wbv   Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.

 

 

 

Beitrag von MARTIN HENNING MEIER und GÜNTER SPRETH (beide Universität Hamburg)

Beschreibungen beruflicher Bildungssysteme im nationalen und internationalen Kontext

1. Vorwort

Seit vielen Jahren ist die internationale Wirtschaftspädagogik bzw. Berufsbildungskooperation ein entscheidender Arbeitsschwerpunkt von Willi BRAND. Die internationale Berufsbildungskooperation lässt deutlicher hervortreten, was in Deutschland real nur langsam reift, dass nämlich Wirtschafts- und Berufspädagogik bei Berufsbildungskooperationen und -entwicklungen verbindlich zusammen gehören. Diese Erkenntnis ist sowohl im Profil "Internationales" des Institutes für Berufs- und Wirtschaftspädagogik als auch in konkreten Projekten internationaler Kooperation von Willi BRAND eingebracht und genutzt worden.
Der folgende Beitrag soll ein kleines Dankeschön für die internationale Arbeit von Willi BRAND sein und im übrigen die nicht abgeschlossene Diskussion um Systembeschreibungen beruflicher Bildungssysteme im nationalen und internationalen Kontext neu beleben helfen.

2. Die Notwendigkeit von Systembeschreibungen

(Die nachfolgenden Systemüberlegungen beziehen sich auf Berufsbildungssysteme im allgemeinen und nicht auf die Unterdifferenzierungen von nationalen Berufsbildungssystemen mit deren Unterscheidungen in verschiedene Schultypen, etc. Dazu hat die EU-Kommission interessantes Material für die EU-Staaten vorgelegt, auf das wir in diesem Zusammenhang verweisen (siehe: Schlüsselzahlen zum Bildungswesen in Europa, Europäische Kommission, 2002).)

Die überwiegende Anzahl nationaler Berufsbildungssysteme zeichnet sich vor allem durch eine Eigenart aus, nämlich durch die Tatsache, dass es sich um in vielen Jahrzehnten gewachsene Strukturen handelt. Um sie analysieren zu können, muss man die geschichtlichen Hintergründe erkennen und verstehen. Gerade wenn es um Systementwicklung und -beratung im Rahmen von Berufsbildungshilfe geht, ist es sinnvoll, die unterschiedlichen Bildungssysteme in ihrer historischen Gewordenheit zur Kenntnis zu nehmen und zu analysieren, bevor zukunftsorientierte Förderprogramme entworfen werden. Die historische Aufarbeitung sowie Zukunftsüberlegungen zu Berufsbildungssystemen sollten vor allem zur Vermeidung sozialpsychologisch bedingter "Abstoßreaktionen" in einem Kontinuum begriffen werden. Durch eine solche Analyse können Probleme und Chancen, bzw. Tendenzen und Strömungen aufgezeigt werden. Durch qualitative Analysen von Berufsbildungssystemen wird eine Basis geschaffen, aufgrund derer sich Berufsbildungsexperten und Systementwickler verständigen können. Eine historisch bewusste und nicht ausschließlich systemisch-technische Arbeitssprache ist die Grundlage für jegliche Umgestaltungen und Weiterentwicklungen von vorgefundenen Berufsbildungssystemen, Teilsystemen und Reformansätzen. Auch ist eine Kenntnis von Systembeschreibungen für internationale Berufsbildungsexperten notwendig, um in knapper Form das eigene nationale Berufsbildungssystem mit anderen Systemen kategoriengeleitet darstellen und vergleichen zu können (Das ist eine wesentliche Voraussetzung für multinationale Berufsbildungsseminare.).

Wenn von der Krise des "Dualen Systems" der Berufsbildung gesprochen wird, dann sollte auch von einem Berufsbildungssystem und den damit vermachten Implikationen ausgegangen werden. Eine historisch orientierte Analyse des Dualen Systems der Berufsbildung ergibt, dass nämlich die Dualität der Lernorte, was immer wieder in der berufspädagogischen Literatur implizit und explizit vertreten wird, nicht das primäre, sondern nur ein sekundäres Kriterium ist. Das primäre historisch gewachsene Kriterium ist vielmehr die Dualität der Zuständigkeit und Verantwortung. Bei der Dualität der Zuständigkeit und Verantwortung handelt es sich um die traditionellen Selbstverwaltungsorgane von Handwerk und später Industrie sowie der neu hinzugetretenen Zuständigkeit des Staates (Nur so kann die zentrale Rolle, die Kerschensteiner dem Staat als neuem Partner in der beruflichen Bildung zuschreibt, angemessen verstanden werden. ).

Beschreibungen von Berufsbildungssystemen haben sich daher sehr konsequent an geklärten Kriterien zu orientieren, da sonst falsche Grundannahmen getroffen und Berufsbildungssysteme letztlich nicht mehr vergleichbar, rational diskutierbar und gestaltbar sind. Beim "Export" des Dualen Systems hat man mit der Einrichtung einer Lernortdualität von Betrieben und der staatlichen Berufsschule noch nicht das deutsche Duale System der Berufsbildung erfasst und exportiert, sondern sich am nachrangigen Kriterium des Lernorts orientiert.

3. Der UNESCO Kongress von 1989 und die dort vorgestellte Berufsbildungssystembeschreibung

Am 5. bis 9. Juni 1989 fand in Hamburg am UNESCO Institut ein internationales Symposium statt. Teilnehmer waren neben internationalen Organisationen u.a. die Behörde für Bildung und Wissenschaft. Es ging um das Thema "Innovative Methoden in der beruflichen Bildung" (Innovative Methods of Technical and Vocational Education). Eine der Hauptaufgaben dieses Symposiums war es, die Elemente der Zusammenarbeit zwischen Schulen und Betrieben herauszuarbeiten. Dieses sollte auf zwei Ebenen geschehen. Einerseits auf der Ebene des Berufsbildungssystems, andererseits auf der Ebene der beruflichen Lernprozesse. Die Teilnehmer sollten mit verschiedenen Systemen und didaktischen Ansätzen des beruflichen Lernens in und außerhalb der Schule vertraut gemacht werden. (vgl. UNESCO 1989, 7)
Dazu wurde ein System, bestehend aus einer Makro- und einer Mikroebene entwickelt, an dessen Erstellung Wolf-Dietrich GREINERT maßgeblich beteiligt war. Auf der Makroebene (siehe Tabelle 1) sollten Kriterien für die Klassifikation von Berufsbildungssystemen erarbeitet werden. Die Mikroebene (siehe Tabelle 2) sollte Lehr- und Lernmethoden in der beruflichen Bildung beinhalten. Neben der Absicht, Berufsbildungssysteme klassifizieren zu können, sollten Makro- und Mikrosysteme vor allem die Kommunikation zwischen Experten erleichtern helfen. Laut Horst BIERMANN, der sich in dem Papier des Symposiums zu diesem Problem äußert, ergab sich schon auf dem ersten Symposium 1987 in Berlin die Notwendigkeit eines Basis-Systems, das sich zur Beschreibung von Berufsbildungssystemen eignet. (vgl. UNESCO 1989, 11)
WIEMANN hat 1994 versucht, die Begrifflichkeiten des Makro- und Mikrosystems präziser zu beschreiben. Danach wäre unter einem Makrosystem die Ebene eines Bildungssystems zu verstehen, in der es um rechtliche, finanzielle Belange sowie Kontroll- und Beteiligungsverfahren von gesellschaftlichen Gruppen bei der beruflichen Bildung geht. Fragen des Ausbildungsniveaus und dessen Prüfung, die Ein- oder Ausgliederung des Systems in das allgemeine Bildungswesen sowie die Zuständigkeiten werden im Zusammenhang mit dem soziokulturellen Hintergrund des betreffenden Staates erörtert (vgl. WIEMANN 1994, 108 f.).
Bei einem Mikrosystem geht es um die Organisation der Lernprozesse, Selektion und Vernetzung von Lerninhalten, Leistungsbeurteilungen, Durchführung- und Kontrolle von Lernprozessen und Lernleistungen und den Einsatz von Lernhilfen. (vgl. WIEMANN 1994, 108 f.) Die Mikrosysteme kommen (groß)methodischen Ansätzen und Prinzipien durchaus im Sinne Hilbert MEYERs (MEYER 1988, 236 f.) nahe.


GREINERT ging es bei der Entwicklung einer Beschreibung der Berufsbildungssysteme vor allem darum, keine statischen Modelle zu entwickeln. Er lehnte strikt Systeme ab, die als Hauptkriterium lediglich den Lernort beachten (vgl. GREINERT 1995, 10). Untersucht man die Einteilungen zu den Makrosystemen in der nachstehenden GREINERTschen Übersicht, so erkennt man, dass GREINERT auch wieder dem Lernortkriterium verfällt.

Tabelle 1: Makrosysteme beruflicher Bildung

Sonst könnte er nicht das Berufsbildungssystem der Bundesrepublik und das der DDR gleicherweise als "kooperativ" bezeichnen. Das Berufsbildungssystem der Bundesrepublik, das eigentlich plural ist, ist aber dual in Bezug auf die doppelte Zuständigkeit des Staates und die Selbstverwaltungsorgane der Betriebe. Die Staatsdominanz in der DDR führte zur monalen Zuständigkeit über Betriebe und Berufsschulen. Formal gleichstellen ließen sich die Bundesrepublik und die DDR nur über das Lernortkriterium, wonach beide eine formal gleiche Dualität der Lernorte, nämlich die von Schule und Betrieb, besitzen (Für die Bundesrepublik galt durch die überbetrieblichen Lehrwerkstätten zudem bereits die Trialität der Hauptlernorte).

Tabelle 2: Mikrosysteme beruflicher Bildung

4. Das Problem des Lernortkriteriums zur Systembeschreibung

Wenn über Berufsbildungssysteme diskutiert wird, dann wird nach wie vor von den Lernorten als Primärkriterium ausgegangen. Gerade beim "Dualen System" geht es häufig leider lediglich um die Struktur des Ausbildungssystems, also um die Lernorte Betrieb und Berufsschule. GREINERT spricht sich in einem Beitrag von 1995 gegen eine zu enge Klassifizierung von Bildungssystemen aus (vgl. GREINERT 1995, 7). Eine Betrachtung dieser Art erfasst nach GREINERT nicht die Funktionsmechanismen des Systems, da sie von vorne herein die politische Frage der Trägerschaft ausklammert. Durch die sehr statische Klassifizierungskategorie "Lernort" kommt einem solchen Systematisierungsversuch nur geringer analytischer Wert zu. (vgl. GREINERT 1995, 7)
GREINERT wendet sich allgemein sehr kritisch gegen Versuche von Berufspädagogen Klassifizierungssysteme aufzustellen, ohne überhaupt ein Klassifizierungskriterium anzugeben, oder eben nur das des Lernortes (Schule, Betrieb, Lehrwerkstatt etc.). Der Begriff "Lernort" beschreibt Einrichtungen in denen berufliche Qualifikationen vorzugsweise erworben werden. Dieses Klassifizierungskriterium hat sich allgemein durchgesetzt, obwohl der Begriff sehr vage ist.
Der Begriff Lernort ist semantisch nicht präzise. Lernorte sind nach der Definition des Deutschen Bildungsrates "in ihrer pädagogischen Funktion unterscheidbare Orte. Seine Eigenart gewinnt jeder Lernort aus den ihm eigenen Funktionen im Lernprozess" (GREINERT 1995, 9). Auch Klaus BECK hat sich bereits in einer 1984 erschienenen Veröffentlichung kritisch zum Lernortkonzept geäußert. Seiner Meinung nach beinhalte die Diskussion um den Lernort implizit die These, dass Lernen zeitlich und lokal gegliedert sei. Dem hält Beck jedoch entgegen, dass sich Lernen immer und überall vollziehen kann und nicht von wenigen Lernorten abhängig gemacht werden kann. Ebenso wenig kann man davon sprechen, dass die Lernorte nach ihren pädagogischen Funktionen klar abgegrenzt werden können. Unterschiede zwischen Lernorten ein und desselben Typs könnten größer sein als zwischen Lernorten verschiedenen Typs (vgl. BECK 1984, 258). Beck hält es für eine unzulässig vereinfachende Betrachtungsweise, "über die Optimierung von Lernprozessen unter ausschließlicher Bezugnahme auf Lernorte zu reflektieren,..." (BECK 1984, 258).
GREINERT schließt sich BECKs Ausführungen an und macht deutlich, dass die Dualität des "Dualen Systems" nicht ausschließlich am Lernortkriterium festgemacht werden kann und sollte. Es sei möglich, weitere Strukturelemente zu finden, an denen sich die Dualität des Systems festmachen lässt. GREINERT nennt folgende:

1) Rechtsstatus der beiden Lernorte
2) Verschiedenheit ihrer Trägerschaft
3) unterschiedliche Finanzierung
4) verschiedene Kontrollinstanzen
5) Rechtsstellung der Auszubildenden
6) Lernorganisation der Lernorte
7) Professionalisierung ihres Ausbildungspersonals
(GREINERT 1988, 149)

Was GREINERT zum Ausdruck bringen will, ist, dass entscheidende Faktoren bzw. Strukturelemente in der Diskussion um Berufsbildungssysteme unerwähnt bleiben. So z.B. die Frage nach der Trägerschaft, die sich auch mit den Machtstrukturen beschäftigt, die sich in Berufsbildungssystemen als Teil gesamtgesellschaftlicher Einflüsse vorfinden lassen. GREINERT sieht in der Frage der Trägerschaft den Aspekt beleuchtet, "welche gesellschaftlichen oder politischen Machträger Strukturen und Funktionen der einzelnen Lernorte bestimmen." Der entscheidende Kritikpunkt am Lernortkriterium ist vor allem die Implikation, das Lernorten lediglich aufgrund ihrer pädagogischen Funktion und Zweckmäßigkeit Bedeutung zukommt. Das sie aber auch und in erster Linie das Ergebnis von Interessenauseinandersetzungen von Machtträgern sind und ein "Spiegelbild gesellschaftlicher Machtkonstellationen" darstellen, werde verschwiegen.
Es bedarf also für die vergleichende Systembeschreibung von Berufsbildung einiger Instrumente, die bisher noch nicht ausreichend entwickelt wurden. Es handelt sich um Folgende:

a) Ein einheitliches und praxisorientiertes Kriterienraster zur systematischen Beschreibung möglichst zahlreicher Varianten von Berufsausbildung
b) Ein Analyseschema für die Ermittlung der Struktur der Berufsausbildung
(vgl. GREINERT 1988, 152)
Von Bedeutung für diese Arbeit ist vor allem die Entwicklung eines einheitlichen Kriterienrasters, das nachfolgend entwickelt und dargestellt werden soll.

5. Die Bedeutung des Staates als Unterscheidungskriterium für Berufsbildungssysteme nach GREINERT

Systemtheorie hat nach GREINERT die Aufgabe, Strukturen und Funktionen der Berufsbildung zu analysieren und sie aufeinander zu beziehen. Dieses gelingt mit dem Kriterium "Lernort" kaum, da es eine statische Dimension aufweist. Mit Hilfe des Lernortes lassen sich zwar die Institutionen in denen Bildung vor sich geht strukturell beschreiben und analysieren, nicht jedoch konkrete Prozesse einer Berufsausbildung.
Vor diesem Hintergrund schlug GREINERT bereits 1988 ein seiner Meinung nach geeigneteres Klassifizierungskriterium vor, nämlich die Rolle des Staates in der Beruflichen Bildung. Mit Hilfe dieses politischen und dynamisch dimensionierten Kriteriums sollte die Rolle des Staates im Prozess der beruflichen Qualifizierung herausgearbeitet werden. Dabei identifiziert GREINERT unterschiedliche Modelle, die sich vor allem dadurch unterscheiden, inwieweit der Staat auf die beruflichen Ausbildungsprozesse einwirkt sowie diese Prozesse kontrolliert und steuert. GREINERT gelangte so zu drei unterschiedlichen Modellen, die im Folgenden beschrieben werden:

  • Marktmodell
  • Schulmodell
  • Staatlich gesteuertes Marktmodell (vgl. GREINERT 1995, 10 ff.)

5.1 Das Marktmodell

Dieses tendenziell liberalistische Modell wird auch marktwirtschaftliches System der Berufsbildung genannt. In ihm spielt der Staat keine bzw. nur eine marginale Rolle bei beruflichen Qualifikationsprozessen. Aufgrund von Marktmechanismen existiert eine Trennung zwischen der Berufsausbildung und dem allgemeinen Bildungswesen. Eine Vernetzung bzw. Integration der beruflichen Bildung zum allgemeinen Schulwesen gibt es danach in der Regel nicht (wie z.B. in Japan). Der Staat hat die Kontrolle über das allgemeinbildende Pflichtschulwesen.
Die Berufsbildung basiert in diesem Modell im hohen Maße auf den Bedürfnissen der Unternehmen, die auch selber ausbilden. Da der Staat keine Rahmenbedingungen festlegt und auch keine Kontrollfunktion innehat, bleibt es den Unternehmen selbst überlassen, über die Rahmenbedingungen der Ausbildung (Finanzierung, Ergebniskontrolle, Ausbildungsverträge etc.) zu entscheiden. Große Unternehmen sind aufgrund ihrer ökonomischen Überlegenheit besonders dominant in diesem System. Sie bieten interne Ausbildungsprogramme, die in direktem Zusammenhang mit dem Produktionsfaktor Arbeit stehen. D.h., dass die Betriebe "eine an unmittelbaren beruflichen Verwendungssituationen orientierte Ausbildung" (GREINERT 1995, 11) betreiben. Einerseits bindet das die Beschäftigten an die sie ausbildenden Betriebe und andererseits macht es die Arbeitnehmer sehr unflexibel was den Arbeitsmarkt angeht. Aufgrund der sehr engen und spezialisierten Ausbildung sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt als gering einzustufen. Die Möglichkeiten einen Betrieb zu wechseln, sind eher eingeschränkt.
Der Markt steuert über Angebot und Nachfrage die Ausbildung. Die Betriebe sind die Abnehmer der beruflichen Qualifikationen und entscheiden selber über den Bedarf. Nach dem ermittelten Bedarf werden dann die benötigten Qualifikationen ausgebildet. Die Art der Qualifikation richtet sich lediglich danach, was in den Betrieben benötigt wird. Die Ausbildung der benötigten Qualifikationen lässt sich besonders gut steuern, wenn der potentielle Abnehmer der Qualifikation selbst auch Träger der Ausbildung ist. Die Ausbildung findet dann auch nur in diesem Rahmen statt. Ein Wissenstransfer zwischen Betrieben findet kaum statt. Rechtlich gesehen haben die Auszubildenden nicht mehr Rechte als ein normaler Arbeitnehmer. Gesichtspunkte wie Chancengleichheit spielen bei der Auswahl der Auszubildenden keine Rolle.

5.2 Das Schulmodell

Dieses Modell wird nach GREINERT auch als bürokratisches Modell bezeichnet. Es zeichnet sich dadurch aus, dass der Staat allein für die Planung, Organisation, Durchführung und Kontrolle der Berufsausbildung verantwortlich ist. Es ist ein hierarchisches Elitesystem und findet sich meistens in Staaten mit starker Zentralverwaltung wieder. Im Gegensatz zum Marktmodell gibt es eher eine Verflechtung von allgemeinbildenden und beruflichen Bildungs- und Ausbildungsgängen. Die Qualifikationen sind innerhalb des Bildungssystems vergleichbar. Die Bedeutung der Betriebe spielt in diesem Modell nur eine geringe Rolle. Sie beschränkt sich in der Regel vor allem auf die Bereitstellung von Praktikumsplätzen.
Der Zugang zu den Ausbildungsgängen hängt im wesentlichen von den Schulabschlüssen der vorangegangenen Allgemeinbildung ab. Teilweise werden schulische Abschlüsse auch mit beruflichen Qualifikationen verknüpft, so dass es zu doppeltqualifizierenden Abschlüssen kommt (z. B. Hochschulreife und Facharbeiterqualifikation). Die Qualifizierung zielt auf ein breites Beschäftigungsfeld ab und qualifiziert daher für Arbeit in mehr als nur einem spezialisierten Betrieb.
Bei der Bedarfsplanung orientiert sich der Staat an wenigen fixierten "Grundberufen", was mit Hilfe von staatlichen Planungsinstanzen geschieht. Die Ausbildungsinhalte sind nicht nur an der unmittelbaren Verwendungssituation in den Betrieben orientiert, sondern berücksichtigen auch individuelle und gesellschaftliche Anforderungen. Die Finanzierung der schulischen Berufsausbildung geschieht aus öffentlicher Hand und die Ausbildung eignet sich am besten für Berufe, in denen wenig oder keine praktischen Fertigkeitsschulungen notwendig sind (z. B. kaufmännische Berufe) (vgl. GREINERT 1995, 14)

5.3 Das staatlich gesteuerte Marktmodell

Dieses Modell beschreibt das, was eigentlich unter dem Dualen System der Berufsbildung verstanden wird, ohne dass das so ausgesprochen wird. Der Staat hat die Aufgabe, die Rahmenbedingungen für private Betriebe und Ausbildungsträger in der beruflichen Bildung festzulegen. Üblicherweise kooperieren in diesem System öffentliche Bildungseinrichtungen mit privaten Ausbildungsbetrieben. Nach GREINERT heißen diese Systeme dual, "weil hier zwei Lernorte - Betrieb und (öffentliche) Berufsschule - unter dem gemeinsamen Ziel der beruflichen Qualifizierung von Auszubildenden" (GREINERT 1995, 15) zusammenarbeiten.
Charakteristisch für dieses Berufsausbildungssystem ist die Abgrenzung zum öffentlichen Schulsystem, was sich u.a. am Berufsbildungsrecht festmachen lässt. Die rechtliche Verantwortung der Berufsausbildung ist eine andere, als bei den allgemeinbildenden Schulen mit ihrem Schulrecht. Sie liegt eher bei der Wirtschafts- oder Arbeitsverwaltung. Staatlich gesteuerte Marktmodelle der Berufsausbildung gibt es vor allem in solchen Staaten, die eine lange Handwerkstradition aufweisen.
Nach der Auffassung GREINERTs ist weder die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe, noch das Vorhandensein einer spezifischen Betriebsstruktur notwendig, um von einem Dualen System sprechen zu können. Vorraussetzung ist vielmehr, dass ein nach Marktregeln strukturierter Ausbildungssektor vorhanden ist, "den der Staat mit rechtlichen Normen überformen kann" (GREINERT 1995, 16). Für GREINERT zeichnet sich das System durch eine lernortbezogene Dualität (Schule und Betrieb) und eine funktionale Dualität aus. Die funktionale Dualität stützt sich auf die unterschiedlichen miteinander verschränkten Regelungsmuster von Staat und Privatwirtschaft.

Die Relation von Bedarf und Berufsausbildung ist marktvermittelt. Allerdings unterscheidet sich dieses System von dem Marktmodell dahingehend, dass der als Ausbilder auftretende Betrieb sich den Rahmenbedingungen des Staates unterwerfen muss. D.h., dass die Ausbildungsbetriebe nicht unkontrolliert und nur nach dem eigenen Verwendungszweck ausbilden können. Obwohl sich die Art der beruflichen Qualifikation nach den beruflichen Verwendungssituationen im Betrieb richtet, wirken auch der Staat und die Interessenverbände (z. B. Gewerkschaften, berufliche Fachverbände) an der Definition der Qualifikationsziele mit. Die Betriebe sind Träger der Ausbildung und werden direkt oder indirekt vom Staat kontrolliert. Die Kosten für die Ausbildung tragen weitgehend die Betriebe, die jedoch über Finanzierungsmodelle staatlich unterstützt werden können.
Die folgende Tabelle zeigt eine Übersicht der obengenannten drei Modelle. Dabei werden Staaten als Beispiele genannt, auf die das jeweilige Modell beschreibungstechnisch zutrifft. GREINERT warnt jedoch davor, diese Modelle als "Abbilder von Realformen nationaler Berufsausbildungssysteme misszuverstehen" (GREINERT 1995, 17). Es handelt sich bei den realen Berufsausbildungssystemen um Kombinationen und / oder Varianten der genannten Modelle. Sie stellen Grundformen dar, die in Reinform kaum anzutreffen sind.


BB- Berufliche Bildung
AB- Allgemeine Bildung


Tabelle 3: Grundtypen beruflicher Bildung nach dem Kriterium des Staates (vgl. GREINERT 1995)

Analysiert man die über Normen und Werte in die Sprache eingeflossenen Modellpräferenzen bei GREINERT, so wird deutlich, dass dieser das staatlich gesteuerte Marktmodell priorisiert. Damit wird, was auch real geschehen ist, letztendlich das Duale System möglichen Aufnahmeländern schmackhaft gemacht werden. Auf das damit vermachte Problem ist bereits verwiesen worden. Als Konsequenz der GREINERTschen Arbeiten sind andere Kriterien systematisch für die Beschreibung von Berufsbildungssystemen in Betracht zu ziehen. Dazu werden nachfolgend Vorschläge gemacht.

6. Der Versuch einer Neustrukturierung der Beschreibung von Berufsbildungssystemen

(Erstmals als Vortrag hat SPRETH den Vorschlag zur Neustrukturierung 1995 auf einer Konferenz zur internationalen Berufsbildungskooperation im hessischen Institut für Lehrerfortbildung (HILF) vorgestellt. Nachfolgend ist dieser Ansatz immer wieder Gegenstand bei AGs und Seminaren zur internationalen Berufsbildungskooperation gewesen.)

Es ist zunächst notwendig festzuhalten, dass das Duale System sich durch eine Dualität auf unterschiedlichen Ebenen auszeichnet. Anhand der vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, dass es notwendig ist, verschiedene Aspekte bei der systemisch-systematischen Beschreibung eines Berufsbildungssystems zu berücksichtigen. Diese Arbeiten sind von GREINERT und WIEMANN begonnen worden. Bei der Beschreibung eines Makrosystems der Berufsausbildung sollten zunächst die unterschiedlichen soziokulturellen Hintergründe eines Staates, die wiederum bestimmte institutionelle Strukturen hervorrufen, beachtet werden. Die Frage der Trägerschaft oder Zuständigkeit in der beruflichen Bildung wird zur Frage nach der Machtverteilung im Bemühen um eine berufliche Bildung. Die Machtkonstellationen, die sich daraus ergeben, spielen eine wesentliche Rolle bei der Organisation und Durchführung von beruflicher Bildung. Die Lernorte spielen ebenso ein wichtige Rolle wie der Lerntypus, also die überwiegende Dimension von Lernzielen bzw. von Qualifikationsaneignungen, die an bestimmten Lernorten präferiert werden. Das bedeutet aber nicht, dass Lernorte automatisch einem Lerntypus zugeordnet werden können und müssen.
Mit Hilfe dieser Blickwinkel wird es möglich, ein Berufsbildungssystem aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und den unterschiedlichen Einflüssen Rechnung zu tragen. Die Komplexität der Relationen spiegelt sich nicht mehr nur an einzelnen Begrifflichkeiten oder Kriterien wie der Lernorte oder der Rolle des Staates wider, sondern erfasst diese auf mehreren Ebenen nach den folgenden Kriterien:

  • Trägerschaft / Zuständigkeit / Verantwortung
  • Lernorte der Ausbildung
  • Lerntypus

Folgende Tabellen stellen eine Systematisierung nach obengenannten Kriterien dar. Die mit o gekennzeichneten Felder stellen dabei fiktive Beispiele dar, die zur Verdeutlichung des Schemas dienen während die mit x gekennzeichneten Felder das Duale System beschreiben.

Tabelle 4: Systematisierung nach dem Kriterium Trägerschaft / Zuständigkeit / Verantwortung

Tabelle 4 zeigt die Strukturen des deutschen Dualen Systems nach dem Kriterium der Trägerschaft oder Zuständigkeit. Die Dualität des Systems ist durch die betrieblichen und wirtschaftlichen Selbstverwaltungsorgane und den Staat gekennzeichnet. Die beruflichen Schulen sind in der Regel in staatlicher Hand. Die Handwerks-, Industrie- und Handelskammern überwachen die betriebliche und überbetriebliche Berufsausbildung. Die Träger der Selbstverwaltungsorgane wirken eigenverantwortlich an der Berufsqualifizierung mit. Die Selbstverwaltungsorgane werden aber von den Vorschriften und Gesetzen des Staates überformt und stehen unter Kontrolle des Staates im Sinne einer Rechtsaufsicht über eine Körperschaft des öffentlichen Rechts.
Nach dieser Systematisierung wäre die ehemalige DDR kein Duales System. Es würde auch nicht in dieselbe Kategorie wie das Berufsbildungssystem der BRD kommen. Die Planung, Durchführung und Kontrolle von Berufsausbildung lag in der DDR einzig und allein in staatlicher Hand. Die Ausbildungsbetriebe bildeten keine Selbstverwaltungsorgane und waren vollständig unter staatlicher Kontrolle. Daraus ergibt sich ein zuständigkeitsmonales System, nämlich in der Kategorie "Staatlich und Öffentlich". Dieser wesentliche Unterschied kommt in GREINERTs Klassifizierungsmodell nicht zum Tragen.

In der Tabelle 4 ging es darum, herauszustellen, wer die Hauptverantwortung für die Ausbildung auf nationaler Ebene hat. Es ging nicht um die Lernorte in denen ausgebildet wird. Die Tabelle 5 systematisiert nach dem Kriterium der Hauptlernorte der Berufsausbildung, das als nachrangiges Kriterium gesehen wird. Es spielt dabei keine Rolle, in wessen Zuständigkeitsbereich diese Lernorte fallen. Das deutsche Duale System zeichnet sich durch die Dualität der Lernorte aus. Allerdings kann teilweise auch von einem trialen System bezüglich der Lernorte gesprochen werden, da die Bedeutung der überbetrieblichen Ausbildungszentren gerade in der Industrie und anderen Bereichen zugenommen hat.

Tabelle 5: Systematisierung nach dem Kriterium Hauptlernorte der Ausbildung

Die ehemalige DDR wies hier ganz ähnliche Strukturen auf, wie die BRD. Was den Lernort betrifft, würden die DDR und die BRD derselben Kategorie zugeordnet, so wie GREINERT es unter dem Begriff des "kooperativen Modells" getan hat. Diese Übereinstimmung lässt vermuten, dass GREINERT sich trotz kritischer Äußerungen und vehementer Kritik gegenüber Kollegen dennoch des Lernortkriteriums als Unterscheidungsmerkmal bedient hat.


Aus pädagogischer Sicht treten die Lernorte für gewisse Lern- bzw. Lehrtypen ein. Das traditionelle Modell sieht die praktische Lehre in den Betrieben und die theoretische Lehre in den Schulen angesiedelt. Das deutsche Duale System hat diesbezüglich eine Entwicklung durchgemacht. Wie bereits erwähnt werden heute Auszubildende vermehrt auch auf überbetriebliche Ausbildungslehrgänge geschickt. Gerade im Handwerk, in dem nicht alle Auszubildenden die Möglichkeiten haben, umfassend-systematisch in ihren Betrieben ausgebildet zu werden, bieten überbetriebliche Lehrgänge den Auszubildenden die Gelegenheit, neue Techniken und Methoden der Arbeitspraxis kennen zu lernen, die der einzelne Betrieb nicht bieten kann. Die überbetriebliche Ausbildung ist überwiegend praktisch orientiert.


Was die Lerntypi angeht, vermischen sich die Grenzen von Theorie und Praxis zwischen Berufschule und Betrieb zusehends. In den Hauptlernorten wird heutzutage vermehrt sowohl theoretisch als auch praktisch gearbeitet. Lediglich das überbetriebliche Zentrum dient als Möglichkeit, zusätzliche Fertigkeiten zu schulen und konzentriert sich dabei vorwiegend auf die Praxisseite. Aus Zukunftssicht und im Kontext von Schlüsselqualifikationen, Mobilität und Lernfeldorientierung werden alle Lernorte zukünftig sowohl praktische als auch theoretische Inhalte vermitteln müssen.

Tabelle 6: Systematisierung nach dem Kriterium Lerntypus am Beispiel der Entwicklung des deutschen Dualen Systems

7. Zusammenfassung

Das Lernortkriterium ist nicht hinfällig. Es hat sich aber gezeigt, dass es sich nicht als alleiniges Unterscheidungskriterium eignet, sondern vielmehr nach dem Hauptkriterium der Zuständigkeit als ein Sekundärkriterium aussagekräftig ist. Ansonsten bleiben Machtstrukturen und Zuständigkeiten unberücksichtigt, die gerade beim internationalen Vergleich und der Systemberatung eine große Rolle spielen. Denn ein Staat, der zuständigkeitsmonal innerhalb der Berufsbildung ist, kann nicht ohne weiteres mit einem zuständigkeitsdualen Ausbildungssystem überformt werden. Ausbildungsprogramme, die auf einer Zuständigkeitsdualität fußen, müssen dann in diesem Fall auf ihre Tauglichkeit hin überprüft werden. Mit dem Aspekt der Zuständigkeit wird erstmals auch dem sozio-kulturellen Hintergrund von Bildungssystemen Rechnung getragen. Es wird berücksichtigt, dass die Berufsbildungssysteme gewachsene Strukturen sind, mit eigener Geschichte und Entwicklung, die sich nicht von heute auf morgen ändern lassen. Nur wenn diese Hintergründe durch Systemberater beachtet werden, kann auch eine Beratung sinnvoll erscheinen. Für Entwicklungsprozesse ist die Beachtung des Zusammenhangs von makro- und mikrosystemischen Entscheidungen, wie sie WIEMANN präzisiert hat, wesentlich.
Am Beispiel des Dualen Systems soll abschließend eine Übersicht der Berufsbildungssystembeschreibung folgen, die sich sinngemäß für andere nationale Berufsbildungssysteme anwenden ließe:

Makroebene:

1. Zuständigkeitsdual: Staat und betriebliche / wirtschaftliche Selbstverwaltungsorgane
2. Lernorttrial: Betrieb, Schule und z. T. überbetriebliche Ausbildungszentren
3. Lerntypusplural: betrieblich und schulisch: praktisch und theoretisch und im übrigen in einer Entwicklung (gemäß Tab. 6) befindlich.

Mikroebene:

1. Fächerübergreifender Unterricht
2. Projektunterricht
3. Betriebliche Praxis (on-the-job-training)
4. Produktionsschulprinzip
5. etc.

So ließen sich internationale Berufsausbildungssysteme unter Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Situation in Kurzform darstellen, um sie danach einer detaillierten Diskussion zugänglich zu machen. Dabei dürfte deutlich geworden sein, dass die Absicht, nationale Ausbildungssysteme mit nur einem Kriterium erfassen zu wollen, unzulänglich ist.

 

Literatur:

BECK, K. (1984): Zur Kritik des Lernortkonzeptes - Ein Plädoyer für die Verabschiedung einer untauglichen pädagogischen Idee. In

GEORG, W. (Hrsg.): Schule und Berufsausbildung. Bielefeld, 247-262.

GREINERT, W.-D. (1988): Marktmodell-Schulmodell-duales System. Grundtypen formalisierter Berufsbildung. In: Die berufsbildende Schule, 40, 145-156.

GREINERT, W.-D. (1995): Das duale System der Berufsausbildung in der Bundesrepublik Deutschland - Struktur und Funktion. Stuttgart.

MEYER, H. (1988): Unterrichtsmethoden 1 - Theorieband. Frankfurt, 236 f.

UNESCO (1989): Innovative Methods of Technical and Vocational Education - Report of the Unesco International Symposium. In: Bildung - Wissenschaft - International, Bundesminister für Bildung und Wissenschaft (BMBW), 2.

WIEMANN, G. (1994): Beratung für Mikro-Systeme beruflichen Lernens. In: BIERMANN, H. / GREINERT, W.- D. / JANISCH, R. (Hrsg.): Systementwicklung in der Berufsbildung. Baden-Baden, 87-111.