Titel:
Interkulturalität – Bildungserfolg – Zugehörigkeit. Koordinaten für die Gestaltung von Übergängen in Ausbildung und Beruf – nicht nur – für Menschen mit Zuwanderungsgeschichte.
Beitrag von Manuela WESTPHAL (Universität Kassel)
Migrantinnen in Deutschland gelten als mehrfach benachteiligte Gruppe. Oft geht damit allein eine Problem- und Defizitwahrnehmung im Hinblick auf Möglichkeiten der individuellen und autonomen Lebensführung einher. Fehlende oder unzureichende Integration im Bildungs-, Ausbildungs- und Erwerbssystem gelten als zuverlässige Indikatoren. Allerdings ist deutlich auf Pluralisierungen und Ausdifferenzierungen innerhalb der Gruppe Migrantinnen hinzuweisen. Damit wird der Blick frei für Ressourcen von Migrantinnen sowie für Bewältigungsmuster und -strategien. Zunächst soll in diese Perspektive durch einen Blick in die internationale Forschungsliteratur über Migration und Bildungserfolg eingeführt werden. Der Hauptteil des Beitrages diskutiert die Chancen und auch die Hürden für das Gelingen von Bildungserfolg und –aufstieg unter Migrationsbedingungen. Hierzu werden Ergebnisse einer qualitativen Studie über bildungserfolgreiche Migrantinnen, denen auch ein etablierter Übergang in den Arbeitsmarkt gelungen ist, vorgestellt. Zum Abschluss werden weitere offene Forschungsfragen formuliert.
Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind besonders von Bildungsbenachteiligungen betroffen. Auch verfügen diese meist über andere Bildungsvoraussetzungen als solche ohne Migrationshintergrund. Allerdings zeigt ein differenzierter Blick in die Forschungslage über Bildungserfolg und -misserfolg von (jungen) Migranten und Migrantinnen auch eine Befundlage, die eher von Uneinheitlichkeit geprägt ist (vgl. DIEFENBACH 2007). Das liegt u.a. daran, dass die Kriterien für die Stichprobe der Migranten und Migrantinnen auch jeweils sehr unterschiedlich gewählt sein können (vgl. hierzu SETTELMEYER 2010). Zudem differieren die Lebenslagen und Bildungsvoraussetzungen in Abhängigkeit von sozialen Unterscheidungsmerkmalen wie Geschlecht, sozioökonomischem Status, rechtlichem Status, ethnisch-nationaler Herkunft, Religionszugehörigkeit, Region, Sprachkenntnissen, Migrationsgeneration und -form sowie Bildungsniveau und -erfahrungen der Eltern bzw. der erweiterten Familie. Vor diesem Hintergrund ist es nicht erstaunlich, wenn auch die Bildungsverläufe erheblich variieren können. Einige durchlaufen das deutsche Schulsystem sehr erfolgreich, finden im weiteren Bildungs- und Berufssystem oder durch transnationale Orientierungen Möglichkeiten einer erfolgreichen sozialen Platzierung. Anderen gelingt jedoch trotz nachweisbarer Schulerfolge, die zwar in der Tendenz qualitativ, jedoch keineswegs quantitativ vergleichbar mit jungen Frauen und Männern ohne Migrationshintergrund sind, der Übergang in das berufliche Ausbildungssystem nur sehr mühsam und viel zu selten (vgl. BOOS-NÜNNING/ GRANATO 2008). Die Folgen für die berufliche und soziale Platzierung sind erheblich. So beträgt zum Beispiel der Anteil beruflich gut positionierter Frauen ausländischer Nationalität insgesamt nach Daten der „Repräsentativbefragung ausgewählter Migrantengruppen (RAM)“ (STICHS 2008) derzeit nur 16% (türkischstämmige Frauen nur 7%). Mikrozensusdaten für Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2005 zeigen, dass Frauen mit Migrationshintergrund im Alter zwischen 25 und 35 Jahren auf fast allen Bildungsstufen niedrigere Erwerbstätigkeitsquoten als Männer aufweisen (SEIFERT 2008). Nur für Frauen mit Fach-/Hochschulreife ergibt sich ein den Männern gleicher Wert. Allerdings haben auch mehr Frauen als Männer einen solchen Bildungsabschluss erworben (39% der Frauen gegenüber 34% der Männer). Darüber hinaus steigt bei Frauen der zweiten Generation die Erwerbstätigenquote kontinuierlich mit ihrem Bildungsgrad. Jedoch ist festzuhalten, so SEIFERT (ebd., S. 35), dass die Arbeitsmarkterfolge der besser qualifizierten Frauen und Männer der zweiten Generation noch eher gering sind; hier liegen wiederum die Nachteile deutlich bei den Frauen mit türkischer Herkunft. Das Nachholen bzw. der Erwerb von qualifizierten Schulabschlüssen auch über den Zweiten Bildungsweg gewinnt zunehmend an Bedeutung. Diesem Weg wird in der Forschung bislang noch zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, auch in geschlechterdifferenzierter Perspektive. So überwiegt im Jahr 2003 zwar bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen ausländischer Nationalität deutlich der Hauptschulabschluss (46% im Vergleich zu deutschen Jugendlichen 32%) und der Realschulabschluss (29% zu 25%). Von einigen werden die Fachhochschulreife (11% zu 9%) und die Hochschulreife (14 % zu 34%) erworben. Allerdings kamen auf sieben Deutsche drei Ausländer, die das Abitur erworben haben (vgl. DIEFENBACH 2007, 79). Die Bildungsnachteile aus dem ersten Bildungsweg schreiben sich quasi auch im Zweiten Bildungsweg sowie in der gesamten beruflichen Weiterbildung fort. Ihr Anteil an beruflicher Weiterbildung lag 2003 bei 13 % (Berichtssystem Weiterbildung IX, 2006, S. 135). Im Gesamtbild sind (junge) Männer und Frauen mit Migrationshintergrund in den oberen Positionen der Bildungs- und Berufshierarchie deutlich unterrepräsentiert. Dagegen sind sie in den unteren Bereichen stark überrepräsentiert. Dieses Bild ist äußerst stabil entlang sozialer, ethnisch-nationaler und geschlechtlicher Kategorien.
In der interkulturellen Bildungsforschung wird die Frage der Benachteiligung häufig im Anschluss an BOURDIEU mit einer mangelnden Übereinstimmung der lebensweltlichen Alltags- und Bildungserfahrungen von Migrationsfamilien mit den Anforderungen, die zum Erwerb höherwertiger Bildungstitel benötigt werden (wie z.B. Förderung der Lesekompetenz, Engagement in der Elternarbeit) erklärt. Auch wird die Benachteiligung als Resultat unterschiedlicher familiärer Bildungsinvestitionen untersucht (vgl. KRISTEN/ GRANATO 2004). Ein weiterer Ansatz fragt organisations- und systemtheoretisch, wie im Erziehungs- und Bildungssystem durch spezifische Entscheidungslogiken und -routinen regelmäßig und eben doch uneinheitlich Benachteiligungen hervorgebracht werden (v.a. RADTKE 2004). Nehmen wir stärker sozialpsychologische (v.a. angloamerikanische) Studien zur Kenntnis, dann zeigen sich gruppenspezifische Vorurteile und Stereotype, Selbstüberzeugungen, Erwartungshaltungen im Hinblick auf schulische Leistungserbringung, Erfolg und Misserfolg von besonderer Relevanz (vgl. SCHOFIELD u.a.2006). Kulturvergleichende Forschungen insbesondere zu den Bedingungen familiärer und kindlicher Sozialisation verweisen auf die Bedeutung kultureller Modelle für Entwicklungs- und Bildungsprozesse (vgl. KELLER 2008, LEYENDECKER 2008). Zusammenfassend erscheinen folgende Zusammenhänge in ihren Wirkungen in der Forschung mittlerweile gut belegt: Entscheidungs- und Handlungslogiken in Bildungs- und Erziehungsinstitutionen, Kontextbedingungen von Lern- und Bildungsprozessen, Status- und Strukturmerkmale der Familie, individuelle und familiäre Bildungsorientierungen und -handlungen sowie ferner die zu erbringenden Transformationsleistungen der Individuen im Umgang mit Elternhaus und Schule.
Bildungs- und Berufswege können jedoch auch eigensinnig verlaufen und jenseits sozial- bzw. migrationsstatistischer Erwartungen. In diesem Beitrag sollen Faktoren und Konstellationen für erfolgreiche Bildungs- und Berufswege von Migrantinnen vorgestellt werden. Dies wird im ersten Schritt über einen kurzen Blick in die internationale Forschung geschehen und im zweiten Schritt über die zusammenfassende Darstellung von eigenen Forschungsergebnissen über erfolgreiche Bildungs- und Berufswege von Migrantinnen in Deutschland.
Ein Blick in die internationale Forschung ist aufschlussreich, denn diese ist bereits breit und differenziert auf Fragen von Bildungserfolg und Bildungsaufstieg von Migranten und Migrantinnen ausgerichtet (vgl. WESTPHAL/ KÄMPFE 2011). Folgende Schlüsselfaktoren für Bildungserfolge in Migrationsfamilien können in der internationalen Forschung über Migration und Bildungserfolg ausgemacht werden:
Familial protective factors (familiäre Verbundenheit, soziale und kognitive Unterstützung, Ermutigung und Wertschätzung, Weitergabe des familialen Gedächtnisses: biographische Erfahrungen und subjektive Ressourcen, Inspiration durch bestimmte Familienmitglieder).
Environmental protective factors (Lehrer und andere signifikante Andere, die Potenziale erkennen und besonders fördern, spirituelle/religiöse Einrichtungen und deren Vertreter, Mentoringprogramme).
Dispositional protective factors (Leistungbereitschaft, positive Einstellung, Optimismus und Motivation, Aufstiegsmotivation, teils hervorgerufen durch Negativbeispiele anderer Familienmitglieder oder Schlüsselerlebnisse, Selbstvertrauen und -wirksamkeit, Immunisierung gegen Diskriminierung, Disziplin, Nutzen von Gelegenheitsstrukturen, Mut, Hartnäckigkeit und Pfiffigkeit, Kommunikationsfähigkeit und die Fähigkeit zur Vernetzung, frühe Verantwortungsübernahme und Belastbarkeit) (vgl. auch FARROKHZAD 2007).
Die folgenden Ausführungen beruhen auf einer Studie, die im Rahmen des Nationalen Integrationsplans des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) durchgeführt wurde (vgl. www.bamf.de, BEHRENSEN/ WESTPHAL 2009). Anhand von 30 biographisch und themenzentriert angelegten Interviews mit beruflich erfolgreichen Migrantinnen wurde das Gelingen von Bildungs- und Berufsverläufen untersucht. Bisher sind vor allem schulisch gut bis akademisch gebildete Migrantinnen und Migranten zu der Frage von Bildungserfolg und Migration untersucht worden (vgl. HUMMRICH 2002, FARROKHZAD 2007, TEPECIK 2009). In unserer Studie wurden beruflich erfolgreiche Frauen entlang ihrer Bildungsverläufe untersucht. Zielgruppe waren Frauen mit Migrationshintergrund, denen ein erfolgreicher Bildungsabschluss gelungen ist>die diesen auch im Übergang zum Arbeitsmarkt erfolgreich verwerten konnten. Die Frauen sollten zudem einen Migrationshintergrund als Flüchtling, Aussiedlerin oder Arbeitsmigrantin in der 1. bzw. der 2. Generation aufweisen. Beruflicher Erfolg wurde dann gesehen, wenn eine Frau mehr erreicht hatte als die Mehrheit der Migrantinnen mit vergleichbaren sozialstrukturellen Ausgangsvoraussetzungen. Die hier angelegte begriffliche Bestimmung beinhaltet damit den persönlichen sozialen Aufstieg sowie im Falle der 15 Frauen der zweiten Generation eine intergenerationale Aufwärtsmobilität, immer aber ins Verhältnis gesetzt zu den Ausgangsvoraussetzungen der spezifischen Migrantinnengruppe. Im Sample sind Frauen als
Migrantinnen der zweiten Generation einbezogen, deren Eltern nach Deutschland eingewandert und die in Deutschland geboren wurden oder die spätestens zu Beginn des Grundschulalters selbst eingewandert sind, die also den größten Teil ihrer schulischen und außerschulischen Sozialisation in Deutschland erlebt haben. Alle Frauen der so eingegrenzten 2. Generation können somit als Bildungsinländerinnen bezeichnet werden.
Die Ergebnisse der Studie werden nun im Überblick zusammenfassend dargestellt. Insgesamt zeigen sich zwischen den Migrationsgruppen Aussiedlerinnen, Arbeitsmigrantinnen und Frauen mit Fluchthintergrund mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Es sind vor allem in der ersten Generation unterschiedliche Rahmenbedingungen der Migration, die zu unterschiedlichen Ausgangs- bzw. Startbedingungen für die berufliche Entwicklung in Deutschland führen. Zu nennen sind hier die Verfahren der formellen Anerkennung von mitgebrachten Qualifikationen, die aufenthalts- und arbeitsrechtlichen Bestimmungen sowie die Migrationsmotivationen, die die Entwicklung und Realisierung beruflicher Perspektiven rahmen. Für die zweite Generation spielt die Migrationsentscheidung der Eltern insofern eine Rolle, als mit dieser je spezifisch unterschiedliche Bildungsaufträge und -erwartungen verbunden sind. Die erste Generation nutzt als wesentliche Strategie des beruflichen Einstiegs und Neustarts in Deutschland soziale Netzwerke in Form von (deutschen oder internationalen) Frauenorganisationen und Migranten-/Flüchtlingsselbstorganisationen. Viele sind darüber hinaus mit diesen Netzwerken durch eine ehrenamtliche Tätigkeit eng verbunden. Diese aktiv gesuchte Vernetzung, vor allem der Frauen mit Fluchthintergrund und einiger Arbeitsmigrantinnen, bringt den Frauen mehrere Vorteile. Sie üben und festigen ihre deutschen Sprachkenntnisse, besonders auch die Fachsprache. Sie können an dem sozialen Kapital anderer Frauen partizipieren und dieses für die Orientierung im (beruflichen) Bildungs- und Arbeitsmarktsystem nutzen. Auch bauen sie über ihr Engagement eigenes soziales Kapital auf. Insgesamt versuchen die Frauen, die mit Qualifikationen und beruflichen Kompetenzen nach Deutschland gekommen sind, möglichst hieran anzuknüpfen. Sie bemühen sich aktiv um Qualifizierungswege, die ihnen dieses ermöglichen. Dabei suchen sie nach eher kürzeren Maßnahmen und nach Maßnahmen im Rahmen des zweiten Bildungsweges. Die Arbeitsverwaltung spielt für viele notwendige Nach- und Weiterqualifizierungen aufgrund fehlender formeller oder Teilanerkennung eine entscheidende Rolle, weil sie auf Angebote hinweisen und diese finanzieren kann. Wo dies aufgrund zuwanderungsrechtlicher Umstände oder divergierender Einschätzungen durch die Arbeitsverwaltung nicht möglich ist, begeben sich die Frauen auf die Suche nach alternativen Lösungen.
Die formale Anerkennung mitgebrachter Qualifikationen ist ein notwendiger, aber nicht hinreichender Faktor auf dem Weg zum beruflichen Erfolg. Außer der formalen Anerkennung ist die soziale Anerkennung in den Arbeitszusammenhängen wie auch die Sicherheit in der Anwendung der mitgebrachten beruflichen Fähigkeiten und Fertigkeiten von Bedeutung. Neben einem zügigen, nachvollziehbaren und transparenten formalen Anerkennungsverfahren von beruflichen und akademischen Qualifikationen ist es notwendig, Maßnahmen zur Förderung und Anerkennung von mitgebrachten Qualifikationen und Kompetenzen in beruflichen Arbeitskontexten zu entwickeln und in Zusammenarbeit mit den konkreten Arbeitgebern Anpassungsqualifizierungen oder Ähnliches zu entwickeln.
Der berufliche Erfolg der zweiten Generation beruht auf linearen Bildungsverläufen, wie sie auch für viele erfolgreiche Frauen ohne Migrationshintergrund typisch sind. Für viele gelingt dieser jedoch über Umwege und nach Überwindung einiger Hindernisse. Umwege werden notwendig, wenn das Leistungspotenzial weder von den Eltern noch von der Schule erkannt wurde. Hier kommt insbesondere den Sprachförderangeboten ebenso wie den diagnostischen Fähigkeiten der Lehrkräfte und dem schulischen Lern- und Unterstützungsklima durch die Lehrkräfte eine starke Bedeutung zu. Dabei spielte die schulische Bewertung von Deutschkenntnissen regelmäßig eine bedeutende Rolle. Wurden diese von Lehrkräften als nicht hinreichend eingeschätzt, führte dies in der Regel zu einer Abwertung des gesamten schulischen Lern- und Leistungspotenzials und schließlich Zurückstufungen oder Weiterverweisungen an niedrigere Schulformen.
Hierzu ein eindrucksvolles Beispiel eines erfolgreichen Bildungs- und Berufsweges trotz einiger drastischer Hürden. Die Familie konnte den Mechanismen der institutionellen Diskriminierung (GOMOLLA/ RADTKE 2002) in der Schule wenig entgegensetzen. Eine heutige Lehrerin wurde nach dem ersten Jahr in der Grundschule aufgrund fehlender deutscher Sprachkenntnisse an eine Sonderschule verwiesen. Dass sie trotz dieser ungünstigen Startbedingungen im Laufe ihres weiteren Lebens noch eine akademische Laufbahn einschlagen kann, führt sie selbst vor allem auf die individuelle Förderung durch ihre Klassenlehrerin zurück: „Und die wusste, also die konnte mir immer, also immer sagen „du hast ein Ziel und das erreichst du auch.“ (2.1., Arbeitsmigrantin, 2. Generation, Lehrerin). Sie wird Beste ihres Jahrgangs, wechselt nach der neunten Klasse zur Hauptschule, wiederholt das 9. Schuljahr und erwirbt den Hauptschulabschluss. Sie möchte Krankenschwester werden, bewirbt sich mehrfach erfolglos; besucht dann die 10. Klasse der Hauptschule und erwirbt den Realschulabschluss. Als Alternative zu einem bis dahin immer noch nicht gefundenen Ausbildungsplatz besucht sie nun eine Fachschule für Sozialpflege und bewirbt sich weiter erfolglos um eine Lehrstelle als Krankenschwester. In der christlich geprägten Krankenhauslandschaft ihrer Region wird sie unter anderem mit dem Hinweis auf ihre muslimische Religionszugehörigkeit abgelehnt. Im Rahmen eines Freiwilligen Sozialen Jahres, arbeitet sie allerdings unentgeltlich regelmäßig sonntags in einem kirchlichen Krankenhaus, wodurch sie anschließend durch das Engagement einer dort tätigen Nonne im darauf folgenden Ausbildungsjahr einen Ausbildungsplatz erhält. Einmal beruflich qualifiziert findet sie sofort eine Anstellung – wieder in einem christlich geleiteten Krankenhaus. Nach Geburt zweier Kinder nutzt sie die Familienphase und Teilzeitarbeit, um auf dem zweiten Bildungsweg ihr Abitur nachzuholen. Sie beginnt dann ein Studium. Heute ist sie als Lehrkraft mit den Fächern Deutsch und Sport tätig.
In diesen und vergleichbaren Bildungs- und Berufsbiographien hatten Lehrende eine Schlüsselrolle inne. Für Migrantinnen ohne entsprechenden sozialen, familiären Hintergrund stellten die Beziehungen zu bestimmten Lehrkräften eine Art zweite Chance dar. Allerdings wirkte wesentlich der Zufall als Bedingungsfaktor, ob im Verlauf der schulischen und beruflichen Bildung Lehrkräfte ihnen mit Wertschätzung, Anerkennung und Unterstützung begegneten. Gelang eine solche Begegnung, konnten vorherige institutionelle Entscheidungen und Ablaufmuster revidiert werden. Die Ergebnisse der Studie weisen deutlich auf die Bedeutsamkeit von Kontextbedingungen von Lernprozessen hin. insbesondere die Wahrnehmung der Lehrererwartungen und -haltungen auf der Beziehungsebene scheinen solche erfolgreichen Bildungs- und Sozialisationsprozesse zu befördern.
Bildungsnähe bzw. Bildungsferne der Herkunftsfamilie kommt in beiden Generationen eine Schlüsselrolle zu. Bildungsnähe führt in der Regel zu linearen Bildungsverläufen: Ein höherer Abschluss wird entweder als selbstverständlich erachtet oder angetrieben durch familiäre Bildungs- und Aufstiegserwartungen. Wo notwendig, wird er dann auch gegen anderweitige Lehrereinschätzungen und Schulempfehlungen durchgesetzt und gefördert. Bildungsferne Eltern, die für ihre Kinder Aufstiegserwartungen haben, brauchen auf diesem Wege Unterstützung.
Frauen aus einem bildungsfernen familiären Hintergrund und ohne elterliche Aufstiegs- und Bildungsambitionen haben ihre Familien bzw. Eltern (Väter) von der Wichtigkeit des höheren oder längeren Bildungsweges schrittweise überzeugt. Insgesamt können beruflich erfolgreiche Frauen der ersten wie der zweiten Generation auf ein eher unterstützendes und eher geschlechteregalitäres familiäres Klima in der Familie bauen. Das familiäre Klima können die Töchter offenbar besser für beruflichen Erfolg nutzen als ihre Brüder. Wesentlich scheint zu sein, dass an die Töchter wichtige familiäre Aufgaben delegiert werden, die diese dann in verantwortlicher Weise erfüllen, wodurch sie eine besondere und vorbildhafte Rolle in der Familie einnehmen. Die zum Teil frühe Verantwortungsübernahme, zum Beispiel als Sprachmittlerinnen bei Behörden oder als Versorgerin der kleineren Geschwister, wird von den Frauen als Ressource für ihren beruflichen Weg wahrgenommen, weil sie darüber Selbstständigkeit, Selbstwirksamkeit und Anerkennung erlangt haben und außerdem bereits in jungen Jahren den Umgang mit bürokratischen und organisatorischen Abläufen und auch Hürden kennen lernten. Die Sozialisation und Stellung in der Familie im Zusammenspiel mit Geschwister- und Geschlechterkonstellationen sollten daher in der Bildungsforschung mehr Beachtung finden.
Auch zeigt sich entgegen der in der Mobilitätsforschung vorfindlichen Annahme, dass die Aufstiege der Frauen nicht per se zu einer Distanz zur Herkunftsfamilie führen müssen. Individueller Aufstieg geht bei ihnen einher mit alltäglich gelebter Loyalität und Bindung zur Herkunftsfamilie.
Bei der Überwindung enormer schulischer und zum Teil familiärer Hindernisse kommt Lehrkräften eine Schlüsselrolle zu. Durch ihr Engagement können erfolgreiche Bildungswege angebahnt und zunächst weniger erfolgreiche revidiert und umgelenkt werden. Hierzu bedarf es jedoch eines zusätzlichen Engagements über den Unterricht hinaus. Unterstützungsformen wie Empowerment, sich Zeit nehmen, Hausaufgabenhilfen, sprachliche Anerkennung und Ermunterung sowie Aufklärung und Beratung über Möglichkeiten und Wege sowie Durchlässigkeiten innerhalb des (Aus-)Bildungssystems sind erforderlich.
Allerdings zeigen die Ergebnisse unserer Studie, dass es weitgehend vom Glück oder Zufall abhängt, wann und ob eine solch engagierte Lehrperson angetroffen wird. Dieses trifft ebenso für den Einfluss von Arbeitgebern und Arbeitgeberinnen bzw. Ausbildern und Ausbilderinnen im Betrieb zu, die als Einzelne nachhaltig die Berufsverläufe der Frauen befördern können. Notwendig ist daher die Sensibilisierung, Aufklärung und Ausbildung von Lehrenden in Schule, Ausbildungsbetrieb und (beruflicher) Weiterbildung sowohl über ihre wegbereitende Rolle als auch über ihre individuellen und organisatorischen Möglichkeiten in der Förderung von Migrantinnen bei der Entwicklung und Realisierung von Bildungs- und Berufsvorstellungen. Für die Aus- und Weiterbildung von Lehrkräften aller Schul- und Ausbildungsformen sind neben Kenntnissen über die Zusammenhänge von Migration und Bildung, auch Kenntnisse über Spracherwerb, Sprachentwicklung und Mehrsprachigkeit von immenser Bedeutung, damit diese adäquat auf die Zusammenhänge von Sprache und Lernen eingehen können. Die Ergebnisse zeigen deutlich, dass dieses bisher nicht in systematischer Weise geschieht, sondern hier vielfach die Ursachen von Diskriminierung und Benachteiligung angesiedelt sind. Darüber hinaus ist eine verbesserte Partizipation von Migranteneltern an schulischen Belangen ihrer Kinder angezeigt. Systemkenntnis der Eltern und engagierte Elternarbeit durch die Lehrkräfte sind hierfür Voraussetzung (WESTPHAL 2009).
Der berufliche Erfolg resultiert bei vielen Frauen aus einer hohen individuellen Leistungsfähigkeit und -bereitschaft sowie aus enormen (psychosozialen) Anstrengungen zur Bewältigung auch langer Umwege und Weiterentwicklungen. Dem liegt nicht unmittelbar eine Karriere- oder Aufstiegsplanung zugrunde. Motiviert sind die Frauen durch den Wunsch nach (finanzieller) Unabhängigkeit, nach Gestaltungsfreiheit und nach sinnvoller, qualifizierter Beschäftigung und Entfaltung. Die hier vorgelegten Ergebnisse zeigen deutlich, wie sehr der Bildungs- und Berufserfolg von dem individuellen Engagement und von Zufälligkeiten bestimmt ist. Maßnahmen, die eine laufbahnbezogene Bildungs- und Aufstiegsberatung enthalten, fehlen im schulischen System, ebenso wie im System der Arbeitsverwaltung und im Berufs(-bildungs-)system. Wie die Berufsbiographien der Frauen zeigen, ist es äußerst erfolgversprechend, an ihren Wünschen, Interessen und Kompetenzen auch in langfristiger Perspektive anzusetzen. Bildungs- und Berufsbiographien verlaufen wenig gradlinig, wie insbesondere die Wege der Migrantinnen zeigen, sodass sukzessiv aufbauende Strategien in der Beratung von Frauen und ihren Familien zu entwickeln sind. Hierzu bedarf es sicherlich einerseits systematisch verbesserter Beratungsangebote an den Schulen oder an den Arbeitsverwaltungen und Erwachsenenbildungseinrichtungen sowie andererseits einer Sicherung der Beratung und Vernetzung, wie sie von den Migranten-, Frauen- und Flüchtlingsorganisationen zur Verfügung gestellt werden.
Für die beruflich erfolgreichen Frauen stellt der Aufbau deutscher Sprachkenntnisse eine zentrale Voraussetzung ihres beruflichen Weges (erste Generation) bzw. ihrer Schullaufbahnen (zweite Generation) dar. Die hier vorgelegten Ergebnisse verweisen auf die Notwendigkeit von differenzierten Bildungsmaßnahmen (wie etwa Sprach- und Integrationskurse), die auf die unterschiedlichen Bildungs- und Lernvoraussetzungen eingehen. Deutlich ist in dieser Studie geworden, dass die Förderung niedrigschwelliger Angebote für Migrantinnen nicht ausreicht. Auch sollten Angebote in Verbindung zur konkreten fachbezogenen Anwendung der deutschen Sprache sowie Angebote mit möglichst vielfältigen, unterschiedlichen Sprachgelegenheiten mit Deutschen gefördert werden.
Beide Generationen zeigen auf ihren individuellen Wegen des beruflichen Erfolges die Strategie der Etablierung in migrationsspezifischen Arbeitsfeldern (erste Generation) und der Spezialisierung und Profilbildung im Hinblick auf die Problemstellung von Migration und Integration in ihren Berufen und Arbeitszusammenhängen (zweite Generation). Der ersten Generation gelingt es offenbar, sich im Bereich der Sozialen Arbeit, Erziehung und Bildung zu platzieren, während die zweite Generation ein wesentlich breiteres Berufsfeld aufweist, indem sie ihre Erfahrungen, die mit ihrem Migrationshintergrund verbunden sind, in professioneller Weise zu einer Kompetenz im Umgang mit sozialer, kultureller und sprachlicher Vielfalt (und Diskriminierung und Ausgrenzung) ausbauen. Damit erlangen sie zusätzliches Selbstbewusstsein und Anerkennung wie auch konkrete Vorteile in ihren Arbeitszusammenhängen und der weiteren beruflichen Etablierung.
Die Frage der Einmündung bildungserfolgreicher Migranten und Migrantinnen in den Arbeitsmarkt, also das Gelingen von beruflichen Ein- und Aufstiegsprozessen, ist noch zu wenig erforscht. Dabei ist keinesfalls von Bildungserfolg auf einen sich unmittelbar anschließenden beruflichen Erfolg zu schließen. Bildungserfolgreiche, die eine Berufsausbildung oder ein Studium absolvieren, finden Einstiege in die Arbeitswelt primär über ethnisch- und geschlechtsspezifische Codierungen der Berufe und unter enormen Anstrengungen bei der Überwindung der Hürden.
Weiter ist neben dem Übergang Schule-Beruf das Thema des Übergangs in die Familiengründung und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf von besonderer Relevanz für Migrantinnen und ebenfalls noch kaum erforscht. Erfolgsbiographien der zweiten Generation weisen auch darauf hin, dass Mutterschaft und Familiengründung im Lebenslauf auf später verschoben werden. In diesem stark nach Geschlecht strukturierten Übergang werden wiederum andere Hürden und Barrieren wirksam (z.B. fehlende Kinderbetreuung, Veränderung der Selbst- und Geschlechterbilder). Wie und ob diese Hürden bearbeitet werden, ist eine weitere, ebenfalls offene Forschungsfrage. Beide Untersuchungsbereiche benötigen dringend stärkere wissenschaftliche und politische Beachtung, um die soziale und gesellschaftliche Partizipation von Migrantinnen über Bildung und berufliche Integration nachhaltig zu fördern und sicherzustellen. Davon sind wir allerdings nach wie vor weit entfernt.
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