Beitrag von Volker BANK (Technische Universität Chemnitz)
Nach einem guten Jahrhundert ihrer Existenz hat die Berufs- und Wirtschaftspädagogik immer noch keinen disziplinären Ort gefunden: Mal in die Philosophische, mal in die Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät integriert erachten im Allgemeinen ihre Vertreter sie überdies als eine Teildisziplin der Erziehungswissenschaften. Alles in allem hat man eine abschließende Antwort auf die Frage der disziplinären Stellen bislang vermieden. Gegenwärtig verliert die Berufs- und Wirtschaftspädagogik ihre funktionalen Konstituenten, die bislang rein pragmatisch die systematische Theoriebildung sichergestellt haben. Aus diesem Grunde scheint der Versuch einer Rekonstruktion der Disziplin von gewisser Relevanz.
Berufs- und Wirtschaftspädagogik: Epitaph of a discipline without a home
Even after a hundred years in existence, there still is no definite answer as to whether Berufs- und Wirtschaftspädagogik is a discipline that should be integrated to the Faculty of Arts or to the Department of Economics and Business Administration. The researchers in the field generally consider it a sub-discipline of educational studies. All in all, however, a conclusive answer to this question has more or less been avoided. Currently, Berufs- und Wirtschaftspädagogik has lost its functional parts, which have up until now purely pragmatically guaranteed systematic theory building. For this reason, the attempt of a re-constitution of the discipline seems to be of some relevance.
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Antrittsvorlesung an der Technischen Universität Chemnitz, gehalten am 29. Mai 2007. Zuerst veröffentlicht in: Wirtschaft und Erziehung 59, Heft 10/ 2007, 319-330.
1. Es mag ungewöhnlich erscheinen, den Inhalt ausgerechnet einer Antrittsvorlesung als den eines Epitaphs, als den einer Grabschrift vorzutragen. Und scheint es doch auch zumindest ein wenig voreilig, deuten die zahlreichen Neuberufungen der letzten Jahre immerhin darauf hin, dass die Berufs- und Wirtschaftspädagogik in einer guten Verfassung ist und wenigstens für die Restdienstzeiten der jetzt Neuberufenen gesichert zu sein scheint. Indes: Der Marmor des Grabmals der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist längst gebrochen worden – in den europäischen Steinbrüchen von Bologna und Kopenhagen.
In Bologna wurde überhaupt für alle Fächer, die orchideenhaft oder ein wenig unscheinbar daherkommen (in Technokratendeutsch heißt das ‚unterkritisch‘) eine ganze Nekropole angelegt: Mit der Versteifung auf eine Berufsorientierung des Bachelorstudiums durch die Kultusministerkonferenz (vgl. KMK 2003, 3) ist für viele Wissenschaften, auch solche, die bislang weder orchideenhaft noch unterkritisch daherkamen, der Abgesang bereitet. Insofern können sich die Berufs- und Wirtschaftspädagogen noch nicht einmal in besonderer Weise beklagen, wenn sie in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten ihr Fach in Abwicklung erleben.
Nun wird man sich zum einen sagen, dass die übrigen Disziplinen schauen mögen, wie sie die bologneser Studienstrukturreformen überstehen. Physik, Juristerei, Medizin; auch Psychologie, Soziologie, Ökonomie und sicher auch andere könnten dazugehören. Innerhalb der nächsten beiden Dekaden wird es unfehlbar zu einer Revision der euphemistisch ‚Reform‘ genannten Umwälzung kommen, und diese Fächer haben gute Aussichten sich dann noch rechtzeitig zu restituieren, sich von der unakademischen Zwangsjacke der Berufsvorbereitung zu befreien und damit ihre Curricula wieder vom Kopf zurück auf die Füße zu stellen (die Vorgabe der Berufsorientierung zwingt dazu, die Curricula nicht systematisch aus fachlicher Perspektive von unten her zu sequenzieren, sondern funktional eingegrenzte Auswahlentscheidungen zu treffen). Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik gehört zu jenen nicht: Sie ist gar keine gesicherte Disziplin. Sie hat immer nur so getan als ob, und häufig genug nicht einmal den Versuch dazu unternommen.
2. Um dies zu klären, und um zu klären, warum die Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Begriff steht, kaum halbwegs etabliert, wieder aus dem Lauf der Geschichte zu geraten, sei versuchsweise die Perspektive einer Wissenschaftshistorikerin des Jahres 2050 eingenommen. In der Verfremdung des Gedankenexperiments zukünftiger Reflexion möge der hier zu entwickelnde Gedankengang fassbarer werden.
2.1 Die Wissenschaftshistorikerin wird bei dem Bemühen, einen Überblick zu gewinnen, feststellen, dass es über die Dauer eines Jahrhunderts, die in etwa dem 20. Jahrhundert entspricht, die Notwendigkeit einer speziellen Lehrerbildung gab. Diese Notwendigkeit, so wird sie überrascht feststellen, bestand ausschließlich im deutschsprachigen Raum, mithin in Deutschland, Österreich und der Schweiz (sowie Südtirol, was als Spezialfall hier außen vor bleiben soll), weil man allein dort in konservativer Beharrlichkeit für die berufliche Ausbildung der Jugend auch nach der Industrialisierung an dem im Mittelalter zuvor in Europa weithin praktizierten Modell der Lehrlingsausbildung festhielt. Ein Aspekt hatte sich, vor allem durch das praktische Einwirken eines Münchener Stadtschulrates namens GEORG KERSCHENSTEINER gegenüber dem tradierten Modell freilich fundamental geändert: Man hatte zusätzlich zur betrieblichen Meisterlehre theoretischen Unterricht an Berufsschulen eingeführt[1], und für diesen Berufsschulunterricht bedurfte es nun geeigneter Lehrkräfte. Die Behelfe der Gründerjahre, wo man sich in Sonntags- und Fortbildungsschulen praktischerweise weiterbildungsbereiter Volksschullehrer für die Abhaltung des Unterrichts bedienen konnte, war vorbei (vgl. im Überblick HAMANN 1986, v.a. aber BERKE 1977, hier 109 und PLEIß 1973, hier 32). Es bedurfte einer Professionalisierung des Lehrpersonals.
Professionalisierung des Unterrichts wurde seinerzeit als Akademisierung des Lehrpersonals aufgefaßt, eine Anforderung, die bis dahin nur den Gymnasiallehrern abverlangt worden war.[2] Da aber zu dem Zeitpunkt weder die Handelslehre noch die Ingenieurwissenschaft Eingang in die Universitäten zu finden vermocht hatten und es überdies aus inhaltlichen Gründen auf der Hand lag, dass diese Lehrkräfte von den üblichen allgemeinbildenden Lehrern verschieden sein mussten, lag es ebenfalls nahe, dass sie in eigenständigen Studiengängen auszubilden waren.[3] Hand in Hand mit der Errichtung der Handelsakademien führte dies ab 1898 in Form von Extraordinariaten, dann regelmäßig ab den dreißiger Jahren zur Einrichtung von Lehrstühlen, deren Aufgabe sich aus dieser speziellen Aufgabenstellung ganz augenfällig im Sinne gesellschaftlicher Ausdifferenzierung funktional herleitete. Die neuen Lehrstühle hatten zunächst in der Handelslehrerbildung wirtschaftsdidaktische, weitere dann nach dem Krieg in der Gewerbelehrerbildung technikdidaktische Kenntnisse zu vermitteln; PLEIß hat mehrere Generationen dieser neu entstandenen Professuren in einzigartiger Weise ebenso akribisch wie anschaulich beschrieben.[4]
Bei ihren historischen Recherchen wird die künftige Nachfolgerin PLEIßens feststellen, dass es Versuche gegeben hat, die Entwicklung der kleinen Gemeinde von Professoren und ihrem Verständnis der Verortung ihrer eigenen Tätigkeit im Kanon der Wissenschaften in Phasenmodellen zu beschreiben; dieses haben etwa INGRID LISOP (1976) oder HANS-CARL JONGEBLOED (1998) unternommen; für die respektive Lehrerbildung entwarf wiederum PLEIß in seiner Habilitationsschrift von 1973 ein eigenständiges Phasenmodell. Wirtschaftspädagogik wird da zunächst als Didaktik der Wirtschaftslehre begriffen, dann als „Delegierte der Erziehungswissenschaft im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften“, wie DÖRSCHEL zu sagen pflegte, (vgl. 1960, 80) und schließlich nur noch als differentielle Pädagogik oder spezielle Erziehungswissenschaft, wofür es mehr als reichlich Belege anzuführen gäbe (vgl. einen weiter in die Einzelheiten gehenden Überblick zu den verschiedenen Positionen in BANK 2004, 24 ff.).
Zunächst jedoch wird sich die künftige Geschichtsschreiberin gewundert haben werden, dass die oben umrissenen Phasierungen sich niemals dem Vorwurf des Geschichtsphilosophischen ausgesetzt sahen (vgl. jedoch eine kritische Position bei ZABECK 1986, 167 ff.).
Jede Phaseneinteilung wird unvermeidbar stets das subjektive Moment der Grenzziehung zwischen den Phasen behalten. Doch wird sie bald erkennen: Es kommt gar nicht so sehr darauf an, ob man in der Entwicklung Phasen erkennen will, einen kontinuierlichen Ablauf oder gar nur ein weitgehend evolutorisch-zielloses Irren beschreiben will. Unbestreitbar ist, dass die Genese der Berufs- und Wirtschaftspädagogik ein klassisches Beispiel für DURKHEIMs These einer fortschreitenden funktionalen Ausdifferenzierung einer sich höher entwickelnden Gesellschaft darstellt.[5]
2.2 Systeme, sind sie einmal etabliert, neigen zur Selbsterhaltung. Normalerweise ist es so, dass die funktional bestimmten Subsysteme irgendwann beginnen, ihren Sinn über die ursprüngliche Funktion hinaus zu verändern und ihre Autopoiesis, ihre selbstschöpferische Erhaltung über einen möglichen Funktionsverlust hinaus abzusichern (vgl. LUHMANN 1964, 190 ff.). Bei der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, so wird die Historikerin mit noch größerer Überraschung feststellen, ist dieser Versuch zu keinem Zeitpunkt im Rahmen eines breiteren Diskurses unternommen worden: Man definiert sich mit deutlicher Mehrheit als Teilgebiet der Pädagogik bzw. der Erziehungswissenschaften. PLEIß bilanziert 1986 nach einem detaillierten Referat der Positionen von Berufs- und Wirtschaftspädagogen über die Grenzlinien von Berufspädagogik, Wirtschaftspädagogik, Arbeitspädagogik, Betriebspädagogik, Sozialpädagogik und so weiter und so fort: Es „wird heute überwiegend der Doppelbegriff ‚Berufs- und Wirtschaftspädagogik‘ gebraucht, und es herrscht Übereinstimmung, dass sie nur als Glied der Erziehungswissenschaft, nicht aber als wissenschaftstheoretisch-autonome Disziplin praktizierbar ist.“ (PLEIß 1986, 101 f.).
Die Bestimmung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik als erziehungswissenschaftliche Teildisziplin bietet immerhin, anders als eine Selbstverortung in den Wirtschaftswissenschaften, die Möglichkeit, mit den erst später akademisch etablierten Berufspädagogen gewerblich-technischer Provenienz eine wahrnehmbare Diskursgemeinschaft zu pflegen; ZABECK datiert dieses Zusammengehen in die sechziger Jahre. Kurzum: Will man die Systemgrenzen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik als Sinngemeinschaft (und nicht streng funktionalistisch) bestimmen, so teilt man seinen Sinn in mancherlei Hinsicht mit den Pädagogen.[6] Die Anschlussfähigkeit der Diskurse bleibt hingegen eine partielle und v.a. eine einseitige, denn nicht die Pädagogen suchen Anschluss an die Diskurse der Berufs- und Wirtschaftspädagogik. Ist ein pauschales Urteil auch stets ein Fehlurteil, so kann man wohl weitgehend sagen, dass sie sich dem Odium des Verwertbaren[7] immer noch nur mit einem gewissen Widerstreben stellen. Unbestreitbar bleiben demgegenüber die institutional auskristallisierten (vgl. hier noch einmal PLEIß 1986, passim) funktionalen Differenzen zwischen Pädagogik und Berufs- und Wirtschaftspädagogik.
2.3 Über die Konzepte der Theorie sozialer Systeme hinaus bestimmen Wissenschaftssoziologen im Anschluss an KUHN 1973 die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen neben denen der wissenschaftlichen Paradigmen über die Mitgliedschaft in Diskursgemeinschaften.
Und die Wissenschaftshistorikerin wird nicht umhin können, genau das Vorkommen einer solchen zu konstatieren: Es gibt eine Sektion, die zwar der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften (DGfE) angehört, die gleichwohl ein weitgehendes Eigenleben führt. Exemplarisch wird das an der Differenz von ‚Kerncurriculum Erziehungswissenschaft‘ und ‚Basiscurriculum Berufs- und Wirtschaftspädagogik‘ deutlich, über welchletzteres sie frühe Skizzen vorfand, die noch den gleichen Namen – Kerncurriculum – trugen. Aus dem Selbstverständnis der Berufs- und Wirtschaftspädagogen heraus gab es überhaupt kein Konkurrenzverhältnis. Sowohl PLEIß als auch ZABECK haben eine Anzahl weiterer Belege für die Existenz einer Diskursgemeinschaft gesammelt – PLEIß nennt sie „pragmatisch“ und will wohl damit einen Mangel an disziplinärem Sinn und Systematik kritisieren (PLEIß 1986, 102, vgl. dort Anmerkung 60; ZABECK 1998, 174).
3. Trotz des empirischen Faktums eines geschlossenen und mithin dann doch näherungsweise disziplinären Diskurses wird die zukünftige Historikerin nur drei Versuche einer eigenständigen disziplinären Sinnstiftung finden.[8] Eigenständig heißt hier, dass keinerlei Anlehnung an eine andere Disziplin gesucht wird, indem die Berufs- und Wirtschaftspädagogik als spezielle Wirtschaftslehre oder als differentielle Pädagogik bestimmt wird. Eigenständig heisst demgegenüber nicht, dass das Methodenrepertoire einer Disziplin im inhaltlichen Bezugsfeld einer anderen zur Anwendung kommen soll. Dieses wäre das klassische Merkmal einer ‚Bindestrich-Wissenschaft‘ wie bei der Soziolinguistik, der Biochemie oder dergleichen. Für eine Zuweisung der Prädikation ‚eigenständig‘ sei mit LUHMANN davon ausgegangen, dass soziale Systeme – und diesem entsprechend soziale Subsysteme – ihre erkennbare Existenz sinngeleitet begründen (vgl. LUHMANN 1971).
3.1 Der erste, durchaus noch unausgereifte Versuch geht auf THEODOR FRANKE 1903 zurück, der übrigens unweit von Chemnitz, im westsächsischen Lobsdorf, gelebt hat. FRANKE hatte argumentiert, dass die Aufgabe der Wirtschaftspädagogik darin bestehe, „das Wechselverhältnis zwischen Bildungs- und Schulwesen einerseits und Wirtschaftsleben andererseits genau zu erforschen und darzulegen ...“ (FRANKE 1903, 52, im Original mit Hervorhebungen).
Hier wird mithin der Verhältnisbegriff in FRANKEs programmatischer Schrift erstmals zur Begründung des Faches, zumindest aber der Wirtschaftspädagogik, herangezogen. Allerdings bleibt das Verhältnis analytisch wenig elaboriert, vor allem aber erkennt FRANKE dann doch nichts mehr als eine besondere Forschungsabteilung der Pädagogik (ebd., 53 ff.). Dennoch ist der Autor seiner Zeit insofern voraus, als um die Jahrhundertwende die Wirtschaftspädagogik noch auf absehbare Zeit institutionell eher in den Wirtschaftswissenschaften verortet wurde. Eine Begründung des Faches in disziplinärer Geschlossenheit bleibt er trotz des bemerkenswerten Verhältniskonzepts schuldig.
3.2 Der zweite Versuch wurde dann unabhängig von den Vorarbeiten FRANKEs von HANS-CARL JONGEBLOED unternommen. JONGEBLOED argumentierte 1998 dahingehend, dass die Wirtschaftspädagogik weder nur pädagogische noch nur wirtschaftswissenschaftliche Disziplin sei oder sein könne, sondern sich auf die wechselseitigen instrumentellen Verhältnisse von Erziehung und Ökonomie, von Wirtschaften und Erziehen gründe. Auch dieser Versuch beschränkt sich auf die Begründung der Wirtschaftspädagogik, was mit dem empirischen Faktum einer Diskursgemeinschaft von Berufs- und Wirtschaftspädagogik nicht konform geht. Das wissenschaftssoziologische Kriterium eines gemeinsamen berufs- und wirtschaftspädagogischen Diskurses wurde mithin nur unzureichend abgebildet.
Überdies fanden die beiden Versuche weithin recht wenig Beachtung. Der citation impact, wie es in der Endphase der Berufs- und Wirtschaftspädagogik in der Wissenschaft allgemein hieß, war denkbar schlecht. FRANKEs früher Beitrag fand in jüngerer Zeit gerade noch Beachtung bei CZYCHOLL, bei WOLL und bei BANK,[9] und sicherlich in verstreuten Abhandlungen, die in historischer Absicht verfasst worden waren. JONGEBLOEDs nachgelieferte Gründungsakte der Wirtschaftspädagogik blieb bislang erstaunlicherweise weitgehend unkommentiert. Es gibt vor allem einen elaborierten Kommentar von ZABECK in privater Korrespondenz; wenig genug also. Bei aller Schwierigkeit des JONGEBLOEDschen Texts in der Diktion muss dann doch verwundern, dass die Wirtschaftspädagogen nicht mit mehr Interesse reagiert haben, wo es um die Konstitution bislang nicht explizierter Sinngrenzen geht.
In meiner Habilitationsschrift habe ich selbst die Verhältnistheorie JONGEBLOEDs aufgegriffen und auf die ganze historisch gewachsene Disziplin angewendet. Damit liegt ein umfassender Versuch einer extensionalen wie intensionalen Bestimmung des Erkenntnisinteresses vor (vgl. BANK 2004, 31 ff.). Auch hier stehen weitere Reaktionen ausser einer eloquenten Kritik, die abermals ZABECK gegen diesen Ansatz in der Diskussion eines Vortrags vor der Vereinigung der Professoren der Berufs- und Wirtschaftspädagogik 2002 in Bamberg geübt hat, noch aus.
4. Nur etwa zwei Jahre später jedoch, so diagnostiziert die Wissenschaftshistorikerin, versank aber die kleine Gemeinde der Berufs- und Wirtschaftspädagogen in Agonie: Es war gute Praxis geworden, dass einige führende Vertreter des Faches die Federführung zur Beantragung von Schwerpunkt-Forschungsprogrammen übernahmen. Ein umfassender Entwurf eines DFG-Schwerpunkt-Programms aus der Berufs- und Wirtschaftspädagogik wurde im Jahre 2005 von den Gutachtern abgelehnt. Bemängelt wurde primär die unzureichende internationale Ausrichtung. Zeitgleich wurden umfängliche Mittel für Schulversuche gestrichen. Wie ihr verstreute Quellen zeigen, wurde wiederholt im Duktus des Opfers über die Austrocknung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik im Drittmittelbereich geklagt (vgl. z.B. BREUER et al. 2007, 3).
Bei der Durchsicht der zu jener Zeit nicht geringen Zahl von Ausschreibungen von Lehrstühlen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik findet sie etliche, die so ausgeschrieben sind, dass sie ebensogut oder besser von Betriebswirten, von Volkswirten, von Psychologen besetzt werden könnten. Ob nun die Fachvertreter der Berufs- und Wirtschaftspädagogik institutionell in einer philosophischen, in einer erziehungswissenschaftlichen oder in einer wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät verankert waren: Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik konnte sich zumindest in ihrer Spätphase im beginnenden 21. Jahrhundert einer Position stets sicher sein: der einer durch keine Minoritätenregeln geschützten und zugleich verschwindend kleinen Minderheit.
Trotz dieser prekären Lage hat es die Berufs- und Wirtschaftspädagogik eindeutig versäumt, sich ihrer disziplinären Grenzen in eigenständiger Form zu versichern. Dieses hat zur Folge und dokumentiert sich empirisch darin, dass die erwähnten Begehrlichkeiten von außen nicht abgewehrt werden können. Klar definierte Erkenntnisinteressen, wie sie in den Naturwissenschaften für jeden begreiflich zutage liegen, und welche die Usurpation durch fachlich inkompetente Dritte verhindern, wären hier erst zu bestimmen gewesen.
Als Expertin in Wissenschaftsgeschichte ist der Historikerin der Zukunft selbstverständlich bekannt, dass es immer schon Grenzüberschreitungen in der Wissenschaft gegeben hat. In aller Regel waren diese durchaus fruchtbar gewesen. Ihr wird in personifizierter Form die Zusammenarbeit der Atomphysikerin LISE MEITNER und des Chemikers OTTO HAHN einfallen. Doch waren es immer nur die Grenzbereiche, in denen die Grenzüberschreitungen stattfanden – in der Physik der Atome, wie bei MEITNER und HAHN, oder in der Biochemie der Genforschung, wie in jüngerer Zeit. Dass ein Chemiker den Versuch einer Lösung optischer und mechanischer Probleme unternommen hätte, dass ein Physiker Drittmittel in der Aromatenforschung oder in der Botanik eingeworben hätte, derartiges lässt sich in den Annalen nicht wiederfinden. Wenn aber beispielsweise Psychologen sich nicht nur auf Probleme der Lerntheorie im Medium des beruflichen Lernens beschränken, sondern sich zu originären berufs- und wirtschaftspädagogischen Kernthemen äußern, so stößt sich daran kaum jemand.
Auch nach innen verzettelten sich zu Beginn des anbrechenden Jahrtausends die Berufs- und Wirtschaftspädagogen in unzähligen Auseinandersetzungen. Da streitet der ältere – die Wirtschaftspädagogik – mit dem jüngeren Zwilling – der Berufspädagogik – und reproduziert die historisch tradierten beiderseitigen Aversionen der Handelslehrer und der Gewerbelehrer innerhalb der akademischen Zunft. Wenigstens bei den jüngeren Vertretern der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sollen diese tradierten Konstruktionen wie schon in vielen Lehrkollegien nun endlich keine Rolle mehr spielen.
5. Insgesamt, so wird die Wissenschaftshistorikerin des Jahres 2050 bilanzieren, ist für die erste Dekade des neuen Jahrtausends festzustellen, dass es die Selbstbefangenheit in der durch funktionale Anforderungen abgestützten historischen Genese ist, was eine intrinsische und systematische Disziplinbildung verhindert hat. Es überrascht hieran vor allem eines, nämlich dass dieses disziplinlose Fach über ein Jahrhundert lang Bestand haben konnte.
Mit dem Verschwinden der Lehrerbildungsstudiengänge der staatsexaminierten oder universitätsdiplomierten Handelslehrer und Gewerbelehrer ist unterdessen die historisch bedingte funktionale Existenzgrundlage entfallen. Das eine oder andere Modul wird man eben stets auch ohne Berufs- und Wirtschaftspädagogen bereitstellen können, da es unter den gegebenen Bedingungen für Dritte nicht erkennbar sein kann, worin die originären Erkenntnisinteressen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik liegen, welches die hier immer wieder erwähnten Kompetenzen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sind, die nur ihr zukommen und nicht durch andere Mutter- oder Schwesterdisziplinen ebenso gut abgedeckt werden könnten.
Noch mehr: Selbst die studienstruktur-reformierten Formen der Ausbildung von Handels- und Gewerbelehrern werden bald verschwinden, denn deren Betätigungsfeld wurde in Kopenhagen faktisch abgeschafft. Dort wurde der sogenannte Kopenhagen-Prozess durchgesetzt, bei dem – ganz, wie schon in Großbritannien – ein Qualifikationsrahmen ordnende Instanz sein soll (vgl. dazu BOHLINGER 2007, DREXEL 2005). Wird das tatsächlich so umgesetzt, ist dies mit allergrößter Wahrscheinlichkeit das Ende des dualen Systems.[10] Als nichts anderes kann eine formalrechtliche ‚Äquivalenz‘ der didaktisch unterschiedlich bestimmten Lernorte Betrieb (non formal learning) und Schule (formal learning) aufgefasst werden. An den dann noch real übrigbleibenden beruflichen Schulen werden sich Sozialtherapeuten die Arbeit mit anderen halb- oder gar nicht akademisch vorgebildeten Lehrkräften teilen.[11] Konkrete berufliche Bezüge sind dann zwar nicht kategorisch ausgeschlossen, doch im Grunde in Abwesenheit der fordernden (und insofern auch disziplinierenden Wirkung des betrieblichen Dualpartners) auch nicht mehr erforderlich. – So ist zusammenfassend festzuhalten:
Erstens: Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik ist im Begriff, ihre historischen Funktionen gleich in doppelter Weise zu verlieren: In der Lehrerbildung und in der speziellen Form der beruflichen Bildung als möglichem spezifischen Erkenntnisinteresse.
Zweitens: Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik hat es in über 100 Jahren nicht vermocht, in eigenständiger Weise Sinnbildung zu betreiben und damit eine Systemerhaltung auch bei Verlust der heteropoietischen Funktion zu ermöglichen.
Drittens: Der Vorwurf einer mangelnden Internationalität gegen eine Disziplin, die sich historisch nur im deutschen Sprachraum ausdifferenziert hat, ist nur als Stück aus dem Tollhaus zu bezeichnen. Dennoch bedeutet in einer zunehmend globalisierten Welt die weitgehende Selbstbeschränkung der Diskurse auf die deutschsprachigen Länder eine kontinuierlich wachsende Provinzialisierung und damit Marginalisierung.
Man könnte sich jetzt einfach damit begnügen, die Dinge so zu nehmen wie sie sind, und die Berufs- und Wirtschaftspädagogik, die sich als historisch einmaliges Beispiel eines sozialen Systems keine selbsterzeugten Sinngrenzen erarbeitet hat, einfach abzuwickeln. ‚Abwickeln‘ ist als Thema einer Antrittsvorlesung wohl dann doch ungeeignet ... ‚Und wüßte ich, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.‘ ist ein LUTHER zugeschriebenes Diktum (diese Zuschreibung etwa bei VON DITFURTH 1985, im Buchtitel), das auch im Angesicht des Endes zur hoffnungsfrohen Gestaltung aufruft. Hier gilt es, ein Fach zu pflanzen und die Möglichkeiten der Disziplinbildung in neuer Generation zu eruieren, bevor sich die alte in den unendlichen Weiten des schönen neuen durchmodularisierten Universums verliert.
6. Was ist, so könnte man fragen, mithin zu tun, damit die oben zusammengefassten Ergebnisse zukünftiger Wissenschaftsgeschichtsschreibung Fiktion bleiben?
6.1 Ein grundlegender Schritt wird darin liegen, den Beruf wieder zu einem unbezweifelten Grundbegriff der Berufs- und Wirtschaftspädagogik zu machen.[12] Er begründet das integrative Element eines allgemeinen, sonst nicht bestimmten Satzsystems. Das soll nicht heißen, dass der Berufsbegriff nur noch mit leiser Ehrfurcht gebraucht werden dürfte und die verschiedenen Berufe ab sofort sakrosankt seien. In einer nicht statischen Umwelt wäre solches Unfug; Idee und Wirklichkeit dürfen selbst dann nicht allzu weit auseinanderfallen und bleiben im KANTischen Sinne aufeinander verwiesen, selbst wenn wir gar nicht aus der Höhle des Unwissens herausschauen können. Das aber droht ohne eine kontinuierliche Fortentwicklung der Berufe und des Berufskonzeptes. Wie man sich dieses vorstellen kann, hat in ausgezeichneter Weise FRIEDBERT ESSER mit seiner Dissertationsschrift von 1997 gezeigt (vgl. ESSER 1997).
Es soll auch keinesfalls ein übertriebenes Berufskonzept restauriert werden, das auf den inneren Beruf nach MARTIN LUTHER zurückgeführt wird. Dieser hatte einst gepredigt:
„Nos habemus 2cem [=duplicem, d.V.] beruff, spiritualem et externam. [Vocatio] Spiritualis [...] est communis et similis... Altera vocatio, externa scilicet, macht ein unterscheid, Est yrdisch, ... [...] Das heist ein leiplicher beruff, in qua sumus tam dissimiles ut illic similes. [...].“ ‚Wir üben einen zweifachen Beruf aus, einen geistlichen und einen äußerlichen. Der geistliche Beruf hat ... eine allgemeine und gleiche Berufung... Die andere Berufung, nämlich die äußerliche, enthält eine Unterscheidung; sie ist irdisch ... Das heißt, dass wir uns gerade so im individuellen Beruf unterscheiden, wie wir in jenem [dem geistlichen, d.V.] gleich sind.‘ (1531, 306; Fraktursatz des Originals hier kursiv wiedergegeben).
Auch hier zeigt sich wieder, dass das Nachlesen im Original immer wieder lohnt – je älter der Text, umso mehr: Apologeten wie Kritiker des Berufes beziehen sich auf das Mysterium innerer Berufenheit,[13] um daran ihre jeweilige Position festzumachen. Die innere Berufenheit und eng damit verbunden die Vorstellung vom Lebensberuf ist jedoch schon bei LUTHER expressis verbis keine Voraussetzung zur Ausübung des Brotberufes. Hierin liegt der wesentliche Irrtum in der Auseinandersetzung über den Berufsbegriff auf beiden Seiten. Zugleich macht LUTHER deutlich, dass man sich mit dem Ergreifen eines äußeren Berufes eben spezialisiere und dass diese Spezialisierung zu respektieren sei: „ ... ut sich nicht menge ynn ein frembden beruff.“ (LUTHER 1531, 300; im Original mit typographischen Markierungen). Dieser Standpunkt genügt auch den neuesten Vorstellungen von der funktionalen Ausdifferenzierung der sozialen Systeme.
Es gibt eigentlich nur ein Argument, das gegen die Beibehaltung des Berufskonzeptes spricht: Das ist die normative Kraft des Faktischen, wie etwa einst die disparaten Zuwandererstrukturen in der Neuen Welt in Verbindung mit hoch dringlichem Handlungsbedarf keine Ausbildung beruflicher Strukturen zugelassen hat. Doch ohne gleich zur Frankfurter Schule überzulaufen, ist die bloße Affirmation des Faktischen sicher nicht das Ziel aller Wissenschaft. Das Beibehalten des Berufskonzeptes als Normvorstellung erwerbsmäßiger Tätigkeit hat durchaus Gründe, die weiter als in die reine Vernunft zurückreichen.
In dem Rückverweis auf die globale Normativität des Faktischen, etwa der industriell bedingten Arbeitsorientierung, etwa der als Amerikanisierung vonstatten gehenden Globalisierung oder etwa des Kopenhagen-Prozesses, zeigen sich die Berufe durchaus als Ausdruck einer speziellen Kultur, will man Kultur als ein Repertoire von Kenntnissen und Verhaltensweisen auffassen, welches in einer bestimmten Personengruppe kommunikative Anschlussfähigkeit begründet oder effizient macht. Sicher wird es Gegenden in der Welt geben, in denen die berufsförmige Organisation von Erwerbstätigkeit schwächer ausgeprägt ist als hierzulande. Es wird auch nicht in allen Branchen eine gleich ausgeprägte Berufsförmigkeit der Arbeiten geben können. Die Effizienz des Berufes ist aber sowohl als rein ökonomische zu verstehen als auch als eine gesamtgesellschaftliche, dann mit positiven ökonomischen Rückwirkungen.
Ich habe bereits verschiedentlich darauf aufmerksam gemacht, dass dem Berufskonzept eine unmittelbare ökonomische Rationalität innewohnt (vgl. u.a. in BANK 2004, 43): Berufe ermöglichen als soziale Subsysteme eine Reduktion von Transaktionskosten, wie es von RONALD COASE für Unternehmen beschrieben worden ist (vgl. COASE 1988, 35 ff.). Bei etablierten Berufen reduzieren sich die Such- und Informationskosten auf der Seite der Nachfrager. Man geht um ein Schnitzel zum Fleischer, mit Vorsorgefragen zum Finanzfachmann, und das Bücherregal für die Dachschräge vermutet man richtigerweise beim Tischler.[14] Soweit könnte man auf bloße Funktionalität setzen, denn dieses Suchverfahren mag im Zeitalter des Internetzes nicht mehr allzu große Probleme aufwerfen. Gleichzeitig aber sichert die Berufsförmigkeit kompetentes Handeln in einem bewährten Funktionscluster, nicht nur in einer einzelnen Funktion.[15]
Damit kommt ein weiterer Aspekt der berufsförmig organisierten Tätigkeit hinzu – der Beruf konstituiert ein tertium comparationis, das zumindest Vermutungen über Mindestqualität ermöglicht, will man nicht gleich soweit gehen, hierin auch ein Qualitätssicherungsinstrument erkennen zu wollen. Der Beruf als Tätigkeitscluster reduziert die Transaktionskosten an einem inhomogenen Arbeitsmarkt im Vergleich zu einem an Einzelfunktionen und -qualifikationen strukturierten Arbeitsmarkt in einer der ‚Marke‘[16] vergleichbaren Form erheblich. Gleichzeitig werden auch bei neuen Anbietern am Arbeitsmarkt Strukturen geboten, die Orientierung ermöglichen, auch wenn die allenthalben bestehenden Arbeitsmarktstrukturen immer noch nicht ausreichend Gegenstand einer rechtzeitigen und umfassenden Berufsorientierung sind.
Den Kostenminderungen stehen unter Umständen nicht unmittelbar genutzte Qualifikationen gegenüber, die gemeinhin für unökonomisch gehalten werden. Dieses artikuliert sich etwa in interessierten Positionen wie der Kritik an einer ‚Ausbildung auf Halde‘.[17]
Während also ganz im LUTHERschen Sinne die erkennbare oder allgemein geläufige Verschiedenheit den Erfolg der Beruflichkeit begründet, ermöglicht oder erleichtert die Beruflichkeit als eine soziale differentia specifica eine individuelle Identitätsbildung. Sie vermittelt sozialen Status und die Erkennbarkeit des eigenen Wertes in der Gesellschaft, während das soziale Kapital schnell angelernter Funktionen mit kaum erkennbarem investiven Charakter eben auch verschwindend gering ist, denn morgen schon könnte die jeweilige Funktion der globalisierten Dynamik der Zeit erlegen sein.
Die Orientierung an der Beruflichkeit hat nicht nur eine disziplinbildende Funktion für die Berufs- und Wirtschaftspädagogik, sondern auch den Nebeneffekt, dass eine berufsförmige Ausbildung es ermöglicht, dass das ‚duale System‘ auch in Zukunft trotz des kaum begreiflichen europäischen Uniformierungsdrangs seinen Fortbestand haben kann.[18] Dieses gilt, wenn die Ausbildung eben nicht nur auf die unmittelbare Vergesellschaftung der Arbeitskraft abzielt, sondern den komplementären Prozess der Individuation mit einbezieht – und sei es nur funktional vor dem politischen Hintergedanken der Extremismusbekämpfung.
Der Fortbestand des ‚dualen Systems‘ ist möglicherweise nicht nur eine Frage der Fortführung der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, sondern vielleicht auch eine Frage der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft (vgl. im Grundsatz ebenso MÜNCH 1999; 2003, 168): Es gibt im Grunde nur zwei Merkmale, die in Kombination die deutsche Volkswirtschaft von den übrigen Nationalökonomien überdauernd unterschieden haben: Der erste besteht in einem gesicherten Rechtssystem, der zweite in der soliden obzwar aufwendigen Ausbildung einer breiten Funktionsgruppe der Gesellen, Facharbeiter und Gehilfen. Will man sich nicht auf die nationale Perspektive begrenzen lassen, so können allgemeinökonomische Effizienzüberlegungen hier angeschlossen werden. Dass sowohl die Frage der ökonomischen Rückwirkungen eines funktionierenden Rechts- als auch eines Berufssystems spekulativ bleiben muss und sich vermutlich auf ewig einer empirischen Klärung entzieht, spricht nicht gegen dieses Argument an sich, sonst hätte mancher andere Diskurs längst schon abgebrochen werden müssen.
6.2 In einem zweiten Schritt muss klar werden, dass es für die Berufs- und Wirtschaftspädagogen neben theoretischen genügend pragmatische Gründe gibt, sich von der Pädagogik als gewillkürter Mutterdisziplin fernzuhalten.
6.2.1 Viele Pädagogen sind derzeit wieder redlich bemüht, sich selbst aus der Gemeinschaft derer zu entfernen, die Anspruch darauf erheben können, als Wissenschaftler zu gelten, gerade weil sie so verzweifelt die Bezeichnung ‚Wissenschaft‘ für sich in Form von ‚Bildungswissenschaft‘ oder ‚Vermittlungswissenschaft‘ reklamieren. Beide Bezeichnungen sind modisch-suggestiv, doch wertlos. GERALD STRAKA urteilt über die ‚Vermittlungswissenschaft‘ als Surrogat einer Didaktik:
„Mit ‚Vermitteln‘ sind Vorstellungen verbunden, wie jemandem etwas weitergegeben oder auf jemanden etwas übertragen wird. Damit werden tendenziell externe Bedingungen angesprochen, was mit dem Rahmenmodell für Handeln und Lernen im Einklang steht. Lehren beschränkt sich auf das Arrangement externer Bedingungen. [...] Ob und wie ein Brückenschlag [auf die Ebene des Lernens; kontextuelle Ergänzung, V.B.] erfolgt, liegt vom Stand unserer derzeitigen Erkenntnis ausschließlich in der Hand des Lernenden. Didaktik in eine ‚Vermittlungstheorie‘ umzuwandeln verweist in die falsche Richtung und ist somit aus handlungs- und lerntheoretischer Perspektive wenig zukunftsweisend.“ (STRAKA 2006).
Ferner ist die aktuelle metatheoretische Selbstbestimmung der Pädagogik zu befragen. Der bis heute fortdauernde Dissens zwischen der ‚alten‘ Pädagogik und der ‚modernen‘ Erziehungswissenschaft hatte noch methodologische und insofern intersubjektiv nachvollziehbare Gründe. Zwar war BREZINKAs Gedanke wenig begründet,[19] Wissenschaftlichkeit an der Ablösung geisteswissenschaftlicher Methoden durch ausschließlich kritisch-rationale Methoden festmachen zu wollen, doch ist er immerhin fassbar. Fassungslos macht dagegen die neueste Mode in der Pädagogik, sich als ‚Bildungswissenschaft‘ zu bezeichnen und reihenweise entsprechende Institute zu gründen, in denen sich dann auch noch allerlei Psychologen, Vermittlungswissenschaftler jedweder Provenienz und sonstige durch die Reformen bologneser Art disziplinlos Gewordene versammeln. An einer Hochschule ist eben alles ‚Vermittlung‘ einer Wissenschaft, und so passt das Kunterbunt als neue Form der ‚Ordnung‘ ins Bild.
Überdies ist ‚Bildung‘ nach Inhaltskategorien, nach Verhaltenskategorien als auch nach Situationsbezügen indeterminert und indeterminierbar (vgl. BANK 2005). Darin bestand doch auch die wesentliche Kritik an der älteren, geisteswissenschaftlich geprägten Pädagogik, dass jene in ihrer exklusiven Verwiesenheit auf den Bildungsbegriff stets im Ungewissen und Unscharfen argumentierte, und dies auch dann noch, wenn NOHL, FLITNER, LITT und die übrigen subjektiv stets eine klare Vorstellung von der Bildung hatten. Der Kern des Bildungsproblems liegt in der mangelnden begrifflichen Trennung vom Erziehungszusammenhang. ‚Bildung‘ lässt sich als ein Ziel, als ein beabsichtigtes Ergebnis von Erziehung fassen, das in Konkurrenz zu Schlüsselqualifikation, zu Kompetenz und zu Qualifikation steht, die didaktisch allesamt eine zumindest graduell höhere Fasslichkeit aufweisen (vgl. ebd.).
Soll ‚Bildung‘ nun die differentia specifica einer Wissenschaft sein, fällt auf, dass damit subjektiv alles und folglich zugleich intersubjektiv nichts fassbar wird. Ohne ein definiertes und definierbares Erkenntnisinteresse aber entsteht niemals, wie KANT es gefordert hat, ein (widerspruchsfreies) System von Sätzen und mithin keine Wissenschaft (vgl. 1786, V).
Unbeachtlich der Selbstzerstörungstendenzen in der Pädagogik bedarf es über das rein praktische Argument hinaus auch aus theoretischer Sicht einer Auseinandersetzung mit der hochdifferenzierten Argumentation JÜRGEN ZABECKs, der die Berufs- und Wirtschaftspädagogik wiederholt als spezielle Erziehungswissenschaft beschreibt.[20] Im Zuge einer gründlichen historischen Analyse der Disziplinbildung kommt ZABECK zur Frage, worin denn das von FELD postulierte eigene Forschungsobjekt bzw. die eigene Fragestellung bestünde – und entdeckt nichts als ein unbegründetes Postulat (vgl. ZABECK 1998, 172). Er beruft sich zusätzlich auf die Feststellung NICOLAI HARTMANNs, der „die Rede vom ‚Gegenstand der Wissenschaft‘ als kontraproduktiv kritisiert“ habe, (ebd, 181) insofern ein Begriff des Objekts bereits über die Erkenntnis vorab bestimme. Dem kann man nicht recht widersprechen, gleichwohl führte die Annahme dieses postmodern anmutenden Arguments in die wissenschaftliche Handlungsunfähigkeit. Dieses will ZABECK nicht; er entwirft seinerseits eine semantisch bestimmte Ordnung der Wissenschaften – und setzt von daher selbst eine sprachliche Ordnung der Erkenntnis voraus. Das Ergebnis dieser semantischen Einteilung in zwei Stufen, in der die Nullstufe die relevanten Ausschnitte der differentiellen Pädagogiken umfasst und die darüberliegende Metaebene die allgemeine Pädagogik, ist nach meinem Dafürhalten viel zu wenig rezipiert und gewürdigt worden. Anderenfalls wäre die allgemeine Pädagogik nicht zu einer Residualwissenschaft verkommen, in der all das abgehandelt wird, was die differentiellen Pädagogiken übriggelassen haben (vgl. z.B. BRINKMANN 2001).
Gleichwohl bleibt auch hier die Frage nur Postulat, warum es kein eigenständiges Forschungsinteresse der Berufs- und Wirtschaftspädagogik geben könne.
6.2.2 So bedarf es der Aufnahme bzw. Wiederaufnahme eines Diskurses, in dessen Rahmen ein eigenes disziplinäres Selbstverständnis bestimmt wird, das aufgrund der funktional angeregten Herausbildung einer Forschergemeinschaft überflüssig erschienen sein mag und das der von ZABECK als unbeantwortet wahrgenommenen Fragestellung nach dem Erkenntnisinteresse Antworten gegenüberzustellen versucht. Zu einem solchen Diskurs gehört neben der Rückbesinnung auf das Berufskonzept als einer konstitutiven Grundlage der Disziplin eine reflexive Bestimmung des Erkenntnisinteresses, dem wesentlich die Eigenschaft eines wissenschaftskonstitutiven Merkmals in Abgrenzung zu anderen Wissenschaften zukommt. Wiewohl die Wissenschaftlichkeit als solche nur prädiziert werden kann, wenn eine Entscheidung zugunsten einer Methode gefällt worden ist und diese Methode nicht nur sorgfältig angewandt worden sein muss, sondern auch die entstehenden Sätze in einem System geordnet werden müssen, sei der Wissenschaftscharakter der hier zu entwerfenden Disziplin nicht im Grundsatz befragt. Über diese Kriterien kann nur in der Wissenschaftspraxis entschieden werden und das fordert die Qualität der Wissenschaftler.[21]
Mein Rekonstruktionsversuch einer Berufs- und Wirtschaftspädagogik beruht auf der von JONGEBLOED gemachten Feststellung, dass sich die Erkenntnisinteressen der Fächer eben nicht nur als materielle oder wenigstens begrifflich fassbare Erkenntnisobjekte bestimmen lassen, sondern als Zweck-Mittel-Relationen im Sinne Max WEBERs, die überdies noch durch bestimmte Bedingungen gerahmt sind (worüber WEBER selbst sich nicht ausdrücklich geäussert hat).[22]
Abb. 1: Berufs- und Wirtschaftspädagogik als Verhältniswissenschaft
Ich werde hier eine für meine Zwecke reduzierte Darstellung verwenden (vgl. Abb. 1). Relativ anschaulich kann man die Relationen der ‚etablierten‘ Disziplinen untersuchen. Nehmen wir die ‚Wirtschaftswissenschaften‘ oder ‚Ökonomik‘: Diese hat das Interesse, einerseits die Strukturen der Wirtschaft als Resultate aus dem Vorgang des Wirtschaftens zu erklären respektive diesen Vorgang daraufhin zu optimieren, andererseits die Strukturen der Wirtschaft für die wirtschaftlichen Prozesse optimal vorzubereiten beziehungsweise diesen als Ergebnis dieser Strukturen zu erklären. Man sieht, dass im Grunde auch die Ökonomik eine Verhältniswissenschaft ist, und zugleich, dass sich die Zusammenfassung der VWL und der BWL in gemeinsamen Fakultäten darin rechtfertigt, denn sie nehmen nur unterschiedliche Ebenen desselben Systems wechselseitiger Transzendenzen unter identischen Fragestellungen in den Blick.
Verglichen mit den aspektgebundenen Objektwissenschaften wie der Physik ist die Ökonomik mithin ein vergleichsweise kompliziertes Fach. Nicht so im Vergleich zur Berufs- und Wirtschaftspädagogik, daneben nimmt sich die Ökonomik verhältnismäßig übersichtlich aus. Die verschiedenen inhaltlichen Bezugsfelder der Berufs- und Wirtschaftspädagogik sind ‚Erziehung‘ und ‚erziehen‘, die zwischen ‚Beruf‘ und ‚beruflich tätig sein‘ auf der einen sowie ‚Wirtschaft‘ und ‚wirtschaften‘ auf der anderen Seite stehen. Im Ergebnis spannen 24 Relationen ein Feld auf, die hier nicht erneut im Einzelnen untersucht werden sollen; das ist umfassend geschehen in BANK 2004 (33 ff.). Durch die Anlage der Graphik werden indes drei Verhältnisfelder anschaulich, die entsprechende unterscheidbare Subdisziplinen konstituieren: Der erste, übergeordnete Bereich ist der einer ‚allgemeinen (eigentlich: nicht bestimmten; vgl. POPPER 1994) Berufs- und Wirtschaftspädagogik‘, deren Gegenstand die Relationen zwischen den Feldern ‚Beruf‘ und ‚Wirtschaft‘ sind. Der zweite ist der Bereich der Berufspädagogik, allerdings nicht im historischen, sondern in einem rekonstruktiven Sinne, denn nicht selten definieren sich Berufspädagogen über die Didaktik einer technisch-gewerblichen Ausbildung, was hier zu eng gefasst wäre. Schließlich bildet ein dritter Bereich die Wirtschaftspädagogik, so, wie sie zunächst näherungsweise von FRANKE, dann weitaus präziser von JONGEBLOED gefasst worden war.
Wenn man so will, ergibt sich aus dieser Herangehensweise eine neue Ordnung der Wissenschaften: Zunächst solchen, die konkrete Objekte unter einem bestimmten Blickwinkel betrachten, dann solchen, die transzendente Relationen zwischen einer inhaltlichen Struktur und einem dazugehörenden Prozesszusammenhang betrachten, und schließlich solchen, die solche transzendenten Relationen zwischen mehreren inhaltlichen Strukturen und den jeweils nicht direkt zugeordneten Prozessen untersuchen. Zu diesen letzeren gehört die Berufs- und Wirtschaftspädagogik, und es nimmt daher nicht Wunder, dass die funktionale Ausdifferenzierung im System der Wissenschaften historisch vergleichsweise spät erfolgt ist. Diese Beobachtung schließt für die Zukunft nicht aus, dass es irgendwann auf einer weiteren Metaebene zur Herausbildung neuer Wissenschaften kommen kann.
6.3 Die dritte lösungsbedürftige Problematik für einen Fortbestand der Berufs- und Wirtschaftspädagogik über den momentan noch gesicherten Zeithorizont hinaus liegt in der Frage der Internationalisierung.
6.3.1 Es gibt durchaus schon gewisse Zeit erste Ansätze; etwa dass FELIX RAUNER und seine Schüler im Network ‚Vocational Education and Training‘ der EERA (European Educational Research Association) führend mitgestalten, dass entsprechendes von FRANK ACHTENHAGEN in der Special Interest Group ‚Learning and Professional Development‘ der EARLI (European Association for Learning and Instruction) zu konstatieren ist. Besonderen Anlass zur Hoffnung gibt die ursprünglich in Bremen initiierte und von STEPHEN BILLET von der australischen Griffiths University aus der Taufe gehobene Zeitschrift ‚Studies in Vocational and Professional Education‘. Billett beschreibt das Ziel des Journals in einem Rundschreiben vom 4. Mai 2007 an die Mitglieder der Sektion Berufs- und Wirtschaftspädagogik in einer Weise, die funktional dem Selbstverständnis der Berufs- und Wirtschaftspädagogik weitgehend entspricht. Sie spiegelt den besonderen angelsächsischen Impetus auf Arbeit in besonderer Weise wider:
„Studies in Vocational and Professional Education is an international peer-reviewed journal that provides a forum for ... the broad field of vocational learning. This field includes vocational education, professional education and development, learning through and for work (paid and unpaid) and working life. The conception of vocations is defined broadly to account for those societally-derived-activities that are important to individuals, and the enactment, continuity and transformation of communities, nations, cultures and economies. The journal will pay attention to such topics as the initial learning and further development of the capacities and dispositions required for work and working life and their remaking and transformation of these capacities and the tools and technologies required for these activities. Accounts of the development of these capacities within individuals and collectives through experiences in schools, colleges, workplaces, universities and other settings will strongly feature in the contributions to the journal. They will be complemented by an equally strong attention to studies of the changing contexts and policy approaches for vocational learning. These contributions can comprise papers that provide either empirically-based accounts, discussions of theoretical perspectives or reviews of literature about vocational learning. In addition, books, reports and policies associated with vocational learning will also be reviewed.“
Hier könnte ein Forum entstehen, das in international wahrgenommener Form dem hier erhobenen Postulat nach einer weitgehend einheitlichen Disziplinbildung unter dem Interesse des souveränen Bestehens des Individuums in der Welt der Wirtschaft an Güter- und an Arbeitsmärkten unter dem Leitgedanken der Beruflichkeit Raum bietet.
6.3.2 Eine mögliche Internationalisierung des Faches wird indes nicht anders gehen als unter einem Namen mit Wiedererkennungswert. Die Funktionsbezeichnung ‚Berufs- und Wirtschaftspädagogik‘ lässt sich auf internationalem Parkett nur umständlich umschreiben. Derzeit kann man allenfalls alternativ unter den in der englischen Sprache eingeführten Sigeln wählen wie ‚research in VET (vocational education and training)‘ oder ‚business education‘ oder ‚teacher training in professional/ vocational education‘,ohne eine erschöpfende Liste abgeben zu wollen oder zu können (vgl. auch die oben angeführten Bezeichnungen der internationalen Arbeitsgruppen). Gemeinsam ist ihnen, dass sie nicht einmal näherungsweise das wiedergeben, was im Deutschen mit ‚Berufs- und Wirtschaftspädagogik‘ gemeint sein könnte – mit der Folge ebenfalls immer wieder umfänglicher Begriffsdiskussionen. Was sich auf internationalem Parkett nie (oder fast nie) wegdebattieren lässt, ist der Stallgeruch des Versagens, welcher der V.E.T., der formation professionelle, der formazione professionale etc. anhängt. Auch in Ostasien ist das nicht anders.
Während, grob vereinfachend, in angelsächsischen Kontexten für alle möglichen Tätigkeiten jenseits der Anlehre ‚akademische‘ Bildungsgänge zur Verfügung stehen, lenkt die Romania die Schulversager aus der allgemeinen Schule in die beruflichen Schulprogramme um, damit sie wenigstens vorübergehend der Strasse entzogen werden. „Traduttore, traditore ...“: Entsprechend ROMAN JAOKOBSONs Diagnose von der Unmöglichkeit einer Übersetzung von einem sprachlichen System in ein anderes (vgl. 1987, hier 435) ist die Verortung im nationalen Wissenschaftssystem weitgehend eine andere; und ein restlos vereinheitlichtes internationales Wissenschaftssystem wird es, HUNTINGTONs Kulturanalyse entsprechend, nicht geben (vgl. HUNTINGTON 2006).
Die Berufs- und Wirtschaftspädagogik gibt in Deutschland ihrer Überzeugung, eine Erziehungswissenschaft zu sein, durch Zugehörigkeit zur Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften Ausdruck. International werden die Erkenntnisinteressen der Berufs- und Wirtschaftspädagogik, so denn gemeinsame Erkenntnisinteressen im Detail bestehen, nach meinem ersten Eindruck eher von Erziehungssoziologen bearbeitet, die entsprechend organisiert sind. Educationalists kennen Probleme der beruflichen Bildung eher nicht.
Soll eine Disziplinbildung auf internationalem Niveau vorangetrieben werden, ist von daher auch keine einfache Ein- oder Zuordnung, wohl aber der transdisziplinäre Diskurs zu suchen. Wovon man aber nicht sprechen kann, bescheidet uns LUDWIG WITTGENSTEIN in seinem ‚Tractatus‘, darüber müsse man schweigen (vgl. 2003, Glied. ziff. 7).
Aus diesem Grunde sei vorgeschlagen, eine synthetische Bezeichnung zu suchen, die ein ‚darüber sprechen‘ ermöglicht. Sie muss beiden konstitutiven Momenten aus Sicht des erkenntnisleitenden Interesses, den relevanten sozialen Subsystemen ‚Beruf‘ und ‚Wirtschaft‘, Rechnung tragen. Dafür empfiehlt sich immer wieder der Rückgriff auf ältere nuancierungsfähige Kultursprachen; lateinisch hießen diese konstitutiven Momente vocatio und economia, was sich gut zu vocationomia zusammenführen lässt. Damit könnte ein gemeinsames Sigel gefunden sein, das in vielen Sprachen dem Hörer einen ersten, nachvollziehbaren Eindruck vermittelt, worin das Erkenntnisinteresse der betroffenen Wissenschaft besteht, und zwar selbst ohne weitergehende Vorkenntnisse. Der Neologismus hört sich schon einmal nicht ganz fremd an: Vokationomie, vocatinomics, vocationomie, vocationomia, vocacionomía, профессиономика (professionomika), (keizai shokugyô gaku), / (jingjì zhíyè xué) ... [23]
7. So gesehen mag die Berufs- und Wirtschaftspädagogik, in ihrer Unentschiedenheit, ob sie eine Disziplin sei oder doch zwei, oder doch gleich gar keine und nur Teil der Erziehungswissenschaften oder lediglich der Ökonomik zugehörig, dahinsinken. Es ließe sich daraus eine Disziplin begründen, die transdisziplinär mit der Erziehungswissenschaft, mit der Soziologie und mit der Ökonomik wesentliche Erkenntnisinteressen teilt, diese aber im Gesamt untersucht und damit aus der disziplinspezifischen Bilateralität befreit: Dieses sei die Vokationomie!
In diesem Namen kommt die Führung des Knaben (paidoV: des Knaben; ago: ich führe, ich trage) nicht mehr vor; der Führungsanspruch der Vokationomie ist also ein anderer als jener der Pädagogik. Er bleibt als didaktische Aufgabe, ist indes weniger umfassend und ergibt sich vorzugsweise aus der Auseinandersetzung des berufstätigen oder des berufssuchenden Menschen mit gesellschaftlichen und subjektiven Ansprüchen in der Dynamik des komplementären Spannungsfeldes von Subjekt und Gesellschaft in der subsystemischen Perspektive aller ökonomischen Märkte. Die Vokationomie muss mithin auf Erkenntnisse zielen, die helfen, den Menschen fähig zur Vergesellschaftung seiner Möglichkeiten zu machen, in seiner Individuation zu stärken und so zu souveräner ökonomischer Mündigkeit zu führen.
Mir scheint das Unternehmen lohnenswert, und für eine Antrittsvorlesung wie auch für die Übernahme einer Lebensaufgabe keinesfalls eine zu traurige Angelegenheit.
[1] Dieser Gedanke war keineswegs gänzlich neu: Schon 1769 hatte der Markgraf von Baden im weiteren Sinne einen ergänzenden theoretischen Unterricht im Rahmen der Ausbildung angeordnet, vgl. dazu die Darstellung bei SRTATMANN 1992, 17. Auch LORENZ VON STEIN hatte derartige Ausbildungskonzepte im Sinn in denen theoretische und praktische Aspekte zur Bildung zusammenwirken; vgl. VON STEIN 1883, bes. 59. KERSCHENSTEINER selbst hatte sich, wie GONON überzeugend dargelegt hat, umfassend in der Schweiz informiert und die dortigen Konzepte für seine Belange fruchtbar gemacht; vgl. GONON 2002a, insbes. Anmerkung 7, 33.
[2] Vgl. hinsichtlich der Modellhaftigkeit des Gymnasiallehrstandes ZABECK 1998, 171; 1999, 284 ff.
[3] Die inhaltliche Abgrenzung war übrigens eine beiderseitige: Während der Gymnasiallehrer gewiss seine Vorbehalte gegen den Berufsbildner mit Humboldt teilte, wird der Handelslehrer sich maßgeblich über seine ökonomische Fachlichkeit definiert haben. „Die Auseinanderentwicklung der Schultypen führte zu einer institutionellen Scheidung der Lehrerstände“, notiert HAMANN 1986 dazu treffend (140). Demgegenüber scheint heute alles der inhaltlichen Beliebigkeit anheimgestellt und in einer ‚Vermittlungswissenschaft‘ aufgelöst; vgl. kritisch dazu STRAKA 2006.
[4] Vgl. PLEIß 1973; vgl. ergänzend im Überblick denselben 1986. Vgl. ferner aber auch die übersichtlichen Darstellungen der historischen Entwicklungen von JÜRGEN ZABECK 1998 u. 1999.
[5] Vgl. diese Sichtweise horizontaler gesellschaftlicher Differenzierung geht zurück in das Jahr 1893, in dem EMILE DURKHEIM seine Dissertationsschrift „De la division du travail social“ vorgestellt hat; Übersetzung DURKHEIM 2004. Die höher entwickelten Gesellschaften als stärker funktional differenziert, die niedriger entwickelten eher als integriert zu beschreiben scheint in der Soziologie ein derzeit weitgehend etabliertes Denkmuster zu sein. Es mag dabei die Selbstverständlichkeit des ‚höher‘ und ‚weniger hoch‘ Entwickelten irritieren, was hier jedoch nicht zur Debatte steht.
[6] Es wird hier die Differenz zwischen dem Strukturfunktionalismus PARSONscher Prägung und dessen Radikalisierung durch LUHMANN zugrundegelegt.
[7] Vgl. die hinlänglich bekannten Bestimmungen in v. HUMBOLDTs Schulplanentwürfen 1809/ 1920a, b.
[8] In diesem Sinne irrt PLEIß – sonst immer zuverlässig – doppelt, wenn er die Gründungsakte der Wirtschaftspädagogik bei Feld 1928 vermutet, denn zum einen hatte FRANKE die Wirtschaftspädagogik als solche schon 1903 beschrieben, zum anderen fehlt bei Feld das Merkmal der disziplinären Autonomie (welches PLEIß, das ist redlicherweise hinzuzufügen, freilich nicht einfordert); vgl. 1986, 86 ff. Auch ZABECK konstatiert – etwas zurückhaltender – die besondere Rolle Felds bei der Disziplinbildung; vgl. 1998, 172.
[9] Vgl. CZYCHOLL 2000, 142 f. (hier wird allerdings der wirtschaftsdidaktische Gedanke bei FRANKE hervorgehoben); WOLL 2003, BANK 2004, 27. Natürlich ist FRANKE von PLEIß nicht übergangen worden; er belegt auch weitere Stellen einer FRANKE-Rezeption Anfang der sechziger Jahre; vgl. diesen 1973, 119 ff. Der Beitrag wurde seinerzeit für zu sehr auf das Volks- und Fortbildungsschulwesen abgestellt wahrgenommen.
[10] Vgl. das entsprechende Ergebnis einer sehr umfänglichen Auseinandersetzung mit dieser Frage bei DREXEL 2005, hier 113. BOHLINGERs richtige Einsicht, dass „ein Bildungssystem in erster Linie auf historisch gewachsenen, kulturell verankerten Normen, Wertvorstellungen und Ansprüchen [gründet; syntakt. Ergänzung, V.B.]“ (2007, 54) stützt DREXELs Position, bleibt für den Rest ihres Beitrags von geringer Bedeutung.
[11] Vgl. dazu passend die Weiterentwicklung der Berufsschulen zu Regionalen Berufsbildungszentren; hier BANK et al. 2003, 6 f. u. 17 ff.
[12] An der Stelle vieler anderer sei nur auf die im Handbuch von OELKERS und BENNER erschienene Begriffsfassung der Berufsbildung als „vergesellschaftete Erarbeitung des Arbeitsvermögens“ (sic) durch Klaus HARNEY hingewiesen; vgl. HARNEY 2004, 153.
[13] Vertreter des Berufskonzepts, die auch die innere Berufenheit für konstitutiv halten sind etwa DAUENHAUER 1978, hier bes. 27; o.V. 2000, 54. Unter den Kritikern sei hier INGRID LISOP hervorgehoben, die, teils mit RICHARD HUISINGA zusammen, verschiedene Beiträge geliefert hat, die sich kritisch mit dem Berufskonzept befassen. Eine sehr lesenswerte Zusammenfassung der kritischen Positionen nicht nur dieser beiden Kritiker findet sich in LISOP 2003 – deren besondere Qualität allerdings auch dadurch zum Ausdruck kommt, dass ausgerechnet die ‚innere Berufenheit‘ hier gar nicht erst angegriffen wird.
[14] Bei der Exemplifizierung zeigt sich immer wieder: Beispiele außerhalb des Handwerks sind weniger naheliegend, lassen sich gleichwohl finden – dieses anzumerken ist wohl nicht überflüssig, wurde doch auch KERSCHENSTEINER stets eine romantische Verklärung des Handwerksberufes über dessen Grenzen hinaus vorgeworfen; vgl. zur Kritik an KERSCHENSTEINER etwa die substanzielle Darstellung bei GONON 2002b, hier 72 ff.
[15] Man wird somit nicht umhin kommen festzustellen, dass es ein Optimum der Beruflichkeit geben muß: Auf der einen Seite steht der Entwicklungsfortschritt durch Spezialisierung und Ausdifferenzierung im oben angesprochenen Sinne Durkheims, auf der anderen Seite die Transaktionskostenminderung und gesellschaftlichen Erträge der Bildungswirkungen. Dass dieses Optimum nicht als Konstante vorzustellen ist, wird in der immer wieder konstatierten gesellschaftlichen Dynamik der Moderne nicht extra hervorgehoben werden müssen. Interessante Anmerkungen, die nach meinem Dafürhalten in diese Richtung weisen, finden sich bei SEBASTIAN LERCH 2006.
[16] Markenprodukte haben einen hohen Wiedererkennungswert, werden in der Regel häufiger gekauft und sind Grundlage für ein Vertrauen in eine bestimmte Qualität des Produktes; vgl. eingehend zur Marke und zum betrieblichen Markenmanagement MEFFERT et al. 2005.
[17] Gemeint ist hier nicht die Ausbildung über Bedarf im Angesichts des demographischen Knicks, v.a. im Osten Deutschlands, sondern die verwertungsorientierte Kritik an zu vielen nicht sofort nutzbaren und dann leicht veraltenden Qualifikationen, die im Zusammenhang mit einer Vollausbildung zu erlernen sind.
[18] Zur Selbstverständlichkeit dieses Zusammenhanges jedenfalls in Deutschland vgl. MÜNCH 2003, bes. 162.
[19] Zur Frage der Vorzüglichkeit einer bestimmten Methode hat sich bekanntlich umfassend PAUL FEYERABEND geäußert; vgl. diesen 1986.
[20] Vgl. eine Zusammenstellung der verschiedenen Beiträge hierzu in einem lesenswerten Sammelband, ZABECK 1992.
[21] Solange nicht – wie im Fall der Bildungswissenschaften – bereits der Verzicht auf ein klar definiertes Erkenntnisinteresse oder Erkenntnisobjekt das Zustandekommen eines Systems ex definitionem verhindert.
[22] Vgl. dazu sowie die zugrundeliegende Literatur von Weber umfassend in JONGEBLOED 1997.
[23] Zu den russischen, japanischen und chinesischen Neologismen: Russ.: Gebildet aus professiou: Beruf, und ekonomika: Wirtschaft. Es sei Herrn Magister Thomas Kleimann für die Beratung bei der Entwicklung dieses Vorschlags für den Neologismus gedankt. Jap.: Gebildet von keizai: Wirtschaft, shokugyô: Beruf und gaku: Wissenschaft; wörtl.: Wirtschafts- und Berufswissenschaft. Meinem früheren Japanischlehrer, Herrn Dipl.-Agr. Ök. M. Abe sei für seinen Rat bei der Entwicklung dieses Vorschlags für den Neologismus gedankt. Chin.: Die Bildung entspricht im wesentlichen der japanischen. Für die Beratung bei der Entwicklung dieses Vorschlags für den Neologismus sei Herrn Dipl.-Ing. Z. Sun von der Universität Kiel (vereinfachte Form) und Frau Mag. M. Chen von der TU Chemnitz (traditionelle Form) gedankt.
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