anrechnungsmodelle. Generalisierte Ergebnisse der ANKOM-Initiative. HIS: Forum Hochschule 1/2011. Online:  http://www.his.de/pdf/pub_fh/fh-201101.pdf  (27-04-2011).


Hochschultage Berufliche Bildung 2011 - Web page

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