1. Thematische Hinführung
PISA und ähnliche internationale Vergleichsstudien haben Bewegung in das deutsche Bildungssystem gebracht. Wo sich Bildungspolitiker und -experten jahrzehntelang nicht auf Veränderungen einigen konnten, sind plötzlich Reformen von ungeahnten Ausmaßen möglich. In Aufsätzen und Editorials in den einschlägigen Fachzeitschriften werden umgesetzte und angebahnte Novellierungen und Reformierungen diskutiert.
Die Veränderungen des Bildungswesens betreffen dabei alle Ebenen (vgl. Euler 2003):
Auf der Makroebene werden beispielsweise Reformen der Lehrerbildung, eine mögliche Ausbildungsplatzabgabe, die Novellierung von gesetzlichen Grundlagen wie des Hochschulrahmengesetzes und des Berufsbildungsgesetzes besprochen.
Auf der Mesoebene werden die Teilautonomie von Schulen als Kernelemente einer nachhaltigen Schulentwicklung, die damit einhergehende Veränderung der Rolle der Schulaufsicht, die Entwicklung regionaler und lokaler Bildungsnetzwerke sowie die verbesserte Zusammenarbeit von Lernorten diskutiert.
Auf der Mikroebene stehen schlieβlich die Bereiche Methodik (z. B. Handlungsorientierung, e-learning, problemzentriertes Lernen), Curriculum (z. B. lernfeldstrukturierte Lehrpläne, Kompetenzorientierung, Modularisierung) und Prüfungen (gestreckte, praxisorientierte Abschlussprüfungen) zur Debatte.
Angesichts dieses Reformeifers wird jedoch häufig übersehen, dass die Umsetzung von Veränderungen stets der Mitwirkung der unmittelbar Beteiligten bedarf. Während in der einschlägigen Diskussion die sich aus den Reformen für Lehrkräfte ergebenden veränderten Rahmenbedingungen beschrieben werden (vgl. z. B. Dubs 1999), bleibt weitgehend unbeachtet, wie sich Lehrkräfte in dieser Situation zurecht finden und welche Strategien sie entwickeln, mit Neuerungen umzugehen.
Diese offene Stelle in der Reformlandschaft erscheint aus zweierlei Gründen überraschend. Zum einen herrscht in der internationalen Bildungsforschung schon seit geraumer Zeit Konsens, dass die Verabschiedung von Reformen nur der erste Schritt zur Veränderung von Bildungspraxis darstellt. Die Implementation der Reform, d. h. deren Umsetzung in die Praxis sowie die Institutionalisierung bzw. Routinisierung durch Lehrkräfte vor Ort stellt eine ganz wesentliche Voraussetzung für die gewinnbringende Anwendung, Ausgestaltung, Anpassung und Weiterentwicklung von Reformen dar (Fullan (1985) beschreibt drei Stufen von educational change: initiation (Entwicklung and Erlass von Reformen), implementation (Umsetzung, Anwendung der Reform) und institutionalisation (Rountinisierung, Verbreitung der Reform).). Nur dann können aus Reformen Innovationen i. S. einer nachhaltigen Verbesserung von Bildungspraxis werden.
Zum anderen ist „Innovation“ im angesprochenen Sinne als Thema der Bildungsforschung in Deutschland nicht neu. So führt der Strukturplan für das Bildungswesen des Deutschen Bildungsrates (1970) „Innovieren“ als eine von fünf Aufgaben im Berufsbild von Lehrkräften auf. In der Folgezeit gibt es Ansätze zur Konzeptionalisierung der Rolle von Lehrern als den ersten wichtigsten Träger fortschreitender Schul- und Bildungsreform. Während im Laufe der Siebzigerjahre in einigen wissenschaftlichen Arbeiten Innovationen und Lehrkräfte als Forschungsthema explizit aufgegriffen worden sind, spielte das Thema in den folgenden Jahrzehnten in der wissenschaftlichen Diskussion nur noch eine untergeordnete Rolle. Dies drückt sich beispielsweise auch darin aus, dass Innovieren in einem Abschlussbericht zu den Perspektiven der Lehrerausbildung nicht mehr explizit aufgeführt wird. Dennoch ist erkennbar, dass Innovieren gerade in den heutigen sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen eine wichtige Aufgabe für Lehrkräfte darstellt (vgl. Terhart 2000).
Innovationsprozesse finden nicht im Vakuum eines Klassenzimmers oder einer Schule statt. Vielmehr handelt es sich um sozial verankerte und kommunikativ bedingte Entwicklungen, die bestimmten Voraussetzungen unterliegen. Neben materiellen Rahmenbedingungen (Ausstattung, Unterrichts- und Arbeitsmaterialien, zeitliche Freiräume, etc.) sind es vor allem interpersonale und soziale Kapazitäten, von deren Vorhandensein der Erfolg von Innovationsprozessen abhängt. Diese letztgenannten Faktoren fasst Euler (2003) mit dem Begriff der kulturellen Ressourcen zusammen und führt die Bedeutung von Aspekten wie Kommunikations- und Kooperationskultur, Selbstregulierung, Achtung von Individualität, Vertrauen und Respekt im schulischen Kontext aus. Für eine systematische Gestaltung und Untersuchung von Innovationsprozessen gilt es vor allem zu beachten, dass kulturelle Ressourcen gepflegt und ausgebaut werden müssen, um eine nachhaltige Verankerung von Veränderungen in schulischen Kontexten zu gewährleisten.
2. Zum Zustandekommen dieses Bandes
Vor dem Hintergrund der angesprochenen offenen Fragestellungen und Problembereiche haben die Herausgeber dieses Bandes eine Arbeitsgruppe mit dem Titel Innovationen in schulischen Kontexten: Ansatzpunkte für berufsbegleitende Lernprozesse bei Lehrkräften organisiert und zu einem Symposium im Rahmen eines internationalen Kongresses zusammengebracht (Dieser Kongress fand unter dem Titel Bildung über die Lebenszeit vom 21. bis 24. März 2004 an der Universität Zürich statt. Er wurde gemeinsam durchgeführt von der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft ( DGFE ), der Schweizerischen Gesellschaft für Bildungsforschung ( SGBF ), die Schweizerischen Gesellschaft für Lehrerinnen- und Lehrerbildung ( SGL-SSFE ) und der Österreichischen Gesellschaft für Forschung und Entwicklung im Bildungswesen ( ÖFEB ).).
In dieser Arbeitsgruppe wurden Positionsbestimmungen zur Relevanz und zur Gestaltung von Innovationsprozessen an Schulen vorgenommen. Dabei wurden zwei Themenschwerpunkte näher beleuchtet werden: Zum einen (Schwerpunkt I: Innovieren als Tätigkeitsfeld von Lehrkräften) sollte aufgezeigt werden, welche Anforderung das Initiieren von und der Umgang mit Innovationen an Lehrkräfte stellt. Dabei wurde insbesondere deutlich, welche Kompetenzprofile bei Lehrkräften entwickelt werden müssen, um der Aufgabe „Innovieren“ gerecht zu werden. Außerdem wurden – der thematischen Ausrichtung des Kongresses ( Bildung über die Lebenszeit ) folgend – neue Wege der berufsbegleitenden Weiterbildung von Lehrkräften im Hinblick auf ihre Innovationskompetenz aufgezeigt.
Zum anderen (Schwerpunkt II: Management von Innovationsprozessen in Schulen) wurden Schulen in einer institutionellen Perspektive untersucht und Aussagen zu Auslösern von Innovationen, zu den organisatorischen Spielräumen und Restriktionen für die Implementation von Innovationen und zum Einfluss der Schulleitung auf Implementationsprozesse getroffen. Davon ausgehend wurden Ansatzpunkte für die Implementierung berufsbegleitender Lernprozesse für Lehrkräfte hinsichtlich des Aufgabenfeldes Innovieren abgeleitet.
Die Struktur des Symposions kann wie folgt visualisiert werden:
Der vorliegende Band folgt weitgehend der Struktur des Symposiums und ordnet die Beiträge von Gudrun Schönknecht ( Die Entwicklung der Innovationskompetenz von LehrerInnen aus (berufs-)biographischer Perspektive ) und von Hubert Ertl & H.-Hugo Kremer ( Innovationskompetenz von Lehrkräften an beruflichen Schulen ) dem ersten Schwerpunkt zu.
Schwerpunkt II beinhaltet folgende Beiträge: Roman Capaul : Reform der kaufmännischen Grundbildung in der Schweiz – Erste Erfahrungen aus der Begleitung , Hans Seitz : Reform der Kaufmännischen Grundbildung in der Schweiz – Erste provisorische Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt und Hermann G. Ebner : Management von Innovationsprozessen in Schulen .
Zudem konnten die im Symposium als Diskutanten fungierenden Tade Tramm und Peter F. E. Sloane dazu gewonnen werden, die sich durch die Zusammenschau der vorliegenden Beiträge ergebenden weiterführenden Fragen aufzugreifen und in andere Diskussionszusammenhänge zu stellen. Das moderierte Diskussionsforum der Veranstaltung wird im Buch mit dem Beitrag von Peter F. E. Sloane ( Innovationen in der beruflichen Bildung: Von der Idee zur Umsetzung – zur Umsetzbarkeit von Idee ) zusammengefasst und systematisch weiterentwickelt.
Thematische Grundlage des Symposiums war eine Vorstudie der Herausgeber dieses Bandes, in welcher der Rahmen sowie eine Reihe offener Fragen für den Themenbereich Innovationskompetenz von Lehrkräften an berufsbildenden Schulen in Deutschland abgesteckt bzw. entwickelt wurden (vgl. Ertl / Kremer 2003). Dieser Rahmen wurde durch die Zusammensetzung und thematische Ausrichtung des Symposiums bewusst in zwei Hinsichten ausgeweitet: So wurde durch die Ausführungen zu innovativer Lehrertätigkeit in den Beiträgen von Capaul und Seitz der Kontext der deutschen Berufsbildung verlassen, indem konzeptionelle Neuerungen in der schweizerischen Berufsbildung besprochen wurden. Zum zweiten wurde durch den Beitrag von Schönknecht der Blick über die beruflichen Schulen hinaus geworfen, weil in ihrem Beitrag der Schwerpunkt auf die Entwicklung von Innovationskompetenz im Primarbereich gelegt wird. Der Beitrag von Ebner differenziert die in der Vorstudie gefundenen Rahmenbedingungen für Innovationstätigkeit von Lehrkräften an berufsbildenden Schulen erheblich aus.
Die Herausgeber bedanken sich an dieser Stelle bei den Autoren der Beiträge dieses Bandes für die konstruktive Zusammenarbeit nicht nur in der Erstellung der Texte, sondern auch in der Gestaltung des Symposiums in Zürich. Besonderer Dank gilt den beim Symposium als Diskutanten fungierenden Peter Sloane und Tade Tramm, die mit Ihren Kommentaren und Anregungen – und im Falle von Peter Sloane auch mit einem weiterführenden Beitrag zu diesem Band – wesentliche Impulse für die weitere Arbeit am Themengebiet Innovationen in schulischen Kontexten gesetzt haben.
Literatur
Deutscher Bildungsrat (Bildungskommission) (1970): Strukturplan für das Bildungswesen. Stuttgart 1970.
Ertl, H. / Kremer, H.-H. (2003): Innovationskompetenz von Lehrkräften an berufsbildenden Schulen . In: Dilger, B. / Kremer H.-H. / Sloane P.F.E. (Hrsg.): Wissensmanagement an berufsbildenden Schulen. Beiträge im Kontext des Modellversuchsverbunds WisLok , Paderborn 2003, S. 215 – 230.
Euler, D. (2003): Reformen erfordern Vertrauen und Kooperation. Über notwendige Fundamente von pädagogischen Innovationen. In: Zeitschrift für Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Editorial zu Heft 99, Band 3, S. 321 – 327.
Terhart, E. (2000): Perspektiven der Lehrerbildung in Deutschland. Abschlussbericht der von der Kultusministerkonferenz eingesetzten Kommission, Weinheim 2000.