wbv   Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen e.V.

 

 

 

Beitrag von KLAUS STRUVE (Universität Hamburg)

Berufs- und Lebensperspektiven Behinderter.
Methodologische Grundsätze integrationspädagogischer Tätigkeit


Fragen, Interessen, Motive, Handlungsmöglichkeiten

Mit welchem Erkenntnisinteresse können sich Pädagogen, vor allem berufspädagogisch orientierte Behindertenpädagogen mit Berufs- und Lebensperspektiven von behinderten Personen befassen? Die Antworten auf diese Frage fallen unterschiedlich aus. Im Gespräch zwischen Kolleginnen und Kollegen in einer abgebenden Schule der Sekundarstufe I, während einer Veranstaltung zur Fort- und Weiterbildung von Pädagogen, im wissenschaftlich ausgerichteten Studium, im integrationspädagogischen Forschungsprozess sind unterschiedliche Antworten gefragt. Das Interesse an einer Weiterentwicklung der Theoriebildung, an ihrer Konkretisierung mit Blick auf die Denk- und Verfahrensweisen in unterschiedlichen Bildungsprozessen, in den einschlägigen Institutionen, in Förderschulen und Integrationsklassen, in beruflichen Schulen, in Werkstätten für behinderte Menschen und in den Integrationsfachdiensten ist groß, unübersehbar. Woran es vor allem fehlt, das ist das gemeinsame Nachdenken und Planen, das abgestimmte Handeln zwischen dem verantwortlichen Personal in den abgebenden und aufnehmenden Institutionen. Die Erfolge sind dann ermutigend, wenn die Kommunikation und der Schulterschluss zwischen den Beteiligten bis in die Betriebe und ihre Leitungsebenen hinein realisiert werden kann (vgl. HAARMANN/SPIESS 2002).


In der Planung und Durchführung integrationspädagogischer Tätigkeit fehlt es weder an den behinderten- und integrationsrechtlichen Grundlagen noch an begründeten Kriterien für die Qualität der Arbeit, die im Prozess des Übergangs Behinderter in die berufliche Bildung und Qualifizierung, in die Betriebe und Werkstätten geleistet werden muss. Die aktuelle Aufgabe besteht darin, die Integrationsfachdienste der Integrationsämter flächendeckend in den Städten und Regionen auszubauen und von den Zwangsjacken der Bürokratie, des quantitativen Denkens und der statistischen Erhebungen zu befreien. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit im integrationspädagogischen, im arbeitspädagogischen Prozess muss die Verantwortlichkeit des Personals für die Qualität der geleisteten Arbeit stehen. Das gilt selbstverständlich auch für die Tätigkeit von Pädagogen in den allgemeinen Schulen, in der berufsvorbereitenden und beruflichen Bildung. Nicht mehr Arbeits- und Unterrichtsstunden dürfen den Pädagogen mit einem politisch motivierten und verwaltungstechnisch ausgerichteten Instrument abgepresst werden. Viel mehr müssen sie verpflichtet sein, gegenüber den Beteiligten, vor allem gegenüber den Eltern und Erziehungsberechtigten, gegenüber der Schulaufsicht und der bildungs- und wissenschaftspolitischen Öffentlichkeit die Ziele, Inhalte und Methoden ihrer Tätigkeit im Erziehungs- und Bildungsprozess regelmäßig darzulegen. Im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzungen sollten die naheliegenden, die nächsten Entwicklungsmöglichkeiten der Lernenden, der Jugendlichen stehen. Über die Sicherung und Ausweitung der vorhandenen Fähigkeiten und Fertigkeiten, der Kenntnisse, des Wissens und der Persönlichkeitseigenschaften der Jugendlichen muss kontinuierlich reflektiert werden. Diese Sicherung und Ausweitung der Fähigkeiten und Fertigkeiten Jugendlicher kann erfolgreich nur im Medium ihrer eigenen Tätigkeit, der sie umgebenden Natur, der gesellschaftlichen Lebenszusammenhänge und sinnerfüllter, gesellschaftlicher Arbeit und Produktion stattfinden (vgl. PESTALOZZI 1966, 10).


Die weitgehend abstrakte Auseinandersetzung über die Planung und Realisierung von gemeinsam geteilter Unterrichts- und Lerntätigkeit zwischen behinderten und nicht behinderten Kindern ist wesentlich auf die ersten fünf oder sechs Schuljahre ausgerichtet, auf die dort dominierende Tätigkeit des Lernens als die 'Arbeit von Kindern' (vgl. DUISMANN 2003). Danach muss der gesellschaftliche Arbeits- und Produktionsprozess nicht nur wahrgenommen und gedanklich be- und verarbeitet werden, sondern in ihm müssen für die Heranwachsenden Räume, Werkstätten, Erprobungsstrategien geschaffen werden, in denen sie ihre Kräfte mit Blick auf die Welt der Erwachsenen, mit Blick auf ihre selbsttätige Integration in das Beschäftigungssystem, in die Erwerbstätigkeit entwickeln können. Wenn die sozialökonomisch und politisch herrschenden Kräfte nicht in der Lage bzw. Willens sind, diesen Integrationsprozess durch die Schaffung von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zu ermöglichen und zu sichern, dann tragen sie selbstverständlich die Verantwortung für die Berufsnöte, die Arbeitslosigkeit und die Verwahrlosung großer Teile der Jugend. Berufspädagogisch qualifizierte Behindertenpädagogen oder umgekehrt, behinderten- und sozialpädagogisch qualifizierte Berufspädagogen sind nicht nur besorgt um die berufliche Integration behinderter Jugendlicher (ca. 6-8 %), sondern um einen Teil der Jugend, der in manchen Stadtteilen, Regionen und wirtschaftlich unentwickelten bzw. heruntergekommenen Gebieten bis zu 30 % aller Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausmacht.

Gewerkschafter, Pädagogen, wissenschaftlich gebildete, geistig und materiell unabhängige Menschen, die in der Lage und Willens sind, sich zu assoziieren, sie können ein Bollwerk sein oder bilden, um den andauernden und zunehmenden Kräften in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft entgegenzutreten. Diese sind offensichtlich bestrebt, Wahrheiten zu verschweigen, Opfer der sozialökonomischen Entwicklung und ihrer sozialversicherungspolitischen Folgen zu Tätern abzustempeln oder die Institutionen und Erscheinungen des Systems derart bunt zu verpacken oder anzustreichen, dass in einer Stadt wie Hamburg sehr wahrscheinlich kaum hundert Menschen mehr durchblicken, was mit Hilfe der Wirtschafts-, Sozial-, Bildungs- und Hochschulpolitik des politischen Senats durchgesetzt werden soll bzw. kann.
Derweil können aufmerksame Bürger in der Stadt Hamburg wahrnehmen, dass die überwiegende Mehrzahl der Lehrer und wahrscheinlich auch der Eltern gegen die Lehrerarbeitszeitverordnung sind. Nicht wenige Kolleginnen und Kollegen aus dem Fachbereich Erziehungswissenschaft konnten sich während der Anhörung von Experten, von Bürgern durch den Schulausschuss der Bürgerschaft davon überzeugen, dass Eltern, Lehrer, Gewerkschafter und Wissenschaftlerinnen qualifizierter für ein demokratisches Schulgesetz und vor allem für den Ausbau integrationspädagogischer Arbeit in den Schulen und im Berufsbildungsprozess eintreten können als selbst die oppositionellen Kräfte im Stadtparlament.
An anderen Orten dieser Stadt, in berufs- und rehabilitationspädagogischen Einrichtungen können sich Studierende als angehende Pädagogen, als Behinderten- oder Berufspädagogen damit auseinander setzen, wie und mit welchem Erfolg sich behinderte bzw. durch Unfall und Krankheit geschädigte Menschen auf neuen Wegen für berufliche Tätigkeiten qualifizieren. Im Zusammenhang mit der Analyse/Synthese von Persönlichkeitsentwicklungsprozessen in Werkstätten für behinderte Menschen hat der Verfasser dieses Beitrags eine Person vor Augen, die jahrelang bestrebt war, ihren Analphabetismus zu überwinden, das Lesen und Schreiben zu lernen. Das gelang der Person erst dann und sehr langsam, nachdem ihr qualifizierte Unterstützung durch zwei sprachwissenschaftlich und didaktisch gebildete Lehrerinnen zuteil wurde. Die beiden Sonderpädagoginnen haben sich bereits während ihres Studiums an der Universität Oldenburg intensiv und auf wissenschaftlich reflektiertem Niveau mit muttersprachlichem Anfangsunterricht, mit der so genannten Morphem-Methode beim Lesen und Schreiben von erwachsenen, geistig behinderten Personen befasst. Sie waren später in ihrer beruflichen Tätigkeit so versiert im Prozess der Analyse von Wahrnehmungs- und Tätigkeitsprozessen von geistig behinderten Erwachsenen, dass sie sicher die Morpheme, die Wörter und Wortfelder herausfinden konnten, welche als Material, als Gegenstände der Aneignung von Schriftsprachlichkeit geeignet waren. In dem Prozess der Aneignung der Schriftsprache, an den hier erinnert wird, ging es im Kern um die Wörter drehen und Drehmaschine, um das Morphem '-dreh-'. Der erwachsene, geistig behinderte Analphabet war versierter Praktiker an verschiedenen Drehmaschinen in den Werkstätten für behinderte Menschen in Ganderkesee, zwischen Oldenburg und Bremen gelegen. Sein eignes jahrelanges Bemühen um Schriftsprachlichkeit war vergeblich, weil Kolleginnen und Kollegen in der Werkstatt aber vor allem in der örtlichen Volkshochschule nicht über die angemessenen Fähigkeiten verfügten. Sie konnten die inneren Zusammenhänge zwischen Arbeit und Persönlichkeitsentwicklung, zwischen Bedürfnis und Interesse nicht aufdecken.
Am Beispiel einer Kulturtechnik der Blinden und zugleich Gehörlosen, am Daktylieren kann die Darstellung verifiziert werden: Wenn Pädagogen die Kulturtechniken nicht virtuos beherrschen, wenn sie die Wissenschaft und Praxis der Vermittlung zwischen den Personen, der sie umgebenden Natur, ihrer Umwelt, ihrer eigenen Welt der Gedanken und der Betätigung nicht ausloten, dann müssen sie sich mit geringem Erfolg zufrieden geben. Pädagogen und solche, die es werden wollen, können die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Sie sollten mit Blick auf ihre eigene Persönlichkeitsentwicklung nicht verzweifeln; denn es ist schon seit Jahrzehnten bekannt, dass Lehrerinnen und Lehrer weitgehend dafür verantwortlich sind, wenn Kinder über Jahre hinweg die Schule besuchen und nur unzulänglich oder gar nicht das Lesen und Schreiben lernen. Die keineswegs immer optimistisch stimmenden Antworten auf viele Fragen beim Studieren und beim Erforschen integrationspädagogischer Prozesse stehen nicht unverbunden nebeneinander. Was sie zusammenhält, ist der Reichtum des pädagogischen Prozesses in der Gesellschaft, mit seinen widersprüchlichen Erscheinungen in Wissenschaft und Praxis. Der Reichtum des pädagogischen Prozesses existiert in seiner Bewegung und Entwicklung, in den Taten der Lehrerinnen und Lehrer, der Kinder, Jugendlichen und Eltern, die in den Institutionen des Prozesses planvoll, intentional wirken. Er existiert auch in den Denk- und Verfahrensweisen von Studierenden und Wissenschaftlerinnen, die sich vieles aneignen, mit dem Ziel, in dem unendlichen Prozess gestaltend zu wirken. Die widersprüchliche Einheit des pädagogischen Prozesses in Theorie und Praxis muss betont werden. Alle Versuche, die pädagogische Theoriebildung der pädagogischen "Praxis entgegenzustellen und eine solche Entgegenstellung philosophisch zu 'begründen'", haben sich in Vergangenheit und Gegenwart als fruchtlos erwiesen (KOROLJOW/GMURMANN 1972, 118). Wie ein solcher Kardinalfehler und andere Mängel beim Denken und Tun im pädagogischen Prozess vermieden werden können, kann mit Hilfe der inneren Zusammenhänge zwischen nicht mehr als sechs wissenschaftlichen Kategorien demonstriert werden.

Gesetzmäßigkeit

Welches Interesse Pädagoginnen und Pädagogen auch immer leiten mag, die im integrationspädagogischen Prozess tätig sind: Sie können seine Widersprüchlichkeit erkennen und beachten. Sie können Widersprüchlichkeiten gedanklich angemessen be- und verarbeiten, wenn es ihnen bewusst ist, was integrationspädagogische Theoriebildung leisten, welchen Zwecken sie dienen soll. Sie soll (erstens) gesicherte gesetzmäßige Aussagen über den Gegenstand unserer wissenschaftlichen Tätigkeit bestätigen und konkretisieren. Selbstverständlich ist es auch notwendig oder wahrscheinlich, bislang unbekannte gesetzmäßige Zusammenhänge im Prozess der Entfaltung des individuell-gesellschaftlichen Menschen, im Prozess der Herausbildung von Persönlichkeiten zu entdecken und sprachlich-begrifflich in Arbeitsprozessen darzustellen. Angesichts veränderter, vor allem sozialer und materiell-technischer Bedingungen des pädagogischen Prozesses muss davon ausgegangen werden, dass die pädagogisch wie berufspädagogisch qualifizierte Beförderung von Persönlichkeitsentwicklungsprozessen sich nicht nur auf neuartige Erkenntnisse sondern auch auf neu entdeckte Gesetzmäßigkeiten stützen kann. Im gegebenen Zusammenhang kann an die von pädagogischen Fachkräften herstellbaren inneren Zusammenhänge zwischen vier Erscheinungen bzw. Tatsachen erinnert werden:


· die Errungenschaften der Informations- und Kommunikationstechnologie, die im Bildungsprozess gar nicht mehr wegzudenken sind,
· die mikroelektrotechnische Revolutionierung der Steuerungselemente sämtlicher Arbeitsmaschinen zu systemischer Produktionstechnik,
· die veränderten demografischen Bedingungen, beispielsweise die Tatsache, dass immer mehr Kinder und Jugendliche ohne Geschwister aufwachsen, und dass die familiäre Entwicklung, die Jugend, die Arbeit in Schulen, Berufsschulen und Betrieben getrennt erscheint zwischen Stadt und Land, zwischen den Ländern, zwischen Stadtteilen, zwischen Schichten und Klassen, zwischen den etablierten und zugewanderten Familien, zwischen den immer widersprüchlicher werdenden Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Wirtschaftszweigen,
· die bereits erwähnte Arbeits- und Perspektivlosigkeit großer Teile der Bevölkerung, der Jugend und alter Menschen. Es ist absurd bzw. ablenkend, die krisenhafte, sozialökonomische Entwicklung reformieren zu wollen, in dem denen, die nichts oder wenig haben, vor allem keine Arbeit, neue Lasten aufgebürdet werden. Der Staatshaushalt der Bundesrepublik wird seit Jahrzehnten zunehmend von der lohnabhängigen Bevölkerung finanziert, und wenn die Lohnerhöhungen oder wenigstens Arbeits- und Ausbildungsplätze fordert, dann wird sie von einer Koalition aus Wirtschaft und Politik beschimpft und - so wie es jetzt in der ostdeutschen Metallindustrie geschieht - es wird ihr angedroht, die Betriebe in das Ausland zu verlegen. Es scheint kaum Politikerinnen und Politiker von Format zu geben, die dies anprangern und verurteilen als tendentiell grundrechtswidrig und gegen den sozialen Frieden im Lande bzw. im zusammenwachsenden Europa gerichtet.

Gewordenheit

Die Theoriebildung, im vorliegenden Falle die berufs- und behindertenpädagogische, soll (zweitens) ihren Gegenstand in seiner Gewordenheit widerspiegeln. Es geht hier nicht um die Gewordenheit der pädagogischen Wissenschaft selbst (Geschichte der Pädagogik), sondern um die Herausbildung und Entwicklung der pädagogischen Denk- und Verfahrensweisen, die dafür bestimmend sind, wie in Schule und Unterricht, im Betrieb und in der Berufsschule die Gewordenheit einer Persönlichkeit zum Ausdruck kommt.

Zukunft

Die pädagogische Theoriebildung soll (drittens) über die künftige Entwicklung ihres Gegenstandes Aussagen machen. Selbstverständlich dürfen nicht die Jugendlichen selbst oder gar ihre Köpfe als der 'Gegenstand' pädagogischer Arbeit angesehen werden. Der Gegenstand pädagogischer Arbeit ist die ethisch und wissenschaftlich verantwortete Vermittlungstätigkeit zwischen den Jugendlichen, ihren psychophysischen Kräften und der sie umgebenden Natur, der gesellschaftlich geformten Umwelt, der Kultur und der Welt der Arbeit, der Produktion aller Güter und Dienstleistungen, die Menschen in ihren sozialen Beziehungen zum Leben brauchen. Damit ist diese grundlegende Bestimmung pädagogischer Arbeit durch PESTALOZZI zum dritten Mal variierend gebraucht worden. Er hat ein Bewusstsein über die inneren Zusammenhänge zwischen Sozialerziehung und Volksbildung, zwischen berufs- und behindertenpädagogischer Tätigkeit in Wissenschaft und Praxis ausgebildet.


In diesem dritten Element der Theoriebildung geht es um die Zukunft der Personen, die den professionell tätigen Pädagogen von den staatlichen und gesellschaftlichen Organen anvertraut sind bzw. anvertraut werden, und deren Entwicklung sie mit wissenschaftlich begründeten und erprobten Mitteln erforschen und befördern sollen. Pädagogische Theorie, die keine Prognose über die sich entwickelnden, sich bildenden, über die zu erziehenden Menschen erstellt, erfüllt nicht ihren wesentlichen Zweck. Das ist eine Feststellung, die Brisanz bekommt, wenn vor allem Pädagoginnen und Pädagogen die Augen nicht (mehr) davor verschließen, dass viele Verantwortliche in den pädagogischen Institutionen, in den Betrieben und in den Organen der Politik keine Antworten mehr wissen, auf die Fragen nicht nur der Jugend nach einer erfüllten Zukunft, nach sozialer und materieller Sicherheit, nach sinnerfüllter Arbeit und Berufsbildung, nach Frieden nicht nur bei uns, sondern auch im Kongo, im Irak, in Afghanistan. Diese Länder und Menschen sind den Pädagogen keineswegs fern. Hamburg hat die größte afghanische Gemeinde in Deutschland zu Gast mit ca. 15 Tausend Personen, darunter vielen Jugendlichen, die ganze Berufsschulklassen füllen. Die drei genannten und die nun folgenden drei Qualitätskriterien für integrationspädagogische Arbeit, die als die wesentlichen Seiten wissenschaftlicher Denk- und Verfahrensweise bestimmt werden können, müssen angehende Pädagogen am Ende des Studiums beherrschen und selbst unter widrigen Umständen anwenden können.


Viele komplizierte Darlegungen und Diskussionen im pädagogischen Prozess und vor allem in der Lehrerbildung sind auf das dialektische Verhältnis von individueller und gesellschaftlicher Bewegung und Entwicklung, von Behinderung und Normalität ausgerichtet. Eine angemessene Haltung und Auffassung zu diesen gesellschaftlichen wie individuellen Entwicklungsproblemen kann folgendermaßen zusammengefasst werden: Keine Pädagogin, kein Pädagoge sollte sich mit Feststellungen zufrieden geben, dass 'das Leben in der Gesellschaft sich wandelt', dass 'die gesellschaftliche Kommunikation und Produktion revolutioniert wird', dass die Individuen tätig sind und sich entwickeln. Mit Blick auf das pädagogische Denken und Tun ist es unumgänglich, dass die Praxis des gesellschaftlichen Lebens und Arbeitens, dass die Praxis des Bildungsprozesses und des gemeinsamen Lernens eines grundsätzlichen Wandels bedarf, damit sich viele Menschen, Behinderte und Benachteiligte, Menschen aus anderen Kulturkreisen, ganze Schichten der Bevölkerung überhaupt erst entfalten können. Pädagogen müssen auf dieser Forderung bestehen und, damit sie nicht unglaubwürdig werden, müssen sie selbst Hand anlegen, damit die gesellschaftlichen wie materiellen Bedingungen, die Voraussetzungen für integrationspädagogische Tätigkeit geschaffen bzw. verbessert werden. Wenn Berufspädagogen der Auffassung sind, dass geistig behinderte Menschen das Recht haben, sich in einer Berufsschule zu bilden und in einem Betrieb zu arbeiten, dann sollten sie nicht in der Berufsschule hoffen und warten, dass sie zu ihnen kommen. Das Soziale und das Politische ist immer dominant in dem (integrations)pädagogischen Denken und Handeln.
Welche Erwartungen können Pädagogen an eine integrationspädagogische Theorie bzw. Theoriebildung haben, die ein Mittel zur Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und vor allem das Mittel zur Integration von Menschen in das Berufsbildungs- und Beschäftigungssystem ist, die bislang weitgehend ausgeschlossen sind? Mit Hilfe von drei weiteren Gedankengängen können die Erwartungen zum Ausdruck gebracht werden.

Ganzheitlichkeit

Integrationspädagogisches Denken und Handeln ist nicht darauf aus, (irgend) eine Seite der Entwicklung, Erziehung und Bildung einer Persönlichkeit zu erhellen. Mit der Analyse/Synthese möglicher Berufs- und Lebensperspektiven Behinderter und ihrer nachdrücklichen Verwirklichung können und wollen Pädagogen der jeweiligen Persönlichkeit und der Logik ihres Denkens und Handelns, ihrer Gefühls- und Lebenswelt gerecht werden. Ist das wegen ihrer unzulänglichen Fähigkeiten oder wegen der fehlenden Mittel nicht oder noch nicht möglich, dann können sie darauf aus sein, Voraussetzungen zu schaffen, um Wesentliches tun zu können. Vor allem die dezidiert pädagogische Arbeit mit sehr schwer geschädigten bzw. behinderten Menschen ist ohnehin immer eingebettet in das absichernde, versorgende Handeln (vgl. HANSELMANN 1941, 52 und 61). Solange Integrationspädagogen noch dabei sind, einen Ansatzpunkt für ihre Arbeit zu suchen und zu finden, sind sie darauf aus, die Persönlichkeitsentwicklung von Behinderten und Benachteiligten als Prozess und Ganzheit differenziert und distanziert zu erfassen. Dieser Gedanke muss herausgestellt werden, weil über einzelne Erscheinungen des Erziehungsprozesses, z. B. über isolierende Bedingungen, über Kindheit, über die Pubertät oder über Wahrnehmungstätigkeit vieles bereits bekannt ist. Woran es fehlt im Studium der Pädagogik, das ist z. B. die Bestimmung dessen, was pädagogische Tätigkeit in Wissenschaft und Praxis ausmacht (Gegenstandsbestimmung der pädagogischen Arbeit). Im Theoriebildungsprozess und auch im integrationspädagogischen Prozess fehlt es in aller Regel am Überblickswissen und an der gedanklichen Vorwegnahme des Weges, der professionell begehbar ist. Viele Pädagogen behelfen sich dann damit, dass sie für wechselnde Erscheinungen in der Praxis die ewig gleiche Erklärung heranziehen oder alle möglichen Aufgaben im Erziehungs- und Bildungsprozess mit den gleichen Mitteln angehen. Es ist aber eine Binsenweisheit in der Pädagogik, dass selbst unter gleichen Bedingungen dasselbe Mittel keineswegs sicher zum Ziel führt (a. a. O., 175).

Entwicklung

Pädagogen im Forschungsprozess und im integrationspädagogisch ausgerichteten Berufsbildungsprozess müssen es berücksichtigen, dass sie als gestaltende, als professionell tätige Subjekte sich auch selbst bewegen und entwickeln. Sie orientieren sich an neuen Entwicklungen und vor allem an Kolleginnen und Kollegen in den institutionellen Arbeitszusammenhängen. Kooperation ist nötig aber zeitraubend. Der Gegenstand pädagogischer Arbeit in Wissenschaft und Praxis verändert sich permanent. Es kristallisieren sich ständig neue Sichtweisen auf die Arbeit, auf die Vermittlungstätigkeit zwischen den Jugendlichen und Erwachsenen, auf ihre Welt der Arbeit und der Berufsbildung heraus. Wenn die Jugendlichen und Erwachsenen sich, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickeln, dann kann das von Pädagogen gedanklich vorweggenommen, es kann auch 'zufällig' sein. Oft ist es gar nicht so sicher oder bekannt, welcher Person der Erfolg zugerechnet werden kann. Die Entwicklungsrichtung ist oft nicht eindeutig. Was mit vereinten Kräften z. B. in den Werkstätten und Betrieben entsteht, wird an anderen Orten, nicht selten von Angehörigen, in der Familie konterkariert. Eine Studentin, die während eines Praktikums in einer Tagesbildungsstätte für geistig behinderte Menschen stolz berichtete, sie hätte es erfolgreich geschafft, eine geistig behinderte, erwachsene Person zum selbstständigen Toilettengang zu erziehen, bekam von einer dort dauerhaft tätigen Kollegin die zynische oder fatalistische Antwort: 'Warten Sie ab, bis wir mit ihr hier allein sind, dann beginnt die Person mit uns das Spiel von neuem!'

Widersprüchlichkeit

Mit diesem Beispiel kann verdeutlicht werden, wie Integrationspädagogen sich in den Widersprüchen ihrer Denk- und Verfahrensweisen verfangen können. Sie können es schaffen, die inneren Widersprüche ihrer Vermittlungstätigkeit zwischen den Personen und ihren Lebenswelten zu erkennen. Alleine sind sie in aller Regel verloren. Wer in einem Kollegium wenigstens eine professionell tätige Person des Vertrauens hat, die eine Wahrheit sagen kann und deren Aussagen und Tätigkeiten zusammenpassen, der kann sich glücklich schätzen. Es kommt nicht selten vor, dass Integrationspädagogen mit ihren Überzeugungen und Bestrebungen selbst in einem großen Kollegium alleine dastehen, kämpfen und an das bekannte Wort denken: Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom. Die Widersprüche (z. B.) im Prozess der Aneignung eines Arbeitsprozesses durch eine Person, die angeleitet wird, sind oft unentwirrbar. Die geistige Aneignung einer 'gemeinsamen dritten Sache' ist kompliziert und langwierig vor allem dort, wo den Beteiligten als Mittel der Kommunikation nicht die entfaltete Sprache bzw. die Schriftsprachlichkeit zur Verfügung steht.
Die Beachtung, die Erforschung, die Erkenntnis der inneren Widersprüchlichkeit des Gegenstandes pädagogischer Arbeit ermöglicht den Pädagogen selbst im Falle des Misserfolgs den einen oder anderen Gedanken über die Antriebskräfte oder gar über mögliche andere Entwicklungsrichtungen, die eingeschlagen werden können. In dem Bühnenstück von Carl Zuckmeyer muss der Oberst sich mehrfach die Mahnung von Jakobowsky anhören: 'Es gibt selbst in ausweglos erscheinenden Situationen immer wenigstens zwei Handlungsmöglichkeiten!'

Literatur:


DUISMANN, G. H. (2003): Vorlesung über berufsvorbereitenden Unterricht im integrationspädagogischen Seminar am 18. Juni 2003 im Fachbereich Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg.

HAARMANN, E. M. und SPIESS, I. (2002): Verbindungen schaffen zwischen behinderten-, berufs- und sozialpädagogischer Arbeit: Begleitende Hilfen im Arbeitsleben, in: BAABE/HAARMANN/SPIESS (Hrsg.): Für das Leben stärken - Zukunft gestalten. Behindertenpädagogische, vorberufliche und berufliche Bildung - Verbindungen schaffen zwischen Gestern, Heute und Morgen. Festschrift zum 60. Geburtstag von Klaus Struve. Paderborn: Eusl, 74-95.

HANSELMANN, H. (1941): Grundlinien zu einer Theorie der Sondererziehung (Heilpädagogik). Erlenbach-Zürich: Rotapfel-Verlag.

KOROLJOW, F. F. und GMURMAN W. J. (Hrsg.) (1972): Allgemeine Grundlagen der Pädagogik. Berlin: Volk und Wissen.

PESTALOZZI, J. H. (1966): Über den Aufenthalt in Stanz, in: BUCHENAU/SPRANGER/STETTBACHER (Hrsg.): Pestalozzi, Sämtliche Werke, Band 3, Berlin, Leipzig: Walter de Gruyter & Co., 3-32.