bwp@ 37 - Dezember 2019

Berufs- und Wirtschaftspädagogik und ihr fachwissenschaftlicher Bezug

Hrsg.: Tade Tramm, Martin Fischer, H.-Hugo Kremer & Lars Windelband

Editorial bwp@37

Beitrag von Tade Tramm, Martin Fischer, H.-Hugo Kremer & Lars Windelband

EDITORIAL zur Ausgabe 37:
Berufs- und Wirtschaftspädagogik und ihr fachwissenschaftlicher Bezug

In welchem Verhältnis steht die Wirtschaftspädagogik zu den Wirtschaftswissenschaften. Wie lässt sich die Beziehung zwischen der Berufspädagogik mit den Didaktiken der gewerblich-technischen Fach­rich­tungen bzw. der Fachrichtungen der personenbezogenen Dienstleistungen zu den korrespondierenden Bezugswissenschaften beschreiben? Dies ist der Fragenkomplex, der mit dieser Ausgabe der bwp@ thematisiert werden soll. Schon die Formulierung dieses Gegenstandsbereiches erweist sich ange­sichts seiner Mehrdimensionalität und Heterogenität als herausfordernd. Zabeck (2009, 528f.) bringt dies in seiner „Geschichte der Berufserziehung und ihrer Theorie“ aus historischer Perspektive auf den Begriff:

Wenn heute Wirtschaftspädagogik und Berufspädagogik nicht mehr als unterscheidbare erziehungs­wissenschaftliche Teildisziplinen gelten, sondern ... unter der Bezeichnung ‚Berufs- und Wirtschafts­pädagogik‘ eine Einheit bilden, beruht das nicht auf breiteren historischen Gemeinsamkeiten“. Er sieht die Entstehung der „Handelsschul- und späteren Wirtschaftspädagogik“ in den ersten beiden Dritteln des vorigen Jahrhunderts als Etablierung einer Disziplin an „vollakademischen Institutionen ..., die sich zuallererst der Aufgabe annahm, einen – am Erkenntnisfortschritt partizipierenden – relativ geschlosse­nen kaufmännischen Wissenskorpus unter die Perspektive der Berufsausbildung zu rücken. Für den gewerblichen Sektor gab es keine mit der Handelsbetriebslehre vergleichbare zentrale wissenschaft­liche Fach- und Studiendisziplin und damit auch keine – sekundäre Differenzierungen übergreifende – Vorgabe, die die Herausbildung eines ‚fachdidaktischen Kerns‘ ermöglicht hätte“.

Vom fachwissenschaftlichen Bezug „der“ Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu sprechen bindet ent­spre­­chend sehr unterschiedliche Gegenstände und Perspektiven zusammen:

  • Zunächst die sich offenbar in vielerlei Hinsicht, insbesondere aber hinsichtlich ihres Bezuges auf akademische Referenzdisziplinen unterscheidenden Disziplinen der Berufs- und der Wirtschaftspädagogik.
  • Sodann die Berufspädagogik selbst, die erst in Verbindung mit den diversen Didaktiken der beruf­lichen Fachrichtungen einen der Wirtschaftspädagogik vergleichbaren Disziplinbezug findet.
    Aktuell kann auch für die Wirtschaftspädagogik die Frage aufgeworfen werden, ob die Anbindung an die Referenzdisziplin noch den Anforderungen in den Handlungsfeldern von Wirtschaftspädagogen gerecht wird.
  • Diese Didaktiken der beruflichen Fachrichtungen wiederum erweisen sich gerade im Hinblick auf den Stellenwert der akademischen Referenzdisziplin(en) als höchst unterschiedlich. Als disziplinäre Bezugspunkte bilden hier das Berufsfeld, auf das sich die Ausbildung richtet, mit dem berufspädagogischen Handlungsfeld und eben korrespondierenden Fachwissenschaften bzw. Kombinationen von Fachwissenschaften (bspw. Ingenieur- und Naturwissenschaften, Pflegewissenschaft, Medizin) ein komplexes Spannungsfeld.
  • Schließlich sollte unterschieden werden, ob die Art des fachwissenschaftlichen Bezuges als ein Aspekt des Selbstverständnisses der akademischen Disziplin betrachtet wird oder ob in prag­ma­­tischer Akzentuierung die Rede davon ist, in welcher Weise der fachwissenschaftliche Be­zug in den berufs- und wirtschaftspädagogischen Studiengängen gestaltet oder problematisiert wird.

Mit dieser Ausgabe der bwp@ wollen wir diesen Problemraum in seiner ganzen Komplexität und Viel­ge­staltigkeit thematisieren und baten um Beiträge, die diesen historisch-systematisch, konzeptuell-programmatisch, ideologiekritisch, gestaltend-pragmatisch und empirisch bearbeiten. Die angenommenen Beiträge konnten wir der folgenden Struktur zuordnen.

1  Historisch-systematische Beiträge

Im Rahmen des Forschungsbeitrags von Eike Zimpelmann (Karlsruher Institut für Technologie – KIT) unter dem Titel Entwicklungslinien des beruflichen Bildungswesens und der Ausbildung von Gewerbelehrern – eine historische Analyse werden die Geschichte der Berufsschulen und der Gewerbelehrerausbildung auf ihre zugrundeliegenden Paradigmen untersucht. Es wird deutlich, dass Aufgaben der Berufsschulen und der Gewerbelehrerausbildung ständig wechselnden Paradigmen folgten. Die beiden heute existierenden und konkurrierenden Ansätze der Gewerbelehrerausbildung folgen schwerpunktmäßig den Prinzipien der Wissenschafts- bzw. der Situationsorientierung. Wirtschaftspädagogische Studiengänge weisen hingegen traditionell eine starke Wissenschaftsorientierung auf und folgen auch heute noch eindeutig diesem Prinzip. Als Ursachen für diese Differenzen werden der ständige historische Paradigmenwandel und – daraus resultierend – sich stärker wandelnde Positionen der Berufspädagogik benannt. Hinzu kommen stärkere strukturelle Differenzen in den Bezugswissenschaften (und damit Wissensbereichen) von Ingenieuren und Facharbeitern, die durch den Wandel der Ingenieurwissenschaften entstanden sind und so im Verhältnis von akademischen Betriebswirten und praktischen Kaufleuten nicht auftreten. Drittens wird die Situation der Berufspädagogik, nicht nur – wie die Wirtschaftspädagogik – auf eine berufliche Fachrichtung fokussieren zu können, als ursächlich gesehen.

Der eingeladene Beitrag von Jörg Peter Pahl (Technische Universität Dresden) zur Didaktisierung der Berufsfelder – Eine Aufgabe auch für Berufswissenschaft und Berufsbildungswissenschaft plädiert für eine Ausrichtung der beruflichen Didaktiken auf Berufsfelder. Zielstellungen, Möglichkeiten und Grenzen eines solchen Ansatzes werden im Beitrag diskutiert. Im Mittelpunkt steht das Zusammenwirken von Berufsbildungswissenschaft, Berufswissenschaft und Berufsfelddidaktik, um Defizite in der Planung und Realisierung von Lernprozessen zu verringern. Auf der Basis sich so ausbildender Berufsfelddidaktiken könnten in der Folge für die einzelnen Berufe des jeweiligen Berufsfeldes spezifische berufliche Didaktiken erarbeitet werden. Für die weitere Forschung auf diesem Gebiet geht es nach Pahl darum, bisherige Ansätze der Didaktiken beruflichen Lehrens und Lernens zu sichern und systemisch sowie handlungskritisch zum Gesamtkonzept einer Berufsfelddidaktik zusammenzufügen. Dazu werden im Beitrag konkrete Handlungsschritte und Fragestellungen aufgezeigt.

Der Diskussionsbeitrag von Eike Zimpelmann (Karlsruher Institut für Technologie – KIT) thematisiert Berufliches Selbst-, Fach- und Aufgabenverständnis von Lehrkräften und schlägt ein Analyseschema für die Untersuchung der Sichtweisen von Lehrkräften vor. Einer der Ausgangspunkte des Beitrags ist die Dissertation von Waldemar Bauer aus dem Jahr 2006, in der dieser sich mit Einstellungsmustern und Handlungsprinzipien von Berufsschullehrern im Bereich der der Elektrotechnik befasste und dabei Sichtweisen auf die eigene Person (Selbstverständnis), das Fach bzw. die Fachrichtung (Fachverständnis) und die Aufgaben (Aufgabenverständnis) von Berufsschullehrkräften unterschied. Bei grundsätzlicher Beibehaltung dieser Dimensionen plädiert Zimpelmann für eine trennungsschärfere Ausdifferenzierung, damit die empirisch vorfindlichen Wechselwirkungen und Beeinflussungen dieser Dimensionen in der Ausbildung und im Handeln von Berufsschullehrkräften angemessener untersucht werden können.

2  Didaktik der gewerblich-technischen Fachrichtungen zwischen Berufs(feld)-wissenschaften und Disziplinorientierung

Der Diskussionsbeitrag Berufliche Fachdidaktiken/Berufsdidaktik im Spannungsfeld der Berufspädagogik und der gewerblich-technischen Fachrichtungen von Matthias Becker (Universität Hannover), Georg Spöttl (Universität Bremen) und Lars Windelband (Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd) zeigt mit Blick auf gewerblich-technischen Fachrichtungen die Komplexität des Beziehungsgefüges zwischen den Didaktiken der beruflichen Fachrichtungen und der Berufspädagogik auf der einen Seite und den Berufswissenschaften auf der anderen Seite. Die Autoren plädieren für eine bildungstheoretisch und berufswissenschaftlich fundierte Berufsdidaktik an der Nahtstelle zwischen beruflicher Fachrichtung und Berufspädagogik und zeigen Konsequenzen für die Studienganggestaltung auf. Im Mittelpunkt des Beitrages stehen die Fragen danach, wie berufliche Fachrichtungen so auszugestalten sind, dass Lehrkräfte für berufliche Schulen qualifiziert und wissenschaftsorientierte, gewerblich-technische Studiengänge für die Lehrerbildung im Spannungsfeld von beruflicher Fachrichtung, Berufspädagogik und Berufsdidaktik profiliert werden können.

Der Forschungsbeitrag Die Debatte um die Bezugswissenschaften der beruflichen Fachrichtungen – vorgetragene Argumente und deren empirische Fundierung von Eike Zimpelmann (Karlsruher Institut für Technologie – KIT) thematisiert die Debatte der Bezugswissenschaften für die gewerblich-technischen beruflichen Fachrichtungen. Der bestehende wissenschaftstheoretische Diskurs zwischen den bestehenden Ansätzen in Deutschland wird anhand unterschiedlicher Kriterien (Berücksichtigung von Arbeitsprozessen, unterschiedliche Schularten, Polyvalenz, technischen Kompetenz, Bildungsaspekt, Identifikation, Wandel der Arbeitswelt etc.) beschrieben, analysiert und auf ihre empirische Fundierung überprüft. Gleichzeitig wird ein Forschungsdesiderat der empirischen „Berufsschullehrerforschung“ im gewerblich-technischen Bereich aufgezeigt. Dies bezieht sich genauso auf die Situation und die Professionalisierung der Seiten- und Quereinsteiger, die bisher wenig untersucht wurden.

In ihrem Beitrag zur Entwicklung berufsdidaktischer Kompetenzen: Konzeptioneller Ansatz zur Vernetzung von Disziplinwissen und berufsdidaktischem Wissen unter der Rubrik „Berichte & Reflexionen“ beschreiben Frauke Düwel, Sigrun Eichhorn und Manuela Niethammer (Technische Universität Dresden) die Verknüpfung von fachwissenschaftlichem und berufsdidaktischem Disziplinwissen als eine zentrale Aufgabe der beruflichen Didaktiken, um berufsbildenden Unterricht so gestalten zu können, dass Lernende zur fachlichen Durchdringung der  Inhalte beruflicher Arbeit befähigt werden. Unter der Fragestellung, „welche Kriterien müssen/sollten Lehr- und Fachbuchtexte für diese berufs-/ fachdidaktische Funktionalisierung erfüllen?“, werden fachwissenschaftliche Lehrbuchtexte zum Thema „Chromatographie“ analysiert.

Zur Analyse und Bewertung der Texte unter dem Aspekt der Güte der darin ausgeführten Begründungszusammenhänge werden Concept Maps zur sachlogischen Strukturierung der Inhalte erstellt. Sehr interessant ist dabei der Vergleich zwischen deutschen und englischsprachigen Fachtexten. Die Autorinnen zeigen mit ihren Ergebnissen, dass die fachwissenschaftlichen Lehrbuchttexte aus didaktischer Sicht das notwendige Zusammenhangswissen zur Lösung beruflicher Problemstellungen nicht immer hinreichend bereitstellen können.

3  Kritischer Disziplinbezug als Perspektive einer reflexiven Wirtschaftspädagogik

Der Diskussionsbeitrag Fachbezogene Reflexion in der beruflichen Lehrer*innenbildung von Nicole Naeve-Stoß (Universität Köln), Tobias Jenert (Universität Paderborn) und Taiga Brahm (Universität Tübingen) diskutiert vor dem Hintergrund der Einsicht in die hohe Relevanz fachlicher Kompetenz für wirtschaftspädagogische Professionalität die Fragen nach dem ‚Was‘ und dem ‚Wie‘ des fachwissenschaftlichen Studiums künftiger Wirtschaftspädagog*innen. Er fokussiert dabei auf die Postulate einer pluralen Wirtschaftswissenschaft und einer reflexiven Wirtschaftspädagogik und plädiert dafür, Studierende für einen Wirtschaftsunterricht zu befähigen, der er die fachwissenschaftliche Pluralität aufnimmt und didaktisch verarbeitet. Die Auseinandersetzung mit ökonomischer Pluralität erfordere Reflexion als hochschuldidaktisches Element und strebe darüber fachbezogene Reflexivität als wirtschaftspädagogisches Ziel an.

4   Disziplinäre Pluralität nach Maßgabe des Berufsfeldbezugs in den personenbezogenen Dienstleistungsberufen

In ihrem Diskussionsbeitrag thematisieren Alexandra Brutzer (Universität Kassel) & Julia Kastrup (Fachhochschule Münster) Wechselwirkungen der Fachdidaktik, Fachwissenschaft und Berufspädagogik in der beruflichen Fachrichtung Ernährung und Hauswirtschaft. Ausgangspunkt ihrer Argumentation ist die Analyse der ausgeprägt heterogenen Berufsstruktur dieser Fachrichtung zwischen Hauswirtschaft, Gastgewerbe, Nahrungsgewerbe und gewerblich-technischen Berufen. Entsprechend breit ist das Spektrum fachwissenschaftlicher Bezüge, innerhalb dessen die Ökotrophologie einen deutlichen Schwerpunkt darstellt. Fachrichtungsspezifische Forschungsansätze haben sich in den vergangenen Jahren verstärkt entlang gesellschaftlich und bildungspolitisch prioritärer Themenkomplexe herausgebildet (Nachhaltigkeit, Digitalisierung, Inklusion). Dennoch fehle noch immer ein eigenes, klar akzentuiertes fachdidaktisches Paradigma. Um das originäre Profil einer Fachdidaktik Ernährung und Hauswirtschaft auszubilden, bedürfe es einer Systematisierung und Zusammenführung vorliegender Fachdidaktischer Ansätze. Auf dieser Grundlage seien zentrale fachdidaktische Themen zu identifizieren, beispielsweise entlang der gesellschaftlichen und bildungspolitischen Entwicklungsstränge, um systematisch fachdidaktische Forschung im Berufsfeld voranzutreiben.

Der Forschungsbeitrag Berufs- und Wirtschaftspädagogik Schwerpunkt Gesundheit. Die berufs- und wirtschaftspädagogischen und fachwissenschaftlichen Bezüge im Spektrum Lehrerbildung Pflege und Gesundheit von Frank Arens (Osnabrück) und Elfriede Brinker-Meyendriesch (Fliedner Fachhochschule Düsseldorf) untersucht die Verortung und Gestaltung der Lehrerbildung Pflege und Gesundheit. Die Studie basiert auf einer dokumentengestützten Analyse der Studienstrukturen lehrerbildender Studiengänge und einer hinführenden und einordnenden theoretisch-analytischen Literaturanalyse. Darüber können Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Studiengänge, aber auch zwischen Ausbildungsinstitutionen Universitäten und (Fach-)Hochschulen aufgezeigt werden. Insgesamt wird für diesen in Entwicklung befindlichen Bereich so eine Basis geschaffen, um das Verhältnis von Berufs- und Wirtschaftspädagogik, Fachdidaktiken und den Bezugswissenschaften weiter zu untersuchen.

Insgesamt bestätigen die Beiträge den im Call for Papers formulierten Eindruck, dass sich der Fachdisziplinbezug der Berufs- und Wirtschaftspädagogik entlang der Differenzierung in gewerblich-technische, kaufmännische und personenbezogen-dienstleistungsorientierte Berufe grundlegend unterschiedlich darstellt. Dabei deutet sich an, dass neben der Alternative von Berufsarbeit und Fachdisziplin als zentrale curriculare Referenz  eine zweite, genuin pädagogische Leitfrage in allen Fachrichtungen wieder stärker in den Vordergrund zu treten scheint: Die Perspektive einer grundlegend kritisch-emanzipatorischen Ausrichtung anstelle affirmativer „Abbilddidaktik“ beruflich-funktionaler oder szientistischer Art. Wir danken allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und ermutigen ausdrücklich zu kritischer Diskussion.

Tade Tramm, Martin Fischer, H.-Hugo Kremer & Lars Windelband
(im Dezember 2019; ergänzt im Juni 2020)

 

Literatur

Zabeck, J. (2009): Geschichte der Berufserziehung und ihrer Theorie. Paderborn.

 

Zitieren des Beitrags

Tramm, T./Fischer, M./Kremer, H.-H./Windelband, L. (2019): EDITORIAL zur Ausgabe 37: Berufs- und Wirtschaftspädagogik und ihr fachwissenschaftlicher Bezug. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 37, 1-5. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe37/editorial_bwpat37.pdf (22.06.2020).