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bwp@ 38 - Juni 2020
Jugendliche Lebenswelten und berufliche Bildung
Hrsg.:
, , &Junge Erwachsene als Berufsexoten. Lebensweltliche Perspektiven auf geschlechtsunkonventionelle Berufswahlprozesse
Der Beitrag gibt einen subjektorientierten Einblick in die Lebenswelt junger Erwachsener und untersucht berufliche Entwicklungsprozesse im Kontext einer geschlechtsuntypischen Berufswahl. Es gibt – wie schon bei Richter/Jahn (2015) – Indizien dafür, dass eine geschlechtsuntypische Berufswahl von jungen Männern und Frauen spezifische Ursachen hat. Es stellt sich die Frage, warum junge Menschen sich entgegen gesellschaftlicher Konventionen für eine geschlechtsuntypische berufliche Ausbildung entscheiden, wie deren private und berufliche Lebenswelt dies fördert, honoriert oder sanktioniert und wie sich dies auf deren berufliche Identitätsentwicklung auswirkt. Vor dem Hintergrund der Arbeiten von Schütz (1957), Marcia (1966) und Gottfredson (1981) münden theoretische Überlegungen in Interviews mit elf Auszubildenden in geschlechtsunkonventionellen Berufen. Die Befunde zeigen, dass es vier verschiedene Typen von „Unkonventionellen“ gibt, die entlang verschiedener Merkmale beschrieben werden können.
Professional exotics - living environments of young adults in the context of gender-atypical career choices
The article provides a subject-oriented insight into the living environment of young adults and examines professional development processes in the context of a gender-atypical career choice. As with Richter/Jahn (2015), there is evidence that a gender-atypical career choice of young men and women has specific causes. The question arises, why young people, contrary to social conventions, opt for vocational training that is not gender-specific, how their private and professional lives promote, reward or sanction it, and how this affects their professional identity development. Against the background of the work of Schütz (1957), Marcia (1966) and Gottfredson (1981), theoretical considerations lead to interviews with eleven trainees in non-gender-related occupations. The findings show that four different types of "unconventional" can be described along with different characteristics.
1 Einleitung
Berufsbiografische Entscheidungen am Übergang Schule – Arbeitswelt sind seit langem keine Entscheidungen mehr fürs Leben, sondern revidierbar (vgl. z. B. Abel 1963; Wittwer 2003, 64f.; Schier 2011, 9; Richter/Jahn 2015, 21f.; Bergmann 2020). Und dennoch ist die Entscheidung für einen bestimmten Beruf folgenreich: Sie verschafft einer Person gesellschaftlichen Status und sichert die wirtschaftliche Existenz (vgl. Kirsten 2007, 1). Mit der Entscheidung für einen bestimmten Beruf wählt ein Subjekt zugleich – zumindest temporär – eine bestimmte berufliche Lebenswelt (als Aggregat vielzähliger ähnlicher Lebenssituationen) (vgl. Götzl/Jahn 2017, 99f.). Diese (bewusste oder unbewusste) Wahl ist durch endogene und exogene Faktoren geprägt (vgl. Hentrich 2011). Dazu zählen familiäre und gesellschaftliche Normierungen, wie die fest verankerte horizontale sowie vertikale Geschlechtersegregation des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes. In der Folge haben sich geschlechtsspezifische Berufsbranchen etabliert (vgl. Gottfredson 1981, 546f.; Schmid-Thomae 2012, 48). Die gesellschaftlich geprägten, geschlechtstypischen Rollenmuster beeinflussen indirekt Berufswahl und -entscheidung über ein geschlechtsspezifisches Berufsimage (vgl. Gottfredson 1981, 546f.), das mit bestimmten beruflichen Lebenswelten verbunden ist.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, warum sich junge Menschen entgegen gesellschaftlicher Konventionen für eine geschlechtsuntypische berufliche Ausbildung (Lebenswelt) entscheiden, wie deren private und berufliche Lebenswelt dies fördert, honoriert oder sanktioniert und wie sich dies auf deren berufliche Identitätsentwicklung (i. S. v. Marcia 1993) auswirkt.
Vor diesem Hintergrund werden die Ergebnisse einer problemzentrierten Interviewstudie (vgl. Witzel 2000) vorgestellt, in der männliche und weibliche Auszubildende in geschlechtsuntypischen Berufen analysiert werden. In den Fällen wird zum einen die subjektive Bedeutsamkeit der Berufswahl der Jugendlichen herausgearbeitet und der Einfluss der jeweiligen privaten Lebenswelten (familiäres Umfeld und Freunde) beleuchtet. Zum anderen wird sowohl die Anerkennung der beruflichen Lebenswelt als auch die berufliche Identitätsentwicklung (vgl. Marcia 1993) fallbezogen betrachtet.
Der Artikel greift nach diesen einleitenden Worten und Problemstellung, das Paradigma der Lebenswelt junger Erwachsener auf und beleuchtet dieses hinsichtlich der Lebenswelten: Familie, Peer, Schule, und Beruf. Im folgenden Kapitel werden die interdependenten Themen der (geschlechtsspezifischen) Berufswahl, Berufswahltheorie (vgl. Gottfredson 1981) und der beruflichen Identitätsentwicklung (vgl. Marcia 1993) dargestellt. Nach einer kurzen Zusammenfassung folgt im fünften Kapitel das methodische Vorgehen. Anschließend werden die Ergebnisse präsentiert und diskutiert.
2 Lebenswelten junger Erwachsener
2.1 Lebenswelt(en) als wissenschaftliches Konstrukt
Der Begriff der Lebenswelt hat seine phänomenologischen Wurzeln u. a. bei Husserl (1954), Schütz (1957) und Schütz/Luckmann (1991) (vgl. auch Muckel/Grubitzsch 1993; Kraus 2006; Barz/Tippelt 2011). Trotz seiner großen Verbreitung wird der Begriff Lebenswelt terminologisch unscharf und in unterschiedlichen (disziplinären) Deutungen verwendet. Muckel/Grubitzsch (1993, 119) machen pointiert mit den Worten „,Gesellschaft‘ ist out, ‚Lebenswelt‘ ist in“ auf die Problematik des Begriffs aufmerksam. Dieser sei durch eine häufig fehlende theoretische Fundierung vielfach nebulös. Zudem wird durch seine Unschärfe und (nahezu ausschließlich) normativ-positive Konnotation eine konstruktive Auseinandersetzung nicht angegangen (vgl. ebd., 132).
Husserl prägte den Begriff der Lebenswelt im Rahmen seiner Kritik an der damaligen Wissenschaftsentwicklung. Diese entfremde sich zunehmend vom Alltag der Menschen und eiferte einer objektiven Wahrheit nach. Der von der Wissenschaft als Norm herausgestellten Objektivität stellte er die „,Wahrheit‘ des natürlichen Daseins“ (Husserl zit. n. Muckel/Grubitzsch 1993, 120) gegenüber. Husserl postuliert, dass alles was vom Individuum wahrgenommen wird im Kontext der eigenen persönlichen Erfahrungen steht und somit die Wahrnehmung in Abhängigkeit von Sozialisation, Kulturation und der Personalisation des Individuums zu verorten ist (vgl. Husserl zit. n. Kraus 2006, 119). Kraus (2006) fasst Lebenswelt subjektiv und zwar in zweifacher Weise: Zum einen durch die unterschiedlichen Lebensbedingungen eines jeden Individuums, zum anderen durch die unterschiedliche körperliche und geistige Verfasstheit eines jeden Einzelnen. Somit muss man differenzieren nach dem, was wahrgenommen wird, und nach dem, wie es wahrgenommen wird (vgl. ebd., 122).
Schütz (1957) stellt Husserls Ausführungen in Frage und geht der Annahme nach, dass sich das Individuum über seine „Wirkwelt“ (durch sein Handeln) seiner „Lebenswelt“ nähert. Das vom Subjekt erfahrene Alltagswissen (vgl. Schütz/Luckmann 1991) beinhaltet von der Gesellschaft als „selbstverständlich erachtete Kenntnisse, Erfahrungen, Werte und Kulturtechniken“ (Barz/Tippelt 2011, 118). Das durch Sozialisationsprozesse erfahrene Alltagswissen ist aufgrund der jeweiligen Gegebenheiten von Individuum zu Individuum unterschiedlich und durch die eigene Biographie und soziale Lage sowie die Milieuzugehörigkeit geprägt (vgl. ebd.). Schütz/Luckmann (1991, 25) stellen heraus: „Lebenswelt [ist] von Anfang an nicht meine Privatwelt, sondern intersubjektiv; die Grundstrukturen der Wirklichkeit ist uns gemeinsam“.
Daraus folgt, dass Lebenswelt zwar eine subjektive Größe darstellt und aus interindividueller Perspektive für ein pluralistisches Lebenswelt(en)konzept zu plädieren ist, da verschiedene Individuen ihre Lebenssituationen subjektiv zu unterschiedlichen Lebenswelten aggregieren. Dennoch gibt es gemeinsame „Grundstrukturen“ des sozialen Lebens und sozial geteiltes Alltagswissen, sodass verschiedene Individuen dennoch zu vergleichbaren Lebensweltkonstruktionen (Familie, Schule, Beruf etc.) kommen. Die Lebensweltkonzeption von Götzl/Jahn (2017) verbindet eine subjektive und intersubjektive Perspektive und plädiert für einen pluralistischen Lebenswelt(en)begriff. Lebenswelten sind subjektiv und/oder intersubjektiv konstruierte Abstraktionen (Cluster/Typen) bzw. abstrahierte Teilmengen bestimmter Lebenssituationen. Aus einer intraindividuellen Perspektive stellt sich die Frage, ob wir lediglich in einer (subjektiv veränderlichen) Lebenswelt existieren oder diese aus verschiedenen interdependenten Lebenswelten besteht, zwischen denen das Individuum trennen kann oder in denen es gleichzeitig existiert. Mit dieser Vorstellung verbunden ist die Möglichkeit, dass das Individuum vor dem Hintergrund des in anderen Lebenswelten bzw. -situationen erworbenen Alltagswissens in der Lage ist, bestimmte Lebenswelten bzw. ein Konkretum eben dieser gedanklich zu erschließen, zu wählen und handelnd mitzugestalten – oder auch nicht. Dieses Erfahrungs- oder Alltagswissen über bestimmte Lebenssituationen und -welten muss dabei jedoch nicht aus unmittelbarer Erfahrung stammen, sondern kann gleichsam aus Erfahrungen anderer Individuen über Kommunikation aufgebaut werden. Die Welt ist also für jedes Subjekt intersubjektiv, da sie Interaktionen mit anderen Subjekten ermöglicht bzw. erzwingt (vgl. Götzl/Jahn 2017).
Eine Lebenswelt als solche kann als intersubjektiv angesehen werden, d. h. sie ist mehreren Individuen gemein. Zugleich müssen bei der jeweiligen Wahrnehmung der Lebenswelt sowohl die Entwicklung und Verfasstheit des Einzelnen als auch die jeweiligen konkreten sozialen und natürlichen Begebenheiten in Betracht gezogen werden. Die Lebenswelt nach Muckel/Grubitzsch (1993, 130) setzt sich dabei aus „persönlichen, subjektiven Erfahrungs- und Vorstellungskonstruktionen zusammen, die bei allen Menschen in gemeinsame Erfahrungen und Vorstellungen eingebettet sind. (…) Jedes Individuum greift andere Möglichkeiten aus dem Horizont der Lebenswelt heraus – was auch bedeuten kann, daß andere Auslegungen und Möglichkeiten nicht mehr wahrnehmbar sind.“
(Produktive) Spannungen bestehen dann, wenn sich das Alltagswissen über eine bestimmte Lebenswelt zwischen den beteiligten Individuen (entweder im Kontext von Kommunikation über oder im Kontext von Interaktionen innerhalb von Lebenswelten) aufgrund unterschiedlicher Sozialisationserfahrungen unterscheidet. Damit verbunden sind dann differenzierte „Wahrheiten“ des natürlichen Seins nach Husserl (s. o.) bzw. nach Schütz verschiedene Bedeutungen und Sinnzusammenhänge (s. o). Dies mag zu unterschiedlichen Verhaltenserwartungen innerhalb der Lebenswelten und -situationen, zu Dissonanzen bzw. Dissonanzerfahrungen oder zu Konflikten führen. Je nachdem, wer die Definitionsmacht über die Lebenswelt hat und/oder wie wirkmächtig die gesellschaftlich normierten Selbstverständlichkeiten auf Beteiligte sind, können abweichende Lebensweltkonstruktionen auch direkt oder indirekte, sichtbare oder subtile Sanktionen nach sich ziehen.
2.2 Lebenswelten der jungen Erwachsenen: Familie, Peer, Schule und Beruf
„Wissenschaften, die menschliches Handeln und Denken deuten und erklären wollen, müssen mit einer Beschreibung der Grundstrukturen der (…) den (…) Menschen selbstverständlichen Wirklichkeit beginnen. Diese Wirklichkeit ist die alltägliche Lebenswelt“ (Schütz/Luckmann 1991, 23). Diese ist jedoch entsprechend der oben genannten Aspekte differenziert und plural zu fassen. Besondere Bedeutung haben dabei für Jugendliche die Lebenswelten Familie, Peers, Schule und Beruf.
Die Familie ist wesentlicher Anker der eigenen Sozialisation. Sie gilt als „wichtigste[r] soziale[r] ,Heimathafen‘, von dem aus [die Jugendlichen] die anderen Lebenswelten erschließen“ (Langness/Leven/Hurrelmann 2006, 49). Von hier aus werden die großen Anforderungen der anderen Lebenswelten wie Peer-Beziehungen, Schule, berufliche Ausbildung erschlossen. Jugendliche können in der Familie Rückhalt erfahren und in ihrer Entwicklung bestärkt werden. Die individuellen Entwicklungsmöglichkeiten sind jedoch nicht nur von der emotionalen Unterstützung seitens der Eltern abhängig. Einen wesentlichen Anteil hat auch der sozioökonomische Status der Familie. Dieser ist abhängig von den finanziellen Mitteln, dem Bildungsgrad und der sozialen Anerkennung der Eltern. Der sozioökonomische Status determiniert oftmals die Zukunftsperspektiven und Möglichkeiten zur eigenen beruflichen Entfaltung (vgl. ebd., 49f.). Aber auch die von den Jugendlichen wahrgenommene Beziehung zu den Eltern ist wesentlich von der jeweiligen Schichtzugehörigkeit abhängig. Nur 20% der jungen Erwachsenen der Unterschicht geben an, „bestens mit den Eltern auszukommen“. In der Oberschicht sind es hingegen 48% (vgl. ebd., 60). Diese große Diskrepanz wird von Langness/Leven/Hurrelmann durch die „vielschichtige Risikolage“ von Familien der Unterschicht begründet. Sie haben eine hohe Belastung durch ihr Wohnumfeld, ein geringes Einkommen, leben z. T. in Arbeitslosigkeit und verfügen über niedrigere Qualifikationen. Diese Benachteiligungen führen dazu, dass die Jugendlichen weniger Unterstützung innerhalb und außerhalb der Familie erfahren und sich Entwicklungsschwierigkeiten bis ins Erwachsenenalter auswirken (vgl. Conger et al. 1994). Familie und ihr sozioökonomischer Status tradiert damit Selbstverständlichkeiten, die für das familiäre Zusammenleben prägend sind. Zudem werden Vorstellungen und Alltagswissen über bzw. Sinn und Bedeutungen von Freundschaften, Schule und Beruf vermittelt.
Im Verlauf der Jugend und Adoleszenz gewinnen Peerbeziehungen an Bedeutung. Diese Lebenswelt ist eine andere als die der Familie. Die zugehörigen Lebenssituationen unterscheiden sich und beinhalten andere jugendkulturelle Selbstverständlichkeiten. Unter der Peergruppe versteht man „ein Interaktionsgeflecht einer soziologischen Gemeinschaft, die nur so groß ist, dass alle Interaktionsmitglieder persönlichen Kontakt zu einander haben können. Diese Gruppen sind charakterisiert durch eine geringe Institutionalisierung sowie durch die Homogenität ihrer Mitglieder, d. h. sie gehören beispielsweise der gleichen Schicht an“ (Hentrich 2011, 44). In der Sozialisation junger Erwachsener bilden sie eine wichtige Instanz. Der steigende und im Jugendalter hohe Einfluss der Peers hat auch etwas mit dem Loslösungsprozess von den Eltern zu tun. Durch die Neuverhandlung der Eltern-Kind-Beziehung gewinnen die Peers, vor allem die Freunde, an Bedeutung. Sie bilden einen (alternativen) Anker – im obigen Bild einen neuen Hafen, der Halt und Hilfe bietet (vgl. Langness/Leven/Hurrelmann 2006, 83). Die Lebenswelt der Peergruppe löst mit zunehmendem Alter die Familie als primären lebensweltlichen Bezugspunkt ab und bietet den Jugendlichen soziale Anerkennung sowie Identifikationsmöglichkeiten. Darüber hinaus werden in den gleichaltrigen Konstellationen soziale Kompetenzen erworben (vgl. Fend 1980; Harring 2007), sodass diese Lebenswelt der Peergruppe wichtige „Übungs- und Trainingsräume für das Sozialleben in modernen Gesellschaften“ (Langness/Leven/Hurrelmann 2006, 83) darstellen. Insofern wird auch hier differenziertes intersubjektives Alltagswissen tradiert und subjektives Alltagswissen weiterentwickelt.
Die schulische Lebenswelt weist wiederum andere Strukturen, Regeln und Gesetzmäßigkeiten auf. Sie dient der institutionalisierten Reproduktion der Gesellschaft (vgl. Fend 1980). Mit ihrer Qualifikationsfunktion dient sie dazu, kulturelles Wissen zu vermitteln. Es geht damit vor allem um die Weitergabe intersubjektiven, möglichst objektiven Wissens. Dabei besteht das Ziel, auf künftige Lebenssituationen vorzubereiten (vgl. Robinsohn 1967) und die Qualifikationen bzw. Kompetenzen zu entwickeln, um diese in künftigen „Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001, 27f.). Schule soll es ermöglichen, jene Lebenswelten zu erschießen, auf die Familie oder Peers nicht oder nur unzureichend bzw. subjektiv vorbereiten können. Zudem können sie darüber hinaus ergänzendes alternatives Wissen, Deutungen, Sinnzusammenhänge anbieten sowie das Alltagswissen weiter ergänzen. Hier steht eher Normierung und Standardisierung im Fokus – nicht nur im Hinblick auf die Qualifikation, sondern auch hinsichtlich der Vermittlung von Normen und Werten (Integrationsfunktion; Fend 1980). Die Kommunikation innerhalb dieser schulischen Lebenswelt dient dazu, über die gemeinsamen Grundstrukturen der Kulturwelt aufzuklären.
Zudem soll Schule den Jugendlichen aufgrund ihrer subjektiven Leistungsfähigkeit und (eigentlich) unabhängig von ihrer Herkunft durch die Vergabe von Abschlüssen soziale Positionen innerhalb der Gesellschaft zuweisen. Der schulische Erfolg oder Misserfolg prägt den späteren (beruflichen) Werdegang in hohem Maße. Bereits im Kindesalter werden die Weichen für den späteren beruflichen Lebenslauf gestellt (vgl. Pollmann 1993, 28) – bzw. wird der berufliche Optionsraum beschränkt. Die Wahl der Schulform und die so zu erwerbenden Bildungsabschlüsse hängen jedoch maßgeblich von der sozialen Schicht der Eltern ab. Es zeigt sich eine „Vererbung“ von Qualifikationen insb. in Bezug auf den Bildungsabschluss des Vaters. Durch die familiäre Sozialisation werden letztlich also Bildungsaspirationen vererbt (vgl. Beinke 2000, 12f.).
Mit dem Übergang von der Schule in die Arbeitswelt und dem Eintritt in die berufliche Ausbildung verändert oder erweitert sich das Spektrum lebensweltlicher Sphären nochmals. Während die betriebliche bzw. berufliche Lebenswelt vorher nur mittelbar aus dem Alltagswissen und kommunizierten Selbstverständlichkeiten anderer erschlossen werden konnte (Familie, Medien, Peers, Schule), werden nun unmittelbare Erfahrungen und Interaktionen innerhalb dieser Lebenswelt möglich. Die Lebenssituation(en) der Berufsausbildung bzw. die Lebenswelt Beruf/Betrieb ist in diesem Sinne auf zweifache Art und Weise verknüpft mit weiteren Lebenswelten. Erstens prägen die zeitlich vorgelagerten Lebenswelten die subjektiven Vorstellungen von den Selbstverständlichkeiten der Lebenswelt Beruf (fremdes, ggf. differenziertes, widersprüchliches Alltagswissen über die Lebenswelt). Zweitens bleiben die außerberuflichen Lebenswelten weiterhin bedeutsam. Auch wenn das Individuum nun das subjektive Alltagswissen aufgrund unmittelbarer Erfahrungen weiterentwickelt, modifiziert oder falsifiziert, wirken die Selbstverständlichkeiten anderer Lebenswelten weiter. Offen ist, wie das Subjekt mit Dissonanzen umgeht und welchen Selbstverständlichkeiten es folgt. Die Lebenswelt Beruf stellt für viele Jugendliche eine neue Herausforderung dar. Gewohnte Abläufe und Erfahrungen aus Familie und Schule werden hinter sich gelassen. Die jungen Erwachsenen treffen auf ein für sie relativ neues Umfeld. Dieses bedarf ein Erlernen neuer Routinen und Abläufe.
Doch zuvor stehen die Jugendlichen vor der Entscheidung für einen bestimmten (Ausbildungs-)Beruf. Bei der Wahl des Berufes hat die familiäre Lebenswelt den größten Einfluss auf die jungen Erwachsenen (vgl. Beinke 2000, 27; Küng 1971, 37). Nach Beinke (2000, 142) nehmen vor allem die Mütter eine wesentliche Rolle (mit 85,1% gegenüber den Vätern mit 64,7%) bei der Berufswahl ein. Dieser große Einfluss kann zum einen mit der mangelnden Reife und Erfahrenheit in der Berufswelt zusammenhängen, zum anderen mit dem guten Verhältnis zu den eigenen Eltern begründet werden. Hier zeigt sich die Verschmelzung und Interaktion der verschiedenen Lebenswelten (Familie und Beruf). Die Jugendlichen partizipieren von den subjektiven Erfahrungen ihrer Eltern. Diese sind jedoch von Familie zu Familie unterschiedlich und durch individuelle Biografien geprägt.
Im Kontext des Erwachsenwerdens markiert die Wahl eines bestimmten Ausbildungsberufes den Übergang in eine neue – oder besser die Erweiterung der eigenen – Lebenswelt. Die lebensweltlichen Erfahrungen insb. in Familie, in Peergruppe und Schule führen zu einem Alltagswissen i. S. der o. g. als selbstverständlich erachteten Kenntnisse, Werte und Kulturtechniken. Dieses Alltagwissen repräsentiert eine intersubjektive Perspektive auf die Lebenswelt(en) und wird durch Kommunikation vermittelt. Damit verbunden sind auch Normalitätsvorstellungen über mögliche, attraktive, interessante, erreichbare und passende Berufe. Dieses Alltagswissen wird innerhalb der beruflichen Lebenswelt subjektiv weiterentwickelt, durch eigene Erfahrungen und Kommunikation – u. a. mit Ausbilder*innen, Kolleg*innen oder Kund*innen und Lieferant*innen.
3 Berufswahl und Identitätsentwicklung
3.1 Beruf und Berufswahl
Der Berufsbegriff ist vielschichtig und komplex (vgl. Dostal 2002, 464; Schmude 2009, 18). Huisinga/Lisop beschreiben Beruf als ein „tendenziell komplexes, d. h. ganzheitliches, umrissenes aber verzweigtes System von Tätigkeiten, die gesellschaftlichen Aufgabencharakter haben und zu deren Bewältigung besondere Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnisse erworben und als Qualifikationsnachweis öffentlich ausgewiesen werden müssen“ (Huisinga/Lisop 1999, 17). Sie beziehen sich in dieser Definition zunächst auf die dem Beruf zugrunde liegenden zertifizierten Qualifikationen. Diese sind zur Bewältigung beruflicher Tätigkeiten erforderlich und leisten einen „Beitrag zum Sozialprodukt im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung und zur Sicherung des privaten Lebensunterhaltes“ (ebd.). Huisinga/Lisop deuten damit an, dass nicht jedes Muster von Arbeitskraft, das am Markt getauscht werden kann, als Beruf zu beschreiben ist, sondern die Zertifizierung der Qualifikationen und die dazu notwendige Definition derselben konstituierend ist. Darüber hinaus bestimmt der Beruf den gesellschaftlichen Status und ist subjektiv sinnstiftend. Hiermit weisen Huisinga/Lisop darauf hin, dass der Beruf aus entwicklungspsychologischer Perspektive zu einem Bestandteil der Identität wird und das Selbst bzw. Selbstbild bestimmt (vgl. dazu auch Marcia 1966). Die Entscheidung für einen bestimmten Ausbildungsberuf ist damit erstens eine Entscheidung für eine bestimmte Aufgabe oder Tätigkeit, zweitens eine Entscheidung für ein damit verbundenes zu erlernendes Qualifikationsbündel, drittens für einen bestimmten gesellschaftlichen Status (verbunden mit Prestige) als Resultat von (vor)beruflichen Erfahrungen und mit Einfluss auf berufliche Identitätsentwicklungsprozesse. Viertens ist die Entscheidung für einen Beruf dementsprechend auch eine Entscheidung für ein (potenzielles) Selbstbild und/oder Ausdruck dessen.
Die Berufswahl sollte als Entwicklungsprozess betrachtet werden, der die gesamte individuelle Erwerbsbiographie erfasst (vgl. Lubecki 2009; Schmude 2009). Auch Super vertritt die grundsätzliche Ansicht, dass „jeder Mensch für mehrere Berufe geeignet ist“ (Super 1952, zitiert nach Lubecki 2009, 22). „Berufswahl kann somit definiert werden als eine in eine lebenslange berufliche Entwicklung eingebundene und unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen und Einflüssen stehende sowie in der Regel wiederholt sich einstellende interaktive Lern- und Entscheidungsphase, deren jeweiliges Ergebnis dazu beiträgt, daß Menschen unterschiedliche berufliche Tätigkeiten ausüben“ (Bußhoff 1992, 88). Auch Gottfredson (1981) vertritt in Anlehnung an Ginzberg (1951), Super (1980) und Holland (1985) den Ansatz, dass die Berufswahl ein lebenslang andauernder Entwicklungsprozess ist.
Die Theorie von Gottfredson (Abb. 1) geht davon aus, dass Heranwachsende im Prozess der Entstehung einer individuellen beruflichen Orientierung vor dem Hintergrund ihres Selbstkonzeptes den Möglichkeitsraum aller realisierbaren Berufe auf jene beschränken, die sie als für sich am besten geeignet bewerten. Dies setzt eine mehr oder weniger elaborierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst und (subjektiv geprägten) Berufskonzepten voraus. Am Ende dieses Eingrenzungsprozesses entsteht eine Schnittmenge zwischen Selbstkonzept und Berufskonzept, die den Berufswunsch bildet. Dieser drückt im Optimum die Verwirklichung des Selbstkonzeptes aus (vgl. Ratschinski 2004, 53; Schmude 2009, 81). Das Konstrukt des Selbstkonzepts verantwortet die Steuerung von Handlungen sowie Strukturierung von Erfahrungen eines Individuums, um schlussendlich fundierte Entscheidungsgrundlagen zu bieten (vgl. Ratschinski 2004, 53; Kirsten 2007, 26). Es setzt sich zudem „aus dem Geschlecht, der sozialen Klasse, der Intelligenz und den Interessen und Werten einer Person“ (Pfuhl 2010, 38) zusammen. Bei den Berufskonzepten handelt es sich um pauschalisierte Vorstellungen einer Person bezüglich der Merkmalsausprägungen Geschlecht, Berufsprestige und Berufsfeld eines Berufsbildes (vgl. Gottfredson 1981, 547).
Mit Bezug auf die vorherigen Ausführungen zu Lebenswelten wird deutlich, dass diese (subjektiven) Berufskonzeptionen – verstanden als Alltagswissen – das Resultat lebensweltlicher unmittelbarer und vor allem mittelbarer Erfahrungen sind und vor allem von Familie, Schule und Peers beeinflusst werden. In diesem Kontext werden auch Normalitätsvorstellungen und kulturelle Selbstverständlichkeiten hinsichtlich des Geschlechtstypus von Berufen adressiert, d. h. ob ein Beruf als typisch männlich oder typisch weiblich gilt bzw. ob dies eine Rolle spielt und welche Normabweichungen tolerabel sind.
In Gottfredsons (1981) Theorie lassen sich die personenbezogenen Berufspräferenzen als Fläche in einem Koordinatensystem darstellen (Abb. 2), die durch eine untere und obere Aufwandsgrenze des Prestiges sowie einer Toleranzgrenze des Geschlechts eingeschränkt wird. Das dadurch entstehende Feld ist die „Zone akzeptabler Berufsalternativen“ (berufliches Aspirationsfeld) (vgl. Gottfredson 1981, 553f.). Diese Eingrenzung von Berufspräferenzen entwickelt sich im Abgleich des Selbstkonzepts mit Berufskonzepten und beginnt bereits im Kindesalter. Die Berufspräferenzen bestimmen sich durch Geschlechtstypen, Prestige und dem jeweiligen Berufsfeld. Die doppelseitige Reflexion von Selbstkonzept und Berufskonzepten führt zu einer kleinen Gruppe akzeptabler Berufsoptionen, die realistisch oder ideal erscheinen („Zone akzeptabler Berufsalternativen“). Die Auswahl der akzeptablen Berufe erfolgt dabei eher „durch Eliminierung negativer Alternativen statt durch Auswahl der optionalen Alternativen“ (Ratschinski 2009, 74; vgl. Gottfredson 1981, 548f.; Pfuhl 2010, 40f.).
3.2 Geschlechtstypisches Berufswahlverhalten
Der Arbeitsmarkt in Deutschland ist gekennzeichnet durch eine geschlechtsspezifische Segregation der Berufe. Der Anteil weiblicher Erwerbstätiger dominiert in den Dienstleistungsberufen, im Handel, der Hauswirtschaft und in den Büroberufen. Junge Männer entscheiden sich hingegen häufiger für gewerbliche und techniknahe Berufe in Industrie und Handwerk (vgl. Cornelißen 2005, 55). Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) ermittelte, dass der Frauenanteil in den von ihm ermittelten 25 am stärksten von Männern dominierten Ausbildungsberufen (mindestens 80% Männeranteil) im Zeitraum von 2004 bis 2015 pro Jahr und pro Beruf im Schnitt circa um 0,22 Prozentpunkte zunahm. Hingegen konnten sie für den Männeranteil in den Frauenberufen (mindestens 80% Frauenanteil) keine Zunahme feststellen (vgl. Lohmüller et. al. 2016, 4). Insofern gibt es zwar Anzeichen für eine Zunahme des Frauenanteils in traditionellen Männerdomänen, allerdings bleibt die geschlechtstypische horizontale Segregation des Arbeitsmarktes bestehen.
Problematischer ist die Bewertung der vertikalen Segregation des Arbeitsmarktes. Diese beschreibt die unterschiedlichen Hierarchieebenen auf denen Frauen und Männer in ihren Erwerbstätigkeiten stehen. Verglichen mit Männern, stehen Frauen im Durchschnitt auf niedrigeren Hierarchiestufen (vgl. Busch 2013, 27). Die horizontale und die vertikale geschlechtliche Segregation auf dem Arbeitsmarkt bedingen sich gegenseitig. Dadurch erzielen Berufsgruppen unterschiedlich hohe Einkommen und insbesondere Frauen erhalten bei gleicher Arbeitsleistung weniger Lohn , obwohl sie formal die gleichen Qualifikationen aufweisen. Dies ist eine Form der indirekten „Diskriminierung vor dem Arbeitsmarkt“ (vgl. Osterloh/Oberholz 1994, 3).
Der von Gottfredson thematisierte Einfluss des Geschlechts auf die subjektive Konzeption von Selbst und Beruf, zeigt sich also deutlich am Arbeitsmarkt. Dabei besteht ein Zusammenhang zu den lebensweltlich geprägten Normalitätsvorstellungen. Berufliche Geschlechterstereotype sind gesellschaftlich konstruierte Konzepte, welche als Alltagswissen Berufskonzepte und berufliche Entscheidungen prägen. Zugleich haben sie Einfluss auf die Wahrnehmungen und Wertungen anderer Personen in verschiedenen relevanten Lebenswelten. Diese Geschlechterklassifikation ordnet den sozialen Raum in ein grundlegendes Typisierungsmuster ein, in dem jedes Individuum seinen Platz einzunehmen hat. Dies kann zu einer Identitätskrise führen, wenn die Auseinandersetzung mit dem Selbstkonzept und die Exploration von Berufskonzepten bzw. die Identifikation mit einem bestimmten Beruf nicht zu einer konformen Berufsentscheidung führt (vgl. Richter/Jahn 2015, 6). Die prägenden lebensweltlichen Sozialisationsprozesse weisen den Heranwachsenden ihren gesellschaftlichen Weg, jedoch sollten sie selbst bestimmen, inwieweit sie sich von den Restriktionen ihrer Lebenswelt(en) leiten lassen (vgl. Hannover et. al. 1992, 11). Allerdings verfolgen Jugendliche „unkonventionelle“ Interessen in geringerem Maße, da sie sich nach Akzeptanz ihres lebensweltlichen Umfelds sehnen (vgl. Richter/Jahn 2015, 6f.).
3.3 Berufliche Identität
Im weitesten Sinne bezeichnet der Begriff der Identität die einmalige Kombination von spezifischen Merkmalsausprägungen einer Person oder einer Personengruppe (zum Beispiel Name, Alter, Geschlecht). Im sozialwissenschaftlichen Kontext umfasst die Identität einen selbstreflexiven Entwicklungsprozess des Individuums. Dies bedeutet, dass eine Person auf Basis der kognitiven Verarbeitung von Reflexionen ein Verständnis über die eigene Identität erlangt. Dies beantwortet schließlich grundlegende Lebensfragen, wie beispielsweise „Was / Wer bin ich?“ (vgl. Frey/Haußer 1987, 4; Oerter/Montada 2008, 303). Der Identitätsbegriff setzt sich mit dem durch die eigene Person wahrgenommenen, ganzheitlichen Selbst auseinander (vgl. Stuhlmann 2009, 76). Erikson postuliert in seiner Stufentheorie das Krisenerleben als die schritthafte Weiterentwicklung des persönlichen Selbst (vgl. Erikson 1993). Marcia (1966) knüpft an das Modell von Erikson an und entwickelt ein Verfahren zur Ermittlung des Identitätszustandes von Individuen (vgl. Marcia zitiert nach Oerter/Montada 2008, 305). Die Identitätsbildung konstruiert Marcia mittels drei Dimensionen mit denen sich – insbesondere – Jugendliche auseinandersetzen müssen: Krise (Ausmaß an Unsicherheit), Verpflichtung (Umfang von Bindung) und Exploration (Erkundungsaktivitäten). Darauf fußend definierte Marcia vier beruflichen Identitätsstadien (vgl. ebd., 331): (1) übernommene berufliche Identität, (2) diffuse berufliche Identität, (3) berufliches Moratorium sowie (4) erarbeitete berufliche Identität.
Eine übernommene Identität beschreibt die unreflektierte Übernahme des Berufswunsches oder der Erwartungen den Heranwachsenden nahestehenden Bezugspersonen. Im Zustand der diffusen Identität wird dem Thema Berufswahl mit Gleichgültigkeit und Desinteresse gegenübergetreten. Berufsbezogene Wertvorstellungen werden grundsätzlich ausgeblendet. Befindet sich ein Jugendlicher im Moratorium, mangelt es ihm an Enthusiasmus und Engagement in seinem Beruf. Jedoch exploriert er oder sie – gedanklich oder aktiv – berufliche Alternativen. Wird diese Phase erfolgreich abgeschlossen, kann die Phase der erarbeiteten Identität eintreten. Wurden unpassende Entscheidungen getroffen, verlängert sich der Zustand im Moratorium. Die erarbeitete Identität beruht auf einer kritisch reflektierten Entscheidung. Der Jugendliche zeigt berufliches Engagement und den Willen, eigene Kompetenzen zu erweitern (vgl. Oerter/Montada 2008, 331). Berufliche Identitätsentwicklung vollzieht sich als biographischer Prozess, in dem u. a. durch Modelllernen und die Auseinandersetzung mit Rollen(vor)bildern eine Passung zwischen inneren Identitätsprojekten und den äußeren lebensweltlichen Realitäten herzustellen ist.
4 Ableitung von Fragestellungen
Bislang konnte gezeigt werden, dass die Wahl einer geschlechtsspezifischen Berufsausbildung ein Ergebnis der sozialen wie individuellen Geschlechterkonstruktion ist, die abhängig ist von ihren lebensweltlichen Erfahrungsräumen und dem lebensweltlich tradierten intersubjektiven Alltagswissen. Entscheiden sich Heranwachsende gegen die lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten, bedeutet dies einen Bruch mit den Normalitätsmodellen und das Eingehen des Risikos der sozialen Sanktion (vgl. Richter/Jahn 2015, 9). Daher plädieren wir für eine lebensweltorientierte Berufswahlforschung. Vor diesem Hintergrund ist die Frage relevant, warum junge Menschen eine geschlechtsuntypische Berufsausbildung ergreifen und bewusst oder unbewusst gegen geschlechtstypische Rollenmuster opponieren. Zur Untersuchung dieser Frage führen wir problemzentrierte Interviews durch.
Die Auswahl der Probanden*innen und der Fokus auf Jugendliche in geschlechtsuntypischen Berufen erfolgt vor dem Hintergrund der Ergebnisse einer vorausgegangenen Studie von Richter/Jahn (2015). In dieser ersten Untersuchung stellte sich ebenfalls die Frage, warum junge Menschen geschlechtsunkonventionelle Berufswege einschlagen und wie sich dies auf Identitätsentwicklung und berufliches Commitment auswirkt. Dazu wurden geschlechtstypische und -untypische Berufswahlprozesse von acht Auszubildenden in männer- und frauendominierten Berufen analysiert. Es zeigte sich, dass die Mechanismen der geschlechtsspezifischen horizontalen Segregation des Arbeitsmarktes Einfluss auf das Denken und Handeln der Jugendlichen haben. Da Berufe als soziale Konstruktionen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung auch geschlechtlich konnotiert sind, trägt die Trennung zwischen Männer- und Frauenberufen zur Reproduktion der Geschlechterverhältnisse bei (vgl. auch Teubner 2010, 501).
In dieser Untersuchung ließen sich drei Typen identifizieren (Abb. 3), wobei ein vierter theoretisch besteht, aber durch die Konstruktion der Stichprobe nicht identifiziert werden konnte. „Konventionelle“ und „Unkonventionelle“ können ihre jeweiligen geschlechtlich-konnotierten Ausbildungsabsichten und -orientierungen tendenziell realisieren. Es gibt jedoch auch Jugendliche, die als „Ungewollt Unkonventionelle“ bezeichnet werden können und die mangels Alternativen einen bestimmten Beruf ergreifen. Theoretisch muss es dann ebenso „Verhindert Unkonventionelle“ geben, die ihre geschlechtsunkonventionellen Ausbildungsabsichten nicht realisieren konnten oder wollten, möglicherweise auch vor dem Hintergrund sozialer Sanktionen und Einflüsse aus den Lebenswelten Familie, Peer, Schule und Beruf.
Auffällig ist, dass insbesondere die jungen Frauen berichten, mit gesellschaftlich tradierten Geschlechterverhältnissen konfrontiert zu sein und dass sie sozial sanktioniert bzw. durch Ablehnungen und Infragestellungen zumindest verunsichert werden. Die gesellschaftlichen Stereotype werden jedoch bei einer geschlechtsunkonventionellen Berufswahl ausgeblendet, zurückgedrängt bzw. relativiert, sodass sie hier eher eine nachgelagerte Bedeutung für Selbst- und Berufskonzept haben. Aufgebrochen wird der Mechanismus der geschlechtsspezifischen horizontalen Segregation nur durch strukturelle Restriktionen des Marktes, ein unreflektiertes Berufswahlverhalten und/oder besonders starke Rollenmodelle in Verbindung mit einem hohen tätigkeitsbezogenen Interesse.
Konkret ergeben sich folgende untersuchungsleitende Forschungsfragen für eine weitergehende Untersuchung, in der nur Auszubildende in geschlechtsunkonventionellen Berufen untersucht werden sollen. Einerseits wird damit versucht, die von Richter/Jahn (2015) identifizierten Typen zu replizieren. Andererseits soll die Typisierung in „Unkonventionelle“ und „Ungewollt Unkonventionelle“ weiter verfeinert werden.
- Welche lebensweltlichen Faktoren und Umstände in Familie, Peer, Beruf und Schule beeinflussen die Entscheidung eines jungen Menschen für eine geschlechtsuntypische berufliche Ausbildung?
- Inwieweit sanktioniert das lebensweltliche Umfeld die geschlechtsuntypische Berufswahl?
- Ist die Wahl der geschlechtsuntypischen Berufsausbildung Resultat eines eingeschränkten Explorationsverhaltens und/oder frühzeitigen Bildung und der daraus resultierenden Verknappung der infrage kommenden Ausbildungsalternativen?
- Geht eine geschlechtsuntypische Wahl der beruflichen Erstausbildung mit einer erarbeiteten Identität einher?
5 Methodisches Vorgehen
Mittels Interviews wurden die biographischen Entwicklungen und Reflexionen von Auszubildenden hinsichtlich ihrer Entscheidung für eine geschlechtsuntypische berufliche Erstausbildung erhoben. Die halbstrukturierte Explorationstechnik des problemzentrierten Interviews nach Witzel (2000) eignet sich für die vorliegende Untersuchung, da subjektive Gründe, Einflussfaktoren und Sichtweisen der einzelnen Personen im Fokus stehen (vgl. Witzel 2000).
Die Interviews haben den folgenden Verlauf. Nach einer Einstiegsphase erörtert der Interviewer die angestrebte Gesprächsstruktur. Es folgt die offene Gesprächsaufforderung, die eine narrative biografische Erzählung anregen soll. Anschließend werden vertiefende Sondierungsfragen (induktiv und deduktiv) gestellt. Diese zielen auf das ‚Hervorlocken‘ bestimmter Erfahrungsbeispiele ab, regen das Erinnerungsvermögen an oder verdeutlichen fehlende beziehungsweise unklare Begriffe. Das Interview wird aufgezeichnet. Im Anschluss wird ein Postskript angefertigt (vgl. Witzel 2000, 5; Lamnek 2010, 333f.).
Befragt wurden elf Proband*innen ausschließlich in geschlechtsuntypischen Ausbildungsberufen. Damit erfolgt eine teilstrukturierte Fall- und Probandenauswahl. Für die Vorauswahl potenzieller Ausbildungsberufe wurden in der vorliegenden Untersuchung zunächst typisch weibliche und typisch männliche Ausbildungsberufe auf Basis der vom BIBB erhobenen Anzahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge im Jahr 2015 ermittelt (vgl. Lohmüller et. al. 2016, 8ff.).
In einem zweiten Schritt wurde diese Auswahl weiter eingegrenzt. Es wurde ein Fokus auf Berufe gelegt, deren Berufsprestige sowie Einkommensperspektiven ähnlich hoch sind. Dazu wurden die identifizierten Ausbildungsberufe anhand der Klassifikation der Berufe 2010 (KldB) der Bundesagentur für Arbeit den Berufsgruppen zugeteilt. Mit Hilfe der Zuteilung erfolgte die Ermittlung des jeweiligen Berufsprestigewertes anhand der Standard International Occupational Prestige Scale (SIOPS). Die SIOPS-Skala ist eine standardisierte Berufsprestigeskala für internationale Vergleiche und weist Berufen einen empirisch berechneten Prestigewert zu, der zwischen 12 (Schuhputzer) und 78 (Ärzte) liegen kann (vgl. Ganzeboom/Treiman 1996). Im letzten Schritt fand die Zusammenführung jener weiblich und männlich dominierten Ausbildungsberufe statt, die weitestgehend gleiche Berufsprestigewerte aufweisen. Tabelle 1 stellt theoretische Idealpaarungen der typischen Frauen- und Männerausbildungsberufe dar. In diesen Berufen wurden nun Probandinnen für die Untersuchung gesucht.
Tabelle 1: Zusammenführung von typischen Frauen- und Männerausbildungsberufen mit ähnlichem Berufsprestige (+ / - 1)
Die Kontaktaufnahme erfolgte über entsprechende Ausbildungsunternehmen mithilfe von Berufsverbänden. Die Datenerhebung fand in der Region Hamburg statt. Als Grundlage der Fallanalyse wurde das mittels Audioaufzeichnungen gewonnene Datenmaterial in Anlehnung an Dresing/Pehl (2015) und Flick (2014) transkribiert. Die Auswertung erfolgte mit Hilfe von MAXQDA und in Anlehnung an dem von Mayring (2015) entwickelten Analyseverfahren der qualitativen Inhaltsanalyse. Die Entscheidung begründet sich durch dessen besondere Eignung für theoriegeleitete Untersuchungen, wie die vorliegende. Bei der Analyse wurden u. a. die oben diskutierten Lebenswelten systematisch beleuchtet. Es wurde geprüft, inwieweit den Personen aus den verschiedenen Lebenswelten Einfluss auf die beruflichen Orientierungen zugeschrieben wird bzw. ob und welche Reaktionen auf geschlechtsunkonventionelle Orientierungen erfolgen. Zudem wurde analysiert, ob in der familiären Lebenswelt bereits geschlechtsunkonventionelle Orientierungen durch Eltern „vorgelebt“ bzw. als „Normalitäten“ tradiert wurden.
6 Ergebnisse der Untersuchung
6.1 Überblick über die Stichprobe
Der Umfang der Stichprobe beläuft sich auf elf Proband*innen, die in sieben verschiedenen Berufen ihre Ausbildung absolvieren. Die Interviewpartner*innen setzen sich aus sechs weiblichen und fünf männlichen Auszubildenden zusammen.
Im Hinblick auf die Ausbildungsberufe dominiert bei den Frauen der Beruf der Bäckerin, bei den Männern der des Zahnmedizinischen Fachangestellten (s. Tab. 3). Zudem zeigt sich, dass sowohl die der männlichen als auch die weiblichen Auszubildenden unterschiedliche Berufsprestigewerte aufweisen. Tendenziell sind die Männer eher in höherwertige Berufe eingemündet.
Tabelle 2: Angaben zu den Proband*innen
Im Weiteren präsentieren wir vier charakteristische Fälle, die sich in ihrer berufsbiografischen Entwicklung hinsichtlich der Genese von beruflichen Orientierungen und der Entscheidung für einen geschlechtsuntypischen Beruf strukturell voneinander unterscheiden, und stellvertretend für weitere Fälle der Stichprobe stehen.
Diese Eckfälle sind einerseits Stellvertreter von unkonventionellen, andererseits von ungewollt unkonventionellen Auszubildenden und führen andererseits zu je zwei Subtypen (s. Abb. 4). Eine Beschreibung der weiteren Fälle ist dem Beitrag als Anhang beigefügt.
6.2 Beschreibung der Eckfälle
Tim (Zahnmedizinischer Fachangestellter):„Und ja, um ehrlich zu sein, hatte ich auch nicht so eine große Wahl“ (Ia)
Tims (20; Hauptschulabschluss) Vater ist Berufskraftfahrer. Als Kind hat Tim sich geschlechtsspezifisch am Beruf des Kochs orientiert: „(...) ich wollte damals (...) als Koch arbeiten oder eben zur Bundeswehr gehen“ (Tim; 13–15). Er engagierte sich für einen Ausbildungsplatz als Koch, konnte dies jedoch nicht realisieren. Gesundheitliche Einschränkungen führten Tim in eine berufliche Orientierungslosigkeit: „(…) ich hatte auch wirklich gar keinen Plan so, was ich überhaupt machen“ soll (Tim; 178). Der Raum verfügbarer Berufsalternativen schränkte sich nun sehr stark ein. Nach dem Schulabschluss begann eine zweijährige berufliche Explorationsphase, in der Tim einen Beruf suchte, der gesundheitlich und mit seinem Selbstkonzept vereinbar war. Er arbeitete als Büroangestellter, Lagerist, beim Frisör, als Verkäufer im Einzelhandel, als Krankenpfleger im Krankenhaus und als Servicekraft in der Gastronomie (Tim; 144–149). Geschlechtskonventionen spielten für Tim keine Rolle. Er absolvierte auch ein Praktikum in einer Zahnarztpraxis und entwickelte berufliches Interesse an dem Berufsfeld der Zahnchirurgie. Seine Berufswahlentscheidung fiel dann geschlechtsuntypisch mit dem Beruf des zahnmedizinischen Fachangestellten. Familie und Freunde reagierten positiv auf Tims Ausbildungsentscheidung (Tim; 175–176). Er musste sich aber mit kritischen Aussagen von Mitmenschen und Arbeitgebern auseinandersetzen, die pauschal nur einer weiblichen zahnmedizinischen Fachangestellten vertrauen: „Die wollte[n] einfach keine Jungs annehmen (…), haben sie auch einfach gesagt“ (Tim; 88–89). Tims überwiegend weiblich geprägtes Arbeits- und Schulumfeld empfindet er als „sehr, sehr anstrengend“ (Tim; 115). Nach der Ausbildung zieht es Tim in Erwägung im Berufsfeld der Zahnchirurgie zu arbeiten. Trotz seines in Ansätzen vorhandenen beruflichen Engagements, sieht Tim die erste Berufswahlentscheidung als eine Zwangssituation an: „(…) das ist jetzt auch nicht mein Traumberuf (...) Mache es aber. Ich möchte es durchziehen unbedingt“ (Tim; 212–214). Tim nennt kein konkretes berufliches Ziel.
Tims gesundheitliche Einschränkungen haben zu einem nachhaltig wirkenden beruflichen Krisenerlebnis geführt. Sein tatsächliches berufliches Selbstkonzept kann Tim in dem Berufsbild des zahnmedizinischen Fachangestellten nur bedingt wiederfinden. Er scheint zwischen diffuser Identität und Moratorium zu schwanken.
Das leitende Thema seines Entwicklungsprozesses und seines geschlechtsuntypischen Entscheidung ist: Alternativloses Hineingleiten in einen geschlechtsunkonventionellen Beruf mit bleibender Orientierungslosigkeit.
David (Tiermedizinischer Fachangestellter): „Es ist alles leider noch nicht so klar“ (Ib)
David (24; Abitur) wuchs in einer Akademiker*innenfamilie auf: Mutter Ballettschullehrerin, Vater Gymnasiallehrer. Konkrete Berufswünsche als Kind hatte David nicht. Der berufliche Optionsraum Davids war sehr eng und fokussierte sich nahezu ausschließlich auf die Tiermedizin. Er übte keine Schülerjobs aus und explorierte nur berufliche Tätigkeiten auf einem Bauernhof (David; 48). Den Berufswunsch des Tierarztes führt er zum einen auf die berufliche Tätigkeit seines Onkels und auf seine eigene Affinität zu Tieren zurück, aber auch auf sein biologisches Interesse. Sein Abiturdurchschnitt (2,1) reichte jedoch nicht aus für ein Tiermedizinstudium (David; 17–18), daher wählte er das Biologiestudium. Er brach dieses aber ab, weil er „gemerkt [hat,] dass in der Biologie doch auch so viel drin ist, was mich nicht interessiert“ (David; 21–24). Damit er seinen Berufswunsch doch noch realisieren kann, fiel Davids geschlechtsuntypische Berufswahlentscheidung zum tiermedizinischen Fachangestellten als „Mittel zum Zweck“, damit er „Wartesemester sammle“ (David; 28–30). Die Wahl des konkreten Berufs, der sich weiter innerhalb seines Interessenzentrums bewegt, geschieht relativ rational. Dass diese Wahl auf einen geschlechtsunkonventionellen Beruf fällt, erfolgt hingegen zufällig, unbewusst und unreflektiert. Das soziale Umfeld hat Davids Berufswahlentscheidung positiv aufgenommen. Auf geschlechtsspezifische Sanktionierungen traf er in seinem Freundeskreis nicht. Die Kombination aus Interesse und hohem Einkommen kann ihm aber der Beruf des tiermedizinischer Fachangestellter nicht bieten: „Wenn man da irgendwie angenehm leben möchte, (…) das geht eigentlich von dem Gehalt wirklich nicht“ (David; 167–169). Verdienst und Berufsprestige spielen eine gewichtete Rolle für David und implizieren Zweifel am Beruf. Seine berufliche Zukunft beschreibt David als „alles leider noch nicht so klar“ (David; 232). Zunächst wird er aber weiter als tiermedizinischer Fachangestellter arbeiten.
Davids Bindung an das Berufsfeld der Tiermedizin ist stark ausgeprägt, nicht jedoch an den Beruf. Dies liegt jedoch nicht an der geschlechtlichen Konnotation, sondern am geringen Prestige bzw. Einkommen. Er exploriert gedanklich mit einer Abkehr von diesem Beruf und erweitert seinen beruflichen Handlungsspielraum. Es zeigt sich der Ansatz einer beruflichen Krise. Davids Identitätszustand ist als berufliches Moratorium zu beschreiben, in dem er ein akzeptables berufliches Ziel sucht.
Das leitende Thema seines Entwicklungsprozesses und seiner geschlechtsuntypischen Entscheidung ist: Geschlechtsunkonventionelle Berufsentscheidung als bewusste Überbrückung zur Realisierung anderer Berufsoptionen.
Anna (Tischlerin): „Und ich habe mich voll wohlgefühlt und habe Holz sofort geliebt“ (IIa)
Annas (21; Abitur) Mutter ist gelernte Bürokauffrau, ihr Vater Prokurist im Handwerk. Sie hat keine Geschwister. Als Kind hat sie wenig Zeit mit ihrem Vater außerhalb des handwerklichen Lebenswelt verbringen können, da dieser immer beruflich beschäftigt war. Die handwerkliche berufliche Orientierung spiegelte sich bereits in den kindlichen Berufswünschen Annas als Bühnenbildnerin oder Innenarchitektin wider. Sie absolvierte ein Schulpraktikum bei einer Restauratorin. „Da habe ich super viel geschliffen und alle haben mich gefragt: ‚Wie kannst du das denn gut finden?‘ Und ich habe mich voll wohlgefühlt und habe Holz sofort geliebt“ (Anna; 36–38). Für ihre berufliche Erstentscheidung stand dann geschlechtsuntypisch fest, „dass ich was mit Holz machen möchte“ (Anna; 39). Aufgrund ihrer regionalen Immobilität verwarf Anna nach aktiver Recherche die Berufsoption als Restauratorin. Ein Studium der Innenarchitektur lehnte sie ebenfalls ab (Anna; 146–152). Damit verengte sich ihr beruflicher Optionsraum. Durch weitere berufliche Erkundungsaktivitäten stieß Anna dann auf einen Handwerksbetrieb, dessen sozialorientiertes Unternehmensprofil ihr Interesse weckte. Zu Beginn der Oberstufe verfestigte sich bereits ihre Berufswahl als Tischlerin. Anna war sich der Herausforderung, als Frau in einem männlich dominierten Handwerksberuf zu arbeiten, bewusst, jedoch scheute sie sich nicht davor, da ihr Selbstkonzept in hohem Maße mit dem Holzhandwerk korrespondierte. Anna explorierte nach dem Abitur in verschiedenen Handwerksbetrieben, begleitete als Hospitantin eine Theaterproduktion und arbeitete für einen Naturschutzverband (Anna; 73–78).
Anna traf während dieser Zeit auf viele positive Reaktionen ihres mittel- bis unmittelbaren sozialen Umfelds, sah sich aber auch mit ablehnenden Vorurteilen ihrem Berufswunsch gegenüber konfrontiert – insbesondere auch in der betrieblichen Lebenswelt während ihrer Praktika. Diese weckten dann auch Zweifel: „Zum Teil waren es dann echt krass negative Kommentare wie: ‚Du willst das hier eh gar nicht wahrnehmen, sondern als (...) Trittbrett‘“ (Anna; 65–68). Diese krisenhaften Erfahrungen haben Anna nicht von ihrer geschlechtsuntypischen Berufswahlentscheidung abgehalten. Sie traf auf wenig Verständnis bei ihren Mitschüler*innen, da diese konträre Lebensvorstellungen hatten (Anna; 96–98). Ein Studium will sie nicht ausschließen, aber das kommt nur in weiter Zukunft infrage, da sie derzeit in ihrem Beruf zufrieden ist (Anna; 139–141).
Aufstiegsambitionen und das Streben nach höherem Berufsprestige sind bei Anna nur sehr gering ausgeprägt. Sie zeigt tätigkeitsfeldbezogene Präferenzen und sucht immer wieder die Bindung an Holz und Technik. Die berufliche Orientierung am Modell des Vaters wird deutlich. Trotzdem explorierte Anna sehr engagiert, um die Berufswahl zu festigen. Nicht allein das Berufsbild der Tischlerin war für Annas Ausbildungsentscheidung ausschlaggebend, sondern das reflektierte Gesamtbild. Die krisenhaften Infragestellungen wirkten trotzdem verunsichernd. Annas Identitätsentwicklung zum Zeitpunkt der Berufswahlentscheidung kann als ein Übergang von der übernommenen zur erarbeiteten beruflichen Identität beschrieben werden. Erkennbar ist, dass das eigene familiär geprägte Alltagswissen auf differenzierten geschlechtsspezifischen Normalitätsvorstellungen in der Peergruppe und in der betrieblichen Lebenswelt trifft und zu intra- und interindividuellen Spannungen führt und ihre geschlechtlich abweichende Lebensweltkonstruktion direkte Sanktionen nach sich zieht.
Das leitende Thema ihres Entwicklungsprozesses und ihrer geschlechtsuntypischen Entscheidung ist: Geschlechtsunkonventionelle Berufswahl als Verwirklichung (familiär geprägter) beruflicher Orientierung.
Jana (Bäckerin): „Ja komm, ich mache das jetzt weiter. Das ist mein Beruf. Das ist einfach das Geilste was es gibt“ (IIb)
Janas (18; Hauptschulabschluss) Eltern haben aufgrund ihrer rumänischen Herkunft keine Berufsausbildung absolviert. Die Mutter ist Hausfrau und der Stiefvater Lagerist. Ihre Schwester (21) arbeitet als Verkäuferin. Mutter und Oma haben Jana schon in Kinderjahren an das Backen von Teigwaren herangeführt: „Also meine Mutter hat sehr viel Kuchen und Brote gebacken für uns. Meine Oma genauso“ (Jana; 14f.). Die familiäre Prägung führte zu einer beruflichen Orientierung auf Backen als Tätigkeit. Ihre vorberuflichen Explorationsaktivitäten beschränkten sich aber auf zwei (geschlechtskonventionelle) Praktika als Bäckereifachverkäuferin und Friseurin. Beide Berufe entsprachen jedoch nicht ihrem Selbstkonzept (Jana; 256–258). Unmittelbar vor ihrem Hauptschulabschluss erfolgte eine intensive Auseinandersetzung mit dem Berufsbild der Bäckerin. Jana wurde bewusst, dass es sich um einen „reinen Männerberuf“ handelt. Ihr Unbehagen – aufgrund ihrer eigenen Normalitätsvorstellungen – verstärkte sich durch kritische Bemerkungen aus ihrem sozialen Umfeld. Jana explorierte aufgrund ihres Interesses trotzdem die beruflichen Tätigkeiten der Bäckerin in der Bäckerinnung Hamburg. Daraufhin fiel ihre bewusste geschlechtsuntypische Entscheidung: „Und weil es mir so sehr Spaß gemacht hat, meinte ich: ‚Ja komm, ich mache das jetzt weiter. Das ist mein Beruf. Das ist einfach das Geilste was es gibt‘“ (Jana; 46f.). Ihre selbstkonstruierten Geschlechtskonventionen (akzeptable Geschlechtsgrenze) hat sie folglich überwunden (Jana; 50). Eine weitere soziale Abwertung im Beruf hat sie nicht bewusst erfahren oder ausgeblendet. Gesellschaftliches Ansehen oder hohes Berufsprestige spielen für Jana keine Rolle. Ihr ist es wichtig, einen vielseitigen Beruf auszuüben, der ihr Spaß macht (Jana; 151–153). Berufliche Aufstiegsambitionen sind nicht erkennbar (Jana; 202f.).
Jana ist stark an das Backhandwerk als beruflichen Lebensbereich gebunden. Sie explorierte nur im geringen Maß, um eine Berufswahlentscheidung zu treffen und die Geschlechtskonventionen zu prüfen. Berufliche Alternativen hat sie nicht. Soziale Sanktionierungen hat sie kaum erfahren, vielmehr musste sie sich mit ihren eigenen Stereotypen auseinandersetzen. Zum Zeitpunkt der Berufswahlentscheidung zeigt sie trotz dessen eine eher erarbeitete berufliche Identität.
Das leitende Thema ihres Entwicklungsprozesses und ihrer geschlechtsuntypischen Entscheidung ist: Modifikation der beruflichen Orientierung durch Öffnung für geschlechtsunkonventionelle Berufe zur Erschließung neuer Optionen.
6.3 Typisierung
Das geschlechtsunkonventionelle Berufswahlverhalten der befragten Jugendlichen lässt sich in zwei übergeordnete Typen (I „Ungewollt Unkonventionelle“ u. II „Unkonventionelle“) unterscheiden, die schon in der Untersuchung von Richter/Jahn (2015) identifiziert werden konnten (s. Abb. 3). Diese können vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Studie entsprechend der skizzierten Eckfälle jeweils nochmals ausdifferenziert werden.
Findet eine Berufswahl ungewollt unkonventionell (I) statt, zeigen die Befragten zum einen eine Art Alternativlosigkeit (Ia) auf, wodurch die Jugendlichen in einen geschlechtsunkonventionellen Beruf hineingleiten und nachhaltig orientierungslos bleiben (vgl. Tim). Zum anderen wurde eine geschlechtsunkonventionelle Berufswahl als eine Möglichkeit zur temporären Überbrückung (Ib) getroffen, um spätestens nach Abschluss der Ausbildung die eigentlich gewünschte Berufsoption weiter verfolgen zu können (vgl. David). Der erste Typ der Alternativlosigkeit (Ia) geht mit einem hohen Explorationsverhalten einher, wobei die frühen beruflichen Orientierungen in Kindheit und Jugend geschlechtskonventionell waren. Die Befragten wählen ihren Beruf aufgrund mangelnder Alternativen, wobei man eigentlich nicht von einer echten Wahl sprechen kann. Sie ergreifen nach längerer Suche und Exploration die gefühlt letzte Alternative, und dass nicht um eigentlich präferierte Berufsoptionen später doch noch erschließen zu können. Damit geht auch eine sehr geringe Bindung an den gewählten Beruf einher. Durch die Lebenswelten Familie, Peer und Beruf werden sie zum Teil mit Sanktionen konfrontiert und es kommt vereinzelt zu krisenhaften Erfahrungen (s. Tab. 3).
Der zweite Typ (Ib) ist in seiner beruflichen Orientierung nur leicht durch die familiäre Lebenswelt geprägt – dies jedoch weniger inhaltlich-interessenbezogen, sondern eher im Hinblick auf Prestige und Status. Alle Befragten der Gruppe stammen aus Akademikerfamilien und streben eigentlich nach akademischen Berufen. In der Kindheit dominieren hier ebenfalls geschlechtskonventionelle Absichten, die sie aber aufgrund mangelnder Zugangsvoraussetzungen zum gewünschten Beruf (insb. universitärer Zugang) temporär überbrücken müssen. Die Exploration beruflicher Alternativen fällt aufgrund einer frühen Fokussierung auf bzw. Bindung an ein bestimmtes Berufsfeld gering aus. Die Entscheidung für einen geschlechtsunkonventionellen Ausbildungsberuf stellt für diesen Typ nur eine temporäre Übergangslösung dar. Daher ist die Bindung an den Ausbildungsberuf trotz bestehenden inhaltlichen Interesses gering. Konträr zur erstgenannten Typisierung wird die Entscheidung nicht als letzte Alternative oder ausweglos thematisiert. Sanktionen aus dem sozialen Umfeld werden zum Teil erfahren, welche in ein krisenhaftes Erleben münden können. Bei diesem Typus wird besonders die Orientierung am Akademiker*innenstatus der Eltern deutlich und der (implizite) Wunsch, diesen Status auch zu erreichen. Zwar scheinen die Eltern nicht direkt Einfluss zu nehmen, dennoch ist die Orientierung hin zum Studium deutlich erkennbar, was die o. g. These der Vererbung von Qualifikationsniveaus stützt (vgl. Beinke 2000; Langness/Leven/Hurrelmann 2006). In der Lebenswelt Familie werden Selbstverständlichkeiten tradiert, die Einfluss auf die beruflichen Aspirationen haben (vgl. Kap. 2).
Tabelle 3: Typen unkonventioneller Berufswahlentscheidungen
Der zweite Haupttypus (II) ist durch eine unkonventionelle Berufsorientierung vor oder bei der Berufswahlentscheidung charakterisiert. Diese wurde von den Befragten zum einen zur Verwirklichung der eigenen unkonventionellen beruflichen Absichten (IIa) getroffen (vgl. Anna) oder zum anderen durch die Modifikation der eigenen geschlechtskonventionellen Orientierungen (IIb) hin zu einem geschlechtsunkonventionellen Berufsfeld (vgl. Jana).
Die Fallbeispiele des erstgenannten Typs (IIa) weisen eine sehr starke familiäre berufliche Prägung auf und zeigen zugleich ein hohes berufliches Explorationsverhalten. Konträr zu den bereits beschriebenen Typisierungen erfolgt die Wahl nicht aus Alternativlosigkeit heraus oder als Überbrückungsmöglichkeit, sondern stellt eine bewusste Entscheidung für den unkonventionellen Beruf dar. Diese zieht in der Folge zum Teil starke Sanktionen seitens des sozialen Umfeldes nach sich. Die Befragten schildern in diesem Kontext krisenhafte Erlebnisse und Auseinandersetzungen vor allem in den Lebenswelten Peers und Beruf. Dennoch halten sie an ihrer beruflichen Absicht fest und haben eine starke Bindung an den Beruf. Sie weisen deutlich eine erarbeitete Identität auf. Zwar ist die frühe familiäre Prägung ein wichtiger Ausgangspunkt der Entwicklung beruflicher Interessen. Sie explorieren allerdings in hohem Maße auch in konventionellen Berufen – u. a. weil sie sich der Unkonventionalität bewusst sind und mit Sanktionen rechnen bzw. diese bereits spüren. Diese konventionellen Berufe explorieren sie nicht der Eltern wegen, sondern eher aufgrund der lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten, die insb. den Peergruppen und im schulischen und betrieblichen Kontext (v. a. im Rahmen von Praktika) tradiert werden. Das von außen beeinflusste Explorationsverhalten führt in eine Krise, welche in eine Rückbesinnung auf die kindlichen Orientierungen mündet und zu einer verstärkten Bindung an den gewählten Beruf führt.
Diese Tendenzen zeigen sich auch beim letzten Typ (IIb). Der frühe kindliche geschlechtskonventionelle Berufswunsch wird durch die Sozialisationserfahrungen in der Lebenswelt Familie beeinflusst. Diesen Typ charakterisiert aber eine Abkehr von diesen frühen konventionellen hin zu einer geschlechtsunkonventionellen beruflichen Orientierung. Berufliches Explorationsverhalten ist gegeben, jedoch nicht in hohem Maße. Sie entwickeln früh ein Interesse an einem geschlechtskonventionellen Tätigkeitsfeld, können dieses aber nicht erschließen und modifizieren daher ihre subjektiv akzeptierte Geschlechtsgrenze (vgl. Gottfredson 1981), sodass weitere berufliche Optionen wieder möglich werden. Dieser Erschließungsprozess bringt eine Bindung an den Beruf mit sich und seitens der Befragten wurde ein Interesse am neuen Beruf geäußert. Sanktionen oder krisenhafte Erfahrung haben die Jugendlichen nur zum Teil erfahren.
7 Zusammenfassung, Fazit und Ausblick
Die vorliegende Studie hat gezeigt, dass eine lebensweltorientierte Berufswahlforschung fruchtbar sein kann. Es zeigt sich insb. ein enger Zusammenhang zwischen der Lebenswelt Familie, den dort tradierten Normalitätsvorstellungen und der eigenen beruflichen Orientierung der jungen Erwachsenen. Lebensweltliche Konstruktionen (wie Berufsprestige, Selbstkonzept oder Geschlechtstyp in Gottfredsons Theorie) sind das Resultat intersubjektiver Kommunikation und Auseinandersetzung mit der (insb. sozialen) Umwelt (vgl. Götzl/Jahn 2017). Lebenswelt besteht aus „persönlichen, subjektiven Erfahrungs- und Vorstellungskonstruktionen (…), die bei allen Menschen in gemeinsame Erfahrungen und Vorstellungen eingebettet sind. (…) Jedes Individuum greift andere Möglichkeiten aus dem Horizont der Lebenswelt heraus – was auch bedeuten kann, daß andere Auslegungen und Möglichkeiten nicht mehr wahrnehmbar sind“ (Muckel/Grubitzsch 1993, 130). So üben familiäre Rollenmodelle und Bezugspersonen (z. B. Väter) – insbesondere bei den jungen Frauen (IIa) – Einfluss auf die Wahl der beruflichen Ausbildung aus. Die vorberufliche Sozialisation durch handwerkliche oder technische Tätigkeiten seitens der Väter oder Großväter, hat bei einigen Frauen ein frühes Interesse geweckt, sich bewusst für eine unkonventionelle Berufsausbildung zu entscheiden. Hier zeigt sich die Orientierung an den Rollenmodellen der männlichen Familienmitglieder. Bei den Männern (Ib) zeigt sich dieses Bild nicht bzw. nicht reflektiert. Sie erwähnen zwar ferne Verwandte (z. B. Onkel), welche eine berufliche Orientierungsfunktion haben. Diese ist jedoch nicht vergleichbar mit der starken Vorbildfunktion der Väter, wie es bei den Frauen (IIa) zu beobachten ist. Vielmehr zeigt sich eine Bestrebung der Männer, dem sozioökonomischen Status ihrer Lebenswelt Familie mindestens zu entsprechen. Ihre beruflichen Ambitionen sind durch die akademischen Berufe der Eltern geprägt. Hier zeigt sich der Wunsch nach der Akzeptanz durch die lebensweltliche Umwelt. Die Selbstverständlichkeiten der familiären Lebenswelt wirken – aber jeweils anders: beim Typ der „Verwirklicherinnen“ als inhaltlicher Bezugspunkt, beim Typ der „Überbrücker“ über Prestige und Status. Ob es Zufall ist, dass der eine Typ weiblich und der andere männlich dominiert wird, muss hier offenbleiben. Festzuhalten bleibt jedoch, dass nach Kraus (2006) die Lebenswelten der jungen Erwachsenen in zweifacher Weise betrachtet werden sollten. Es ist nicht nur entscheidend was als Lebenswelt wahrgenommen wird, sondern auch vor allem wie es von dem Individuum aufgefasst wird. Somit kann eine ähnliche berufliche Sozialisation mittels der familiären Lebenswelt durch die individuelle Wahrnehmung einen differenzierten Einfluss haben.
Trotz des zunehmenden Entfremdungsprozesses von der Familie in der Adoleszenz und der damit einhergehenden Stärkung gleichaltriger Beziehungen, wurde der Einfluss der Peers auf die Berufswahl weniger stark kommuniziert. Sie dienen weniger zur Orientierung beim Entdecken von beruflichen Alternativen, sondern vor allem zum Abgleich potentieller Optionen mit den Normalitätsvorstellungen und gemeinsamen lebensweltlichen Konstruktionen der Peers. Hier ist also das Streben nach Akzeptanz in der Lebenswelt der Peers von Relevanz. So werden von den Jugendlichen zum Teil geschlechtskonventionelle berufliche Explorationen vorgenommen, um sich dem Druck des direkten sozialen Umfeldes – gerade des Freundes- und Bekanntenkreises – zu beugen. Auch geht es um den vermeintlichen Bruch mit den lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten. Die Bestrebungen, diesen Selbstverständlichkeiten gerecht zu werden, münden dann jedoch in krisenhafte Erlebnisse, da sie dem Selbstbild widerstreben (IIa).
Ein interessantes Ergebnis der Untersuchung ist zudem, dass die Lebenswelt der Schule (Unterricht oder Lehrkräfte) nahezu keine Relevanz in den Narrationen der Jugendlichen hat. Trotz ihrer Funktion der objektiven Wissensvermittlung, geht aus den Befragungen kein Einfluss auf das Berufswahlverhalten hervor. Die jungen Erwachsenen scheinen ihre berufliche Orientierung aus subjektiven und intersubjektiven Alltagswissen der Lebenswelt Familie zu ziehen. Hier zeigt sich, dass der sozioökonomische Status und die Bildung der Eltern in der Berufsorientierung noch immer unterschätzt werden.
So wie in Gottfredsons (1981) Berufswahltheorie formuliert, erfolgte bei den befragten Personen die Berufswahlentscheidung überwiegend durch den Ausschluss negativer Berufsalternativen. Sie erschließen sich in Anlehnung an Schütz (1957) erstmals ihre eigene berufliche Lebenswelt, indem sie vor dem Hintergrund ihres Alltagswissens und den familiär tradierten Selbstverständlichkeiten, erste eigene (vor)berufliche Erfahrungen sammeln und sich somit über die „Wirkwelt“ ihrer beruflichen Lebenswelt nähern. Sie wechseln also aus dem Modus der mittelbaren Erfahrung (von anderen übernommene abstrakte Vorstellung über die berufliche Lebenswelt) in den Modus unmittelbarer Erfahrung (vgl. Götzl/Jahn 2017). Es zeigte sich, dass die Proband*innen die erste Berufswahlentscheidung mehrheitlich unabhängig von bzw. entgegen der gesellschaftlichen Geschlechtskonventionen getroffen haben, weil ihr tatsächliches Interesse am Tätigkeitsfeld – teilweise geprägt durch Rollenmodelle – besonders hoch war oder es ihnen an Reflexion und beruflichen Alternativen mangelte, weshalb sie berufliche Kompromisse eingehen mussten. Diese Faktoren führten letztendlich auch dazu, dass die geschlechtsspezifische horizontale Segregation des Ausbildungs- und Arbeitsmarktes in diesen Einzelfällen überwunden wurde. Dabei kommt es aber nicht nur zum Ausschluss von Alternativen, sondern es zeigt sich auch, dass mit den akzeptablen Geschlechts- und Prestigegrenzen gearbeitet wird. Sie sind den Befunden nach nicht fix, sondern werden im Zweifel (temporär) modifiziert, um bestimmte gewünschte berufliche Optionen oder Interessen zu realisieren oder verwirklichen.
Es zeigt sich aber auch, dass es einen Teil der unkonventionellen Auszubildenden gibt, die in diesen Beruf unbewusst und unreflektiert geraten sind. Trotz starker Exploration verbleiben sie orientierungslos in diffuser Identität oder übernehmen bzw. integrieren die letzte verfügbare Alternative in ihr Selbst und bauen eine Bindung zum Beruf auf. Es ist zu erwarten, dass gerade die ungewollt unkonventionellen Subtypen (zumindest teilweise) die Ausbildung und/oder den Beruf nach einiger Zeit wieder verlassen.
Es zeigt sich auch, dass bestimmte geschlechtsspezifische Stereotype als lebensweltliche Selbstverständlichkeiten berufliche Orientierungen und Deutungen beruflichen Wahlhandelns prägen und dass diese geschlechtsspezifischen Normalitätsvorstellungen auch mit Sanktionen verknüpft sind. Dies wird besonders in der betrieblichen Lebenswelt bzw. beim Übergang in diese deutlich: „Und ich habe halt nur eine Zusage bekommen von 50 Bewerbungen“ (Lisa; 21–22). „Also ich war bei drei Firmen, beim Probearbeiten und die Arbeitskollegen haben auch gesehen, dass ich wesentlich besser war als die anderen, aber da haben sie sich letztendlich für den Jungen entschieden“ (Lisa; 166–168). Allerdings sind nicht nur Mädchen mit diesen Vorurteilen und Sanktionen konfrontiert. So traf Tim auf Arbeitgeber, die pauschal nur einer weiblichen zahnmedizinischen Fachangestellten vertrauen: „Die wollte[n] einfach keine Jungs annehmen (…), haben sie auch einfach gesagt“ (Tim; 88–89).
Für weiterführende Untersuchungen wäre zu prüfen, ob sich die identifizierten Typen insb. in quantitativen Settings replizieren lassen. Damit ließen sich potentielle Einflussfaktoren identifizieren (z. B. Alter, Geschlecht, Schulabschluss, Beruf und Status der Eltern, Schulisches wirtschaftliches Umfeld) und (ggf. auch längsschnittlich) Zusammenhänge zu möglichen Wirkungen (Ausbildungserfolg, Berufswahlstabilität, Zufriedenheit, Commitment etc.) herstellen. Zudem wären auch qualitative längsschnittliche Befragungen von Ausbildungsbeginn bis zum -abschluss und darüber hinaus aufschlussreich, um die lebensgeschichtliche und berufsbiographische Bedeutung einer geschlechtsuntypischen Berufsorientierung beziehungsweise -entscheidung ganzheitlich analysieren zu können.
Literatur
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Barz, H./Tippelt, R. (2011): Lebenswelt, Lebenslage, Lebensstil und Erwachsenenbildung. In: Tippelt, R./von Hippel, A. (Hrsg.): Handbuch der Erwachsenenbildung Weiterbildung. Wiesbaden, 117-136.
Beinke, L. (2000): Elterneinfluß auf die Berufswahl. Bad Honnef.
Bergmann, D. (2020): Verwirklicht, entwickelt, diffus. Eine biografische Analyse der beruflichen Entwicklung von StudienabbrecherInnen. Berlin.
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Anhang: Weitere Fallbeschreibungen
Paula (Bäckerin) – „Deswegen habe ich mir hauptsächlich dann einen Beruf gesucht, der mir Spaß bringt“
Paula (20; Realschulabschluss) besuchte die Oberstufe mit dem Ziel, das Abitur abzulegen, scheiterte jedoch (Paula; 24-25). Ihre Mutter ist gelernte Friseurin und gegenwärtig im Einzelhandel tätig, ihr Vater ist Elektriker. Paulas Interesse für das Backhandwerk wurde bereits in ihrer Kindheit geweckt (Paula; 72; 75). Als Kind verfolgte Paula den geschlechtsspezifischen Berufswunsch der Tierärztin. Während der Schulzeit absolvierte sie ein Praktikum als Tierarzthelferin (Paula; 141-143). Paulas Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz als Tiermedizinische Fachangestellte blieben jedoch erfolglos. Weitere berufliche Ausbildungsalternativen explorierte sie erst nachdem ihr Wunschberuf, subjektiv bewertet, nicht mehr realisierbar war. Sie nutzte Berufsorientierungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, deren Ergebnisse sich jedoch nicht mit ihrem Selbstkonzept deckten: „War dann in zwei oder drei Maßnahmen (…) Das konnte ich mir alles allerdings nicht vorstellen“ (Paula; 26-28). Sie explorierte weitere geschlechtstypische Berufe (Rechtsanwaltsfachangestellte und Friseurin). Diese Phase der beruflichen Orientierungslosigkeit führte durchaus zu einer Krise. Paulas Interesse an einer Ausbildung zur Bäckerin entwickelte sich schließlich über ihre Leidenschaft als Hobbybäckerin (Paula; 28-31). Erste berufliche Erfahrungen sammelte sie während eines Praktikums bei der Bäckerinnung Hamburg: Da „(...) habe ich gemerkt, dass mir das echt liegt“ (Paula; 36-37). Paulas Entscheidung fiel dann bewusst geschlechtsuntypisch. Im Anschluss an ihr Praktikum begann Paula eine überbetriebliche Ausbildung zur Bäckerin bei der Bäckerinnung Hamburg (Paula; 119-120). Geschlechtsspezifische Überlegungen spielten direkt keine Rolle bei Paula. Paula erhielt aus ihrem sozialen Umfeld und insbesondere von ihrer Mutter große Unterstützung in ihrer Berufswahl. Sie selbst kann von keinen Negativerfahrungen in dem Beruf aufgrund ihrer Weiblichkeit berichten. Mit der Wahl des Ausbildungsberufes ist Paula sehr zufrieden, da korrespondiert mit ihrem Selbstkonzept (Paula; 87-91).
Paula hat verschiedene krisenhafte Erfahrungen (Kontaktabbruch zum Vater, Mobbing, Schulabbruch) in ihrer familiären und schulischen Lebenswelt durchlebt. Ihr berufliches Explorationsverhalten zunächst war erkennbar geschlechtskonventionell. Jedoch fielen Engagement und Mobilitätsbereitschaft zu gering aus, um berufliche Alternativen aus diesem Optionsraum faktisch zu erschließen. Scheinbar eher zufällig reaktivierte sich nach einer Phase der beruflichen Verunsicherung ihr (kindliches) Interesse am Backen und ihr darauf bezogenes Selbstkonzept im Rahmen eines Praktikums, was zu einer geschlechtsuntypischen Berufsentscheidung führte, ohne dass Geschlechtlichkeit eine Rolle spielte. Zum Zeitpunkt der Berufswahlentscheidung befindet sich Paula im Übergang von diffuser zu übernommener beruflicher Identität.
Antje – „Ich habe noch viel Zeit, wenn man noch jung ist. Ich könnte noch vieles machen“
Antjes (17; Hauptschulabschluss) Mutter ist Bürokauffrau, der Vater arbeitet als Angestellter. Sie hat eine jüngere Schwester (11) und einen älteren Bruder (20). Das Interesse am Backen erwuchs schon im Kindesalter, weil Antjes Oma und Mutter sie beim Backen stets eingebunden hatten (Antje; 19-22). Geschlechtsinduzierte Sanktionierungen und ungerechte Behandlung erfuhr sie durch ihren Großvater: „Bei meinem Opa ist das immer (…). Für ihn sind Jungs immer besser“ (Antje; 216). Weiterhin legt die Familie viel Wert auf hohe Schulabschlüsse. Ein Anspruch, dem Antje nicht gerecht werden konnte. In einem Praktikum erkundet sie geschlechtstypisch den Erzieherinnenberuf im Kindergarten. Im Backhandwerk fand sie jedoch die höchste Übereinstimmung mit ihrem Selbstkonzept. Antjes Engagement um den von ihr präferierten Ausbildungsplatz als Konditorin blieb erfolglos. Sie traf die Entscheidung für die geschlechtsuntypische Ausbildung zur Bäckerin dann spontan, unreflektiert und gezwungen, da es die letzte verfügbare Alternative war: „Einfach spontan reingekommen. Mal gucken was passiert“ (Antje; 62). Antje fühlt sich als Bäckerin gesellschaftlich angesehen (Antje; 288-290). Vor dem familiären Hintergrund erscheint das Erfahren von Anerkennung ihrer Leistung für Antje als wichtig. Sie bezeichnet den Beruf aber auch als „Knochenjob“ (Antje; 43). Trotz der körperlichen Hürden, fühlt sie sich auch von den Kollegen wertgeschätzt (Antje; 31-32). Ihr unmittelbarer Freundeskreis reagierte sehr motivierend. Die berufliche Erstausbildung nutzt Antje, um primär später den Realschulabschluss zu erlangen und den hohen Ansprüchen der Familie gerecht zu werden. Aufstiegsaspirationen innerhalb ihres Berufs verfolgt Antje gegenwärtig nicht. Sie will sich aber auch beruflich noch nicht festlegen: „Ich habe noch viel Zeit, wenn man noch jung ist.“ (Antje; 253-254).
Zum Zeitpunkt der Berufswahlentscheidung zeigt Antje tendenziell eine übernommene berufliche Identität. Explorationsverhalten und berufliche Krisenerlebnisse waren nur gering ausgeprägt. Sie bindet sich an die einzig verfügbare Alternative. Über die Zeit hat sie sich in die Richtung der beruflichen Diffusion entwickelt. Die Bindung an den Beruf geht, trotz der sozialen Anerkennung, zurück. Sie erscheint unsicher, wohin sie sich entwickeln möchte. Sie glaubt aber, dass sie in der beruflichen Lebenswelt einer Bäckerin nicht den Ansprüchen ihrer Familie gerecht werden kann. Sie beginnt gedanklich berufliche Alternativen zu explorieren, ohne dass damit eine Krise verbunden wäre. Es mangelt ihr an Zielorientierung.
Tina – „Das war (...) schon das was ich gesucht habe. Das kleine Bisschen Extravaganz in einem technischen Beruf (…)“
Tinas (20; Abitur) Mutter ist gelernte Maurerin und arbeitet als Berufsschullehrerin. Ihr Vater ist ebenfalls Maurer und gegenwärtig als Bauingenieur tätig. Sie hat einen Bruder (14) und eine Schwester (3). Die Eltern leben getrennt. Die Mutter arbeitete in einem geschlechtsuntypischen Beruf und gab ihre Erfahrungen an Tina weiter. Auch durch den Einfluss des Großvaters entwickelte Tina schon als Kind ein technisches Interesse und die Affinität für Maschinen (Tina; 22-24). Bereits in dieser frühen Phase war Tina auf geschlechtsuntypische Berufe geprägt. Ihre Berufsorientierung war dadurch bestimmt, dass das Tätigkeitsfeld weitestgehend feststand: Sie hat „(...) sehr viel mitgekriegt, was [sie] in die technische Richtung gequetscht hat“ (Tina; 24). Insbesondere der Mutter war es wichtig, dass ihre Kinder eine Berufsausbildung absolvieren (Tina; 72): „Also mir ist das teilweise gegen den Strich gelaufen, weil ich für mich selber festlegen wollte, in welche Richtung ich gehen möchte“ (Tina; 78-80). Tina durchlebte eine intensive Auseinandersetzung mit verschiedenen Berufsbildern (Tina; 86-88). Sie explorierte viele Ausbildungsalternativen. Der Optionsraum der technischen Ausbildungen reduzierte sich jedoch, da die verfügbaren Berufsbilder subjektiv bewertet „nicht das besondere etwas [hatten]“ (Tina; 112). Zum Berufsbild der Verfahrensmechanikerin kam Tina durch einen Bekannten: „Und das was er erzählt hatte, das war (...) schon das was ich gesucht habe“ (Tina; 35-39). Die Angst, die einzige Frau in einem männlich dominierten Arbeitsumfeld zu sein, spielte für Tina keine Rolle. Damit fiel die Entscheidung für den Ausbildungsberuf geschlechtsuntypisch. Belastend waren die Reaktionen aus dem unmittelbaren sozialen Umfeld. Viele Freunde reagierten ablehnend: „Mein Freundeskreis hat sich sehr stark gewandelt“ (Tina; 174). In ihrem Arbeitsumfeld ergaben sich anfänglich Probleme, die zunächst ein berufliches Unwohlsein auslösten (Tina; 249). Mittlerweile erkennen die männlichen Kollegen Tina an. Für ihre berufliche Zukunft exploriert Tina weitere Optionen (z. B. Studium zur Berufsschullehrerin) (Tina; 302-305).
Aufgrund ihres hohen technischen Interesses ist eine Abkehr vom technischen Berufsfeld weniger zu erwarten. Aufstiegsambitionen sind vorhanden. Tinas berufliche Sozialisation ist stark durch das Modell der Mutter und den Großvater geprägt. Zu Beginn der Berufsorientierung war ihre berufliche Identität daher eher als übernommen zu charakterisieren. Den antizipierten Krisen ging Tina nicht aus dem Weg, sondern nahm sie auf sich. Die Krisenerlebnisse sowie ihr ausgeprägtes Explorationsverhalten führten zur Entwicklung einer erarbeiteten beruflichen Identität zum Zeitpunkt der Erstberufswahlentscheidung. Ihr Bruch mit den geschlechtstypischen Normalitätsvorstellungen des sozialen Umfeldes sowohl in der Lebenswelt Peer Group als auch in der betrieblichen Lebenswelt führt zwar zu latenten Sanktionen und zu
Lisa – „Und das hat mir schon echt viel Spaß gemacht, weil sie mir da auch Sachen zugetraut haben“
Lisas (19; Realschulabschluss) Interesse am Handwerk wurde früh geweckt, da sie oft „mit [ihrem] Opa und Papa in der Garage gewerkelt“ (Lisa; 42) hat. Das technische Interesse entwickelte sich bei Lisa aufgrund der beruflichen Tätigkeit ihres Vaters: „(…) Roboter zusammenbauen und die Anlagen programmieren. Das fand ich halt als kleines Kind auch mega interessant“ (Lisa; 44-45). Ihr Interesse an einem technischen Beruf festigte Lisa durch ein Schulpraktikum im Beruf der Zerspanerin. Auch ihre Ausbildungsalternativen als „Industriemechaniker, Werkzeugmacher und sowas“ (Lisa; 156) machen ihre Affinität zur Technik deutlich. Sie hat aber auch das Berufsbild der Kindergärtnerin exploriert, das jedoch aufgrund der Arbeitsbedingungen keine Option für Lisa darstellte (Lisa; 194-196). Lisas Berufsorientierung war dann dadurch beschränkt, dass das Tätigkeitsfeld aufgrund der familiären Prägung feststand. Ihr darauf basierendes Selbstkonzept stimmte in hohem Maß mit dem Berufskonzept überein (Lisa; 56-58). Die konkrete Entscheidung für die Ausbildung zur Zerspanungsmechanikerin fiel, weil es die einzige verfügbare Alternative war: „Und ich habe halt nur eine Zusage bekommen von 50 Bewerbungen“ (Lisa; 21-22). Die geringe Resonanz seitens der Unternehmen und Lisas geschlechtsbedingte Negativerfahrungen vergegenwärtigen die geschlechtsspezifische Segregation des Arbeitsmarktes: „Also ich war bei drei Firmen beim Probearbeiten und die Arbeitskollegen haben auch gesehen, dass ich wesentlich besser war als die anderen, aber da haben sie sich letztendlich für den Jungen entschieden“ (Lisa;166-168). Hieraus folgte eine erste krisenhafte berufliche Verunsicherung. Aus ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld erfuhr sie keinerlei Sanktionierungen. Einzig das Verhältnis zwischen Lisa und ihrem Ausbilder ist – vermutlich aufgrund ihrer Weiblichkeit – sehr angespannt. Abwertende Bemerkungen wirkten belastend und lösten krisenhafte Momente bei Lisa aus. Gleichwohl ist sie höchst motiviert ihre berufliche Karriere voranzubringen. Weiteren geschlechtsbedingten Krisen möchte Lisa aus dem Weg gehen und sieht hierfür ihre Chance in der Anonymität großer Betriebe (Lisa; 290; 296). Ihre Aufstiegsambitionen sind erkennbar.
Lisas Identitätsstadium zum Zeitpunkt der Erstberufswahlentscheidung ist eher als übernommen zu charakterisieren. Auch wenn sie ein geschlechtstypisches Berufsfeld erkundete, war ihr Explorationsverhalten eher gering ausgeprägt. Sie fühlt sich durch den Einfluss des Vater-Modells dem technischen Berufsfeld verpflichtet, sodass Lisa ein hohes Engagement aufbringen kann. Lisa erlebte latente und direkte Sanktionierungen in der betrieblichen, (vor-)beruflichen Lebenswelt. Dies krisenhaften beruflichen Erfahrungen führen in ihrer weiteren Entwicklung zu einer erarbeiteten Identität.
Paula – „Deswegen habe ich mir hauptsächlich dann einen Beruf gesucht, der mir Spaß bringt“
Paula (20; Realschulabschluss) besuchte die Oberstufe mit dem Ziel, das Abitur abzulegen, scheiterte jedoch (Paula; 24-25). Ihre Mutter ist gelernte Friseurin und gegenwärtig im Einzelhandel tätig. Paulas Vater hat ist Elektriker. Paulas Interesse für das Backhandwerk wurde bereits in ihrer Kindheit geweckt (Paula; 72; 75). Als Kind verfolgte Paula den geschlechtsspezifischen Berufswunsch der Tierärztin. Während der Schulzeit absolvierte sie ein Praktikum als Tierarzthelferin (Paula; 141-143). Paulas Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz als Tiermedizinische Fachangestellte blieben jedoch erfolglos. Berufliche Ausbildungsalternativen explorierte Paula erst nachdem ihr Wunschberuf, subjektiv bewertet, nicht mehr realisierbar war. Sie nutzte die Berufsorientierungsmaßnahmen der Bundesagentur für Arbeit, deren Ergebnisse sich jedoch nicht mit ihrem Selbstkonzept deckten: „War dann in zwei oder drei Maßnahmen (…) Das konnte ich mir alles allerdings nicht vorstellen“ (Paula; 26-28). Sie explorierte weitere geschlechtstypische Berufe (Rechtsanwaltsfachangestellte und Friseurin). Diese Phase der beruflichen Orientierungslosigkeit führte durchaus zu einer Krise. Ihr Interesse an einer Ausbildung zur Bäckerin entwickelte sich schließlich über Paulas Leidenschaft als Hobbybäckerin (Paula; 28-31). Erste berufliche Erfahrungen sammelte sie während eines Praktikums bei der Bäckerinnung Hamburg: Da „(...) habe ich gemerkt, dass mir das echt liegt“ (Paula; 36-37). Paulas Entscheidung fiel dann bewusst geschlechtsuntypisch. Im Anschluss an ihr Praktikum begann Paula eine überbetriebliche Ausbildung zur Bäckerin bei der Bäckerinnung Hamburg (Paula; 119-120). Geschlechtsspezifische Überlegungen spielten direkt keine Rolle bei Paula. Paula erhielt aus ihrem sozialen Umfeld und insbesondere von ihrer Mutter vollste Unterstützung in ihrer Berufswahl. Sie selbst kann von keinen Negativerfahrungen in dem Beruf aufgrund ihrer Weiblichkeit berichten. Mit der Wahl des Ausbildungsberufes ist Paula sehr zufrieden. Er korrespondiert mit ihrem Selbstkonzept (Paula; 87-91).
Paula hat verschiedene krisenhafte Erfahrungen (Kontaktabbruch zum Vater, Mobbing, Schulabbruch) in ihrer familiären und schulischen Lebenswelt durchlebt. Ihr berufliches Explorationsverhalten zunächst war erkennbar geschlechtskonventionell. Jedoch fielen Engagement und Mobilitätsbereitschaft zu gering aus, um berufliche Alternativen aus diesem Optionsraum faktisch zu erschließen. Scheinbar eher zufällig reaktivierte sich nach einer Phase der beruflichen Verunsicherung ihr (kindliches) Interesse am Backen und ihr darauf bezogenes Selbstkonzept im Rahmen eines Praktikums, was zu einer geschlechtsuntypischen Berufsentscheidung führte, ohne dass Geschlechtlichkeit eine Rolle spielte. Zum Zeitpunkt der Berufswahlentscheidung befindet sich Paula im Übergang von diffuser zu übernommener beruflicher Identität.
Paul – „Und das nur zu machen damit man etwas macht, wo man sagen kann, man vergeudet nicht die Zeit“
Pauls (22; Abitur) Vater ist Nachhilfelehrer für Naturwissenschaften. Er hat einen älteren Bruder (25). Als Kind verfolgte Paul den Berufswunsch des Tierarztes. Sein Interesse am medizinischen Berufsfeld entwickelte sich im Kindesalter. Der Vater prägte Paul stark in seinem naturwissenschaftlichen Interesse: „Mathematik hat mir immer sehr gelegen (…), mein Vater hatte immer mich das von klein auf unterrichtet “ (Paul; 68-70). Während der Schulzeit explorierte Paul berufliche Tätigkeiten im Gesundheits- und Pflegebereich sowie in der Zahnmedizin und verfestigte damit sein berufliches Interesse (Paul; 532-534). Die Praktika blieben die einzigen beruflichen Aktivitäten. Nach dem Abitur verfiel Paul in eine Phase der beruflichen Orientierungslosigkeit: „Ich habe (...) eigentlich nicht genau gewusst, was ich machen soll“ (Paul; 16-17). Paul zog nach Hamburg und entschloss sich für ein Studium der Betriebswirtschaftslehre (BWL) (Paul; 26-31). Jedoch fühlte er sich damit unwohl und entschied das Studium abzubrechen. „Und (...) und dann bin ich tatsächlich auf Zahnmedizin gekommen“ (Paul; 142-143). Er informierte sich aktiv, scheiterte jedoch am universitären Auswahlverfahren (Paul; 231-239). Im Anschluss entschloss er sich eine berufliche Erstausbildung als ZFA zu absolvieren (Paul; 261-284). Geschlechtsspezifische Überlegungen haben für Paul keine Rolle gespielt. Insgesamt verfügt Paul schon über ein festes berufliches Interesse am Berufsfeld der Zahnmedizin, jedoch für das Berufsbild des ZFA entschied er sich nicht mit der Absicht, diesen später auch auszuüben, sondern als „Lückenfüller“ bis zum nächsten Zulassungstest an der Universität (Paul; 286-289). Gesellschaftliche Sanktionierungen hat Paul nicht erfahren. Bei den Patienten fällt Paul auf und wird auch aktiv auf seine Berufsrolle in der Praxis angesprochen (Paul; 314-315).
Zum Zeitpunkt der Erstberufswahlentscheidung befindet sich Pauls Identität im beruflichen Moratorium. Die beruflichen Tätigkeiten in der Ausbildung unterstützen seine Aufstiegsambitionen und verfestigten die Bindung an das Berufsfeld der Zahnmedizin, wohl aber nicht die Bindung an das Berufsbild des ZFA. Es ist von einer Berufsorientierung zu sprechen. Paul sah sich mit persönlichen sowie beruflichen Krisensituationen konfrontiert. Sein Identitätsstadium tendiert zu einer erarbeiteten Identität sofern Pauls Engagement im Studium erfüllt wird.
Jan – „der festen Überzeugung (…), dass Zahnarzt der perfekte Beruf für mich ist“
Jans (17; Hauptschulabschluss) Mutter arbeitet als Pflegeleitung. Der Vater ist Erzieher und selbstständig tätig. Als Kind verfolgte Jan eher geschlechtsneutralen Berufswunsch des Kinderarztes. Ein Praktikum blieb ihm verwehrt, dafür entschied er sich spontan für ein Praktikum in einer Zahnarztpraxis. Die dort gesammelten Erfahrungen haben ihn von dem Berufsfeld der Zahnmedizin „dann sehr überzeugt“ (Jan; 25). Jan absolvierte noch ein weiteres Schulpraktikum im Berufsfeld der Pädagogik. Weiteren Nebenjobs oder Schülertätigkeiten ging Jan nicht nach. Nach diesen aktiven beruflichen Explorationstätigkeiten verfestigte sich Jans medizinisches Interesse und er entschied sich aufgrund der hohen Übereinstimmung mit seinem Selbstkonzept dazu, das Berufsfeld der Zahnmedizin zu fokussieren: „(…) weil ich gut mit Menschen umgehen kann und gute Sozialkompetenzen habe (...) ist der Beruf auf jeden Fall das richtige“ (Jan; 48-50). Über zwei Jahre absolvierte er freiwillige Praktika in verschiedenen Zahnarztpraxen. Jan traf bewusst die geschlechtsuntypische Erstberufswahlentscheidung zum ZFA. Weder die Geschlechtskonventionen noch das Berufsprestige als ZFA spielten eine Rolle. Jan erfuhr nur positive Rückmeldungen aus seinem sozialen Umfeld. Die gesellschaftlichen Geschlechtskonventionen und die horizontale Segregation des Arbeitsmarktes treten für Jan in seiner beruflichen Lebenswelt deutlich in Erscheinung. Die Patienten verwechseln Jan oft mit dem Zahnarzt und sind dann positiv überrascht, dass er der Assistent für die Behandlung ist (Jan; 118-128). „Und ich weiß nicht - irgendwie wirken die dadurch beruhigter“ (Jan; 129-130).
Zum Zeitpunkt der Berufswahlentscheidung zeigt Jan eine erarbeitete berufliche Identität. Familiäre Prägungen können vermutet werden. Jan explorierte ausgiebig aus eigenem Engagement, um eine reflektierte und fundierte Erstberufswahlentscheidung treffen zu können. Zudem hat er einen starken Fokus auf die Zahnmedizin. Aufgrund seiner Aufstiegsambitionen ist Jans Explorationsverhalten noch nicht abgeschlossen. Krisenzustände hat er keine durchlebt.
Hassan – „Ich habe den Beruf gewählt, weil ich halt in Deutschland bin“
Hassans (19; Realschulabschluss) Mutter ist Lehrerin, der Vater Jurist. Hassan hat drei Geschwister: einen Zwillingsbruder (19), eine Schwester (21) und einen älteren Bruder (26), der als IT-Ingenieur in der Türkei arbeitet. Die Familie flüchtete aus Syrien. Als Kind wollte er Lehrer werden. Später fokussierte er das berufliche Ziel des Flugzeugingenieurs. In der Schule in Deutschland absolvierte er zwei Praktika: im Maschinenbau und in einer Apotheke. Ersteres verwarf er als Berufsoption aufgrund der Arbeitsbedingungen (Hassan; 248-249). Für die Arbeit in der Apotheke entwickelte Hassan ein berufliches Interesse, auch weil er seinem Onkel im Drogeriemarkt ausgeholfen hatte: „Also den Wareneingang halt verbucht, also wie in der Apotheke. (…) Und vorne auch geräumt.“ (Hassan; 36-39). Weitere berufliche Alternativen explorierte Hassan nicht. Letztlich traf Hassan die geschlechtsuntypische Erstberufswahlentscheidung zum PKA. Dass dieses Berufsbild sehr weiblich geprägt ist, verursachte ein Unbehagen bei ihm: „Also am Anfang habe ich mich gar nicht wohlgefühlt. Aber ich wunderte mich halt, dass da nur Mädchen sind“ (Hassan; 121-122). Aus seinem unmittelbarem sozialem Umfeld hat Hassan negative Rückmeldungen bezüglich seiner Berufswahl bekommen. Den Eltern gefiel Hassans Berufsentscheidung nicht: „Also meine Eltern haben das so (...) aber ja wollen das auch gar nicht“ (Hassan; 110). Die Geschwister äußerten sich nicht dazu. Die Ablehnung der Berufswahl könnte, bedingt durch die kulturelle Herkunft, auf geschlechtsspezifischen Ansichten fußen. Gleichwohl kann vermutet werden, dass die Eltern Hassan in einer akademischen Berufslaufbahn sehen. Diese Ansicht spricht dafür, dass Hassan nach dem Abschluss seiner Ausbildung zum PKA das Abitur nachholen will, um später seinen Traumberuf des Flugzeugingenieurs zu realisieren (Hassan; 274-276).
Die Flucht und das neue Leben in einem fremden Land haben bei Hassan ein nachhaltig wirkendes Krisenerlebnis ausgelöst, das auch seine berufliche Orientierungsphase beeinflusste. Entgegen seiner beruflichen Ziele entschied er sich für die einzige verfügbare Berufsoption. Die Bindung an das Berufsbild des PKA ist sehr gering. Hassan zeigt Aufstiegsambitionen. Das Stadium der beruflichen Identität zum Zeitpunkt der Erstberufswahlentscheidung ist als Moratorium zu bewerten.
Zitieren des Beitrags
Demel, T./Richter, K. E./Jahn, R. (2020): Junge Erwachsene als Berufsexoten. Lebensweltliche Perspektiven auf geschlechtsunkonventionelle Berufswahlprozesse. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 38, 1-28. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe38/demel_etal_bwpat38.pdf (24.06.2020).