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bwp@ 40 - Juli 2021
Didaktisierung des Digitalen: Zur Entwicklung berufs- und wirtschaftspädagogischer Studiengänge
Hrsg.:
, , &Denken mit dem Stift?! – Digitale Visualisierungsprozesse als Zugang zu komplexen wirtschafts- und berufspädagogischen Themenfeldern
Ausgehend von grundlegenden Fragen digitaler Transformation widmet sich der Beitrag der Frage, ob digitale Visualisierungen und visuelle Prozessbegleitungen vor diesem Hintergrund dazu beitragen können, einen vertieften Zugang zu komplexen Themenfeldern zu ermöglichen. Zur Auslotung möglicher Potenziale werden dabei explizit zwei Perspektiven in wirtschafts- und berufspädagogischen Themenfeldern aufgenommen, eine (hochschul)didaktische Perspektive und eine Forschungsperspektive. Aus einer hochschuldidaktischen Perspektive wurde etwa eine Workshopreihe entwickelt, welche Studierenden die grundlegenden Visualisierungs-Techniken (Sketchnotes) näherbringen sollte und sie diese Techniken zur Annäherung an einen Forschungsansatz erproben ließ. Auf diese Weise wurde das Thema, welchem sich die Studierenden annähern sollten, kontinuierlich und mit unterschiedlichen Bezügen visuell (gestützt) reflektiert. Der Beitrag stellt das Konzept der Workshopreihe dar, reflektiert die zugrundeliegenden Potenziale für die Hochschullehre und gibt als weiteres Themenfeld Einblick in die Überführung in die Lehrer*innenfortbildung. Aus der zweiten Perspektive war es Ziel eines begleitenden Forschungsvorhabens, die visuellen Reflexionsprozesse aufzudecken und die Verbindungen zwischen Visualisierung und Reflexionsvorgang zu analysieren. Zu diesem Zweck wurden sogenannte ‚visuell-reflexive Interviews‘ ein- und durchgeführt. Aufbauend wurden im Kontext rekonstruktiver Sozialforschung im Rahmen eines weiteren Forschungsprojekts die Potenziale der Auswertung von sogenannten Viskursen in den Mittelpunkt gestellt und Datenerhebung und -auswertung von visuell-reflexiven Interviews weiter konturiert und elaboriert. Der Beitrag beschreibt mögliche Potenziale, welche in den visuellen Reflexionsprozessen und den mehrperspektivischen Interpretationsschritten liegen, skizziert exemplarisch zwei berufs- und wirtschaftspädagogische Kontexte und expliziert die hierfür erprobte Forschungsmethodik.
Thinking with a pen?! Digital visualisation processes as an access to complex issues in the field of Vocational Education and Training
Based on fundamental questions concerning digital transformation, the article deals with whether digital visualizations and visual process support can contribute to enable more extensive access to complex topics against this background. In order to determine possible potentials, two perspectives in business and vocational education are explicitly included: a (higher education) didactic perspective and a research perspective. From a higher education didactic perspective, a workshop series was developed. The workshop series aimed to introduce students to basic visualization techniques (sketchnotes) and to offer them techniques to achieve convergence to a research approach. In this way, the topic that the students were to approach was constantly visually reflected with different references. This article portrays the concept of the workshop series, reflects the underlying potentials of university teaching, and gives an impression of transferring this to teacher training as a further subject area. The aim of the accompanying research project, viewed from a second perspective, was to uncover the visual reflection processes and to analyze the connections between visualization and reflection processes. To reach this goal, so-called 'visual-reflexive interviews' were introduced and conducted. In the context of reconstructive social research, and as part of another research project, the focus was put on the potentials of the evaluation of the so-called 'Viskurse'. Besides, the data collection and evaluation of visual-reflexive interviews were further outlined and elaborated. The article describes the possible potentials of the visual reflection processes and the multi-perspective steps of interpretation. Furthermore, it exemplifies two vocational and business education contexts and concretizes the research methodology which was tested for this purpose.
1 Problemhinführung, Zielsetzung und Aufbau des Beitrags
Im Kontext der Auseinandersetzung mit den Konsequenzen einer zunehmenden Digitalisierung wird mittlerweile vielfach zwischen Digitization und digitaler Transformation unterschieden und damit auf einen zentralen Aspekt verwiesen: Während unter Digitization die reine Umwandlung analoger Daten in digitale Formate verstanden wird (vgl. Hess 2019, 18ff.), ist der Begriff digitaler Transformation deutlich weiter gefasst und entsprechend weniger klar abzugrenzen. So werden hierunter mitunter grundlegendere Veränderungsprozesse in der Lebens- und Arbeitswelt verstanden, welche auf digitale Technologien zurückzuführen sind, jedoch insbesondere die damit verbundenen Prozesse und (unvorhersehbaren) Konsequenzen für die Akteure fokussieren. Zu nennen sind als Beispiele etwa die zunehmenden Vernetzungen, der Umgang mit immer größeren Datenmengen (Big Data) oder etwa die Entwicklung künstlicher Intelligenz (vgl. Cole 2017, 1ff.). Auch wenn sich hier bereits die Tragweite der Entwicklungen andeutet, können Unsicherheiten auch als konstituierend gekennzeichnet werden. So sind die Prozesse keinesfalls abgeschlossen (und werden es auch nicht sein) und per definitionem letztlich immer ergebnisoffen oder eben nur retrospektiv einzuordnen. Dies lässt sich auch an dem Transformationsbegriff als solchem nachvollziehen und vertiefen. So lässt sich das Wort Transformation auf etymologischer Basis zunächst auf das lateinische Wort ‚transformare‘ zurückführen, was sich aus den Wörtern ‚trans‘ (= hinüber) und ‚formare‘ (= formieren, bilden) zusammensetzt und entsprechend mit ‚Umwandlung‘, ‚Umformung‘ oder aber ‚Umgestaltung‘ übersetzt werden kann (vgl. Duden 2021a). Hier schließt sich unmittelbar die Frage an, wer oder was den genannten Prozessen unterliegt und welche Perspektiven überhaupt aufgenommen werden.
In Rückbezug auf Elias lassen sich mit Blick auf derartig grundlegende Transformationen grundsätzlich zwei Perspektiven unterscheiden: „Von der früheren her gesehen, ist die spätere – in vielen, wenn auch nicht in allen Fällen – nur eine der Möglichkeiten ihrer Veränderungen. Von der späteren her gesehen, ist die frühere gewöhnlich eine der notwendigen Bedingungen ihres Zustandekommens.“ (Elias 2014, 192). Letztlich wird damit u. E. auch auf die Involviertheit der Akteure verwiesen, welche eben vorausschauend oder aber retrospektiv verbundene Transformationsprozesse reflexiv (zu) erfassen (suchen) und dadurch gleichsam eine reflexive Erhöhung begründen (vgl. hierzu auch Sloane 2007, 169).
Bezogen auf den Fokus dieses Beitrags kann digitale berufliche Bildung dementsprechend per se nicht nur die Frage der Vorbereitung auf den Einsatz digitaler Technologien und Werkzeuge umfassen, sondern weist u. E. zugleich auch immer eine inhaltliche und – damit verbunden – eben letztlich dispositionale sowie prozessuale Dimension auf (vgl. Sloane et al. 2018, 11ff.). Diese ist konkret zudem eben primär retrospektiv zu erfassen und einzuordnen. Der vorliegende Beitrag soll vor diesem Hintergrund zur Reflexion ebensolcher komplexer (Transformations-)Prozesse beitragen. Hierbei wird grundlegend einem Reflexionsverständnis nach Dilger gefolgt, welche den Reflexionsbegriff ausgehend von den lateinischen Wortursprüngen als „eine Haltung des Zurückbeugens der individuellen Aufmerksamkeit [beschreibt] […] (Dilger 2007, 8). Dilger führt dies wie folgt weiter aus: „Über die Reflexion gelingt es, Distanz zu schaffen und sie auch wieder zu überwinden, wenn durch die Reflexion eine Intervention in die Situation ausgelöst wird“ (Dilger 2007, 11). In Anlehnung an Czycholl wird dabei von einem zirkulären resp. rekursiven Verhältnis ausgegangen, bei dem dann eben sowohl Exteriorisierungs- als auch Interiorisierungsprozesse mit- und ineinander aufgehen und somit in letzter Konsequenz lediglich analytisch zu trennen sind (vgl. Dilger 2007, 39). Damit rücken automatisch auch (didaktische) Gestaltungsfragen, welche den Rahmen der aktuellen Ausgabe, in welcher dieser Beitrag erscheint, bilden, und deren Reflexion ins Zentrum der Auseinandersetzung.
Ausgangspunkt der vorliegenden Betrachtung ist die zunehmende Bedeutung und allgemein die Nutzung neuer Kommunikationsformen wie bspw. einer zunehmenden Bildsprache in digitalen Räumen, was in Begriffen wie ‚Sketchnotes‘, ‚Graphic Recording‘, ‚Visual Fasciliation‘ oder aber auch ‚Visual Thinking‘ Ausdruck findet. Daneben sind auch zunehmend Fähigkeiten, wie komplexe Sachverhalte komprimiert darzustellen und zu vermitteln, in digitalen Arbeits- und Lernwelten von Bedeutung. Unter den oben genannten Begriffen verbergen sich Ansätze, bspw. das Wesentliche von Vorträgen und Gruppen- bzw. Teamarbeitsprozessen mit Hilfe einfacher visueller Sprache festzuhalten. Gemeinsam ist diesen Ansätzen der Anspruch (häufig auch simultan) visuelle Kanäle zu nutzen, um Informationen und Inhalte möglichst präzise und reduziert darzustellen und darüber hinaus auch (Reflexions-)Prozesse anzuregen. Während entsprechende Ansätze im betrieblichen Kontext schon weit verbreitet sind, finden sie zunehmend auch Eingang in den Bildungsbereich (vgl. bspw. Roßa 2019, 5ff.).
Es stellt sich für Berufs- und Wirtschaftspädagog*innen hier die Herausforderung, entsprechend veränderte Sprach- und Kommunikationscodes einerseits zu erfassen und andererseits zu erkennen, dass diese – entsprechend der Ausrichtung der vorliegenden Ausgabe – wiederum Potenziale anbieten, um die obig skizzierten grundlegenden Transformationsprozesse aktiv zu gestalten. „So können die digitalen Visualisierungen [eben] dazu beitragen, (neue) Reflexionsanlässe zu schaffen. Bildsprache regt in diesem Verständnis zur Reflexion an, lädt darauf aufbauend zum Austausch ein.“ (Kückmann/Kremer 2019, 3). Unter dem Begriff ‚Visual Thinking‘ wird vor diesem Hintergrund allgemein die Nutzung visueller Elemente zur Anregung der (eigenen) Denkprozesse verstanden (vgl. Reed 2010, 1ff.). Ausgehend von diesen Grundgedanken werden der Erlernung und Nutzung einfacher visueller Sprache auch in Forschungskontexten sowie im Kontext von Lehr-/Lernprozessen und der damit verbundenen Annäherung an komplexe Fragen besondere Potenziale zugewiesen. So können in der Alltagssprache möglicherweise verdeckte differente Sinnzuschreibungen nicht nur aufgedeckt, sondern überhaupt erst zum zentralen Gegenstand von Lehr-/Lern- und Forschungsprozessen gemacht werden (vgl. Schwabl 2020, 114ff.). Möglichen Problemen einer Äquivokation wird auf diese Weise letztlich ein ganz eigenes Erkenntnispotenzial zugewiesen.
Zur ersten Auslotung möglicher Potenziale werden dabei nachfolgend explizit zwei Perspektiven aufgenommen. Aus einer hochschuldidaktischen Perspektive wurden etwa zwei Workshopkonzepte entwickelt, welche Studierenden der Wirtschaftspädagogik und Lehrkräften an Berufskollegs die grundlegenden Sketchnotes-Techniken näherbringen sollten und sie diese Techniken erproben ließen. Auf diese Weise wurden die jeweiligen Themen zudem mit unterschiedlichen Bezügen visuell (gestützt) reflektiert. Der Beitrag stellt die Konzepte dar und reflektiert darauf aufbauend die zugrundeliegenden Potenziale für die Hochschullehre und -weiterbildung. Auch aus einer Forschungsperspektive lassen sich – wie bereits adressiert – spezifische Potenziale ausmachen. So war es bspw. im Rahmen des Workshops Ziel des begleitenden Forschungsvorhabens, die visuellen Reflexionsprozesse aufzudecken und die Verbindungen zwischen Visualisierung und Reflexionsvorgang zu analysieren. Zu diesem Zweck wurden erste Ansätze eines sogenannten ‚visuell-reflexiven Interviews‘ in Form von Gruppendiskussionen durchgeführt. Hierauf aufbauend wurde in einem anderen Bereich eine Teilstudie konzipiert und dabei auf Basis der Methodologie rekonstruktiver Sozialforschung Sketchnotes als visuelle Impulse eingesetzt, um sogenannte ‚Viskurse‘ zu generieren und diese zur Auswertung zugrunde zu legen.
Der Beitrag beschreibt sowohl aus hochschuldidaktischer Perspektive als auch aus Forschungsperspektive den jeweils beispielhaften Einsatz von Sketchnotes etc. und reflektiert auf dieser Grundlage mögliche Potenziale. Ziel ist es ausgehend durch die Aufarbeitung möglicher Potenziale der Erlernung und Nutzung veränderter Kommunikationsstrukturen resp. Ausdrucksformen eben – aus einer Metaperspektive – auch zugrundeliegende Transformationsprozesse retrospektiv zu erfassen und zu reflektieren.
Hierfür erfolgt in einem ersten Schritt (Aufschluss) eine (vertiefende) Einführung in relevante Begrifflichkeiten und Konzepte. Dabei werden erneut verschiedene Perspektiven in die Betrachtung miteingezogen (Reflexion vs. Dokumentation sowie Produktion vs. Rezeption). Anschließend erfolgt aus den zwei oben benannten Perspektiven eine Betrachtung der verbundenen Potenzialen von Sketchnotes (Einschluss), bevor in einem letzten Schritt eine Metareflexion der so entstehenden zugrundeliegenden Transformationsprozesse vorgenommen wird und darauf aufbauend dann weitere (Forschungs-)Desiderate ausgewiesen werden (Anschluss).
2 Aufschluss: Zur Einführung und Vertiefung relevanter Begrifflichkeiten
In der Einleitung wurden bereits diverse relevante Begrifflichkeiten adressiert und in den Gesamtkontext eingeordnet. Nachfolgend erfolgt eine weiterführende resp. vertiefende Abgrenzung der relevanten Begrifflichkeiten. Ziel ist es, auch bereits auf theoretischer Basis Potenziale von Visualisierungen und Sketchnotes herauszuarbeiten. Hierzu werden in einem ersten Schritt die zentralen Begrifflichkeiten eingeführt und vor dem Hintergrund von Reflexions- und Dokumentationszwecken voneinander abgegrenzt, bevor in einem zweiten Schritt die spezifische Bildlogik vor dem Hintergrund von Produktions- und Rezeptionsprozessen der Individuen in den Blick genommen wird und dann mit Blick auf die Visualisierung im Kontext von Sketchnotes spezifiziert wird.
2.1 Dokumentation vs. Reflexion
Gemeinsam ist den in der Einleitung adressierten Konzepten und Begrifflichkeiten, dass alle irgendwie mit Visualisierungen zusammenhängen bzw. das ‚Visualisieren‘ sehr zentral verortet werden kann. Der Begriff Visualisierung lässt sich aus etymologischer Perspektive dabei zunächst auf die lateinischen Wörter ‚visualis‘ oder aber ‚visus‘ zurückführen, welche mit dem Ausdruck ‚zum Sehen gehörend‘ bzw. mit dem Wort ‚Visage‘ übersetzt werden können (vgl. Duden 2021b). An dieser Stelle ist das ‚Sehen‘ eng verbunden mit dem ‚Erkennen‘, wodurch bereits Bedeutungen mitschwingen, die über die rein sinnliche Erfahrung hinausgehen (mögen). Boehm pointiert diesbezüglich wie folgt: „Die Macht des Bildes bedeutet: zu sehen geben, die Augen zu öffnen. Kurzum: zu zeigen.“ (Boehm 2007, 39). Visualisierungen – verstanden als ‚Verbildlichungen‘ – sind auf dieser Grundlage seit jeher zentraler Bestandteil der Alltagslebenswelt. Pointiert herausgestellt erstreckt sich der zugrundeliegende Entwicklungsprozess dabei von urzeitlichen Höhlenmalereien hin zu neuzeitlicher digitaler Bildsprache in Form von Emoticons (vgl. Roßa 2019, 5ff.).
Abbildung 1 ordnet die bereits adressierten Konzepte hinsichtlich ihrer primären Funktionen ein. So werden Visualisierungen jeweils sowohl zu Dokumentations- als auch zu Reflexionszwecken eingesetzt. Davon abgesehen können Visualisierungen aber zunächst auch zu reinen Gestaltungszwecken eingesetzt werden, wobei sie entsprechend geringe Reflexions- und Dokumentationsanteile entfalten. Sketchnotes und Graphic Recording werden hingegen primär zu Dokumentationszwecken eingesetzt. Der Begriff ‚Sketchnotes‘ setzt sich dabei grundlegend aus den englischen Begriffen ‚sketch‘ (= Skizze) und ‚notes‘ (= Notizen) zusammen und kann auf dieser Grundlage etwa als ‚visuelle Notizen‘ übersetzt werden (vgl. Roßa 2019, 15). Hierbei werden textliche und einfache bildliche Bestandteile verknüpft. Demgegenüber wird unter dem Begriff des ‚Visual/Graphic Recording‘ das Erstellen eines visuellen Protokolls in Echtzeit verstanden (vgl. Roßa 2019, 15). Obwohl die beiden Begriffe damit gleichermaßen hohe Dokumentationsanteile aufweisen, lassen sich diese jedoch auch voneinander abzugrenzen. Während beim ‚Graphic Recording‘ häufig synchrone Prozesse in Echtzeit festgehalten werden, erfolgt die Erstellung von (persönlichen) Sketchnotes sowohl synchron als auch asynchron (vgl. Kückmann/Kundisch 2021, 8ff.)
Von den beiden Begrifflichkeiten lässt sich auch noch der Begriff der ‚Visual/Graphic Facilitation‘ abgrenzen. Hierunter werden die visuelle und aktive Erstellung und Unterstützung eines (Gruppen-)Prozesses verstanden. Der Einsatz von Visualisierungen dient damit auch nicht nur der Dokumentation, sondern in großem Maße auch der gemeinsamen Reflexion der beteiligten Personen (vgl. Roßa 2019, 15). An dieser Stelle ist der Begriff des ‚Visual/Graphic Thinking‘ näher einzuführen. So wurde bereits darauf verwiesen, dass Visualisierungen und Sketchnotes letztlich darauf abzielen, abstrakte bzw. komplexe Sachverhalte möglichst reduzierend und vereinfachend darzustellen. Auf diese Weise wird gewissermaßen die Essenz der Sache herausgearbeitet und eigene Reflexionsgelegenheiten geschaffen. Die dahingehenden Potenziale werden häufig unter Begriffen wie etwa ‚Graphic Thinking‘ oder aber auch ‚Visual Thinking‘ gefasst. Allgemein wird unter diesen Begriffen die Nutzung visueller Elemente zur Anregung der (eigenen) Denkprozesse verstanden und damit entsprechend primär auf die Reflexionskomponente rekurriert (vgl. Reed 2010, 1ff.). Dabei wird auch explizit auf die spezifische Logik von Bildern und damit zusammenhängende Produktions- und Rezeptionsprozesse verwiesen (vgl. Heßler/Mersch 2009, 8ff.). Diese sollen entsprechend im nächsten Abschnitt in den Blick genommen werden.
2.2 Produktion vs. Rezeption
Im Zusammenhang der Konzepte und Begrifflichkeiten rund um Visualisierungen und visuellem Denken und der Frage nach deren Einsatz und möglichen Potenzialen, gerät automatisch die Unterscheidung von Produktion und Rezeption in den Blick. Zunächst soll allgemein die spezifische Logik von Bildern im Allgemeinen als erste Basis herausgearbeitet und auf dieser Grundlage dann Visualisierungen im obigen Sinne eingeordnet werden (vgl. Boehm 2007, 39ff).
Schwabl weist Bildern allgemein insbesondere die folgenden drei Charakteristika zu: Konkrete Singularität, Ikonizität sowie Simultaneität (vgl. Schwabl 2020, 108ff.). Das Merkmal konkreter Singularität bezieht sich dabei bspw. auf Fotografien und hebt dessen konkrete Verweise hervor, wohingegen „die verbale Kommunikation [häufig] von Abstraktionen durchzogen [ist]“ (Schwabl 2020, 108). Letzteres ist insbesondere auf deren Indexikalität zurückzuführen (vgl. Kruse 2015, 75ff.). An dieser Stelle muss aber bereits darauf hingewiesen werden, dass Visualisierungen im Sinne von Sketchnotes charakteristischerweise ebenso visuelle Abstraktionen ermöglichen, da diese durchaus Abstraktionsgrade aufweisen (können). Dabei ist der Begriff der Icons in den Blick zu nehmen, welcher auch im Kontext des zweiten Merkmals ‚der Ikonizität von Bildern‘ eine Rolle spielt (vgl. Schwabl 2020, 108ff.).
Schwabl weist diesbezüglich auf eine heterogene Verwendung des Begriffes hin und unterscheidet zwischen damit verbundenen Ähnlichkeitsrelationen und Eigengesetzlichkeiten. In Rückbezug zu Michel kommt Schwabl in Bezug zu Erstgenanntem zu folgender Eingrenzung: „Ikonizität bezeichnet damit […] den Grad der Ähnlichkeit zwischen einem Bild und seinem Referenzobjekt“ (Schwabl 2020, 109). An dieser Stelle wird entsprechend auf das Verhältnis von Signifikant und Signifikat verwiesen. Bilder oder auch Icons werden auf Basis ihrer Ähnlichkeit zum jeweils abgebildeten Objekt als ikonische Zeichen hervorgehoben (vgl. Schwabl 2020, 109). Icons stellen dabei gewissermaßen „‘Ersatzreize‘ […] dar, die sich für Rezipierende unmittelbar durch Wiedererkennen erschließen“ (Schwabl 2020, 109). In Bezug auf die obig adressierten Visualisierungen ist davon auszugehen, dass diese zwar auch zum Teil Icon-Charakter aufweisen können bzw. entsprechende Symbole aufnehmen. Aber nicht zuletzt durch die Verbindung mit Textelementen sowie den anderen visuellen Elementen und den bereits adressierten erhöhten Abstraktionsgrad in Bezug auf die Ähnlichkeit zwischen der Visualisierung und dem Referenzobjekt, ist u. E. auch davon auszugehen, dass diese keinen zwingend gegenständlichen Charakter aufweisen bzw. sich durch eine erhöhte Abstraktion auszeichnen. Als Beispiel sind die Figuren, welche im Rahmen von Sketchnotes integriert werden, per se zumeist geschlechtsneutral und dahingehend dann auch sinnoffen. In Abgrenzung zu Fotografien bspw. sind die in diesem Kontext relevanten betrachteten Visualisierungen entsprechend auch nur begrenzt ikonisch.
In Ergänzung zum obigen Verständnis wird mit dem Begriff der Ikonizität aber auch häufig auf die Eigengesetzlichkeit von Bildern verwiesen. Schwabl hebt aufbauend auf Boehm, Imdahl und Przyborski „die sich aus dem genuin Bildlichen ergebenden Erkenntnismöglichkeiten heraus“ (Schwabl 2020, 109). Einem solchen Verständnis folgend, wird Bildern ein spezifisches implizites Wissen und damit verbunden umfassendes Erkenntnispotenzial zugewiesen (vgl. Schwabl 2020, 109ff.). Ohne an dieser Stelle vollumfänglich hierauf eingehen zu können, sei jedoch hervorgehoben, dass in diesem Verständnis „das genuin Bildliche [.] nicht im Benennen von Gegenständlichem, sondern in einer intuitiven, ästhetischen Annäherung an das Bildganze [liegt]“ (Schwabl 2020, 110). Die so begründete Unbestimmtheit von Bildern fordert entsprechend dazu auf, die Teilbestandteile in Relation zum Ganzen des Bildes zu setzen, was über den Zugang der Ikonik gelingen kann und auch häufig Ausgangspunkt von Bildinterpretationen im Kontext rekonstruktiver Sozialforschung ist (vgl. Schwabl 2020, 110f.).
Das letzte Merkmal – die Simultaneität – verweist dann noch auf die „ganzheitliche Anschauung, im Rahmen derer einzelne Elemente des Bildes zueinander in Bezug gesetzt werden und über sich hinaus verweisen“ (Schwabl 2020, 112). Im Gegensatz zu Texten, welche eben sequenziell zu erfassen sind, können Bilder demzufolge als (Sinn-)Ganzes erfasst werden (vgl. Schwabl 2020, 112ff.). Sketchnotes dürften dem Merkmal der Simultaneität ebenfalls entsprechen, da sie primär aus Bildelementen mit einzelnen Textelementen bestehen.
Aufbauend auf den skizzierten Spezifika von Bildern im Allgemeinen und den Eingrenzungen im Bezug auf Visualisierungen im Kontext von Sketchnotes sollen nachfolgend einzelne Spezifika von entsprechenden Rezeptions- und Produktionsprozessen herausgearbeitet werden. Das Merkmal der Simultaneität verweist darauf, dass Bilder sofort als (Sinn-)Ganzes sichtbar werden. Nichtsdestotrotz ist davon auszugehen, dass auch die Erfassung eines Bildes schrittweise bzw. anhand eines spezifischen Pfades erfolgt. Hierfür gibt es jedoch keine verbindliche Syntax oder Grammatik, sondern dürfte – je Rezipierende/n – individuell verschieden sein und letztlich durch diesen/diese bestimmt werden (vgl. Schwabl 2020, 113). Oben wurde zudem auf die Eigengesetzlichkeit von Bildern und deren inneliegenden impliziten Wissensbestände rekurriert. Zusätzlich kennzeichnet Schwabl Bilder allgemein als polysemisch und sinnoffen, wodurch deren Rezeption erneut als aktiver Prozess des Rezipierenden verstanden werden kann (vgl. Schwabl 2020, 114ff.).
Neben der Rezeptionsperspektive ist dann auch gleichsam die Produktionsperspektive zu unterscheiden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwiefern die Erstellung von Bildern resp. von Visualisierungen i. S. v. Sketchnotes einen Beitrag zur Reflexion der Produzierenden leisten kann. In diesem Kontext lassen sich Anschlussstellen zu Ansätzen eines ‚Visual Thinking‘ ausmachen. Wie bereits dargestellt, verweist der Begriff zunächst allgemein auf die Nutzung visueller Elemente zur Anregung und Unterstützung der (eigenen) Denkprozesse (vgl. Reed 2010, 1ff; Arnheim 1971, 13ff.). Mit anderen Worten bezieht sich das visuelle Denken auf ein ‚Denken in Bildern‘. Hessler weist an dieser Stelle erneut auf die besondere Logik von Bildern hin (vgl. Hessler 2012, 81ff.). So ist die bereits ausgewiesene Sinnoffenheit von Bildern auch für den Erstellungsprozess und damit dem Prozess der ‚Verbildlichung‘ relevant. Dies gilt für Visualisierungen im Kontext von Sketchnotes im besonderen Maße. Diese sind per se abstrakt und erfordern auf dieser Basis Abstraktions- resp. Reflexionsleistungen aufseiten des Subjekts (vgl. Kückmann/Kundisch 2021, 1ff.). Hessler verweist vor dem Hintergrund visuellen Denkens aber auch auf folgende häufig verbundene Kritik: „Gleichwohl bezweifeln Verteidiger der [(Text-)]Sprache noch immer, oder wieder, die Fähigkeit ‚in Bildern zu denken und binden Denken […] nach wie vor an die Sprache“ (Hessler 2012, 81). Es ist u. E. an dieser Stelle bemerkenswert, dass überhaupt derartige Abgrenzungen und Hierarchisierungen evoziert werden. So kann das Denken – zumindest vor dem Hintergrund eines geisteswissenschaftlichen Paradigmas – per se eng mit dem Verstehen verbunden und infolgedessen gleichsam als zentrales Erkenntnisprinzip gekennzeichnet werden (vgl. Sloane 2010, 368; Kruse 2015, 60). Letztlich kann das Verstehen als das alltägliche Prinzip zur Erschließung der Welt oder aber – anders ausgedrückt – zur Auslegung der Wirklichkeit gekennzeichnet werden. Auf dieser Basis kennzeichnet bereits Dilthey Verstehen als „Vorgang, in welchem wir aus sinnlich gegebenen Zeichen ein Psychisches, dessen Äußerung sie sind, erkennen“ (Dilthey 2004, 22). Letztlich geht es also um den Prozess der Bedeutungsgabe und der Zuschreibung resp. Konstruktion von Sinn (vgl. Kruse 2015, 60). Die dabei fokussierten Lebensäußerungen der Menschen umfassen, Dilthey folgend, dann aber ganz explizit alle denkbaren menschlichen Ausdruckformen (vgl. Dilthey 2004, 22). An dieser Stelle sind damit auch ausdrücklich Visualisierungen im Sinne von Sketchnotes und die Erstellung ebensolcher eingebunden.
2.3 Zwischenschritt bzw. Zwischenfazit: Denken mit dem Stift?!
Der Titel hebt bereits auf die Potenziale visuellen Denkens ab bzw. stellt diese in Frage. Dies soll vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen und Vertiefungen nochmals dezidiert herausgestellt werden. Obig wurde bereits auf die grundlegende erkenntnistheoretische Frage Bezug genommen, ob sich das Denken vom Texten her bzw. das Denken in Texten oder aber vom Bildlichen her bzw. in Bildern vollzieht (vgl. Hessler 2012, 88ff.). Analog wird entweder Bezug auf den sogenannten ‚linguistic turn‘ oder eben ‚pictorial oder iconic turn‘genommen (vgl. Bohnsack 2003, 239ff.). U. E. wäre bspw. auf Basis eines geisteswissenschaftlichen Paradigmas mögliche einseitige ‚Text-‘ und ‚Bildfixierungen‘ zu überwinden und sind stattdessen wechselseitige Potenziale auszumachen bzw. die integrativ zu nutzen. Visualisierungen im Kontext von Sketchnotes sind an dieser Stelle charakteristischerweise bereits durch sowohl Text- als auch Bildelemente geprägt und können auf dieser Grundlage u. E. in entsprechenden Verstehensprozessen einen spezifischen Beitrag leisten. Ausgehend von diesen Grundgedanken werden dann der Erlernung und Nutzung einfacher visueller Sprache sowohl im Kontext von Lehr-/Lernprozessen, als auch in Forschungskontexten und der damit verbundenen Annäherung an komplexe Fragen besondere Potenziale zugewiesen. Diese sollen nachfolgend vor dem Hintergrund der Ausrichtung der vorliegenden Ausgabe aus zwei (Gestaltungs-)Perspektiven weiter ausgelotet werden.
3 Einschluss Teil 1: Potenziale von (digitalen) Visualisierungen und Sketchnotes in Lern-Lehr-Kontexten
Nachdem in Kapitel zwei aus theoretischer Perspektive auf die zentralen Begrifflichkeiten eingegangen wurde und diesbezüglich auch bereits erste Potenziale von Visualisierungen herausgearbeitet wurden, sollen diese nachfolgend weiter veranschaulicht werden. Hierzu werden – wie bereits adressiert – explizit zwei Perspektiven und damit verbundene Projekte aufgenommen. Es werden hier exemplarisch zwei (digitale) Workshopformate vorgestellt, in deren Rahmen Visualisierungen vermittelt, erprobt und reflektiert wurden.
3.1 Hochschuldidaktische Perspektive: Digitale Workshopreihe ‚Visualisierung‘
„Also, das ist ein Stift, sind wir uns da sicher? Es könnte ja vielleicht auch ein anderer Gegenstand sein. Vielleicht ähm, ich weiß es nicht, ein Gläschen oder so, was dann mit Forschung zu tun hat, ...“ (B4, GD, Z 159ff.)
3.1.1 Ausgangslage, Impulse und Zielsetzung
Die im folgenden Unterkapitel skizzierte Workshopreihe entstand aus zwei Hauptimpulsen heraus: Zum einen durch das Bemerken, dass Studierende der Berufs- und Wirtschaftspädagogik schwer Zugang zu einem bestimmten Forschungsansatz finden und der sich daran anschließenden Frage, warum das so ist. Zum anderen gab der Wunsch den Impuls, eine anstehende Tagung zu eben diesem Forschungsansatz über ein Sketchnoting der Präsentations- und Diskussionsformate als Meta-Methode und Diskursanregung zu begleiten. Beide Impulse werden folgend näher ausgeführt.
Impuls ‚Zugang zum Forschungsansatz‘: Bei der Begleitung von studentischen Forschungs-, Seminar- oder Abschlussarbeiten wurde bemerkt, dass hier offenbar bzgl. der Umsetzung eines designbasierten Forschungsansatzes bei den Studierenden Hürden bestehen, die in diesen Kontexten nicht überwunden werden konnten. Vermutet werden kann hier ein erschwerter Zugang für die Studierenden zu diesem Forschungsansatz, im Vergleich zu anders gelagerten Forschungsansätzen, auf Grund von hier weniger ersichtlichen Abgrenzungen oder dem Fehlen eines Schemas (vgl. Kremer 2019). Es schloss sich die Frage an, ob es Wege geben könnte, welche die Studierenden dabei unterstützen bzw. dazu befähigen, Hürden zu überwinden und dadurch einen Zugang eröffnen bzw. diesen Zugang erleichtern und welche zugleich hierfür handlungsrelevantes Wissen als Zielperspektive anbieten (vgl. Kapitel 4.1). Die folgende Visualisierung zeigt diesen möglichen Weg bzw. das Workshop-Format als eine Leiter auf.
Impuls ‚Einen Gesprächs- und Reflexionsanlass schaffen‘: Der zweite Impuls wurde in dem Planungsprozess einer Tagung (AG BFN-Forum 2020) ausgelöst, insbesondere durch den Wunsch, den Tagungsgästen über Visualisierungen der einzelnen Vorträge und Diskussionen als Meta-Methode in den Pausen einen Gesprächsimpuls und im Nachgang der Tagung eine Gedächtnisstütze zu liefern. Begründet durch das Thema der Tagung ‚Design basierte Forschung in der beruflichen Bildung‘ stellte diese selbst eine Zielperspektive als Abschluss der Workshopreihe dar, für welche die Teilnehmer*innen der Workshopreihe entsprechend handlungsrelevantes Wissen erwerben sollten. Da die Planung der Tagung bereits 2019 begann, war hier zunächst von einer Präsenzveranstaltung auszugehen und so war das Ziel der Workshopreihe zunächst, die Teilnehmer*innen dazu zu befähigen, ein Graphic Recording auf Papier umzusetzen und diese Poster in den Pausen der Tagung als Galerie und Diskursanlass anzubieten. Die pandemischen Entwicklungen im Frühjahr 2020 verlegten schließlich die Workshopreihe abrupt in den virtuellen Raum und stellten bisherige Planungen für das Tagungsformat in Frage – eröffneten gleichzeitig jedoch Potenziale der Umsetzung und Nutzung von Visualisierungen für den und im digitalen Raum.
Die Zielperspektiven der Workshopreihe lassen sich, ausgehend von den beschriebenen Impulsen, ausmachen als
a) Erlangen von handlungsrelevantem methodischem Wissen der Visualisierung (technisches Wissen),
b) Erlangen von handlungsrelevantem Wissen als Zugangsschritte (‚Sprossen der Leiter‘) zu der hier fokussierten Forschungsmethode (forschendes Wissen) und schließlich
c) als eine Zielperspektive der Autorinnen dieses Beitrags und Workshopleiterinnen, Visualisierungen und Sketchnotes als Lern- und Entwicklungsinstrument in den Blick zu nehmen und diesbezüglich erste empirische Explorationen aufzunehmen.
Über die Workshopreihe wurde ein (Lern-)Raum angeboten, in dessen Rahmen die Teilnehmer*innen sich in Bezug auf das Thema Visualisierungen und visuelle Projektbegleitung digital und analog erproben konnten. Zugleich wurde von Seiten der Autorinnen stets die Frage mitgeführt, wie es gelingen kann, dass Sketchnotes, Visualisierungen und darauf aufbauend visuelle Prozessbegleitungen dazu beitragen, einen vertieften Zugang zu einem fachspezifischen Thema oder einem Forschungsansatzes, wie in diesem Falle dem DBR, zu ermöglichen (vgl. hierzu Kapitel 4). Innerhalb der Workshopreihe wurden für die Teilnehmer*innen die folgenden aufeinander aufbauenden chronologischen Lernziele identifiziert und kommuniziert:
Die Teilnehmer*innen der Workshop-Reihe
- lernen grundlegende Visualisierungstechniken kennen,
- erstellen erste eigene Visualisierungen,
- lernen ausgewählte digitale Anwendungen zur Erstellung von Sketchnotes kennen,
- entwickeln eigene Bibliotheken bspw. auch in Bezug auf relevante Fachbegriffe,
- nähern sich inhaltlich einem neuen und komplexen inhaltlichen Schwerpunkt an (in diesem Fall das Verständnis eines Design-Based-Research (DBR)),
- sind in der Lage, einfache sowie komplexe Sachverhalte bzw. Zusammenhänge in anschaulichen Sketchnotes darzustellen,
- setzen sich mit den Herausforderungen einer visuellen Prozessbegleitung auseinander und entwickeln auf dieser Basis eigene Graphic-Recording-Strategien und
- sind so in der Lage simultane Visualisierungen zu erzeugen und diese zeitnah zur Verfügung zu stellen.
An dieser aufeinander aufbauenden Zielabfolge erkennt man die zunehmende, bzw. auch zunehmend erforderliche, Reflexion und Dokumentation wieder, welche über die Quadranten in der Abbildung 1 bereits adressiert wurden. Die didaktische Anlage der Workshopabfolge zur Erreichung dieser Ziele skizziert das folgende Unterkapitel.
3.1.2 Struktur, Herangehensweise und Methoden
Grundlegend handelt es sich hier um eine iterative Abfolge einer mehrschrittigen Interpretationsleistung, deren Schritte grob als die folgenden deklariert werden können:
- Visualisierung nach Impulsinterpretation,
- Interpretation durch Visualisierung,
- Interpretation durch die Betrachter der Visualisierung,
- Interpretation der Rückmeldung durch die Betrachter*innen und eine mögliche Re-Interpretation des Anfangsimpulses (bspw. ein Begriff).
Die folgende Abbildung 3 veranschaulicht diesen Prozess und reduziert ihn auf die grundlegenden Stufen des Interpretationsprozesses:
Dieser skizzierte Prozess (vgl. auch Kapitel 4.1.2) unterlag einer entsprechenden Zunahme der Reflexions- und Dokumentationskomplexität in der chronologischen Abfolge der oben gelisteten Zielschritte. Dabei wurde aus hochschuldidaktischer Perspektive Wert darauf gelegt, zunächst ein grundlegendes Verständnis von ‚Sketchnoting‘ zu vermitteln und eine gewisse Methodensicherheit herzustellen. Dies erfolgte über das Kennen lernen des Sketchnoting-Alphabets (Linie, Kreis, Dreieck), über einfache Visualisierungen von Figuren, über eine Addition von darzustellenden Dynamiken und Geschichten aus dem Alltag (Sprichwörter, eigene Geschichten anhand von zufällig gezogenen Begriffen), über erste Annäherungen an einzelne fachliche Begrifflichkeiten (z.B. Grenzgänger, Wissenschaft, Praxis, Forschung, Lebenswelt) usw. bis hin zu dem eigenen Stil im Graphic Recording und dessen Einsatz in o.g. Tagungskontext (vgl. Kückmann/Kundisch 2021).
Es wurde in der Durchführung der Workshops zunächst Wert auf einen eher spielerischen Zugang gelegt, bspw. im Sinne eines Quiz‘ zu Beginn des Termins, um sich ‚warm zu denken‘ oder Begriffe raten an der Tafel (in den anfänglichen Präsenzveranstaltungen). Zudem kam es den Autorinnen dieses Beitrags darauf an, dass jede/r Teilnehmer*in die Möglichkeit wahrnehmen konnte, einen eigenen Stil zu entwickeln. Die Veranstaltungen sollten sowohl in Präsenz als auch digital ausreichend Raum für Erfahrungsaustausch und Feedback anbieten und wurden grundsätzlich durch eine Art Hausaufgabe mit der folgenden Veranstaltung verknüpft.
Im Frühjahr 2020 wurde die digitale Herausforderung auch in dieser Workshopreihe angenommen und gerade durch diese Umsetzung die Potenziale dieser Art der Visualisierung im virtuellen Kontext nochmals verdeutlicht. Gerade Visual Thinking und Visual Facilitation zeigen hier ihren besonderen Nutzen und unterstützen ein Ausbrechen aus der oft starren bildlichen Routine und immer gleicher (und auch noch immer in ihrer Ausprägung ungewohnter) Reize digitaler Veranstaltungen (vgl. auch Kundisch 2021). Für die genannte Tagung, welche eine Art Abschluss der Workshopreihe darstellte, konnte die Rückschau zu Beginn des zweiten Veranstaltungstages mit einer Visualisierung der Präsentationen und Diskussionen des ersten Tages beginnen. Bereits im Vorfeld der Tagung wurde ein Impulsvideo online gestellt, welches die Erstellung von im Kontext der Workshopreihe entstandenen Visualisierungen passend zur Tagungsausschreibung zeigte und als erster Denk- und Diskurs-Impuls aufgenommen werden konnte. Die folgende Abbildung zeigt veranschaulichend zwei Momente aus diesem Video.
Die Teilnehmer*innen der Workshopreihe erstellten schließlich in Zweier-Teams zu jedem Format auf der Tagung Visualisierungen, welche aktuell zu der Pressemitteilung einzusehen sind und sämtlich in den Tagungsband aufgenommen werden. Die Teilnehmer*innen der Workshopreihe waren also in der Lage, komplexe Diskussionen zu bündeln, also auch inhaltlich bzgl. des Forschungszugangs folgen zu können, und die Essenzen (aus ihrer je individuellen Sicht) zu visualisieren. Das folgende Bild zeigt das Beispiel einer Visualisierung im Tagungskontext:
Im Nachgang der Tagung wurde ein virtuelles Reflexionstreffen umgesetzt, mit welchem die Workshopreihe ihren Abschluss fand (Feedbackimpulse aus diesem Termin siehe 3.3). Die Eindrücke und Impulse, welche die Autorinnen dieses Beitrags aus den Entwicklungsphasen dieser Workshopreihe gewinnen konnten, flossen anschließend in verschiedene Diskurse und Projektkontexte ein. Die im Folgenden skizzierte Kurzfortbildung für Lehrer*innen stellt ein Beispiel hierfür dar.
3.2 Wirtschaftspädagogisches Themenfeld ‚Lehrer*innenfortbildung‘
3.2.1 Ausgangslage, Impuls und Zielsetzung
Aufbauend auf der im vorherigen Kapitel dargestellten Workshopreihe und angedockt an das Projekt ‚Digital Graphic Design‘ (DGD, vgl. Kückmann/Kundisch 2021, 4f.) wurden für den Kontext der Lehrer*innenfortbildung zwei Workshops für ein digitales Barcamp konzipiert. Der leitende Gedanke bei dieser Konzeption war, dass es sich bei Visualisierungen um eine Kommunikationsform für den Einsatz im Unterrichtskontext handeln kann, welche aus Lehrer*innen und Schüler*innenperspektive gleichermaßen zielführend genutzt werden kann: die Kommunikationsform der Visualisierung bietet die Möglichkeit an, Lerngegenstände für den Unterricht anders aufzubereiten, im Unterricht anders vorzustellen und eventuelle Sprachbarrieren hiermit zu überwinden. Sie bietet Schüler*innen ebenso die Möglichkeit an, sich über die Visualisierung mit einem Lerngegenstand selbst zu beschäftigen, darüber (neue) Reflexionsanlässe herbeizuführen und so den eigenen Zugang und die Merkfähigkeit zu stärken sowie daran anschließend einen Austausch über den visualisierten Lerngegenstand zu fördern. Wie bereits in Kapitel 2 adressiert, werden hier der „Erlernung und Nutzung einfacher visueller Sprache besondere Potenziale in der Lehrerbildung zugewiesen. Mit Hilfe digitaler Visualisierung sollen hier die Möglichkeiten visueller Sprache und digitaler Medien integrativ nutzbar gemacht werden. […] Akteure am Berufskolleg [können] durch erweiterte Handlungsmöglichkeiten zu Gestaltern des digitalen Wandels werden“ (Kückmann/Kundisch 2021, 6).
Die Workshops in dem Barcamp-Kontext sollten daher einen Impuls in diese Richtung geben und „dazu beitragen, die skizzierten didaktischen Potenziale [kennen zu lernen] und den Lehrkräften praktische Übungen an die Hand zu geben, [um] ihr Repertoire an visuellen Ausdrucksformen weiter zu entwickeln.“ (Kückmann/Kundisch 2021, 6)
3.2.2 Struktur, Herangehensweise, Methoden
Bei dem im Kontext des digitalen Barcamps[1] angebotenen Format handelte es sich um zwei aufeinanderfolgende, jeweils 60-minütige Workshops, welche explizit von den Autorinnen als solche konzipiert worden sind, nämlich als eine Abfolge von theoretischen Impulsen und Übungen (vgl. Kundisch 2021, Lipp/Will 2008). Die Übungen konnten auch in diesem digitalen Format von den Teilnehmer*innen problemlos sowohl mit Stift und Papier als auch mit einem Tablet etc. ausgeführt werden. Die beiden folgenden einfachen Visualisierungen, anhand welcher auch in dem Workshopkontext über eine Dokumentenkamera der jeweilige Ablauf dargestellt wurde, veranschaulichen diesen Wechsel der Workshop-Phasen und zeigen ebenso den Gedanken, welcher hinter diesem Angebot stand und welcher auch hinter diesem Beitrag steht: Gedanken über die Visualisierung für sich und andere sichtbar machen, darüber Ideen auszulösen und durch eine Betrachtung aus einer Distanz die Möglichkeit, Gedanken und Ideen neu zu erkennen bzw. zu re-interpretieren.
Zentral waren in dem jeweils einstündigen Workshopangebot zum einen ein Grundverständnis dieser Art der Visualisierung und erste technische Grundlagen zu vermitteln sowie Potenziale für Schule und Unterricht aufzuzeigen und zum anderen in einer Gedankenpause konkrete individuelle didaktische Umsetzungsvorhaben für den jeweiligen Unterricht zu identifizieren, um sich selbst als Teilnehmer*in die Möglichkeit zu geben, gleich ‚ins Handeln‘ zu kommen.
3.3 Visualisierung in Lehr-Lern-Kontexten: Zusammenführende Reflexion und Potenziale
Rückblickend hat die Workshopreihe ‚Visualisierung‘ durch die quasi erzwungene Überführung in ein digitales Format nochmals gewonnen. Die Potenziale der Nutzung des Bildhaften auf diese Weise und eine zusätzliche Variante der Kommunikation wurden so direkt erfahren und erprobt. In den Rückmeldungen der Teilnehmer*innen zu der Workshopreihe wurde positiv hervorgehoben, dass durch das eigene Visualisieren ein präziseres Zuhören in diesem digitalen Kontext unterstützt wurde. Über gemeinsame Visualisierungen fand zudem ein verstärkter Austausch statt, welcher ansonsten durch die rein digitalen Räume der letzten Monate in den Hintergrund zu treten schien.
Die Erfahrungen aus der Workshopreihe werden seither zusätzlich zu der skizzierten Kurz-Fortbildung in verschiedenen hochschuldidaktischen Kontexten, in Modulen und Schulungen, genutzt sowie auch in Forschungsforen als ein reflexionsförderndes Mittel eingesetzt. In allen Kontexten erfahren die Reflexionsprozesse durch die Visualisierungen eine Unterstützung, die Gedankenprozesse werden ‚mit dem Stift‘ konkretisiert und zugleich in den Prozess einer Auseinandersetzung gebracht (vgl. Abbildung 3 und Abbildung 6). Um diesen (selbst-) reflexiven Prozess gerade im virtuellen Kontext zu fördern, werden die ‚Gedankenvisualisierungs-Reflexionsprozesse‘ als Zugewinn verstanden.
4 Einschluss Teil 2: Potenziale von (digitalen) Visualisierungen und Sketchnotes in Forschungskontexten
Aufbauend auf dem beispielhaften Einsatz von Visualisierungen aus hochschuldidaktischer Perspektive, wird nachfolgend zudem explizit eine Forschungsperspektive aufgenommen. Hierzu werden zwei aufeinander aufbauende Forschungskonzepte vorgestellt und hinsichtlich der Potenziale (digitaler) Visualisierungen und Sketchnotes kritisch reflektiert.
4.1 Gestaltungsbasierte Forschungsperspektive: Begleitforschung im Rahmen des Workshops
4.1.1 Ausgangslage, Zielsetzungen und Erkenntnisinteresse
Das oben bereits adressierte hochschuldidaktische Workshop-Konzept (vgl. Kap. 3.1) wurde durch ein Forschungsprojekt begleitet, dass den visuell gestützten Zugang zum Design-Based-Research-Ansatz in den Blick nahm. So erkennt Kremer vielfach Hürden in Bezug zu diesem Forschungsansatz (vgl. Kremer 2019). Auf den ersten Blick erscheint dies insofern erstaunlich, da der DBR mit dem möglichen Praxis(ein)bezug an dieser Stelle letztlich sogar mehr Praxisnähe aufweisen kann als anders gelagerte Forschungsansätze.
Das begleitende Forschungsprojekt widmete sich hierauf aufbauend der Frage, ob Sketchnotes, Visualisierungen und darauf aufbauend visuelle Prozessbegleitungen dazu beitragen können, einen vertieften Zugang zum DBR zu ermöglichen. Ziel des Forschungsvorhaben war es auf dieser Grundlage, diese visuellen Reflexionsprozesse sichtbar zu machen und die Verbindungen zwischen Visualisierung und Reflexionsvorgang zu analysieren. Hierbei waren insbesondere die folgenden Fragestellungen relevant:
- Inwiefern trägt die Visualisierung zur Reflexion bei? Welche Verknüpfungen lassen sich identifizieren?
- Welche sprachlichen Indikatoren lassen sich diesbezüglich ausmachen? Wie und in welche Weise wird auf die Visualisierungen Bezug genommen?
- Unterscheidung der Analyseperspektiven:
- Erstellung der Visualisierung (Intention der Visualisierung; 1. Sinnzuweisung)
- Interpretation der Visualisierung (2. Sinnzuweisung)
4.1.2 Struktur, Herangehensweise und Methoden
Die Teilnehmer*innen des Workshops wurden an verschiedenen Zeitpunkten dazu angehalten, das Thema ‚DBR‘ eigenständig und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Verständnisse zu visualisieren. Die so entstandenen Visualisierungen wurden dann im Rahmen von Gruppendiskussionen als Impulse genutzt und reflektiert. In einem ersten Schritt wurden die Visualisierungen dabei ohne Einbezug der Ersteller*innen diskutiert, um auf diese Weise die Interpretationen der Visualisierung von der primären Intention der Visualisierung abgrenzbar zu machen. Die Gruppendiskussionen wurden aufgezeichnet und wortgenau transkribiert. Als Datengrundlage konnte den jeweiligen Textabschnitten dann die betreffenden Visualisierungen zugeordnet werden. Im Rahmen der Auswertung wurden zunächst sprachliche Indikatoren identifiziert, die Hinweise darauf geben, wie und in welche Weise auf die Visualisierungen Bezug genommen wurde.
4.1.3 Ergebnisse resp. Reflexion der Methodik
Ohne an dieser Stelle auf alle Ergebnisse eingehen zu können, sollen einzelne Aspekte insbesondere mögliche Potenziale von (digitalen) Visualisierungen bei der nachfolgenden Reflexion besonders in den Blick genommen werden. Da auf die inhaltlichen Aspekte bereits im Kapitel 3.1 eingegangen wurde, werden nachfolgend insbesondere forschungsmethodische Fragen fokussiert und dahingehend Potenziale ausgelotet.
In der jeweils ersten Phase (Rezeption der Visualisierungen) riefen die visuellen Impulse umfangreiche Erzählungen und darauf aufbauend intensive Diskurse hervor. So finden sich durchweg ausführliche Erzähl- und Beschreibungssequenzen, welche ihrerseits durch entsprechende sprachliche Indikatoren ausgewiesen werden (vgl. Kleemann/Krähnke/Matuschek 2009, 65ff.). Den jeweiligen Erzählsequenzen, welche direkt auf den visuellen Impuls folgen, schließen sich dann weitere Erzähl- und Beschreibungssequenzen an, wobei die Teilnehmer*innen jeweils wechselseitig auf die Einordnungen der Vorredner*innen Bezug nehmen. Auf diese Weise entstand ein intensiver Diskurs mit einer insgesamt hohen Diskursdichte. Auffällig dabei war der kontinuierlich hohe (Rück-)Bezug zu den Visualisierungen. Die individuellen Erzählungen resp. der Diskurs entfaltete sich in Bezug zu den Sketchnotes bzw. – genauer – innerhalb der (sprachlichen) Bilder. So werden diese als Impuls aufgenommen und die Interpretation der Visualisierung weiter ausgeführt.
Um die Potenziale der Erhebungsmethode herauszuarbeiten, sollen beispielhafte Ausschnitte aus dem Datenmaterial analysiert und eingeordnet werden. In der nachfolgenden Tabelle finden sich hierzu drei Visualisierungen zum Thema „Design-Based Research“, welche im Rahmen der Gruppendiskussionen aufgenommen wurden. In der linken Spalte finden sich Auszüge aus den dazugehörigen Textausschnitten. In allen drei Visualisierungen wurde das Icon ‚Glühbirne‘ aufgenommen und soll an dieser Stelle zur Veranschaulichung und als Vergleichshorizont herangezogen werden.
Tabelle 1: Auszug aus dem Datenmaterial
Auszug aus dem Transkript der (visuell-reflexiven) Gruppendiskussion |
Visueller Bezugspunkt/visueller Impuls |
„Ansonsten sehe ich in der Mitte bei dem DBR auch noch (..) irgendwie so ne Glühbirne. […] Das kann man vielleicht auch mit ähm, ja, also mit ähm natürlich Gedanken, Input, für mich jetzt persönlich, würde ich das direkt mit Innovationen ähm in Verbindung bringen, wenn ich jetzt DBR lese, (..) dass die Glühbirne da vielleicht noch mehr aussagen kann.“ (GD, B4, Z. 146ff.). |
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„Ähm also ich hab (.) das so interpretiert, dass/ wir haben ja d i e ä h m (..) Glühbirne in der Mitte (.) von der Blase und da stehen ja eins, zwei, drei, vier, fünf als Blätter und ich hab das so verstanden, dass man praktisch aus (..) der Recherche schon/ also das soll kein Forschungsdesign sein, sondern das sind sozusagen die/ also sozusagen die Grundliteratur, die man nutzt oder die Erkenntnisse aus anderen Studien und das hatte ich als (..) als diese Blase verstanden und nicht so das Forschungsdesign.“ (GD, B6, Z. 940ff.). |
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„Ich, ähm, ich würd nochmal ne Kleinigkeit ergänzen [.] und zwar oben links ist ja auch wieder die Glühbirne dargestellt, (..) wo ich jetzt auch mal denke, dass es vielleicht auch für ne Idee steht und da sind ja auch Pfeile drumherum, dass sich das quasi während des Prozesses auch immer weiter entwickelt, dass da vielleicht nochmal neue Ideen oder neue Forschungsfragen während des Prozesses entstehen, das hätt ich jetzt so da rein interpretiert.“ (GD, B3, Z. 1517ff.). |
Wie im Rahmen der theoretischen Aufarbeitung dargestellt, verweist das Merkmal Ikonizität u. a. auf das Verhältnis der Ähnlichkeit zum Referenzobjekt. In diesem Kontext wurden auch bereits Icons eingeführt und eingeordnet. So stellen diese – Schwabl folgend – gewissermaßen „‘Ersatzreize‘ […] dar, die sich für Rezipierende unmittelbar durch Wiedererkennen erschließen“ (Schwabl 2020, 109). Im vorliegenden Fall kann das Icon ‚Glühbirne‘ sicherlich allgemein damit in Verbindung gebracht werden, dass jemandem im sprichwörtlichen Sinne ein Licht aufgeht – die Person bspw. eine Idee oder eine Erkenntnis hat. Bei der Betrachtung der Textstellen fällt aber auf, dass das Icon im Weiteren dann jeweils doch unterschiedlich ‚ausgedeutet‘ wird. So wird diese im Kontext von DBR jeweils sowohl mit Innovationen, der Recherche von Grundlagenliteratur oder aber mit der Anpassung von Forschungsfragen im Prozess in Verbindung gebracht. Hier lassen sich zwei mögliche Begründungslinien unterscheiden. Zunächst ist das Icon eben Bestanteil in drei jeweils sehr unterschiedlichen Visualisierungen. Zwar wird in allen drei Fällen das Thema DBR aufgenommen, jedoch unterscheiden sich die drei Visualisierungen deutlich voneinander – auch hinsichtlich ihrer kontextuellen Einbettung des Icons. Hierauf aufbauend überrascht es dann auch nicht, dass dieses Icon – obwohl von derselben Grundbedeutung ausgehend – in den drei Fällen unterschiedlich (kontextbezogen) ausgedeutet wird. Zudem ist an dieser Stelle zu konstatieren, dass die oben vorgenommenen Interpretationen von drei verschiedenen Teilnehmer*innen stammen, welche die Einordnungen vor dem Hintergrund der jeweils eigenen (Wissens‑)Strukturen vorgenommen haben. An dieser Stelle kann erneut auf das Merkmal der Ikonizität rekurriert werden. Neben der Ähnlichkeitsrelation wird durch dieses auch häufig auf Eigengesetzlichkeiten und auf mögliche – aus dem genuin Bildlichen ergebenden – Erkenntnismöglichkeiten hervorgehoben (vgl. Schwabl 2020, 109ff.). Auf dieser Basis lassen sich verschiedene Verfahren der Bildinterpretation ausmachen, welche insbesondere der Methodologie einer rekonstruktiven Sozialforschung folgen (vgl. Schwabl 2020, 139ff). Bohnsack bspw. unterscheidet vor dem Hintergrund der dokumentarischen Methode diesbezüglich zwischen einer Verständigung über und durch das Bild, wobei Letztgenanntes das Bild selbst als Dokument für einen Sinnzusammenhang in den Blick nimmt und nicht über Textsprache vermittelt wird (vgl. Bohnsack 2003, 239ff.; Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 323ff.).
Die Vorgehensweise im obigen Beispiel kann vor diesem Hintergrund sicherlich als eine Verständigung über das Bild gekennzeichnet werden (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 323ff.). Dabei wurde auch bereits auf die Sinnoffenheit resp. Polysemie und Simultaneität von Bildern und Visualisierungen verwiesen, welche letztlich eine aktive Rezeption des Rezipierenden erforderlich machen (vgl. Schwabl 2020, 114ff.). Diese aktive Rezeptionsleistung wurde auch im Kontext der obigen Erhebungen deutlich. Wie bereits adressiert, finden sich diesbezüglich durchweg umfangreiche Erzähl- und Beschreibungssequenzen. Insbesondere die Ausführungen unmittelbar infolge des jeweiligen visuellen Impulses sind an dieser Stelle besonders hervorzuheben. So ist im Rahmen der Analyse auffällig, dass die (Eingangs-)Interpretation der Teilnehmer*innen selbst einen diskursiven Charakter – vorliegend verstanden als ein von Begriff zu Begriff methodisch fortschreitender Kommunikationsprozess – aufweisen, jedoch von den Diskurssequenzen der eigentlichen Gruppendiskussion zu unterscheiden sind. So wird in diesen Abschnitten nicht auf die anderen Teilnehmer*innen, sondern explizit auf die fokussierten Visualisierungen Bezug genommen und dies auch kontinuierlich als Reflexionsfolie ausgewiesen.
Analog zu den sonstigen Diskursen wird damit gleichsam eine unmittelbare Verständigung in Bezug auf die Visualisierung realisiert. Sicherlich stellt sich die Frage, ob dies vom Gruppendiskurs überhaupt zu trennen ist. Nichtsdestotrotz sollen diese Abschnitte als spezielle visuell gestützte Reflexionsprozesses resp. Diskurse gekennzeichnet werden, da sie sich sowohl aus formaler als auch aus semantischer Perspektive deutlich von den sonstigen Diskursabschnitten unterscheiden. Im Folgenden soll die Interpretation resp. aktive Rezeption der Teilnehmer*innen als spezielle ‚Interaktionssituation‘ – als sogenannter ‚Viskurs‘ – gekennzeichnet werden, bei dem sich der Proband in einem aktiven Rezeptionsprozess (über) die Visualisierung verständigt bzw. für sich selbst eine Verständigung entwickelt. Der Begriff ‚Viskurs‘ wird erstmalig durch Knorr Cetina verwendet und hier eine ‚Viskursanalyse‘ analog zur Diskursanalyse in Anlehnung an Foucault vorgestellt (vgl. Knorr Cetina 1999). Vorliegend wird der Begriff explizit anders – in Anlehnung an den Diskursbegriff bei Bohnsack (vgl. Bohnsack 2003) – verwendet. An dieser Stelle lassen sich damit ggf. auch Anleihen eines fokussierten Interviewverfahrens ausmachen (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 135).
Sketchnotes bieten hier einerseits den Vorteil, dass sie zwar in Teilen Icon-Charakter aufweisen bzw. Icons aufnehmen, dieser jedoch auch – je nach kontextueller Einordnung/Einbettung und Proband*in – unterschiedlich ausgedeutet werden können. Allgemein sind Sketchnotes in weiten Teilen abstrakt und auf dieser Grundlage letztlich auch in einem bestimmten Maße sinnoffen. Eine Probandin aus dem obigen Projekt fasst dies bspw. in Bezug auf die Visualisierungen zum DBR wie folgt: „[…] letztens Endes finde ich das Schöne ist ja, dass jeder hat ja ein anderes Verständnis von DBR und jeder hat vielleicht auch einen anderen Kenntnisstand und dadurch (..) kann jeder praktisch in die Bilder das reininterpretieren, (..) wo er gerade steht und das heißt, wenn jemand zum Beispiel gar keine Ahnung von DBR hat, dann wird der unten halt zum Beispiel dann andere Sachen sagen, als jemand, der schon sehr in diesem Thema eingelesen ist. Und deswegen fand ich eigentlich alle Antworten irgendwo passend, weil alle (..) haben versucht, DBR irgendwie in diese Bilder hineinzuinterpretieren und deswegen fand ich, da gab´s jetzt nichts, was grundlegend falsch war.“ (GD, B6, Z. 794ff.). Sketchnotes bieten dementsprechend gleichwohl die Möglichkeit, dem Kriterium der Offenheit qualitativer Sozialforschung angemessen Rechnung zu tragen. Im Forschungskontext stellt sich dann noch die Frage von Rezeption und Produktion, wobei Przyborski/Wohlrab-Sahr Folgendes hervorheben: „Eine eindeutige Klärung des Verhältnisses von Produkt- und Rezeptionsanalyse würde dem bisherigen Stand der Forschung wohl vorgreifen. Sie stellt eine Herausforderung für die qualitative Bildinterpretation dar […]“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 329). Letztlich deuten sich hier methodologische resp. grundlagentheoretische Klärungen an, die erforderlich werden, an dieser Stelle jedoch auf Basis des begrenzten Umfangs nicht weiter ausgeführt werden können (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 317).
Insgesamt lassen sich damit Potenziale – auch im Kontext rekonstruktiver Sozialforschung – ausmachen. Hierbei sind u. E. insbesondere ‚Viskurse‘ – verstanden als spezielle Interaktions- resp. Kommunikationsformen im Zusammenhang der Rezeption resp. Interpretation von Sketchnotes in den Blick zu nehmen. An dieser Stelle ergeben sich damit konkrete Anschlussstellen, welche im Rahmen des anschließenden Forschungsprojekts explizit aufgenommen und weiterentwickelt wurden.
4.2 Rekonstruktive Forschungsperspektive: Forschungsstudie im Rahmen der Begleitforschung zum Jungstudierenden-Programm der Universität Paderborn
4.2.1 Ausgangslage, Zielsetzungen und Erkenntnisinteresse
Aufbauend auf den Erfahrungen im Kontext der Begleitforschung des Workshops, wurde auch in einem anderen Bereich eine Forschungsstudie konzipiert, welche als Weiterentwicklung des Erstgenannten explizit im Kontext rekonstruktiver Sozialforschung verortet werden kann. Die betreffende Studie ist im Rahmen der Begleitforschung zum sogenannten Jungstudierenden-Programm der Fakultät Wirtschaftswissenschaften an der Universität Paderborn angesiedelt (vgl. Universität Paderborn 2021).
Ziele des universitätsweiten Programms („Studieren vor dem Abi“) sind u. a. die Systematisierung sowie Dokumentation einer nachhaltigen Berufs- und Studienorientierung der Fakultät (vgl. Emmler/Kremer/Kückmann 2021). Bei der Zielgruppe der Jungstudierenden handelt es sich um eine spezielle Gruppe, da diese Schüler*innen sich quasi in einem Übergangsprozess resp. in einer Zwischenphase der frühen beruflichen Orientierung befinden. So sind diese zwar noch Schüler*innen, können zugleich durch die Eingebundenheit in das Programm aber bereits möglichst realitätsnahe Erfahrungen des Studierens sammeln (vgl. Störmer/Rüsing 2021). Im Rahmen der Begleitforschung werden vor diesem Hintergrund in einem Teilbereich die Bildungsverläufe der sogenannten Jungstudierenden in den Blick genommen und die Frage gestellt, welche Bedeutungen diese für den Verlauf ihrer weiteren (Erwerbs- und Bildungs-) Biographie haben bzw. welche handlungsleitenden Orientierungen diesbezüglich vorliegen (vgl. Emmler/Kremer/Kückmann 2021). Das Erkenntnisinteresse fokussiert die Sichtweisen und handlungsleitenden Orientierungen der ‚Jungstudierenden‘ mit Blick auf eigene Berufsbildungs- resp. Berufsorientierungsprozesse und den eigenen Werdegang.
4.2.2 Struktur, Herangehensweise und Methoden
Aufbauend auf dem explizierten Erkenntnissinteresse ist es demnach das Ziel sowohl explizite als auch implizite Wissensbestände zu rekonstruieren, weshalb die Studie auch vor dem Hintergrund rekonstruktiver Sozialforschung verortet wird. Auf dieser Basis kommt im Kontext der Datenerhebung insbesondere dem Prinzip der Offenheit Bedeutung zu (vgl. Kruse 2015, 148ff.). Hiervon ausgehend und unter Würdigung der zuvor identifizierten Potenziale von Sketchnotes im Zusammenhang der Datenerhebung werden sogenannte visuell-reflexive Interviews (VRI) mit den aktuellen Kohorten des Jungstudierendenprogramms durchgeführt. Die gewählte Interviewform wird dabei als eine spezielle Form eines fokussierten Interviews verstanden (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 135). So werden den Probanden im Rahmen der Interviews eine Auswahl an Sketchnotes vorlegt und dazu erzählgenerierende Fragen gestellt. Während die erste Frage sich auf die Darstellung der eigenen Person bezieht, nimmt die zweite und dritte Frage den bisherigen sowie zukünftigen Werdegang in den Blick. Die Sketchnotes fungieren hierbei entsprechend als visuelle Impulse zur visuell-gestützten Erzählgenerierung (i. e. S. eine Generierung von Erzählungen mit Bildern und in (sprachlichen) Bildern („Viskursgenerierung“)). Unter dem Begriff des Viskurses wird vorliegend die aktive Rezeption der Sketchnotes durch die Rezipierenden verstanden und die Interpretation dahingehend als spezifische „Kommunikations- resp. Interaktionssituation“ gekennzeichnet. Hierbei wird grundlegend davon ausgegangen, dass sich in den so gekennzeichneten Viskursen sowohl kommunikative und konjunktive Wissensbestände niederschlagen. Die Auswertung erfolgt auf dieser Grundlage analog zur dokumentarischen Methode nach Bohnsack (vgl. Bohnsack 2003, 239ff.), wobei als Datengrundlage eben die Transkriptionen mit den durch den Probanden ausgewählten Sketchnotes herangezogen wird. Die einzelnen Schritte der Auswertung sind in nachfolgender Tabelle aufgeführt.
Tabelle 2: Vorgehensweise der Auswertung (vgl. Kückmann 2020, 268ff.)
Stufen |
Zwischenstufen |
Formulierende Interpretation |
Thematischer Verlauf des VRI à Visuelle Impulse fungieren gewissermaßen als Fokussierungsmetaphern |
Feininterpretation (Was wurde zu welcher Visualisierung gesagt? Was wurde innerhalb resp. mithilfe des (sprachlichen) Bildes gesagt?) |
|
Reflektierende Interpretation |
Semantische Interpretation mit Rekonstruktion der Viskursorganisation |
Semantische Interpretation mit komparativer Sequenzanalyse (Wie wurde (fallübergreifend) auf die jeweilige Visualisierung Bezug genommen?) |
|
Viskursverdichtung |
Verdichtende Darstellung des Viskurses |
(Typenbildung) |
(Sinngenetische Typenbildung) |
(Soziogenetische Typenbildung) |
Im Rahmen der formulierenden Interpretation wird in einem ersten Schritt der thematische Verlauf des VRI nachvollzogen, bevor im Rahmen der Feininterpretation der Frage nachgegangen wird, was zu welcher Visualisierung gesagt wurde bzw. was innerhalb resp. mithilfe des (sprachlichen) Bildes gesagt wurde. Die gewählten visuellen Impulse fungieren an dieser Stelle gewissermaßen als Fokussierungsmetaphern (vgl. Kückmann 2020, 270). Darauf aufbauend wird analog zur Rekonstruktion der Narrationsstruktur bei Einzelinterviews (vgl. Nohl 2012) sowie der Diskursorganisation bei Gruppendiskussionen (vgl. Przyborski 2004) im Rahmen der anschließenden reflektierenden Interpretation die Viskursorganisation rekonstruiert und mittels komparativer Sequenzanalyse entsprechend der Frage nachgegangen, wie (fallübergreifend) auf die jeweilige/n Visualisierung/en Bezug genommen wurde. Abschließend wird eine Viskursverdichtung und ggf. Typenbildung anvisiert.
4.2.3 Ergebnisse resp. Reflexion der Methodik
Da die Studie zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Beitrags noch nicht abgeschlossen ist, muss an dieser Stelle auf eine dezidierte Ergebnisdarstellung verzichtet werden. Stattdessen wird nachfolgend – analog zum Kap. 4.1.3 – auf Basis ausgewählter Ausschnitte aus dem Datenmaterial des erfolgten Pretests eine erste Reflexion der Methodik zur Datenerhebung durchgeführt. Darauf aufbauend wird auch eine erste methodologische Reflexion der gewählten Auswertungsmethodik vorgenommen. Insgesamt steht auch an dieser Stelle die Reflexion der Potenziale zum Einsatz von Sketchnotes aus Forschungsperspektive im Fokus.
Die nachfolgende Tabelle stellt einen Ausschnitt aus dem Datenmaterial des Pretests dar. Aus insgesamt zwölf zur Auswahl gestellten Sketchnotes wählte der Proband zur Beschreibung der eigenen Person eine Sketchnote mit dem Icon der Glühbirne. Nachdem der Proband zu Beginn des Viskursabschnittes zunächst ausdrückt, dass er konkrete Vorstellungen seines zukünftigen Lebens hat, präzisiert er diese in Bezug auf seinen späteren Beruf („also einen Beruf hat, der wichtig für viele Leute…also was verändern kann zum Beispiel in der Gesellschaft“). In Rückbezug zu dem Datenmaterial aus dem Sketchnotes-Workshop (vgl. Tabelle 1) fällt erneut auf, dass dieses Icon, welches eben in der Sketchnote eingebettet ist, durch den Probanden erneut sehr unterschiedlich ausgedeutet wird und von der Sketchnote ausgehend ganz unterschiedliche Themen ‚bearbeitet‘ werden.
Tabelle 3: Auszug aus dem Datenmaterial des Pretests
Auszug aus dem Transkript des Pretests der (visuell-reflexiven) Interviews |
Visueller Bezugspunkt/visueller Impuls |
„I: Dann würden wir dir gleich einmal Bilder zeigen, nimm dir Zeit dir die Bilder in Ruhe anzugucken und dann würde ich dich bitten […] das Bild zu benennen, dass dich am ehesten anspricht, um deine Person zu beschreiben. (.) P: Okay, mich würde jetzt das Bild oben links in der Ecke, denke ich – wenn ich das so richtig verstehe – ähm, am ehesten beschreiben… […] Also im Prinzip ist das ja, dass mir irgendwie ein Licht aufgegangen ist – so deute ich das jetzt mal – mit der Glühbirne und das zeigt ja, dass man sich selber sich die… vor Augen hat, was man sich gut vorstellen könnte im späteren Leben zu machen… […] Ja vielleicht könnte man das auch noch so interpretieren, dass man in seinem späteren Leben – ja wie soll ich das sagen, sowas wie was entdecken will oder so, dass einem ein Licht aufgeht und man dafür etwas rausgefunden hat, was noch kein anderer weiß, also einen Beruf hat, der wichtig für viele Leute…also was verändern kann zum Beispiel in der Gesellschaft…“ |
Der Einsatz der Sketchnotes soll im Rahmen der Datenerhebung nochmals gesondert reflektiert werden. Wie dargestellt wurden die visuellen Impulse durch die beteiligte Forscher*innengruppe im Vorfeld erstellt. Hierbei wurde anvisiert, möglichst viele Aspekte aufzunehmen und dennoch auf Basis der Abstraktheit der Visualisierungen dem Grundprinzip der Offenheit Rechnung zu tragen. Entsprechend sollten die Sketchnotes im Rahmen der Datenerhebung zusammen mit dem entsprechenden Erzählimpuls zur Viskursgenerierung eingesetzt werden. Die Probanden haben vor dem Hintergrund der eigenen Wissens- resp. Sinnstrukturen die Möglichkeit, eigene (thematische) Schwerpunkte zu setzen und im Verlauf des anschließenden Viskurses weiter auszuführen. Die ausgewählten Impulse können vor diesem Hintergrund als Fokussierungsmetaphern eingeordnet werden und spielen dann insbesondere auch im Kontext der komparativen Sequenzanalyse eine Rolle. So stellt sich im Rahmen der reflektierenden Interpretation die Frage, wie fallübergreifend auf die jeweiligen Visualisierungen Bezug genommen wurde und welche Unterschiede sich dann ggf. auch zwischen den Fällen identifizieren lassen. Auf diese Weise wird das Prinzip der Offenheit gewährleistet und zugleich die Möglichkeit der Komparation erhalten (vgl. Kruse 2015, 209ff.).
4.3 Zusammenführende Reflexion
Im Rahmen der vorherigen Kapitel wurden bereits zahlreiche Potenziale zum Einsatz von Sketchnotes und Visualisierungen aus Forschungsperspektive herausgearbeitet. Wie dabei bereits expliziert wurde, ist der Einsatz visueller Impulse keineswegs neu (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 153), liefern aber speziell Sketchnotes ggf. wertvolle ‚neuere‘ Impulse bspw. zur Überwindung möglicher einseitiger ‚Text-‘ und ‚Bildfixierungen‘ qualitativer Methodologien (vgl. hierzu Hessler 2012, 88).
Vor diesem Hintergrund wurde dann auch insbesondere der Begriff des ‚Viskurses‘ geprägt und damit die besondere Kommunikations- resp. Interaktionssituation im Zusammenhang der Rezeption ebendieser herausgestellt und dabei speziell im Kontext rekonstruktiver Sozialforschung eingeordnet. So werden bspw. im Kontext der dokumentarischen Methode entweder Textdokumente (Einzelinterviews oder Gruppendiskussionen) oder aber Bilddokumente als Datengrundlage herangezogen. Die Auswertung von Viskursen kann es Forscher*innen nun aber u. E. ermöglichen, genau das Verhältnis von Text- und Bildbezügen in den Mittelpunkt der Untersuchung zu stellen und auf dieser Grundlage vorliegende explizite und implizite Wissensstrukturen zu rekonstruieren (vgl. Bohnsack 2003, 239ff.).
Neben den damit verbundenen Potenzialen im Kontext rekonstruktiver Sozialforschung –speziell der dokumentarischen Methode in Anlehnung an Bohnsack – sind auf Basis der bisherigen Erfahrungen noch weitere potenzielle Einsatzgebiete denkbar. So könnten bspw. visuelle Prozessbegleitungen mit Sketchnotes im qualitativer Sozialforschung noch weitere Perspektiven eröffnen. Denkbar ist hier etwa die Visualisierungen auf Basis eines Interviews zu erstellen zur kommunikativen Validierung heranzuziehen oder aber parallel zu Interviewprozessen zu erstellen und die Visualisierungen auf dieser Basis selbst als zusätzliche resp. alleinige Datengrundlage heranzuziehen (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2014, 153).
Die obigen Beispiele deuten weitere mögliche Entwicklungsfelder aus Forschungsperspektive lediglich an und können vor diesem Hintergrund sicherlich nicht als vollständig gekennzeichnet werden. Nichtsdestotrotz vermitteln sie aber einen Einblick in die Entwicklung zum Einsatz von Sketchnotes aus Forschungsperspektive. Die Entwicklung ist somit nicht abgeschlossen und es zeigen sich vielmehr weiterführende Entwicklungsbedarfe.
In Bezug auf die bereits fokussierten Viskurse und damit verbundenen Datenerhebungs- und Auswertungsverfahren zielen die Verfasserinnen etwa darauf ab, diese weiter grundlagentheoretisch aufzuarbeiten und damit zu einer weiteren methodologischen Fundierung beizutragen. Als Beispiel wird hier aufbauend auf grundlegenden Verständnissen der Diskursorganisation nach Przyborski (vgl. Przyborski 2004) und der Analyse von Narrationsstrukturen nach Nohl (vgl. Nohl 2012), eine Präzisierung der formalen Strukturen im Rahmen der Viskursorganisation in den Blick genommen.
5 Anschluss: Reflexion und Ausblick
Abschließend soll an dieser Stelle nochmals eine Einordnung aus Meta-Perspektive vorgenommen werden und damit auch ein Rückbezug zum Schwerpunkt der vorliegenden Ausgabe erfolgen. So wurden digitale Transformationen einleitend als komplexe Prozesse gekennzeichnet, welche zudem durch die Involviertheit der Akteure (i. S. v. Exteriorisierung und Interiorisierung) geprägt sind, die ebensolche Prozesse vorausschauend oder aber retrospektiv reflexiv (zu) erfassen (suchen). Der vorliegende Beitrag kann als eine solche retrospektive Betrachtung und Einordnung verstanden werden. So erkannten die Autorinnen in den veränderten Kommunikations- und Ausdrucksformen, die Sketchnotes etc. letztlich darstellen, initial zahlreiche Potenziale, welche im Rahmen des primär geschilderten Workshopkonzepts vor dem Hintergrund hochschuldidaktischer sowie forschungsbezogener Zielsetzungen und Perspektiven zunehmend weiter entwickelten und davon ausgehend sogar weitere Projekte bedingten und auch weiter bedingen. Mit anderen Worten konnten die dargestellten Entwicklungen und eingeschlagenen Richtungen zu Beginn der Beschäftigung mit Sketchnotes etc. nicht antizipiert werden, sondern waren (und sind) vielmehr durch emergente Prozesslinien gekennzeichnet. Zudem zeichnete der Beitrag lediglich die objektbezogenen Entwicklungslinien nach (bspw. mit Blick auf die Methoden) und nahm weniger die Entwicklung der Subjekte in den Blick (Interiorisierung). Somit wurde die dispositionale Komponente entsprechender Transformationsprozesse, welche ebenso im Rahmen der Einleitung adressiert wurde, eher am Rande aufgenommen. Gleichwohl ist davon auszugehen, dass die Lehrenden und Forschenden sowie die Lernenden und Beforschten ebensolchen dispositionalen Transformationsprozessen unterworfen sind. Pointiert ließe sich als Fazit u. E. daher Folgendes festhalten: Digitale Transformationen im obigen Sinne sind u. E. durchaus komplex, vielschichtig resp. mehrperspektivisch, entwicklungsoffen und insofern per se im Vorfeld nicht vom Ende her zu denken.
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[1] https://www.bksn.de/2021/wie-ein-barcamp-die-schule-nachhaltig-veraendern-kann/
Zitieren des Beitrags
Kückmann, M./Kundisch, H. (2021): Denken mit dem Stift?! – Digitale Visualisierungsprozesse als Zugang zu komplexen wirtschafts- und berufspädagogischen Themenfeldern. In: bwp@ Berufs- und Wirtschaftspädagogik – online, Ausgabe 40, 1-28. Online: https://www.bwpat.de/ausgabe40/kueckmann_kundisch_bwpat40.pdf (09.07.2021).